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Elegant und kraftvoll schwang er sich in die Luft, bevor er blitzschnell wieder in die Fluten tauchte. Er sah aus wie die perfekte Welle. Avery und Maria kommen aus zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Avery aus gutem Hause stammt und gegen ihre Angst vor dem Meer kämpft, geht Maria ihrer Leidenschaft nach: dem Zeichnen. Ihre Familie hält nichts davon, und so zeichnet sie heimlich am Strand – dem Zufluchtsort sowohl von Maria als auch von Avery. In der Bucht lernen die Mädchen Wave kennen: Beide sind sofort fasziniert von dem wunderschönen Delfin. Als Wave sich immer seltsamer benimmt, wollen sie ihm helfen. Können sie rechtzeitig herausfinden, was ihrem neuen Freund fehlt? Eine ganz besondere Freundschaft zwischen zwei Mädchen und einem Delfin steht im Mittelpunkt dieses stimmungsvollen und spannenden Romans für Mädchenab 10 Jahren. Eine berührende Geschichte über Träume und die Bedeutung von Freundschaft zwischen Mensch und Tier. Für alle Fans von Ostwind und Elena! Dieses Buch ist auf Antolin.de gelistet.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Inhalt
Kapitel 1: Avery – »Willst du wirklich …
Kapitel 2: Maria – Kady Swanson zerrte …
Kapitel 3: Avery – Ich hatte wieder …
Kapitel 4: Maria – Voller Name: Maria …
Kapitel 5: Avery – Vor meiner ersten …
Kapitel 6: Maria – An diesem Tag …
Kapitel 7: Avery – Am Sonntagabend ging …
Kapitel 8: Maria – Ich erkannte das …
Kapitel 9: Avery – Natürlich ging ich …
Kapitel 10: Maria – Als ich am …
Kapitel 11: Avery – Als ich plötzlich …
Kapitel 12: Maria – Als ich am …
Kapitel 13: Avery – Als ich am …
Kapitel 14: Maria – Am Samstag konnte …
Kapitel 15: Avery – »Maria!«, rief ich. …
Kapitel 16: Maria – Die Vargas-Zwillinge machten …
Kapitel 17: Avery – »It never rains …
Kapitel 18: Maria – Am Sonntagabend hatte …
Kapitel 19: Avery – Als ich am …
Kapitel 20: Maria – Immer noch stinkwütend …
Kapitel 21: Avery – Nachdem ich richtig …
Kapitel 22: Maria – Bei Avery zu …
Kapitel 23: Avery – Ich klammerte mich …
Kapitel 24: Maria – Als Avery und …
Alle Abenteuer von Dolphin Dreams
Über die Autorin
Weitere Infos
Impressum
1
Avery
»Willst du wirklich so rausgehen?«
»Ja. Warum?« Ich sah an mir herunter. Hatte ich mir etwa meine Shorts vollgekleckert – oder am Ende mein Lieblingsshirt?
Meine Cousine Kady rümpfte verächtlich die Nase. »Du bist nicht mehr zwei, sondern zwölf. Hier bei uns trägt kein Mensch Oversize-T-Shirts mit Delfinen drauf.«
Grinsend blickte Kadys großer Bruder Cameron von seinen Cornflakes auf. »Das Urteil der Modekönigin ist gefallen«, sagte er mit Grabesstimme. »Los, Avery, zieh dir schnell dein schönstes Ballkleid an. Sonst lässt Kady sich nicht mit dir blicken.«
Kady verdrehte gelangweilt die Augen, packte mich am Handgelenk und zerrte mich zur Treppe. »Ich leih dir was. Aber Beeilung. Meine Freundinnen warten sicher schon.«
Kurz darauf standen wir in Kadys Zimmer. Also in unserem »gemeinsamen« Zimmer.
Ich warf einen Blick auf meine Luftmatratze ganz hinten in der Ecke neben Kadys rappelvollem Kleiderschrank. Wie hatte sich mein Leben in so kurzer Zeit nur komplett auf den Kopf stellen können?
Na ja, eigentlich wusste ich es genau. Mein Dad hatte plötzlich keine Lust mehr gehabt, verheiratet zu sein, und so waren meine Mom und ich umgezogen, Tausende Kilometer weit nach Südkalifornien zu Moms Schwester und ihrer Familie.
Kady war nur ein Jahr älter als ich, als Kinder hatten wir immer gesagt: genau vierzehneinhalb Monate. Deshalb war Kady für mich so eine Art Lichtblick gewesen. Ich müsste zwar alles und jeden zurücklassen, mein ganzes Leben, aber hier in Kalifornien hätte ich wenigstens schon eine neue beste Freundin.
Da hatte ich mich leider geirrt.
»Probier die mal an.« Kady schleuderte mir eine zerknitterte Bluse entgegen. »Sollte einigermaßen passen.«
Eine gelbe Bluse mit Glitzerkragen? Früher hätte Kady mich wegen so eines Dings ausgelacht. Früher war sie fast wie ein Junge gewesen, genau wie ich, wir hatten beide für unser Leben gern Kaulquappen aus dem Bach gefischt und im Garten gezeltet. Und wir fanden beide Delfinshirts toll.
Ich strich mir über mein angenehm weiches T-Shirt. Bisher hatte dieser Umzug nur einen richtigen Vorteil und das waren die echten Delfine drüben im Pazifik. Kaum hatte mein Cousin Cam herausgefunden, was für ein großer Delfinfan ich war, hatte er mich zum Strand mitgenommen. Bereits vorige Woche, nur ein, zwei Tage nach unserer Ankunft, hatten wir oben auf den großen, glatten Felsen gekauert, bis wir sie endlich entdeckt hatten. Weit draußen im Meer tollte eine ganze Delfinschule herum.
Es war unglaublich. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sie durch die Luft sprangen und wirbelten und wie ihre feuchte Haut unter der kalifornischen Sonne glänzte. Seit ich denken konnte, waren Delfine meine Lieblingstiere, aber bisher hatte ich sie nur im großen Becken des Aquariums gesehen.
Das war also mein wirklicher Lichtblick – nicht Kady, sondern die Delfine. Cam meinte, sie seien sehr oft vor diesem Strand unterwegs, und er musste es wissen, denn er ging ständig dort surfen. Ich brauchte also nur ein paar Minuten laufen, um stundenlang Delfine gucken zu können. Ja, wieso ging ich nicht jetzt gleich dorthin? Ich hatte viel mehr Lust darauf, als mit Kady und ihren Freundinnen shoppen zu gehen.
Aber Kady hatte mich eben zum ersten Mal zu einer gemeinsamen Unternehmung eingeladen und ich hoffte immer noch, sie würde sich wieder in die lustige, nette Cousine von vor einigen Jahren verwandeln. Also kam ich mit. Trotzdem musste ich mir nicht alles vorschreiben lassen. »Danke, aber ich behalte lieber das hier an«, sagte ich und zupfte mein T-Shirt ordentlich zurecht.
»Das geht nicht.« Kady verschränkte die Arme. »Im Ernst. Das wäre eine schwere Modesünde.«
Ich wusste nicht, was sie mir damit sagen wollte, und es war mir auch egal. »Wollen wir jetzt los oder nicht?«, fragte ich und warf die gelbe Bluse auf Kadys Bett.
Kady murmelte irgendetwas Unverständliches und drückte sich an mir vorbei zur Treppe. »Aber beschwer dich nicht, wenn sich die anderen über dich lustig machen.«
Kadys Freundinnen machten sich nicht über mich lustig. Sie beachteten mich überhaupt nicht. Und die Shopping Mall, an der wir uns trafen, war genau wie die ganzen Malls zu Hause – und gar nicht wie die schicken Einkaufszentren unten in L.A., die ich aus dem Fernsehen und dem Kino kannte, mit lauter Palmen und so. Als ich das sagte, glotzten mich Kady und die anderen an wie eine Außerirdische mit zwei Köpfen und drei Nasen.
Danach sagte ich nur noch wenig, was sehr untypisch war für mich. Eigentlich konnte ich mich mit jedem über alles Mögliche unterhalten. Aber worüber sollte ich mit diesen Mädchen reden? Anscheinend interessierten sie sich nur für Jungs und Klamotten und Lipgloss und Promiklatsch. Gab es in Kalifornien denn gar keine normalen Mädchen mehr?
»Gehen wir mal da rein«, sagte eine von Kadys Freundinnen vor einer Buchhandlung.
Kady rümpfte die Nase. »Igitt, wieso das denn? Wir haben Sommerferien, schon vergessen?«
»Yeah, Sommerferien!«, jubelte eine der anderen.
Das erste Mädchen eilte zum Zeitschriftenständer vor der Tür. »New Cosmo? Na, wenn’s nichts Besseres gibt …«
Als die anderen alle zusammen in irgendein dummes Modeheft guckten, fiel mir ein weiteres Mädchen in meinem Alter auf. Es stand vor einem Bücherregal im Laden, beobachtete uns aus dem Augenwinkel und blätterte dabei in einem großen Buch mit hellblauem Einband.
Da bemerkte sie meinen Blick, wurde knallrot und wandte sich eilig ab. Sie war kleiner als ich, hatte hellbraune Haut und ihr kräftiges dunkles Haar schien sich kaum von ihrem langen Zopf bändigen zu lassen.
Durch ihre Bewegung konnte ich einen genaueren Blick auf das Buch in ihren Händen erhaschen. Auf dem Einband prangte ein Foto von einem niedlichen Delfin mitten im Sprung. »Hey«, platzte ich heraus und trat zu ihr in den Laden. »Das Buch habe ich zu Hause, das hat mir mein Dad zu Weihnachten geschenkt.« Ich musste schlucken und schob die Gedanken an Dad schnell weit weg. »Es ist echt gut. Magst du Delfine?«
Verunsichert blinzelnd sah mich das Mädchen an. Sie hatte große dunkle Augen mit langen Wimpern. »Äh … ja.« Ihr Blick zuckte von mir zu Kady und wieder zurück.
In diesem Moment drehte Kady sich um. »Hey, Avery.« Sie stampfte auf mich zu. »Belästigt dich dieses Mädchen?«
»Was? Nein.« Ich warf einen Blick auf die Fremde. »Wir haben uns bloß ein bisschen unterhalten.«
Kady fasste mich am Arm. »Komm«, fauchte sie mit einem bösen Blick auf das Mädchen. »Wenn du uns entschuldigen würdest …«
Und schwups! stand ich wieder draußen im Hauptgang des Einkaufszentrums. »Was sollte das denn?« Ich schüttelte Kadys eisernen Griff ab. »Wir hatten uns bloß …«
»Mit solchen Leuten redet man nicht«, fiel Kady mir mit finsterer Miene ins Wort.
»Mit was für Leuten?«
Ihre Freundinnen eilten herbei. »Igitt, war das etwa Maria Flores?«, rief eine von ihnen.
»Genau die.« Kady sah mich an. »Aber Avery kann nichts dafür. Sie hat keine Ahnung, wie Maria drauf ist.«
»Wie soll sie denn drauf sein?« Das Verhalten der anderen verwirrte mich. Ich ärgerte mich fast ein bisschen. »Sie wirkt doch ganz nett.«
Eine von Kadys Freundinnen riss dramatisch die Augen auf. »Nett!? Nein, Avery, mit der solltest du dich auf gar keinen Fall abgeben. Die wohnt in einer total gruseligen Gegend und ihr großer Bruder soll in einer Gang sein!«
»Echt?«, fragte ich ehrlich überrascht. Da, wo ich herkam, gab es keine Gangs. Ich blickte Maria hinterher – hatten Kady und die anderen womöglich recht?
»Und mit ihrer großen Schwester sollte man sich auch nicht abgeben.« Kady sah mich kopfschüttelnd an. »Von denen muss man sich fernhalten. Kommt, holen wir uns eine Cola. Irgendwie habe ich plötzlich so einen schlechten Geschmack im Mund.«
2
Maria
Kady Swanson zerrte das Mädchen im Delfinshirt davon wie ein Puma seine Beute, doch das Mädchen drehte sich noch einmal nach mir um. Ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Wer war das? Eine Verwandte von Kady? Vermutlich ja, denn die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen – die tiefblauen Augen, das hellbraune Haar, das kleine spitze Kinn, die zarten Sommersprossen auf den Wangen … Der einzige Unterschied war Kadys arroganter Blick. Diesen Blick benutzte Kady in der Schule wie eine Waffe, mit diesem Blick streckte sie all jene nieder, die sie als unter ihrer Würde erachtete. Lächelnd schloss ich die Augen und stellte mir vor, einen Cartoon von Kady zu zeichnen, in dem Dolche aus ihren eisblauen Augen schossen …
»Maria?«, rief eine vertraute Stimme.
Ich drehte mich hastig um und ließ dabei fast das Buch auf meine Füße fallen. Meine große Schwester Josie kam anmarschiert. Sie spazierte nicht, sie schlenderte nicht, nein, sie schritt kraftvoll und zielstrebig auf mich zu, eine typische Sportlerin. Josie hatte immer ein Ziel vor Augen – und stets ein breites Lächeln auf den Lippen.
»Ich hab dich überall gesucht, chica.« Josie warf ihren glänzenden braunen Pferdeschwanz über die Schulter. Wieso waren ihre Haare so perfekt und glatt und meine sahen nach dem Trocknen jedes Mal aus wie ein Vogelnest? Wir hatten doch dieselben Eltern. Das war nicht fair.
»Ich hab mich nur umgeguckt.« Schnell schob ich das Delfinbuch zurück ins Regal. Hätte Josie es gesehen, hätte sie bloß unangenehme Fragen gestellt. Und dann hätte beim Abendessen die ganze Familie über mich diskutiert, während ich auf meinem Platz festsaß wie die aufgespießten Nachtfalter und Käfer in Nicos alter Insektensammlung. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Falls alles nach Plan verlief, würde meine Familie schon rechtzeitig davon erfahren. Und wenn nicht … musste sie überhaupt nichts davon wissen.
Josie und ich traten aus der Buchhandlung. Kady Swanson und ihre Kumpaninnen waren verschwunden, zum Glück. Das Delfinmädchen hatte mich schon ein bisschen neugierig gemacht, aber sollte ich deswegen riskieren, Kadys Zorn auf mich zu ziehen? Nein. Das Delfinmädchen wirkte zwar ganz nett, war allerdings mit einer nicht besonders netten Person unterwegs und daher eventuell selbst doch nicht besonders nett. Wie sagte meine abuelita immer? »Dios los cría y ellos se juntan.« – Gleich und Gleich gesellt sich gern.
»Hey.« Mit einem Fingerstupsen riss Josie mich aus meinen Gedanken. »Bist du mal wieder am Träumen, Schwesterchen? Zeit zum Aufwachen – da drüben ist Schlussverkauf! Vielleicht finden wir ja einen Badeanzug für dich.«
»Ich habe doch einen.« Die Lust aufs Einkaufen war mir gründlich vergangen. Die Klimaanlage war so kalt, dass mir eine Gänsehaut über Arme und Beine kroch. Eigentlich hatte ich mir sowieso nur die Delfinbücher anschauen wollen.
»Den alten blauen Fetzen?« Josie schnaubte. »Freu dich, Mom hat mir Geld für einen neuen gegeben!«
Ich fragte mich wozu, wo mich doch kein Mensch im Badeanzug sah. Zu den überlaufenen öffentlichen Stränden ging ich nämlich nie. Ich war lieber allein, als mich ins Gewusel der Menschenmassen zu stürzen. Aber meine Schwester stürmte schon zum Geschäft, und so schlurfte ich hinterher und träumte sehnsüchtig von meiner Geheimbucht.
Stunden später tastete ich mich endlich den steilen Geröllpfad hinunter in die Fleckdelfin-Bucht. Das war nicht der offizielle Name – sie lag so versteckt, dass sie auf keiner noch so detaillierten Landkarte eingezeichnet war, doch im Sommer vor zwei Jahren hatte ich sie entdeckt und auf diesen Namen getauft. Seit meine Freundinnen Iggy und Carmen im vorigen Jahr zurück nach Mexiko gezogen waren, war ich dort fast immer ganz allein. Kaum jemand kannte die Bucht, vom Meer aus war sie schwer zu erkennen und der Zugangspfad schien ins Nirgendwo zu führen. Und wenn doch mal jemand auf die Bucht stieß, gefiel es den Leuten dort meistens nicht: Der Strand war schmal und steinig, es gab keinen Handyempfang und die schwachen Wellen waren höchstens für Surfanfänger interessant. Aber mich störte das alles nicht. Ich mochte die Bucht aus einem ganz bestimmten Grund.
Ich warf das Surfbrett und den Rucksack mit dem Skizzenblock und dem anderen Kram in den groben Sand, trat ins Wasser und ließ die kühle Brandung über meine Zehen schwappen. Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich die Wellen nach Lebenszeichen ab. Das Wasser war immer in Bewegung und reflektierte die Sonnenstrahlen wie helle Blitze. Hoch oben kreiste eine Möwe, die hin und wieder ein raues Krächzen ausstieß, aber ich suchte etwas anderes.
Da breitete sich ein Lächeln über mein Gesicht aus. Endlich sah ich eine Rückenflosse durchs Wasser gleiten! Im nächsten Moment sprang der erste Delfin im hohen Bogen auf mich zu, dann noch einer und noch einer. Ich schnappte mir mein Surfbrett und watete ins Wasser, ohne die Leash anzulegen, eine Leine, mit der man sein Board eigentlich am Knöchel sichern sollte. Ehrlich gesagt wussten meine Eltern gar nicht, dass ich hier alleine schwimmen ging, aber sie hatten mich ja auch nie direkt danach gefragt … An der Stelle, wo es plötzlich tief wurde, warf ich mich mit dem Bauch aufs Surfbrett und paddelte in die Mitte der Bucht.
Jetzt waren die Delfine ganz nah, nur drei oder vier Surfbrettlängen von mir entfernt. Ich setzte mich auf, ließ die Beine rechts und links im Wasser baumeln und sah ihnen beim Spielen zu. Wie viele waren es heute? Man konnte die glatten grauen Umrisse, die hier und dort hochploppten, kaum durchzählen. Den mit der krummen Schnauze erkannte ich wieder und den Kleineren, Schmaleren, den ich »Kleine Schwester« nannte. Die anderen verschmolzen zu einem einzigen eleganten silbergrauen Gewimmel.
Da schoss ein alter Freund von mir aus dem Wasser. »Wave!«, rief ich.
Diesem Delfin war ich schon bei meinem allerersten Besuch in der Bucht begegnet – es war ein besonderer Delfin mit vielen weißen Flecken auf der glatten dunklen Haut. Damals hatte ich noch keine Ahnung gehabt, wieso er nicht aussah wie die anderen, aber er hatte mich an ein pointilistisches Gemälde erinnert und deshalb nannte ich ihn zuerst Seurat. Der menschliche Seurat, ein gewisser Georges-Pierre Seurat, war ein berühmter französischer Maler gewesen und sozusagen der Erfinder des Pointilismus. Die Gemälde der Pointilisten bestanden aus nichts als Unmengen von kleinen Punkten – hätte dieser Seurat jemals einen Delfin gemalt, hätte er also ausgesehen wie meiner. Doch dann sah ich zum ersten Mal, wie der schwarz-weiß gefleckte Delfin aus dem Wasser sprang. Elegant und kraftvoll bog er sich in der Luft, bevor er blitzschnell wieder in die Fluten tauchte. Er sah aus wie die perfekte Welle – und so musste ich ihn einfach Wave nennen.
Später hatte ich mich im Internet über Delfine schlaugemacht. Ich wollte wissen, ob mein Pointilisten-Delfin vielleicht krank war, aber wie sich herausstellte, gehörte er einfach zu einer anderen Art als seine Freunde. Wenn mich nicht alles täuschte, war er kein Tümmler, sondern ein Schlankdelfin aus der Gattung der Fleckendelfine. Diese Delfine mochten eigentlich warme tropische Gewässer – so weit oben an der Küste Kaliforniens, wo das Wasser schon etwas kühler wurde, ließen sie sich deswegen nur selten blicken. Aber Wave fühlte sich hier offenbar wohl. Er war andauernd in der Bucht.
Jetzt katapultierte er sich vollständig aus dem Wasser und klatschte dann wieder hinein, dass es nur so spritzte und tausend Schaumtropfen zwischen seinen weißen Flecken landeten. Ich musste lachen. Wave war ein verspielter Kerl, noch verspielter als die anderen Delfine.
»Angeber!«, rief ich und strampelte mit den Füßen, damit mein Board in der Strömung nicht seitlich abdriftete.
Ob Wave gleich noch mal springen würde? Nein, nach diesem Kraftakt ließ er sich lieber treiben und beobachtete die anderen.
Ich machte es ihm nach und paddelte nur ab und zu mit den Händen und Füßen, um mich in der Nähe des Strandes zu halten. Nicht dass ich Angst gehabt hätte – ich ging im Meer schwimmen, seit wir hierhergezogen waren, also seit ich vier Jahre alt war, und mit meinem Surfbrett (oder auch ohne) fühlte ich mich im Wasser genauso wohl wie auf dem Trockenen. Eigentlich sogar wohler. Hier draußen konnte mir auch mal etwas Dummes herausrutschen, ohne dass mich blöde Teenies wie Kady Swanson dafür auslachten. Hier draußen fand mich niemand seltsam, nur weil ich so schweigsam und immer mit meinem Skizzenblock beschäftigt war. Und hier draußen musste ich auch nicht ständig an Iggy und Carmen denken, obwohl mich die beiden im Stich gelassen hatten.
Im Meer zu schwimmen war also kein Problem für mich, ob es nun tief oder flach war. Bloß zu den Delfinen hielt ich etwas Abstand. Sie waren meine Freunde und sie freuten sich höchstwahrscheinlich auch über meine Gesellschaft, aber wenn ich ihnen zu nahe kam, wurden sie trotzdem nervös. Das verstand ich gut. Ich konnte es auch nicht leiden, wenn mir jemand zu sehr auf die Pelle rückte.
Irgendwann fiel mir auf, wie tief die Sonne über dem Meer stand. Bald war Abendessenszeit, und da ich mit dem Tischdecken dran war, musste ich mich sputen, sonst würde mir meine Mom gründlich die Meinung sagen. Widerwillig paddelte ich zum Ufer.
»Tschüs, Delfine!«, rief ich meinen Freunden zu. Die meisten beachteten mich nicht groß, doch Wave folgte mir die halbe Strecke zum Ufer und streckte sein witziges Fleckengesicht aus dem Wasser, um zu beobachten, wie ich mich aufs Board stellte und von einer kleinen Welle zum Strand tragen ließ.
Als ich dort ankam, sah ich meinen Skizzenblock halb aus dem Rucksack ragen. Kam es mir nur so vor oder guckte mich der Block wirklich vorwurfsvoll an? Ich stopfte ihn tief in den Rucksack. Dann hatte ich heute eben nicht an meiner Zeichnung gearbeitet, und wenn schon! Ich hatte noch mehr als genug Zeit und die sollte ich mir auch lassen. Die Zeichnung musste perfekt werden und so etwas dauerte.
Außerdem hatte es sich gelohnt, diesen Nachmittag mal nicht zu arbeiten. Meine Delfinfreunde und ich hatten eine Menge Spaß gehabt. Zum Abschied pfiff ich ihnen noch einmal zu, dann stieg ich mit meinem Surfbrett und meinem Rucksack die schmalen steilen Serpentinen hinauf nach Hause.
3
Avery
Ich hatte wieder meinen Lieblingstraum, einen Traum, der seit Ewigkeiten in immer neuen Varianten wiederkehrte. Diesmal befand ich mich tief im herrlich blauen Meer, atmete unter Wasser, ohne nachzudenken, und schwamm ohne Anstrengung – umgeben von lauter Delfinen, von großen und kleinen, übermütigen und schüchternen, alle silbergrau und wunderschön und supergut gelaunt. Wir spielten Fangen und Purzelbaumschlagen und hatten mehr Spaß als je zuvor …
Da riss mich ein lautes Scheppern aus meinem Traum.
Müde und entnervt richtete ich mich auf und rieb mir die Augen. Wer machte da so einen Krach? Kady war es nicht, sie lag immer noch leise schnarchend im Bett, ihr glänzendes rotbraunes Haar auf dem Kopfkissen aufgefächert. Das sei ein echtes Seidenkissen, hatte sie mir stolz erklärt, aber so etwas interessierte mich null. Wieder schepperte es und direkt hinter der Zimmertür war ein gemurmelter Fluch zu hören. Ich blinzelte in die helle Morgensonne, stand auf und öffnete vorsichtig die Tür. Bloß nicht Kady wecken! Wir wohnten erst seit gut einer Woche im selben Zimmer, aber ich wusste schon, was für ein fürchterlicher Morgenmuffel sie war.
Im engen Flur des ersten Stocks stand Cam mit einem Surfbrett unter dem linken Arm und einem unter dem rechten. Es war wie ein Ringkampf: Cam wollte die Bretter die Treppe hinuntermanövrieren, aber die wehrten sich hartnäckig. Weil die Treppe so verwinkelt war, musste er sie quer über zwei Ecken und über das geschwungene Eisengeländer wuchten.
»Du bist’s, Avery«, flüsterte er und grinste verschämt. »Ich hab schon befürchtet, es wäre Kady.«
Ich lächelte, fasste mit an und hob das längere, blau gemusterte Surfbrett über das Geländer. Als endlich beide Boards unten waren, lehnte Cam sie neben die Haustür. Er trug ein T-Shirt und gestreifte Surfshorts, die fast bis über seine knubbeligen Knie reichten.
»Sorry wegen dem Lärm«, sagte er. »Ich hatte die Boards gestern Abend zum Wachsen mit hochgenommen.«
»Kein Problem.« Natürlich erzählte ich ihm nicht von meinem Traum. Davon wusste niemand, nicht mal meine Mom.
Cam stieg in die ramponierten Flipflops, die auf der Fußmatte neben der Tür standen. »Willst du nicht zum Surfen mitkommen? Soll schöne saubere Wellen geben heute früh.«
»Hmm …« Ob er wohl den Vorfall vergessen hatte? Mir kam es zwar manchmal vor, als wäre es erst gestern gewesen, aber es war schon eine ganze Weile her. »Nein danke.«
»Du kannst mein zweites Board nehmen«, sagte Cam mit einem Nicken in Richtung der Surfbretter. »Oder Kadys vielleicht? Sie benutzt es ja sowieso nie.«
»Ich weiß nicht.«
»Komm schon.« Cam hatte ein nettes Lächeln. Ein bisschen wie das von Mom und Tante Janice, aber durch den schiefen Schneidezahn in der unteren Reihe wirkte es ganz besonders schelmisch. »So früh am Morgen sind da immer haufenweise Delfine unterwegs.«
Ich zögerte und versank für einen Moment wieder in meinem Traum. Als ich am Tag zuvor noch zum Strand gelaufen war, hatte sich die Sonne so grell auf den Wellen gespiegelt, dass ich kaum etwas erkannt hatte. Einmal waren weit draußen vielleicht ein paar Delfine vorbeigeschwommen – oder es waren doch wieder nur Wellen gewesen.