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Nach «Frau Komachi empfiehlt ein Buch» endlich der nächste Roman von Michiko Aoyama auf Deutsch. Mut machende Geschichten um ein achtsames Miteinander und über die Kunst, das Glück in den kleinen Dingen des Alltags zu finden. Das Café Marble liegt beschaulich an einem kleinen Fluss im Schatten der Kirschbäume in einem Vorort von Tokio. Mit seinen drei Tischen aus unbehandeltem Holz ist es eine Oase der Ruhe. Hier arbeitet der junge Wataru, der stets einen klugen Rat für seine Gäste hat. Heimlich schwärmt er für die junge Frau, die jeden Donnerstag bei ihm eine Tasse heißen Kakao trinkt. Jede Woche sitzt sie an ihrem Stammplatz und schreibt Briefe. Manchmal hat sie dabei ein Lächeln im Gesicht, manchmal eine Träne. Wataru würde gerne mehr von ihr erfahren. Er empfängt aber auch noch weitere Gäste. Sie alle kommen, um in dem Café einen Moment innezuhalten. Und die meisten Besucher brauchen mehr als nur eine heiße Schokolade, um ihrem Leben eine neue Wendung zu verleihen. Ein Roman für alle Sinnsuchenden - inspirierende Geschichten, die in Japan zum Bestseller wurden.
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Seitenzahl: 152
Michiko Aoyama
Roman
Ein Café unter Kirschbäumen. Ein magischer Ort. Eine Einladung an das Leben. Das Café Marble liegt beschaulich an einem kleinen Fluss in einem Vorort von Tokio. Mit seinen drei Tischen aus unbehandeltem Holz ist es eine Oase der Ruhe. Hier arbeitet Wataru, der stets einen klugen Rat für seine Gäste hat. Heimlich schwärmt er für die junge Frau, die jeden Donnerstag bei ihm eine Tasse heißen Kakao trinkt. Jede Woche sitzt sie an ihrem Stammplatz und schreibt Briefe. Es sind Luftpostbriefe, verfasst in englischer Sprache. Manchmal hat sie dabei ein Lächeln im Gesicht, manchmal laufen ihr Tränen über die Wangen.
Neben der geheimnisvollen Briefeschreiberin empfängt Wataru noch weitere Gäste. Da ist die erfolgreiche Unternehmerin, die mit ihrer Mutterrolle hadert, oder die junge Kindergärtnerin, die mit ihrer unkonventionellen Art aneckt … Sie alle kommen, um in dem Café einen Moment innezuhalten. Und Wataru ahnt: Die meisten Besucher brauchen mehr als nur eine heiße Schokolade, um ihrem Leben eine hoffnungsvolle Wendung zu geben.
Ein offenes Ohr, ein gutes Gespräch, ein neuer Impuls – manchmal sind es überraschende Begegnungen, die uns einen anderen Blickwinkel ermöglichen, auf die Welt und auf uns selbst.
Über die Kunst, das Glück in den kleinen Dingen zu finden: der neue Bestseller von Michiko Aoyama, Autorin von «Frau Komachi empfiehlt ein Buch».
Michiko Aoyama, geboren 1970 in der Präfektur Aichi, lebt heute in Yokohama. Nach ihrem Universitätsabschluss arbeitete sie zwei Jahre lang als Reporterin für eine japanische Zeitung in Sydney. Nach ihrer Heimkehr war sie zunächst als Zeitschriftenredakteurin in einem Tokioter Verlag tätig, bevor sie sich ganz dem literarischen Schreiben widmete. Ihr Roman «Frau Komachi empfiehlt ein Buch» ist ein internationaler Bestseller und erscheint in über zwanzig Ländern.
Sabine Mangold, geboren 1957, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Japanologie. Sie hat zahlreiche japanische Autorinnen und Autoren – darunter Haruki Murakami, Yoko Ogawa und Kazuaki Takano – ins Deutsche übertragen. Für ihre langjährige Arbeit wurde sie mit zahlreichen Stipendien und 2019 mit dem Übersetzerpreis der Japan Foundation ausgezeichnet. Die Arbeit am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
German language translation rights arranged with Takarajimasha Inc. through The English
Agency (Japan) Ltd. and New River Literary Ltd.
Die japanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Mokuyoubi ni ha cocoa wo» bei Takarajimasha Inc., Tokio.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg, «MOKUYOUBI NI HA COCOA WO» Copyright © 2017 by Michiko Aoyama. All rights reserved
Redaktion Heike Brillmann-Ede
Foto der Autorin: courtesy of the author
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach dem Entwurf von Garzanti, IT, Design: Stefano Rossetti
ISBN 978-3-644-02090-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Braun – Tokio
Die sympathischste von allen ist Kakao-san.
Es ist mein Spitzname für sie – wie sie wirklich heißt, weiß ich nicht. Ihr Stammplatz im Café Marble, wo ich arbeite, ist hinten am Fenster. Seit einem halben Jahr kommt sie, immer allein, steuert auf diesen Platz zu und bestellt stets das gleiche Getränk.
«Eine Tasse heißen Kakao, bitte!»
Mit leuchtenden Augen, die schimmern wie Wassertropfen nach dem Regen, schaut sie mich an. Ihr welliges kastanienbraunes Haar reicht bis zu den Schultern.
Das Café Marble liegt in einer ruhigen Wohngegend. Das kleine Gebäude befindet sich, leicht versteckt, direkt am Ende einer Reihe von Kirschbäumen, die den Fluss säumen. Am anderen Ufer, über eine Brücke erreichbar, findet man Geschäfte und andere Einrichtungen, aber hier, auf dieser Seite, herrscht wenig Betrieb, weil es fast nur Wohnhäuser gibt. Da der Inhaber des Cafés auf Werbung verzichtet und bisher auch von keiner Zeitschrift für einen Artikel interviewt oder in einer Zeitung erwähnt wurde, ist es nur einem kleinen Stammpublikum bekannt.
Sitzgelegenheit bieten drei Tische mit Stühlen aus unbehandeltem Holz sowie fünf Barhocker am Tresen, und als Beleuchtung hängen Lampen von der Decke. Das Café ist nie gedrängelt voll, aber auch nie ganz leer, sodass ich praktisch immer Kunden zu bedienen habe, ohne meine Schürze zwischendurch abzubinden.
Kakao-san erscheint regelmäßig am Donnerstag. Nachmittags kurz nach drei betritt sie das Café und bleibt für drei Stunden. Meistens liest oder schreibt sie ellenlange Luftpostbriefe, schmökert in englischsprachigen Büchern oder schaut verträumt aus dem großen Panoramafenster.
In der Regel besuchen hauptsächlich Familien und ältere Leute unser Café am Nachmittag. Eine junge Frau wie Kakao-san ist eher die Ausnahme. Sie wirkt weder wie eine Studentin, noch trägt sie einen Ehering. Ich bin seit drei Jahren volljährig, Kakao-san dürfte kaum älter sein.
Ich selbst spreche kein Wort Englisch. Auch kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen Brief geschrieben habe. Deshalb erscheint es mir so, als spielten sich all die Ereignisse und Emotionen, über die sie berichtet oder von denen sie erfährt, in einer anderen Dimension ab. Sie verwendet Bögen aus hauchzartem Seidenpapier mit rot-blau-weiß umrandeten Umschlägen. Es mutet schon seltsam an, dass sie im digitalen Zeitalter noch handgeschriebene Briefe verschickt. Mit ihren altmodischen Retro-Utensilien scheint mir Kakao-san ziemlich weltfremd zu sein.
Als ich einmal ihren Tisch passierte, erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf den mit Füllfederhalter verfassten Text. Was für eine schöne Handschrift sie hat! Welche magischen Zauberformeln mochte sie wohl notiert haben?
Ich liebe es, Kakao-san beim Schreiben zu beobachten. Ihre Lippen formen sich dann zu anmutigen Bögen, während sich eine sanfte Röte über ihre blassen Wangen zieht. Die langen dunklen Wimpern ihrer blinzelnden Lider werfen anmutige Schatten auf die Partie unter den Augen.
Ganz vertieft ins Schreiben, schaut sie nie hoch. Daher kann ich sie in aller Ruhe betrachten. Sie wirkt so hingegeben, so voller Zuneigung für ihren Briefpartner, dass ich lächeln muss, aber auch leicht eifersüchtig bin. Zwei Gefühle, die sich in meiner Brust streiten.
Vor zwei Jahren habe ich die Stelle hier angetreten, zu Beginn des Sommers. Gedankenverloren schlenderte ich am Flussufer entlang und fragte mich, wie weit sich die Allee aus Laubbäumen wohl erstrecken mochte.
Zu jener Zeit war ich arbeitslos. Die Restaurantkette, bei der ich seit dem Highschool-Abschluss beschäftigt war, war in finanzielle Schwierigkeiten geraten und musste Mitarbeiter entlassen. Auch an jenem Tag hatte ich erfolglos versucht, mithilfe des Jobcenters eine neue Anstellung zu finden, und hatte deshalb auf dem Heimweg eine Menge Zeit, in der ich mir Sorgen um meine Zukunft machte. So ließ ich mich treiben und entdeckte schließlich das Café im Schatten der Bäume.
Ein Café an solch einem Ort? Ich prüfte mein Kleingeld in der Geldbörse, bevor ich eintrat. Eine Tasse Kaffee sollte wohl drin sein.
Der Raum war klein, aber gemütlich. Nachdem ich ziellos durch die Gegend gelaufen war, war ich froh, hier einen Platz zum Ausruhen gefunden zu haben. Es fühlte sich seltsam vertraut an, als würde ich in meine eigenen vier Wände zurückkehren, obwohl das hier mein erster Besuch war. Die Atmosphäre war das genaue Gegenteil zum hektischen Trubel der Restaurantkette, für die ich gearbeitet hatte.
Wenn ich doch hier arbeiten könnte …
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, und plötzlich stockte mir der Atem. Ein Mann, der offenbar zum Personal gehörte, klebte just in diesem Moment einen Aushang an die Wand: AUSHILFE GESUCHT.
Was für ein grandioser Zufall! Mein Herz pochte wie wild, als ich am Tresen Platz nahm.
Der Angestellte, der gerade den Zettel angebracht hatte, kam mit einem Glas Wasser und der Speisekarte auf mich zu. Klein und schlank von Statur, schätzte ich ihn um die fünfzig. Er wirkte so, als würden ihn keinerlei Sorgen bedrücken. Ein Muttermal in der Mitte seiner Stirn war das einzig Auffällige an ihm.
Ich warf einen Blick in die geschmackvoll gestaltete Speisekarte und bestellte, während ich die Preise überflog.
«Einen Kaffee, bitte!»
«Sehr wohl.»
Ich schaute dem Mann hinter dem Tresen aufmerksam zu, wie er das Getränk im röchelnden Kaffeesyphon zubereitete.
«Äh … darf ich fragen, ob Sie der Chef sind?»
«Ach, nenn mich einfach Master!» Er lachte. «Mein Leben lang habe ich davon geträumt, in meinem eigenen Laden guten Kaffee zuzubereiten.»
Der Master schob mir meinen Kaffee über die Theke. Der Keramikbecher, dem ein köstlicher Duft entstieg, war aus unglasiertem Ton. Als ich einen Schluck probierte, entfaltete sich ein mildes und zugleich intensives Aroma in meinem Mund. Dieser eine Schluck genügte, um wild entschlossen von meinem Hocker zu springen.
«Könnte ich mich für den Job bewerben? Ich würde liebend gern hier arbeiten.»
Der Master schaute mich schweigend und mit todernster Miene ein paar Sekunden lang prüfend an, dann sagte er: «In Ordnung, aber nur in Vollzeit.»
Ich war sprachlos. Ich hatte noch nicht einmal meinen Namen genannt. Und dann bekomme ich gleich eine volle Stelle?
«Brauchen Sie denn keinen Lebenslauf von mir? Und keine Personalien?»
«Nicht nötig. Ich habe einen guten Blick. Macht es dir denn etwas aus, Vollzeit und fest angestellt hier zu arbeiten? Oder wäre dir ein Teilzeitjob lieber?»
«Nein, nein …»
«Also, abgemacht?»
Er kam hinter dem Tresen hervor und löste die soeben angebrachte Annonce wieder von der Wand. So wurde ich eine Vollzeitkraft im Café Marble.
«Ich werde bald für eine Weile weg sein, Wataru-kun», erklärte er mir kurz darauf, als ich ihm meinen Namen genannt hatte. «Du übernimmst dann den Laden. Ich hatte von vornherein im Sinn, jemandem das Geschäft zu übergeben. Und nun kann ich es sogar eher, als ich gehofft hatte, da du zum Glück hier hereingeschneit bist.»
«Aber haben Sie nicht eben gesagt, dass Sie immer von einem eigenen Laden geträumt haben, in dem Sie den Kaffee selbst zubereiten?», wandte ich ein.
«Wenn Träume in Erfüllung gehen, wird es real. Ich aber bleibe bei meinen Träumen», erwiderte der Master mit schwärmerischem Blick.
In den folgenden zwei Jahren habe ich das Café Marble alleine geführt. Natürlich war der Master auch weiterhin der Eigentümer, während ich als Geschäftsführer fungierte. Es erschien mir völlig absurd, so unversehens die Verantwortung für ein Café zu übernehmen. Die überraschende Situation ließ mir jedoch keine Zeit, Bedenken aufkommen zu lassen.
Es gab kein Handbuch wie bei meiner vorherigen Anstellung in dem Franchise-Restaurant, und der Master hatte mir lediglich erklärt, wie man die Tür richtig abschließt.
Ich schlug mich so durch, lernte aus Fehlern und gewann mit der Zeit einige Stammkunden: eine ältere Dame, die mich wie einen Enkelsohn verhätschelte. Einen Vater mit Kind, der auf dem Heimweg von der Kita hier einkehrte. Ein weiterer Besucher war der Master selbst, der nach Lust und Laune in seinem Café aufkreuzte, wo er dann neue Bilder an die Wände hängte, die ich inzwischen schon nach meinem Geschmack gestaltete, oder sich als Gast mit einer Sportgazette an den Tresen setzte.
Meine Welt beschränkte sich auf das Café und auf ein Singleapartment in einem zweigeschossigen Mietshaus. Es ist eine kleine Welt, doch sie genügt mir voll und ganz. Ich mag meine altmodische und beengte, aber gemütliche Behausung mit dem leicht zu bedienenden Zwei-Flammen-Gaskocher. Vor allem aber liebe ich das Café.
Und als süße Zugabe habe ich mich in die kluge Besucherin mit dem kastanienbraunen Haar verliebt.
Es ist wohl nicht besonders ratsam, als Angestellter eine Kundin anzuhimmeln, aber ich begnüge mich mit meiner einseitigen Zuneigung. Um es mit den Worten des Cafébesitzers auszudrücken: Ich gebe mich meinen Träumen hin. Meine Gefühle für sie sind also nicht verwerflich. Es sind nur Gefühle, weiter nichts, doch allein das gibt mir Kraft. Es motiviert mich, mein Bestes zu geben. Und so bereite ich ihr an jedem Donnerstagnachmittag einen leckeren heißen Kakao zu.
Das war’s.
Es war an einem Donnerstag Mitte Juli, kurz nach der Regenzeit, als die Sonne ihr gleißendes Licht über die Stadt ergoss. Kurz nach drei, ich war schon zappelig, öffnete sich endlich wie gewohnt die Ladentür.
Aber etwas stimmte nicht mit Kakao-san, sie war anders als sonst. Sie wirkte erschöpft, in sich zusammengesackt, und ihre Umhängetasche rutschte ihr fast von der hängenden Schulter. Zu allem Unglück war ihr Stammplatz bereits besetzt. Eine Frau, elegant gekleidet in Bluse und engem Rock, saß dort. Sie wirkte sehr belesen. Auf dem Tisch vor ihr lagen mehrere Bücher, und sie hantierte eifrig mit ihrem Tablet.
Kakao-san warf ihr einen kurzen Blick zu und setzte sich dann, mit dem Rücken zu ihrem Lieblingsplatz, an den Tisch in der Mitte.
Ich brachte ihr ein Glas Wasser und die Speisekarte, doch trotz der schwülen Hitze draußen bestellte sie zu meiner Verwunderung ihren heißen Kakao. In diesem Moment schaute sie ausnahmsweise kurz zu mir auf, bevor sie erneut die Augen niederschlug.
Auch nachdem ich das Getränk serviert hatte, brütete sie vor sich hin. Sie holte weder Briefpapier noch ihren Füllfederhalter oder ein Buch aus ihrer Tasche, sondern stierte nur geistesabwesend auf die Tischkante.
Es war mir nicht entgangen, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Und ich wäre gerne zu ihr geeilt, aber das wäre nicht richtig gewesen. Für sie war ich nur ein Automat, der auf Knopfdruck bediente.
Kakao-san war sicher eine wohlerzogene Tochter aus gutem Haus, die nach einem ausgiebigen Auslandsaufenthalt fließend Englisch sprach oder regelmäßig verreiste. Der Empfänger ihrer Briefe war vermutlich ihr Freund, mit dem sie eine Fernbeziehung unterhielt. Ihre Welt schien für mich unerreichbar – und abgesehen vom Café hatten wir keine gemeinsamen Schnittpunkte.
Doch jetzt stand ich ganz nah bei ihr, so nah, dass ich sie berühren könnte. Wie gern würde ich ihre Tränen trocknen und ihre Hand halten, um ihr zu versichern, dass alles gut werden würde.
Aber so ein Wunder würde niemals geschehen. Zumal ich ja selbst nicht wissen konnte, ob sich alles zum Guten wenden würde. Ein Kellner und eine Stammkundin – ich durfte nicht mal meine Schürze ablegen, wie hätte ich ihr da helfen können?
Plötzlich knallten zwei Bücher auf den Boden. An Kakao-sans Stammplatz, wo die schicke Intellektuelle saß. Mit einem hörbar genervten Seufzer hob sie die Bücher wieder auf.
Was war denn nur los? Irgendwie schienen heute alle weiblichen Gäste sorgengeplagt zu sein.
«Oh, verdammt, schon wieder zu spät!», rief sie.
Nach einem Blick auf ihre Uhr verstaute die Frau in Windeseile ihre Sachen in ihrer eleganten schwarzen Tasche und stürmte panisch zum Tresen, um zu bezahlen.
Prima!, frohlockte ich insgeheim, obwohl sie mir auch ein wenig leidtat. Ich kassierte ab und händigte ihr blitzschnell die Quittung aus. Dann rannte ich beinahe, bewaffnet mit einem Tablett, zu dem leeren Platz zurück.
Das Glas mit dem Rest Eiskaffee, ein noch halb gefülltes Wasserglas, die feuchte Frotteeserviette, die Strohhalmhülle – so schnell es ging, lud ich alles aufs Tablett und wischte den Tisch sauber, als wollte ich bei einem Aufräumwettbewerb den ersten Preis gewinnen.
Schließlich drehte ich mich zu Kakao-san und erklärte: «Ihr Platz ist frei!» Meine Stimme klang aufgeregt, als ich sie ansprach.
Erschrocken hob sie den Kopf.
Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, zu aufdringlich zu sein, aber ich wollte irgendwie zum Ausdruck bringen, was ich fühlte, und nahm meinen ganzen Mut zusammen.
«Das ist doch Ihr Stammplatz», erklärte ich. «Ich kann mir vorstellen, dass es einem besser geht, wenn man sich an einem vertrauten Ort aufhält.»
Völlig verblüfft riss Kakao-san nun erst recht die Augen auf und drehte sich irritiert zu dem soeben leer gewordenen Platz um. Dann lächelte sie – ein Lächeln, das Schnee zum Schmelzen bringen konnte.
«Danke», sagte sie. «Bestimmt haben Sie recht.»
Sie wechselte zu ihrem Stammplatz und blickte eine Weile aus dem Fenster. Als sie ihre Tasse heißen Kakao geleert hatte, bestellte sie zu meiner Überraschung noch eine.
Umgehend brachte ich ihr den zweiten Kakao und sah, dass sie wie üblich im Begriff war, einen Brief zu schreiben.
Beim Servieren sprach sie mich an.
«Sagen Sie …»
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich zuckte zusammen und verschüttete ein paar Tropfen auf den Briefbogen.
«Oh, entschuldigen Sie vielmals! Es tut mir wirklich leid!»
Was für ein Schlamassel, wo es doch gerade so gut lief!
Ich spürte, wie mir das gesamte Blut aus den Adern wich wie bei einer zurückfließenden Welle. Hastig versuchte ich, den Fleck mit einer Papierserviette zu entfernen.
«Warten Sie!»
Ihre Hand legte sich auf meine. Mein Herz sprang in meiner Brust wie ein Fisch aus dem Wasser.
«Schauen Sie, das sieht doch aus wie ein Herz aus Schokolade.»
«Ein Herz?»
Ich sah mir den Kakaofleck genauer an, und tatsächlich bildete sich daraus ein leicht verzerrtes Herz.
«Das ist süß!», rief sie. «Ich werde es so verschicken.»
Sie geriet in Verzückung wie ein Kind, das einen Regenbogen entdeckt hatte, und lachte vor Freude. Das Fischlein in mir vollführte inzwischen gewaltige Luftsprünge.
«Und ich werde dazuschreiben: Mach’s dir gemütlich mit einer Tasse heißem Kakao!», fügte sie hinzu.
Mit einem eleganten Schwung notierte sie den Satz auf Englisch und strahlte zufrieden. Wie immer an ihrem gewohnten Platz.
Und ich begriff: Wunder geschehen überall, auch in meinem Mikrokosmos – in dem ich heute zum ersten Mal berührt worden war von ihrer zarten Hand. Und mit einem fröhlichen Lächeln belohnt. Einem Lächeln, das nur mir galt.
«My dear friend Mary …» stand neben dem Schokoladenherz.
Sogar ich, des Englischen nicht mächtig, verstand diese Anrede. Es handelte sich um einen Brief an eine Freundin Mary, vermutlich ihre Busenfreundin. Ich wusste zwar nicht, weshalb Kakao-san manchmal weinen musste, aber, so vermutete ich, glücklicherweise nicht aus Liebeskummer wegen einer Fernbeziehung.
Mein Lächeln verbarg ich hinter dem Tablett.
Gelb – Tokio
A