Dorian Hunter 100 - Der Narrentum - Dario Vandis - E-Book

Dorian Hunter 100 - Der Narrentum E-Book

Dario Vandis

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Beschreibung

Ausgerechnet der Dämonenkiller Dorian Hunter wurde zum neuen Schiedsrichter der Schwarzen Familie erkoren! Was wie eine erratische, verrückte Entscheidung des Eidesstabs wirkt, verändert die Konstellationen im Kampf gegen die Dämonen komplett – erst recht, als Dorian in der Kanzlei des Schiedsrichters den "Schrein der Schande" entdeckt: ein bisher verborgenes magisches Archiv, in dem sich einige rätselhafte Artefakte befinden. Schnell finden Dorian und Coco heraus, dass sie nicht der Schwarzen Familie entstammen können. Kurz darauf sind einige der Gegenstande verschwunden …

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Der Narrenturm

 

Band 100

 

Der Narrenturm

 

von Dario Vandis, Michael M. Thurner und Christian Schwarz

 

Impressum

 

© Zaubermond Verlag 2024

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

 

Titelbild: Mark Freier

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis
Der Narrenturm
Impressum
Was bisher geschah
Vorwort I
Vorwort II
Vorwort III
Erstes Buch: Austerlitz
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Zweites Buch: Sophie
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Drittes Buch: Der Narrenturm
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7

 

Was bisher geschah

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen gewidmet, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. De Condes Versuch, den Teufel zu überlisten, scheiterte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Den Posten des Schiedsrichters nimmt die babylonische Vampirin Salamanda Setis an. Gleichzeitig gelingt es Dorian mithilfe seiner Tochter Irene, ganz Großbritannien fast vollständig von Dämonen zu befreien. Um Salamanda als Schiedsrichterin zu stürzen, unterstützt Dorian seinen alten Bekannten, den Januskopf Olivaro, als Schiedsrichter-Gegenkandidaten. Die endgültige Entscheidung über das Schiedsrichteramt soll bei einem Wettstreit fallen. Dieser endet mit Salamandas Tod, aber auch damit, dass der Eidesstab Dorian zum neuen Schiedsrichter erwählt. Asmodi erkennt diese Wahl nicht an und ernennt Zakum, den Archivar der Schwarzen Familie, zum Schiedsrichter. Das hält Dorian nicht davon ab, die Schiedsrichter-Kanzlei in Wien zu besetzen und das Amt anzutreten, mit dem Ziel, die Schwarze Familie von innen heraus zu zerstören.

In der Kanzlei entdeckt Dorian hinter einer magischen Barriere den »Schrein der Schande«, der einige geheimnisvolle Artefakte enthält. Eines davon ist ein Buch, das in Dorian die Erinnerung an ein fremdes Leben weckt. Offenbar wurde der Mönch Turpin vor vielen Jahrhunderten von einer Dämonin namens Lima versklavt. Hunter ahnt nicht, dass sich Limas und seine Wege schon einmal gekreuzt haben und dass aus den Artefakten im Schrein der Schande eine Gefahr erwächst, die über alles hinausgeht, was er bisher erlebt hat …

 

Vorwort I

Eher Franco Nero als Roger Moore

von Kai Meyer

 

Zu den Hochzeiten des Heftromans machten die meisten Horrorserien den Eindruck, die Recherche der Autoren beschränke sich auf die vage Erinnerung an Edgar-Wallace-Filme. Der Chef des »Yard« war ein Sir, man trank viel Tee und Whiskey, alte Damen wohnten in Cottages, Polizist und Reporter zu sein war irgendwie dasselbe.

Auch beim Dämonenkiller – jetzt DORIAN HUNTER – strotzte nicht jedes Heft von Fachwissen und Ortskenntnis (einmal wurde ein Godzilla-Film in Roms Cinecittà-Studios gedreht), aber auf eines konnte man sich verlassen: Wenn es um Okkultes ging, um Schwarze Magie und Hexerei, dann wusste Ernst Vlcek genau, wovon er sprach.

In einem Interview hat Kurt Luif einmal die Quelle verraten, aus der Teile der Dämonenkiller-Mythologie stammten: ein großformatiges Buch von Kurt Seligmann mit dem Titel »Das Weltreich der Magie«, ursprünglich 1948 erschienen. Als Fan hatte ich nichts Besseres zu tun, als mir den Band umgehend antiquarisch zu besorgen. Und siehe da: Seligmanns Buch ist auch heute noch eines der besten Werke zum Thema – und eine Fundgrube in Sachen Dämonenkiller.

Blättern wir willkürlich hinein, finden wir Kapitel über Hermes Trismegistos, über Hexen und ihren Sabbat, über Doktor Faustus, die magischen Künste und natürlich den Teufel und seine Helfer. Freilich gab es im Dämonenkiller auch die ganze Palette der klassischen Horrorfiguren – Vampire, Werwölfe, das übliche Gezücht –, doch oft genug hatte man bei ihren Auftritten den Eindruck von lästiger Pflichterfüllung. Weit mehr schien Vlcek sich in seinen Exposés für bodenständigen Okkultismus zu interessieren: für Dämonenanbetung und Schwarze Messen, für Alchimie und Hermetik. Allesamt Themen, die damals durch die Popkultur wehten wie Haschischwolken durch die Treppenhäuser linker Kommunen. Um 1970, als Seligmanns Standardwerk neu aufgelegt wurde und in vielen Buchläden stand, gehörten der Druden- und Bocksfuß zum jugendlichen Zeitgeist.

Kein Zweifel: Der Dämonenkiller war die modernste, die rebellischste, sogar die politischste Horrorserie der damaligen Zeit.

In den frühen Siebzigern, als die Fundamente der Serie gelegt wurden, basierten die meisten Heftreihen auf einem Bild des Horrorgenres, das in den Dreißiger- bis Sechzigerjahren entstanden war. Da geisterten Vampire und Mumien über nebelverhangene Friedhöfe, die in den Universal-Studios in Schwarzweiß erfunden und für die Hammer-Filme quietschbunt aufgewärmt worden waren. Zwar gab es all das auch im Dämonenkiller, doch wohnte Vlceks aberwitzigen Konzepten ein Element von Auflehnung inne, das zur selben Zeit auch im europäischen Genrefilm entfesselt wurde: die anarchistische Horrorerotik im Werk von Jean Rollin und Jess Franco, die Verschwörungsplots der neorealistischen Mafiathriller von Damiano Damiani und Francesco Rosi, der Aufstand gegen Opas betuliches Unterhaltungskino. Dorian Hunter war immer mehr Franco Nero als Roger Moore, mehr Maurizio Merli als Joachim Fuchsberger – er trug sogar den gleichen coolen Schnäuzer.

Die Schwarze Familie, die Vlcek als Dorian Hunters Widersacher erfand, ist eine satanische Cosa Nostra, ein Geheimbund mit Hörnern, eine in Horror getauchte Allegorie für die Oberen Zehntausend und ihre Unterdrückung der Massen. Da wehte ein Hauch von Gegenkultur und Populärmarxismus durch die Hefte, der womöglich beabsichtigt war, vielleicht aber auch nur in der Luft lag und von Vlcek mit einer Sensibilität für die Welt jenseits knarrender Spukschlösser aufgefangen wurde. Nicht einmal die historischen Episoden, in denen der Hammer-Film-Charme so nahegelegen hätte, kamen ohne diesen Kampfruf aus: Auch hier gab es den Aufstand gegen den von Asmodi unterwanderten Adel, die Sympathie für die Ausgestoßenen und Außenseiter.

Mehr Moderne in der Historie konnte man vom Heftroman nicht erwarten, und wenn auch einzelne Romane oft an der Routine ihrer Autoren scheiterten, so waren doch die Ideen dahinter groß geträumt, klug konzipiert und vollkommen furchtlos. Vielleicht war die Serie radikaler, als ihre beiden Väter ahnten. Und gerade wegen dieser Mixtur aus Gegenwartsgefühl und Esoterik, gewürzt mit dem Gängigen von Grusel bis Bond, konnte kein anderer Geisterjäger Hunter das Wasser reichen.

Heute macht uns das nostalgisch.

Damals war es sensationell.

 

Vorwort II

Einige Worte zu Dorian, Perry und auch mir

von Klaus N. Frick

 

Als ich in den späten 70er-Jahren damit anfing – wie viele gleichaltrige Jugendliche –, allerlei Heftromane zu lesen, wurde mir schnell klar, was mir wirklich gefiel. Es war die Science Fiction, die mich am stärksten ansprach, und ich blieb dann eben bei PERRY RHODAN. Wie lange und wie intensiv ich an dieser Science-Fiction-Serie »hängenbleiben« sollte, konnte ich mir als Jugendlicher allerdings nicht vorstellen.

Meine Versuche, Gruselhefte zu lesen, wie man Horror-Romane damals nannte, schlugen fehl. Ich probierte es bei einigen Serien aus, fand sie aber meist nicht ansprechend, gab dann auf und blieb der Science Fiction treu. Aus diesem Grund las ich auch nie einen Roman der Serie Dämonenkiller, obwohl ich wusste, dass dort Ernst Vlcek einer der wichtigsten Autoren war – und dessen Romane mochte ich ja bei PERRY RHODAN.

Es sollte lang dauern, bis ich mich wirklich mit dem Dämonenkiller anfreundete. Als der Zaubermond-Verlag damit begann, die klassischen Romanhefte unter dem Serientitel DORIAN HUNTER in Form von Hardcover-Bänden neu zu veröffentlichen, wollte ich die Bücher unbedingt lesen. Ich schaffte es nicht, ständig kam etwas dazwischen, und so schob ich die Lektüre unaufhörlich vor mir her.

Das wurde anders, als Zaubermond begann, die Hörspiele zur Serie zu produzieren. DORIAN HUNTER als Hörspiel erwies sich für mich als Türöffner zu einer phantastischen Welt des Schreckens und der Abenteuer. Schon das erste Hörspiel, in dem Dorian Hunter erfährt, dass er der Sohn des Dämons Asmodi ist, packte und faszinierte mich. Ich war von der Art und Weise gefesselt, wie die Geschichte erzählt wurde, und ich fand die Stimmen und Geräusche beeindruckend.

Danach blieb ich dabei. Voller Interesse verfolgte ich, wie Dorian Hunter immer mehr über die Schwarze Familie herausfindet, was er über seine Vergangenheit lernt und wie er gelegentlich auch seinen moralischen Kompass aus den Augen verliert. Die Geschichten sind mitreißend, und ich kann mir nun gut vorstellen, wie sie sich im Original lesen.

Natürlich liegt es an der spannenden Umsetzung als Hörspiel, dass ich bei DORIAN HUNTER mittlerweile zum Fan geworden bin. Die Dialoge sind packend, die Geräusche und die Musik sind sorgsam eingesetzt, jedes Hörspiel für sich hat einen eigenen Spannungsbogen, der es mir schwerfallen lässt, es »einfach nur so« oder nebenbei zu hören. Die Grundlage aber bilden die Ideen, die Ernst Vlcek mit seinem Freund und Kollegen Kurt Luif in den Siebzigerjahren entwickelt hat – das ist immer noch der Stoff, aus dem die Serie besteht.

Immer wieder nehme ich eines der Taschenbücher in die Hand, die Zaubermond veröffentlicht. Ernst Vlceks Erbe wurde vor allem von Michael Marcus Thurner angetreten, einem Autor, der ebenfalls in Wien lebt und mit dem ich seit vielen Jahren zusammenarbeite. Seine Ideen sind häufig sehr düster, das weiß ich aus seinen bisherigen Romanen; bei DORIAN HUNTER kann er sich offensichtlich wunderbar ausleben und seinem Vorbild Ernst Vlcek in dieser Weise folgen.

So freue ich mich umso mehr, dass die Serie jetzt endlich, nach einer »kleineren längeren« Pause, endlich den hundertsten Band erreicht. Das finde ich beeindruckend, das ist ein starkes Jubiläum. Wenn Ernst Vlcek das noch erleben könnte, wäre er auf die Autorinnen und Autoren, die sein Werk fortsetzen, sicher sehr stolz.

Ich gratuliere dem Dämonenkiller und damit auch DORIAN HUNTER zu diesem Jubiläum und wünsche viele weitere Jubiläen dieser Art!

 

Vorwort III

Ein Glas Bourbon, ’ne Players und eine gnostische Gemme …

von Dennis Ehrhardt

 

… und ein bisschen Spontaneität und Erfindungsreichtum. Mehr brauchte es für Dorian Hunter eigentlich nie, um sich im Kampf gegen die Dämonen der Schwarzen Familie zu behaupten. Für mich war gerade das immer das Faszinierende an dieser Serie: dass der Titelheld zeit seines Lebens ein Improvisator geblieben ist. Selbst wenn er zwischenzeitlich auf ein recht beachtliches Repertoire an Waffen und Fähigkeiten zurückgreifen konnte, waren diese immer originell gestaltet und unvorhersehbar in der Anwendung. Man denke nur an den Ys-Spiegel, dessen regelmäßiger Gebrauch ungefähr so abhängig machte wie Oxycodon – oder an den magischen Vexierer, mit dessen Hilfe Dorian unterschiedliche Gestalten annehmen konnte.

Genauso unvorhersehbar und spannend waren auch die Nebenfiguren gestaltet, allen voran die hauptfigurenhafteste aller Nebenfiguren dieser Welt, die ehemalige Hexe Coco Zamis. Dass sie aus Liebe zu Dorian Hunter die Seiten wechselte und die Schwarze Familie verließ, möchte man ihr im Nachhinein beinahe als Schwäche im echten Wortsinn auslegen. Ihre einzige selbstverständlich, denn ansonsten war und ist Coco, wohl auch aufgrund ihrer schwierigen und mitunter einsamen Kindheit, so stark, so reif und so klug, dass ich, sollte ich je das Pech haben, im Dunkeln einem Dämon zu begegnen, lieber sie an meiner Seite hätte als Dorian. Sorry, mein lieber Dämonenkiller!

Neben allen inhaltlichen Aspekten, auf die Kai Meyer in seinem Vorwort ja schon ausführlich eingegangen ist, kann die Serie auch verlegerisch auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Der erste Roman »Im Zeichen des Bösen« erschien bekanntlich am 17. Juli 1973 im Pabel-Verlag. Dort erlebte die Serie zwei Einstellungen, einmal durch Intervention des Jugendschutzes und ein zweites Mal durch sinkende Verkaufszahlen. Aber die Fans blieben ihrem Dämonenkiller treu, und so erblickte DORIAN HUNTER schließlich 1994 ein drittes Mal das Licht der Welt und fand zwischen zwei Buchdeckeln wohl endlich das angemessene Format, denn in dem vorliegenden Buch 100 sind bereits die Romane Nr. 327-329 versammelt. Die Neuauflage und Fortschreibung bei Zaubermond hat die Erstauflage damit sowohl hinsichtlich der Laufzeit wie auch des Umfangs lange überholt, von der Hörspielserie, die ebenfalls schon fünfzig Folgen erreicht hat, dem Spin-Off DAS HAUS ZAMIS sowie den aktuellen Romanheft-Lizenzausgaben von DH und DHZ im Bastei-Verlag gar nicht zu reden.

Umso mehr freut es mich, dass dieser Jubiläumsband nun auch endlich erscheinen kann. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn die Erwartungen waren, auch und vor allem bei uns Autoren, äußerst hoch. Natürlich ist das 100. Buch für die Serie eine Zäsur. Es muss etwas absolut Neues beginnen, aber gleichzeitig soll sich das Buch ebenso wie die folgenden natürlich anfühlen und lesen wie ein echter Dämonenkiller. Ich – oder besser gesagt, mein Alter Ego Dario Vandis, zu dem ich anlässlich dieses Bandes nach vielen Jahren zurückgekehrt bin – habe mich deshalb entschieden, in den vorliegenden drei Teilromanen ausführlich in Dorians 13. Leben als Hugo Bassarak einzutauchen, in dem bekanntlich noch ein großer weißer Fleck existiert. So haben wir zwar in Buch 76 erfahren, wie Hugo starb, aber zwischen seinem Ableben im Jahr 1814 und dem Abenteuer auf der Île du Diable, geschildert in Buch 98, liegen beinahe zehn Jahre, aus denen wir nur wissen, dass er in der Grande Armée Napoleons gekämpft und dabei ein Bein verloren hat. In diesem Jubiläumsband habe ich angefangen, zumindest eine erste Ecke dieses Flecks mit Farbe zu füllen. Weitere Hugo-Bassarak-Abenteuer werden folgen, so wie auch Dorians neuer Gegner im vorliegenden Buch sein Potenzial lediglich andeutet, aber noch lange nicht ausschöpft.

Eine besondere Erwähnung verdient noch der »Narrenturm«, der dem dritten Roman – und auch dem ganzen Buch – den Titel gibt. Im Zuge meiner Recherchen über das Leben in Wien um das Jahr 1805 bin ich auf diese Einrichtung für psychisch Kranke gestoßen, die im Jahr 1784 erbaut wurde und damals als sehr fortschrittlich galt, obwohl die Insassen natürlich unter für uns heute unvorstellbaren Bedingungen gelebt haben. So ließ Michael Viszanik, als er im Jahr 1844 als Primararzt die Leitung des Narrenturms übernahm, aus den Zellen gut dreißig Zentner Ketten entfernen.

Der Narrenturm beherbergt heute das pathologisch-anatomische Bundesmuseum »mit seinen tausenden Wachs- und Feuchtpräparaten, einer einzigartigen Dokumentation körperlicher Hinfällig- und Krankhaftigkeit« und damit »weltweit die wohl größte Sammlung derartiger Exponate«, wie Arnold Stohl in seinem Werk »Der Narrenturm oder die dunkle Seite der Wissenschaft« schreibt. Im selben Buch geht der Autor noch einem ganz anderen Geheimnis auf den Grund. So wurde der Bau des Narrenturms auf Initiative des damaligen Kaisers Joseph II. sehr wahrscheinlich auf Basis magischer-alchemistischer und astrologischer Prinzipien geplant. Natürlich habe ich mir diese Steilvorlage nicht entgehen lassen und die entsprechenden Details in den Roman eingebaut. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem empfehle ich übrigens obiges Buch, in dem Arnold Stohl noch viele weitere unheimliche Details über den Narrenturm ans Licht bringt.

Kommen wir zu den Menschen, die mich beim Schreiben dieses Jubiläumsabenteuers ganz wesentlich unterstützt haben. Eine sehr große Hilfe war mir Jürg Schmidt, der mit seinem DORIAN HUNTER-Lexikon ein gewaltiges Sekundärwerk der Serie geschaffen hat. Nicht nur durfte ich es exklusiv vorab regelmäßig nutzen, um Erinnerungen an frühere Romane aufzufrischen, auch hat mir Jürg während unseres E-Mail-Verkehrs zahlreiche Tipps gegeben und damit überhaupt erst ermöglicht, dass Buch 100 in dieser Form erscheinen kann.

Mein Dank gilt zudem allen Autoren, die die Serie über kürzere oder längere Zeit begleitet haben. Hier sind posthum natürlich vor allem Ernst Vlcek und Kurt Luif zu nennen, die die Serie entwickelt und geprägt haben. Ebenso gilt mein Dank aber Antares Bottlinger alias Susanne Wilhelm, Christoph Dittert alias Christian Montillon, Uwe Voehl alias Logan Dee sowie Michael M. Thurner, die alle der Serie nicht nur ganz besonders lang die Treue gehalten haben, sondern zu verschiedenen Phasen und teilweise bis heute als Autoren der Handlungsexposés an Bord sind.

Außerdem danke ich dem Illustrator Mark Freier und dem Grafiker und Layouter Sebastian Hopf, die die Serie beide von Band 1 der Taschenbuch-Ausgabe an visuell geprägt haben, und ich danke Thomas Born, der Zaubermond bis zum Jahr 2006 als Verleger geführt und damit auch mir den Einstieg in die Serie ermöglicht hat. Dank geht ebenso an Klaus N. Frick und das Team der PERRY RHODAN-Redaktion, die das Projekt DORIAN HUNTER bei Zaubermond über bislang sage und schreibe dreißig Jahre zu jedem Zeitpunkt großartig unterstützt haben.

Darüber hinaus habe ich noch so unendlich vielen weiteren Personen zu danken, die im Laufe der Zeit ihren Teil zum Erfolg der Serie beigetragen haben, dass ich sie an dieser Stelle unmöglich alle aufzählen kann. Sie mögen es mir darum nachsehen, dass ich mich namentlich auf meine Frau Silke Bruns beschränke, die meine Leidenschaft für die Serie über Jahrzehnte und gerade auch wieder in den letzten Monaten nicht nur ausgehalten, sondern nach besten Kräften unterstützt hat, und auf meine Eltern Birgit und Jochen Ehrhardt, ohne deren Hilfe zu gegebener Zeit es einen Verleger Dennis Ehrhardt bei Zaubermond und damit vielleicht auch eine Fortführung von DORIAN HUNTER bis zum heutigen Tage nie gegeben hätte.

Mein größter Dank gilt allerdings wieder einmal an euch, ihr Leser dieser unvergleichlichen Serie. Ihr habt dieses mittlerweile unfassbare fünfzig Jahre andauernde Abenteuer möglich gemacht und ermöglicht es auch weiterhin! Vielen Dank für eure Treue, die ihr allein mit dem Warten auf diesen Jubiläumsband erneut bewiesen habt.

Ihr seid die besten, ganz, ganz ehrlich!

 

Erstes Buch: Austerlitz

 

Austerlitz

 

von Dario Vandis und Michael M. Thurner

 

 

Kapitel 1

 

»Leichen sind etwas Wunderbares«, schwärmte der kleine, dunkle Australier, der sich als Leichenbestatter vorgestellt hatte. »Wenn die Angehörigen ihre Verstorbenen zu mir bringen, sind sie kalt und weiß wie Wachsfiguren. Wenn sie aber erst einmal durch meine Hände gegangen sind …«

»… ist erst recht nichts mehr von ihnen übrig – außer einem Haufen säuberlich abgenagter Knochen!«, feixte der große, breitschultrige Schwede Jörg Eklund, dem die Augenbrauen über der Nase zusammengewachsen waren.

Der Sizilianer Bruno Guozzi fiel in das Gelächter ein. Seine heisere Stimme klang wie das Rasseln von Ketten in einer Gruft. Die fünf anderen Fahrgäste kicherten, während Dorian Hunter einen Blick aus dem Fenster warf. Der Bus rumpelte über ein Schlagloch – als vor ihnen endlich die Silhouette eines Dorfes auftauchte.

Dorians Hand glitt über den Bezug neben sich.

Für einen Augenblick hatte er das Gefühl gehabt, dass dort jemand sitzen müsste.

Aber der Platz neben ihm war leer.

 

Der Bus hielt mit quietschenden Bremsen auf dem Dorfplatz.

Einer der Fahrgäste, ein schmächtiger Mann mit sonnengebräunter Haut, presste die Hand gegen die Scheibe. Seine Finger zuckten nervös.

»Das ist Asmoda?«

»Das klingt ja beinahe enttäuscht, Robert.«

Ein spöttischer Kommentar, den der kleine, dickliche Mann neben ihm hatte fallenlassen. Er war wohl kaum älter als Dorian und die anderen, trug aber bereits eine Halbglatze, und die Worte verrieten einen französischen Akzent. Er streckte Dorian die Hand entgegen. »Gestatten, de Buer. Ich bin …«

»… der jüngste Serologe Frankreichs«, murmelte Dorian, während ihm ein Schauer über den Rücken lief.

»Ja, woher …«

Dorian ließ den Mann stehen und verließ den Bus. Es war helllichter Tag, doch der Dorfplatz war verlassen, als hätten sich die Bewohner des Dörfchens vor der prallen Sonne zurückgezogen. In der Luft hing der Geruch von Knoblauch. Im Augenwinkel bemerkte Dorian die Bewegung einer Gestalt – ein junger Mann, der auf einer Mauer hockte und sie betrachtete. Dorian wollte ihn ansprechen, als neben ihm ein Knall ertönte. Eine Klappe war auf das Kopfsteinpflaster geknallt, und aus der Öffnung zog der Busfahrer die Koffer und warf sie auf die Straße.

»Sachte«, brummte Dorian und wartete auf den zweiten Koffer … als ihm auffiel, dass er doch nur mit einem Koffer angereist war.

»Beim nächsten Mal bitte vorsichtig«, bat de Buer. »In meinem Koffer befinden sich nämlich Blutproben, die ich …«

»Es wird garantiert kein nächstes Mal geben!«, zischte der Busfahrer. »Ich bin ja nicht lebensmüde! Und darum bin ich auch garantiert vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause!« Kaum hatte er den letzten Koffer auf die Straße geworfen, schloss er die Klappe und verschwand in den Bus. Der Auspuff spuckte eine Qualmwolke aus, und der Bus rumpelte über das Kopfsteinpflaster davon.

Die Männer blickten sich um und dachten wahrscheinlich alle das Gleiche. Dass es nicht schaden konnte, sich eine Unterkunft für die Nacht zu sichern.

Es war Dorian, der irgendwo in einer Seitengasse ein Schild aufblitzen sah. Darauf stand »Herberge Jablonsky«.

 

Jablonsky, ein grobschlächtiger Mann mit einem dunklen, verfilzten Vollbart, raunzte Dorian und die anderen an, dass keine Zimmer frei seien. Bruno Guozzi legte ihm die Hand auf die Schulter, und im selben Maß, in dem Jablonskys Wangen schmaler und sein Bart grau wurde, lebte Guozzi auf. Seine Augen, die eben noch blutunterlaufen in den Höhlen gelegen hatten, blinzelten listig.

»Wo können wir denn sonst übernachten?«, fragte der Mann, der mit Robert angesprochen worden war.

»Auf dem Schloss«, röchelte Jablonsky. »Vukujev kann sie hinbringen.«

Dorian dachte an die Gestalt, die er auf dem Dorfplatz gesehen hatte. War das Vukujev gewesen?

Im selben Moment kam der Kerl auch schon zur Herberge hereinspaziert. Er kicherte und zog einen Speichelfaden ein. Jeder konnte sehen, dass er verrückt war.

Der Aufstieg zum Schloss, das jenseits des Ortes auf dem Gipfel eines bewaldeten Hügels lag, dauerte mehrere Stunden. Vukujev brachte die neun Männer in der einbrechenden Dunkelheit sicher ans Ziel.

Schweratmend erklommen sie die Stufen des Eingangsportals, und Dorian, der in der Linken seinen Koffer trug, hatte wieder das Gefühl, dass auf der anderen Seite, an der anderen Hand, etwas fehlte.

Jemand?

Bruno Guozzi wollte gegen die Tür hämmern, aber Dorian war schneller und drückte sie auf.

In der Eingangshalle dahinter stand eine Frau in einem schwarzen Kleid, das von einem weißen Mühlsteinkragen abgeschlossen wurde. In der Hand trug sie einen siebenarmigen Kerzenleuchter.

»Ich freue mich, dass ihr noch rechtzeitig eingetroffen seid. Herzlich willkommen in meinem Schloss. Ich heiße Margarete Ofenstock.«

 

Kapitel 2

 

Dauphiné, Frankreich

Mit hundertzwanzig Stundenkilometern jagte das schwarze Coupé über das schwarze Band in Richtung der Chaîne de Belledonne, deren Gipfel sich vor dem mondhellen Nachthimmel wie Scherenschnitte abzeichneten.

Am Steuer des Wagens saß Gaston Gaultier, dessen Schraubenfabrik heute Morgen Insolvenz angemeldet hatte. Was Gaultier nicht weiter störte, da er den größten Teil der liquiden Mittel rechtzeitig beiseite geschafft hatte. Vorhin nach dem Mittagessen hatte er darum die Geschäfte von La Vis Gaultier Société à Responsabilité Limitée sowie einen stattlichen Berg Schulden mitsamt der Meute geifernder Gläubiger an den Insolvenzverwalter Eric Bertrand weitergereicht.

Endlich frei! Schon heute Abend würde er die Freiheit nutzen, gemeinsam mit Lola, die er am Stadtrand von Paris aufgegabelt hatte. Per Anhalter zu fahren, was für ein Risiko! Da konnte sie froh sein, an einen seriösen Mann wie Gaultier geraten zu sein, der als Gegenleistung lediglich ein paar Stunden in einem gemeinsamen Motelzimmer verlangte.

Gaultier hoffte nur, dass sie nicht die ganze Nacht lang so plappern würde. Er lächelte verständnisvoll, als wäre die Geschichte von ihrer Freundin und der kaputten Waschmaschine das Interessanteste, was er in seinem ganzen Leben gehört hatte, und dachte gleichzeitig daran, wie er sie auf das Bett werfen und sich auf sie legen würde und …

Lola schrie auf, als eine schwarze Gestalt vor dem Wagen auftauchte.

Gaultier riss das Steuer herum. Der Wagen geriet ins Schleudern und drehte sich zwei Mal um die eigene Achse. Leider war die Kopfstütze modisch klein gestaltet, sodass Gaultier hören konnte, wie sein Halswirbel brach.

Der Wagen kam zum Stehen.

Lola rief wimmernd nach ihrer Mutter.

Im Rückspiegel nahm Gaultier eine Bewegung wahr. Die schwarze Gestalt näherte sich ihnen. Sie ging ruhig und langsam und gar nicht wie jemand, der beinahe überfahren worden wäre. Es war ein Mann in einer Kutte, wie Gaultier stirnrunzelnd feststellte. Ein Mönch? Gaultier begann zu schwitzen. Vielleicht der Schock. Irgendwas an dem Mönch kam ihm komisch vor.

Der Fremde klopfte gegen die Scheibe.

»Wer ist das?«, schrie Lola mit überkippender Stimme. »Was will der von uns?«

»Halt die Klappe.«

Der Fremde klopfte erneut.

Gaultiers Finger tasteten unbeholfen über die Seitenarmatur, weil irgendein Instinkt ihm riet, den Kopf lieber nicht zu sehr zu bewegen. Endlich erwischte er den richtigen Knopf und ließ die Scheibe runterfahren. Der Mönch beugte sich herab, sodass Gaultier sein Gesicht sehen konnte. Schulterlanges, dunkles Haar und ein Schnurrbart, der weit über die Mundwinkel herabhing. Mit einem gewissen Unbehagen bemerkte Gaultier, dass die Nase des Fremden mehrfach gebrochen war.

»Schönen guten Abend. Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert?«

Nein, sieht nicht so aus, also verpiss dich, damit wir weiterfahren können.

Gaultier streckte sich nach dem Schalthebel, aber der stechende Blick des Mönchs ließ ihn innehalten.

»Umkehren. Wales.«

Gaultier überlegte, ob er die beiden Worte wirklich gehört hatte.

»Umkehren. Wales«, wiederholte der Mönch.

»Ähm, tut mir leid, nach Wales geht’s, äh, glaub ich, da lang.« Gaultier deutete hinter sich. »Meine hübsche Kleine und ich sind dagegen auf dem Weg in die Berge.« Er deutete nach vorn, damit der Idiot es auch sicher kapierte. »Das wäre also die falsche Richtung. Schade, aber da kann man nichts machen. Tut mir leid.«

Der Mönch griff nach der Wagentür, und während Gaultier sich noch darüber freute, dass der Wagen bei Fahrt automatisch verriegelte, riss der Mönch die Tür aus dem Rahmen. Einfach so.

Neben Gaultier schrie Lola auf, und sie schrie weiter, ohne Luft zu holen. Gaultier überlegte, ihr eine zu scheuern, aber der scharfe Schmerz, der durch seinen Hals schoss, wenn er den Kopf zu weit nach rechts drehte, ließ ihn davon Abstand nehmen.

»Raus«, sagte der Mönch und hob die Hand, in der er so etwas hielt wie … wie …

War das eine Peitsche?

Gaultier sah lieber nicht so genau hin, weil der Schwanz der Peitsche aussah, als wäre er aus Wirbeln gemacht, die auf ein Seil gezogen worden waren.

Ich muss kotzen.

Der Mönch rollte die Peitsche aus.

»Hören Sie, Monsieur, ich kann nicht aussteigen, ehrlich nicht. Irgendwas ist mit meinem Hals, irgendwas … Ich glaub, es ist beim Unfall passiert …« Verdammt, konnte die Kleine neben ihm vielleicht mal das Maul halten! »Ich schwör, wenn ich aussteigen könnte, würd ich’s tun, ehrlich … Kann ich sonst vielleicht noch was für Sie t…«

Der Schlag erwischte Gaultier am Hals, und obwohl er nicht wusste, wie das möglich war, glitt der Schwanz der Peitsche durch die Mittelstrebe der Karosserie und die Kopfstütze und wickelte sich um Gaultiers Hals. Er röchelte, als der Mönch zuzog. Irgendwas in seinem Nacken knackte erneut, und Gaultier bemerkte, wie seine eigenen Hände ihm in den Schoß fielen wie faule Äpfel. »Monsieur, bitte …«

Gaultier verstummte, als der Mönch die freie Hand zwischen seine Rippen schob. Dank des gebrochenen Halswirbels empfand Gaultier keinen Schmerz und stierte halb betäubt auf die Hand, die der Mönch mit etwas darin wieder herauszog. Gaultier schnürte es endgültig die Luft ab.

Was ist denn los, Gaston? Irgendwelche Probleme?

Der Mönch riss die Peitsche zu sich heran. Gaston Gaultiers Kopf wurde aus dem Auto geschleudert und rollte, eine dunkle Spur hinter sich herziehend, in den Straßengraben.

Der heilige Mönch Turpin zog den Torso aus dem Gurt, warf ihn dem Kopf hinterher und richtete seinen Blick auf Lola. »Umkehren. Wales.«

Und Lola hörte endlich auf zu schreien.

 

»Margarete Ofenstock …?«

Dorian fuhr aus dem Schlaf und verspürte einen Hustenreiz.

Diese staubige Luft im Wohnbereich der Kanzlei. Als würde man in einem Museum übernachten. Aber er musste ja hier leben, in der Kanzlei in der Schönbrunner Straße in Wien, nachdem ihn der Eidesstab zum Schiedsrichter erwählt hatte. Darum hatte er Coco gebeten, ihm zu helfen, weil sie selbst einmal über Monate hinweg dieses Amt ausgefüllt hatte.

Offenbar hatte sie im Halbschlaf seine Worte wiederholt. Die dicke Daunendecke bedeckte ihren Körper, sodass nur ihr blondes Haar zu sehen war, das wie Weizen über das Kissen floss.

Blond?!

Natürlich war es Nimue, die neben ihm lag, und nicht Coco!

Nimue tastete im Halbschlaf nach ihm. Er drückte ihre Hand und hörte, wie sie erneut den Namen der Person murmelte, die ihm im Schlaf begegnet war.

»Margarete Ofenstock … wer ist das?«

Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass dieser Name überhaupt nicht zu dem Traum passte – dem Traum von seiner Fahrt nach Asmoda vor vielen Jahren, wo er und seine acht Brüder auf dem Schloss der Gräfin Anastasia von Lethian von ihrer wahren Bestimmung erfahren hatten.

Wer war diese Margarete Ofenstock, die in seinem Traum die Rolle der Gräfin eingenommen hatte?

Nimue atmete leise und regelmäßig. Sie war wieder eingeschlafen.

Was vielleicht bedeutete, dass der Traum harmlos war. Nimue besaß nämlich die Fähigkeit, Dämonen und übersinnliche Gestalten zu erkennen, wenn sie ihnen begegnete. Sie konnte ihre Scheingestalten, ihre Scharaden durchschauen. Bedeutete das allerdings auch, dass sie einen Traum durchschauen konnte?

Dorian sah auf die Uhr. Kurz vor fünf. Er konnte sowieso nicht mehr schlafen, also schlug er die Decke zur Seite und stand auf. Seine Füße glitten beinahe lautlos über den Perserteppich mit den safawidischen Motiven, der fast den gesamten Raum ausfüllte. Dorian verließ das Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Der Wohnbereich befand sich auf derselben Ebene wie die Kanzlei und war größer, als es von außen den Anschein hatte. Wer auf der Schönbrunner Straße vor der Kanzlei stand, erblickte nämlich lediglich ein niedriges, zweistöckiges Haus, das sich schüchtern zwischen die beiden Nachbargebäude duckte. Die Wohnung im Erdgeschoss war leer. Jedenfalls waren Dorian und Coco nie jemandem begegnet, wenn sie die Wendeltreppe in den ersten Stock hinaufstiegen. Vorn befand sich das Büro, das noch aus der Zeit von Skarabäus Toth stammte, als auch Coco noch ein Mitglied der Schwarzen Familie und öfter hier zu Gast gewesen war. Oft hatte Toth hinter dem großen Nierenschreibtisch gesessen, dessen Fächer Dorian nach seinem Eintreffen als erstes untersucht hatte.

Das wahre Geheimnis der Kanzlei hatte er zwei Schritte weiter entdeckt, hinter der Wandtäfelung, die wie auf einen magischen Befehl hin zur Seite geglitten war und den Weg in ein zweites, geheimes Treppenhaus preisgegeben hatte, in dem sich eine Halbebene unterhalb der Kanzlei der Schrein der Schande befand.

Die Bodendielen knarrten unter Dorians Füßen, als er das Gästezimmer passierte, in dem Coco schlief. Im Vorbeigehen griff er nach dem Eidesstab, der an der Wand lehnte, und verspürte eine seltsame Beklommenheit. Das zwischen Coco und ihm, das war … Vergangenheit.

Oder vielleicht auch nicht.

Auf jeden Fall wäre es unfair gewesen, Nimue mit Coco zu vergleichen. Er hatte mit Coco so viele Jahre gemeinsam verbracht, die häufig von Leid und Schmerzen geprägt gewesen waren – nicht nur wegen ihres gemeinsamen Sohnes Martin, den sie nach Jahren des Kampfes an die Dämonen verloren hatten, nicht nur wegen Dorians Abstammung und der de-Conde-Seele, die in ihm wiedergeboren worden war, sondern auch wegen Cocos Vergangenheit als Hexe innerhalb der Schwarzen Familie. Schon als Kind hatte sie versucht, aus dem Gefängnis auszubrechen, aber da war immer noch etwas in ihr, eine dunkle Seite, die sie nie loswerden würde. Zuletzt war sie während ihrer Zeit als Schiedsrichterin sichtbar geworden, als Cocos magische Kräfte zugenommen hatten – wie es sich für eine außerordentlich begabte Hexe von schwarzem Geblüt gehörte.

Coco glaubte, diese dunkle Seite in sich genauso kontrollieren zu können wie die Dämonen, die sie als Schiedsrichterin wie Marionetten zu führen gehofft hatte. Dieser Plan war grandios gescheitert, und fast hätte Coco ihre Hybris bei einem Tribunal der Dämonen mit der Verwandlung in einen Freak bezahlt.

Ein Wispern ließ Dorian innehalten. Es war aus einer mannshohen, mit Intarsien verzierten Vitrine gekommen, die neben dem Durchgang zum Büro aufragte – eines der wenigen Möbel, die beim Angriff der Schakalköpfe unbeschädigt geblieben waren. Der Mandragoro und seine magischen Helferlein hatten das Chaos inzwischen beseitigt und auch die Leichen der Angreifer verschwinden lassen. Die Kanzlei atmete wieder jene eigentümliche Atmosphäre, die sie schon während der Zeit von Skarabäus Toth ausgezeichnet hatte. In den Wänden, den Regalen, ja selbst in den Wänden und Tapeten schienen Geheimnisse zu lauern wie lebendige Wesen. Manche von ihnen präsentierten sich als Symbole, die in die Dielenböden geritzt waren, andere waren in die schweren Stofftapeten eingewebt oder wehten wie der Hauch einer gequälten Seele am Ohr eines Besuchers vorüber. Dorian vermutete, dass die Kanzlei noch viele Rätsel barg. Vielleicht würde es ihm irgendwann gelingen, einige von ihnen zu lösen … so wie er den Schrein der Schande gefunden hatte.

Coco, die als Schiedsrichterin eine lange Zeit in der Kanzlei verbracht hatte, hatte die magische Tarnung der Wandvertäfelung nicht durchschaut. War es Skarabäus Toth vielleicht ähnlich ergangen? War das Versteck von einem anderen Dämon angelegt worden, der vor Toth das Amt des Schiedsrichters ausgefüllt hatte?

Dorian kroch durch die Öffnung in das zweite Treppenhaus, das sich dahinter befand, und stieg die kalten, gemauerten Stufen hinunter. Links und rechts drückten die grob gemauerten Wände die Stufen immer weiter zusammen, bis Dorian das Loch in der Wand erreichte, dessen Inhalt sich hinter einem pulsierenden, ewig sanft in- und umeinander gleitenden grauen Nebelschwaden verbarg.

Dorian stieß den Eidesstab in den Nebel, der sich darum wand wie um eine Zuckerwattestange. Er zog den Stab heraus und blies gegen die Spitze. Der Nebel stob davon. Damit lag der Schrein der Schande vorübergehend frei. Er war etwa einen Meter breit und drei Meter hoch und wirkte wie aus einem Stück geschnitzt – aus dem Holz einer Eiche, die tief unter der Kanzlei in der Erde wurzeln musste. Wie die nordische Esche Yggdrasil, dachte Dorian, deren Wurzeln bis in die drei Welten Jötunheim, Niflheim und Asgard reichten. War das Gebäude vielleicht sogar um den Baum herum errichtet worden? Und wie war es möglich, dass der Baum nicht längst weitergewachsen war und das Dach aufgesprengt hatte?

Dorian, Coco und Nimue hatten sich bisher nur mit dem Schrein selbst befasst – und den Gegenständen, die wechselnd darin auftauchten und wieder verschwanden: eine Vase; Knochen und Krallen eines urzeitlichen Tieres; drei Tonsplitter, in die Keilschriftzeichen graviert worden waren; ein metallischer Arm, der hin und wieder kaum merkliche Bewegungen vollführte; eine Peitsche, die aus menschlichen, an einer Schnur oder einem Strang aufgereihten Knochenwirbeln zusammengesetzt war; ein Fötus, dessen Gesicht in bestimmten Abständen alterte oder jünger würde, als würde der Schrein sich in erratischer Weise in der Zeit bewegen.

Nur ein Fach blieb dauerhaft leer. Darin hatte der Foliant gelegen, den Dorian an sich genommen hatte.

Beim ersten Versuch, das Buch zu greifen, waren Flammen aus dem Schrein geschossen. Erst nach mehreren Tagen war es Coco, Nimue und Dorian gelungen, die magische Falle zu überwinden. In der Folge hatten sie versucht, die Zeichen im Buch zu entziffern, und dabei eine weitere Veränderung herbeigeführt: Die unheimliche Knochenpeitsche hatte sich in Luft aufgelöst!

Seitdem fürchtete Dorian, dass es ein Fehler gewesen sein mochte, in dem Buch zu lesen.

Dies sind die Schriften dreier Welten, die alles verändern können. Zum Guten wie zum Bösen. Zum Nutzen der Menschen oder der Dämonenvölker. Geh sorgsam mit diesem Wissen um, denn wenn du entschwörst, was lange verborgen war, ist dies ein Ruf, der alles zerstören kann. Der Ruf nach Limas Brut.

Daraufhin war Dorian von einer Vision heimgesucht worden, in der er einen Namen aufgeschnappt hatte. Turpin. Er wusste nicht, wer Turpin war – nur, dass er sich als »heiliger Dämon« bezeichnete. Aber wo befand Turpin sich? Lebte er überhaupt noch? In welcher Beziehung stand er zu Limas Brut?

Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, das Buch beiseitezulegen, aber offenbar hatte der Schrein etwas dagegen. Warum hätte er Dorian sonst zu sich rufen sollen?

Er hat mich nicht gerufen. Ich habe selbst entschieden, noch einmal hierherzukommen.

Wirklich?

Aber wenn der Schrein ihn manipulierte, ihn lockte … Warum dann der Nebel, der sich jetzt bereits wieder vor ihm zusammengeballt hatte, wie um zu verhindern, dass irgendjemand einen Blick auf den Schrein warf? Dorian ließ ihn mithilfe des Eidesstabs erneut verschwinden. Sein Herz klopfte, als er die Spitze des Stabs in den Schrein schob. In jenes Fach, in dem sich der Fötus befand. Ihm war, als würde der Fötus am Hinterkopf eine Delle besitzen … oder ein Loch … als ob ihm jemand einst den Schädel eingeschlagen hatte …

»Das solltest du nicht tun.«

Nimue war hinter ihm erschienen.

»Das Buch ist gefährlich.«

Zusammen mit Coco!

Er wandte sich um und hob die Brauen. Darum also war der Nebel zurückgekehrt. Dorian war der Schiedsrichter. Der Nebel verbarg den Inhalt des Schreins nur vor denjenigen, die nicht befugt waren, ihn zu erblicken!

»Ich konnte mir denken, dass du hier bist«, erklärte Coco.

»Und ich konnte spüren, dass du hier bist«, flüsterte Nimue und kassierte dafür von Coco einen stirnrunzelnden Blick.

Dorian konnte Cocos Misstrauen verstehen. Er wusste ja fast nichts über Nimue und war auf dem Semmering über sie gestolpert wie über einen Stein. Wie war es möglich, dass sie immun gegen jeden Versuch hypnotischer Beeinflussung war? Außerdem war sie sogar imstande, Dämonen zu vernichten, und hatte sich von der albtraumhaften Kulisse auf dem Semmering nicht ins Bockshorn jagen lassen. Auf der anderen Seite unternahm Nimue nichts, um Cocos Misstrauen zu zerstreuen. Im Gegenteil, zwischendurch stellte sie immer wieder eine geradezu kindliche Naivität zur Schau, die aufgrund der Erlebnisse am Semmering einfach gespielt sein musste.

Sie verheimlicht uns etwas.

Ja. Vielleicht. Aber …

Sie verheimlicht Coco etwas. Also ist das Cocos Problem. Und nicht meins.

Dorian war überrascht von der Kaltschnäuzigkeit des Gedankens. War da vielleicht doch noch ein Überrest des Dämons Alastor in ihm, der nicht ausgelöscht worden war? Oder hatte der unheimliche Parasit etwas damit zu tun, der Dorian durch einen magischen Skorpionstachel eingepflanzt worden war? Coco hatte den Parasiten entfernt und mithilfe des Basiliskenspiegels vernichtet, aber …

Coco hat mich gerettet. Wieder einmal.

»Hey«, sagte Nimue und strich sich mit ihren Fingernägeln eine Strähne hinter das Ohr. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Warum bist du dann hier?«

»Warum willst du das wissen?«, biss er in Cocos Richtung zurück, schärfer als er beabsichtigt hatte. »Stehe ich etwa unter Beobachtung?«

»Natürlich stehst du unter Beobachtung! Die Wunde an der Schulter ist noch nicht verheilt, und im Moment können wir nur hoffen, dass wir den Parasiten wirklich vollständig entfernt haben.«

Turpin, dachte Dorian zusammenhanglos. Der Name ging ihm nicht aus dem Kopf. Richtig, der Parasit. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich auf den dumpfen, pochenden Schmerz in der Schulter konzentrierte. Aber er ist fort, versuchte er sich zu beruhigen. Er ist fort.

Nimue wiegte den Kopf. »Also, ich finde, wir sollten aufpassen, dass nach der Knochenpeitsche nicht noch mehr Gegenstände verschwinden.«

»Und dafür müssen wir herausfinden, warum die Peitsche verschwunden ist!«

Nimue näherte sich ihm. Sie war ihm jetzt so nahe, dass es ihm unangenehm war. Oder unangenehm angenehm. Sodass er sie riechen und ihre Präsenz mit all seinen Sinnen spüren konnte.

»Ich glaube, dass der Foliant genau dafür geschaffen wurde«, sagte sie. »Er ist ein Entschwörungsbuch. Mit seiner Hilfe kann man jeden Gegenstand aus dem Schrein der Schande befreien, wenn man es nur möchte.« Sie wich einen Schritt zurück und setzte einen Unschuldsblick auf. »Das ist natürlich nur eine Vermutung.«

Er schüttelte den Kopf. »Das Buch ist mehr als das. Es ist eine Waffe.« Er bemerkte, dass Coco einen Einwand vorbringen wollte. »Stellt euch vor, wie es wäre, wenn wir all die Gegenstände, die hier im Schrein feststecken … wenn wir die befreien und gegen Dämonen einsetzen könnten!«

Die Möglichkeiten wären geradezu fantastisch. Vielleicht waren Gegenstände darunter, deren Wirkmächtigkeit selbst die der Lebensuhren Irenes übertrafen!

»Bis jetzt hatten wir damit nicht gerade viel Erfolg«, meinte Coco.

»Weil wir das Buch noch nicht richtig verstehen und seine Mechanismen nicht kennen!«

»Vielleicht sollten wir uns erst mal um die Kanzlei kümmern«, gab Nimue zu bedenken, »bevor die nächste Horde Schakaldämonen die Tür eintritt.«

»Nicht nötig«, sagte Coco. »Der Mandragoro und seine Helfer haben die Kanzlei abgesichert.«

»Nicht nötig ist alles. Bis es doch nötig ist.«

»Schluss jetzt«, sagte Dorian. »Wir sehen uns jetzt den Schrein an. Wenn wir nichts erreichen, kümmern wir uns ab morgen um eine … eine verbesserte Verteidigung der Kanzlei.«

»Wir könnten uns nach London zurückziehen«, schlug Coco vor. »Dort sind wir sicher.«

Nimue streichelte Dorians Wange. »Du bist geschwächt, Dorian. Ich bin mir sicher, das ist die Schulterwunde. Du musst dich erholen.«

»Wir alle brauchen Erholung«, sagte Coco.

 

Dorian hätte den Schrein der Schande lieber allein untersucht, aber Coco bestand darauf zu bleiben. Und Nimue sowieso.

Wie beim letzten Mal musste Coco sich stark konzentrieren, um den Nebel vor dem Schrein zurückzudrängen. Dorian bot an, mit dem Eidesstab nachzuhelfen, aber Coco antwortete ihm nicht einmal, sondern griff nach Nimues Hand.

Durch Nimues Körper ging ein Ruck, als würde sie eine Verbindung zu Coco herstellen. Was auch immer das bedeutete … Kurz darauf verzog sich der Nebel. Der Schrein der Schande lag frei. Seine Tiefe war nicht leicht zu bestimmen. Auf den ersten Anblick wirkte er wie ein Regal, in das man nur hineingreifen musste. Wenn man ihm sich aber näherte, war es, als würden die Fächer zurückweichen. Man musste ihnen folgen, den Schrein betreten …

»Ich schätze, wir haben zehn Minuten«, keuchte Coco, von deren Stirn Schweißperlen tropften. »Höchstens.«

Dorian tastete über das Holz. Es fühlte sich kühl an.

»Worauf wartest du?«, zischte Coco. »Eben warst du doch auch nicht so vorsichtig.«

Er unternahm den ersten Schritt. Ein Gegenstand im Schrein zog ihn besonders an. Es war nicht der Fötus und auch nicht die Vase oder die Knochen, sondern … doch bevor Dorian danach greifen konnte, hatte er vergessen, was es gewesen war. Der Gedanke war weg und sein Kopf völlig leer.

»Dorian …«

Da fiel es ihm wieder ein. Der Gegenstand. Der Gegenstand, den er unbedingt haben wollte. Es war … Er blinzelte und versuchte sich erneut zu erinnern.

»Was ist los?«

Der Schrein spielt mit mir. Er wollte ihn mit vorgegaukelten Bildern von nicht existierenden Gegenständen verwirren!Aber warum nur? Er war doch der Schiedsrichter! Wer wäre berechtigt gewesen, den Schrein in Augenschein zu nehmen, wenn nicht er?

»Dorian, beeil dich … bitte!«

Dorian konzentrierte sich auf den Fötus, den er vorhin fast mit dem Eidesstab berührt hatte. Er war faltig und wirkte irgendwie zusammengedrückt. Deutlich war jetzt das Loch an seinem Hinterkopf zu erkennen. Jetzt aber veränderte er sich erneut. Er changierte in Alter und Hautfarbe, immer wieder. Mal wirkte er dabei wie ein unausgereiftes Etwas, eine Ansammlung von Zellen, die – noch – nichts Menschliches an sich hatte, dann wirkte er wie ein neun Monate altes Baby, das darauf wartete, endlich durch den Geburtskanal rutschen zu dürfen.

Warum bist du hier? Warum durftest du nicht geboren werden? Oder wurdest du geboren? Was bist du?

Dorian versuchte vergeblich, den Blick von dem Fötus zu lösen. So musste er ansehen, wie er wieder schrumpfte, bis nur noch ein amorpher Zellhaufen übrig war.

»Dorian …« Cocos Stimme klang jetzt verzweifelt.

Da entdeckte Hunter ein Fach darüber etwas, das er bisher übersehen hatte: ein Schwert aus Holz. Das Herz schlug ihm auf einmal bis zum Hals. Er griff danach – als es vor seinen Augen zersplitterte … und die Splitter sich auflösten und verschwanden.

Genau wie damals.

Aber das war unmöglich. Einfach unmöglich.

Dieses Schwert war vor vielen Jahrhunderten zerstört worden!

»Dorian, komm zurück!«

Es war Nimue, die gerufen hatte. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie Coco stützen musste.

Nein. Ich muss weitersuchen. Ich muss …

Er zwang sich zur Umkehr. Mit schweren Beinen verließ er den Schrein.

Coco sank in Nimues Arme. Dorian spürte einen feuchten Lufthauch, dann war der Nebel auch schon zurückgekehrt und hatte sich vor den Schrein geschoben.

Coco war leichenblass. Sie hatte sich ihre Lippen blutig gebissen. Auch Nimue wirkte mitgenommen.

»Hast du irgendwas entdeckt?«

Dorian schüttelte den Kopf.

»Vielleicht sollten wir es doch noch mal mit dem Buch versuchen.«

Coco schüttelte den Kopf. Dorian fasste sie unter, und Nimue stützte sie auf der anderen Seite, bis sie das Loch hinter der Holzvertäfelung erreichten hatten. Dorian hatte das beunruhigende Gefühl, dass sich irgendetwas verändert hatte. Mit Coco? Mit Nimue? Oder mit ihm? Er konnte nicht sagen, was es war …

Er bückte sich und kletterte als Erster hindurch. Er wollte sich schon umdrehen, um Coco zu helfen, als ihm die Kandelaber und Kerzenlüster an der Decke auffielen. Er hatte sie bisher noch nie bemerkt. Genauso wenig wie die grellrote Tapete hinter dem Schreibtisch, die dämonische Schriftzeichen und Motive zeigte. Und erst recht nicht die Streckbank, die in der Mitte des Raumes aufgestellt war!

Darauf lag ein halb vertrocknetes, stinkendes Gerippe. Wirres, langes Haar rahmte ein ausgezehrtes, totenblasses Gesicht ein. Die Glieder waren unter einer schmutzigen, von getrocknetem Blut befleckten Uniform verborgen, die aus der Zeit der Habsburger stammte.

»Da schau her, fesch!«

Es war das Gerippe, das gesprochen hatte.

»Scheiße«, flüsterte Nimue.

»Ah, mit Schaas kann i net dienen, die Damen, es is’ hoit wias is’, der ist mir schon vor langer Zeit os’gangen!« Der Unterkiefer des Gerippes klapperte, als es in einem kaum verständlichen altwienerischen Dialekt hinzufügte: »Aber seid’s darum bitte net grantig, i’ bin sicher, ihr werd’s bei mir wohlfühl’n – hierinnen im Hospiz der Zeitlosen!«

 

Der lebende Tote strampelte mit den nackten Füßen, die fast nurmehr aus Knochen bestanden, und stöhnte auf seiner Streckbank. Nimue wich zurück und rannte aus dem Büro.

»Ei, was hat sie denn? Seh ich nicht fesch genug aus?« Er betrachtete Coco genauer, und in seinen Augenhöhlen leuchtete es auf. »Mein Weib war auch schwarzhaarig, wusstest du das? Du schaust ganz aus wie sie, nur noch schöner …«

Dorian griff in die Hosentasche, in der sich außer der zerknickten Schachtel Players eine gnostische Gemme befand. Auf dem Stein war ein Ouroboros abgebildet, der sich selbst in den Schwanz biss – ein Symbol für den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod.

Der Tote lachte auf, als er die Gemme erblickte. »Ah, das ist leiwand!« Es wirkte beinahe, als sei er ganz begeistert von der Aussicht, durch die Berührung mit der Gemme gefoltert zu werden.

Nimue kehrte mit der Beretta-Pistole zurück, die sie Dorian in die Hand drückte.

»Herrjeh, was seid ihr meinetwegen bemüht! Aber ich bin doch schon tot!«

»Die Waffe ist mit Silberkugeln geladen«, murmelte Hunter, während er sich umsah. Der Grundriss des Raumes entsprach dem des Schiedsrichterbüros. Nur das Mobiliar war anders. Die Kerzenlüster und auch der Sekretär aus Zedernholz und die schweren, staubigen Damastvorhänge – all das wirkte wie aus einer anderen, früheren Epoche.

»Ich würde die Damen und den Herrn ja gern mit der Hausherrin bekanntmachen, aber die hat leider einem wichtigen aushäusigen Termin nachzukommen!«

»Die Hausherrin?« Dorian kam ein Gedanke. »Ist sie die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie?«

Der Tote kicherte. »Solch dumme Fragen habe ich auch einmal gestellt, vor langer, langer Zeit! Und nun sieh dir an, was aus mir geworden ist!« Er hob die knöcherne Hand, über die die Haut wie eine löchrige Zeltbahn gespannt war. Luft pfiff durch die Lungen des Toten. »Gefalle ich dir? Oder den Damen? Wollen mir die Mademoiselles einmal etwas Nekrophiles probieren und aufsitzen? Ich hänge hier schon seit … ach, ich weiß nicht, wie lange … und befürchte, dass das Maß meiner Bestrafung noch längst nicht erfüllt ist.«

Hunter packte das Skelett an der Gurgel. »Mag sein, dass du tot bist, aber meine beiden Begleiterinnen hier verstehen sich darauf, selbst dem traurigsten Abbild einer menschlichen Gestalt wie dir noch Schmerzen zu bereiten! Also solltest du uns besser sagen, was du weißt. Ist die Hausherrin die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie?«

Das gierige Leuchten in den Augenhöhlen verlor an Kraft. »Hört’s, ehrenwerte Gäste dieses verrufenen Hauses, ich bekomme nicht allzu viel Besuch, und da dachte ich mir nichts dabei, ein paar kleine Späßchen zu machen.«

»Was ist das Hospiz der Zeitlosen?«, fiel Coco ihm ins Wort.

»Nun, ihr müsst euch aber schon entscheiden, welche Frage ihr mir stellen wollt …«

Dorian drückte ihm die Mündung an die Schläfe. »Wie gesagt. Silberkugeln.«

»Ich antworte ja, ich antworte ja. Nur müsst ihr auch die richtige Frage stellen, bittschön!«

»Wo sind wir hier – und wann?«, fragte Nimue.

Der Tote wiegte den Kopf. »Willkommen im Jahr unseres gesegneten Herrn Numero … ah, ich fürchte, ich weiß gar net mehr so genau, welches Jahr wir haben. Aber dass Joseph der Zwote Vergangenheit ist und sein Bruder Leopold es auch nicht grad lange gemacht hat, weiß ich schon noch … ah, wann wurde Joseph noch mal von den Freimaurern vergiftet? … Oder waren es am Ende doch die Jesuiten? Hm …«

»Joseph? Leopold?«

»Jetzt sitzt Leopolds Sohn, dieser Tropf, wohl einsam und verlassen in der Hofburg herum und überlegt, wie es so weit kommen konnte, dass er Napoleon unterliegt …«

»Wir sind nicht wegen irgendeines Kaisers hier«, unterbrach Dorian und lud die Waffe durch, »und ich bin immer noch nicht ganz überzeugt davon, dass du die Wahrheit sagst.«

»Ich lüge nicht, ich lüge nicht, der Herr! Ich war ein einfacher Mann wie ihr, das schwöre ich beim Leben meiner seligen Mutter, die gerade so verblichen ist wie ich.«

»Ein einfacher Mann?«

»Gestatten, Nepomuk Gratzei! Verzeiht, dass ich mich nicht vor euch verbeuge. Die Umstände lassen keine Höflichkeit zu. Ich war ein Bauer in Mähren und wurde in das Regiment einberufen, das Napoleon besiegen sollte … aber, ach, bei der Schlacht in Austerlitz ist irgendwas passiert, das … Ich bin wohl … ich bin wohl ins Wasser gefallen … und dann war ich auf einmal auf der Treppe in diesem Haus … die Treppe, die …«

»Die verfluchte Treppe«, echote Dorian.

»Dieselbe, von der ihr grad gekommen seid, wie mich deucht. In einer Öffnung ein halbes Stockwerk unterhalb dieses Raumes fand ich den Schrein und … ach, in meinem Kopf rührt sich alles z’sammen, vielleicht bin ich auch schon zu verfault, aber ich könnt euch ein Liedchen singen, an das ich mich erinnere, es heißt …«

»Schon gut, schon gut, nicht nötig. Wir glauben dir!«

Coco bestätigte Dorian mit einem Blick, dass Nepomuk Gratzei die Wahrheit gesprochen hatte. Und dass er tatsächlich tot und auf magische Art konserviert worden war. Hätte er die Ausstrahlung eines Dämons besessen, hätte Coco das sofort bemerkt.