0,49 €
Die Dame, die uns an jenem sonnigen Aprilvormittag besuchte, mit dem diese Geschichte des Grauens und wildester verbrecherischer Phantastik beginnt, war eigentlich keine Dame, sondern ein eben erst richtig flügge gewordener Backfisch — schlank, keck, pikant, aber schwer, sehr schwer niedergedrückt. Das selbstbewußte Auftreten Tussi Beckers wurde in Haralds Arbeitszimmer nur zu schnell durch eine Flut von Tränen hinweggeschwemmt, wenn auch jugendliche Hoffnungsfreudigkeit diese Tränlein immer wieder zum Versiegen brachte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 196
Dr. Haldens Patient
© 2023 Librorium Editions
ISBN : 9782385740962
Doktor Haldens Patient
Die explodierte Retorte.
Die kranke Gräfin.
Der Uhu im falschen Kleide.
Der Sturz vom Gerüst.
Der Wandschirm.
Das Ende einer Mainacht
Gräfin Xenia.
Im Bestrahlungsraum.
Drei Spritzen.
Und noch ein Toter …
Haldens Geständnis.
Die Dame, die uns an jenem sonnigen Aprilvormittag besuchte, mit dem diese Geschichte des Grauens und wildester verbrecherischer Phantastik beginnt, war eigentlich keine Dame, sondern ein eben erst richtig flügge gewordener Backfisch — schlank, keck, pikant, aber schwer, sehr schwer niedergedrückt. Das selbstbewußte Auftreten Tussi Beckers wurde in Haralds Arbeitszimmer nur zu schnell durch eine Flut von Tränen hinweggeschwemmt, wenn auch jugendliche Hoffnungsfreudigkeit diese Tränlein immer wieder zum Versiegen brachte.
»Bezahlen kann ich Sie nicht, Herr Harst,« begann sie ehrlich, nachdem sie kaum Platz genommen hatte. »Wir sind sehr arm, Mutter und ich. Der Papa ist lange tot, und wenn wir nicht die vier Zimmer vermieten könnten — wir wohnen Joachimstraße, dann … dann wär’s noch schlechter um uns bestellt. Papa war Arzt, aber leider kein Geschäftsmann, und …«
Ich glaube, sie hätte in dieser Art noch eine halbe Stunde wie ein Mühlwerk geplappert, wenn Harst ihr nicht ins Wort gefallen wäre …
»Sie kommen wegen des Chemikers Ernst Mendel zu mir, nicht wahr?«
»Mein Gott, woher wissen Sie das?!«
»Es stand ja in allen Zeitungen, daß Herr Mendel sich vor acht Tagen eine merkwürdige Vergiftung beim Experimentieren in der Wohnung seiner liebenswürdigen Wirtin, der Frau Sanitätsrat Becker, zugezogen hat und daß bisher kein einziger Arzt ihm hat helfen können. Es soll sich um eine vollständige Lähmung des Körpers, um vollkommene Bewegungslosigkeit der Glieder mit Ausnahme der Augen und der Sprechorgane handeln. Dabei scheint auch Mendels Geist getrübt zu sein, denn er soll wie ein Fieberkranker unaufhörlich allerlei ungereimtes Zeug vor sich hin murmeln und niemand mehr erkennen. — Weiter habe ich diesen medizinisch interessanten Fall in den Zeitungen nicht verfolgt. Jedenfalls war der junge Mendel bei der Askania-Farbenfabrik in Neukölln beschäftigt und Untermieter bei Ihrer Frau Mutter.«
Da kam schon der erste Tränenstrom …
Harst lächelte mir ernst und verstohlen zu und sagte tröstend zu unserer weinenden Klientin:
»Fräulein Becker, vielleicht ist Ihre Teilnahme für Mendel nicht lediglich auf reine Nächstenliebe, sondern … auf … Liebe zurückzuführen. Bitte, seien Sie uns gegenüber ganz offen.«
»Wie gut Sie sind, Harst …!« Sie tupfte die Tränlein von den frühlingsfrischen Wangen … »Ja, Herr Harst, — es … stimmt schon … Ernst und ich waren heimlich verlobt … Nicht mal Mutter weiß etwas davon, denn Ernst hatte doch erst zweihundert Mark Gehalt, war ja auch erst fünfundzwanzig Jahre alt und …«
»Ihre Frau Mutter hatte also wohl für Sie eine andere Partie im Auge, Fräulein Tussi?«
»Nein — was Sie alles erraten können!!«
Neuer Tränenstrom …
»Und wer ist dieser andere?«
»Ein Ekel ist’s, Herr Harst …! Die beiden Vorderzimmer bewohnt er bei uns, und ein Schleicher und Kriecher und …«
»Wie heißt dieses Ekel denn?«
»Doktor Kamir Nussra, ein Perser, Arzt bei der hiesigen Persischen Gesandtschaft, Herr Harst … Aber er sieht äußerlich gar nicht wie ein Asiate aus und geht immer tipptopp gekleidet, hat zwanzig Anzüge und drei wundervolle Brillantringe und …«
»Sie argwöhnen, daß Kamir Nussra etwa aus Eifersucht Ihrem heimlich Verlobten einen bösen Streich gespielt hat und daß diese unerklärliche Vergiftung Mendels sein Werk sei? Haben Sie Beweise gegen ihn?«
»Nicht die geringsten und dennoch die stärksten,« erwiderte sie seltsam reif und eindrucksvoll. »Die stärksten, Herr Harst: die Stimme meines Innern!«
Harald schüttelte sanft den Kopf. »Diese Stimme trügt sehr oft, Fräulein Tussi, besonders in Ihrem Alter. Es gehört schon sehr viel Lebenserfahrung dazu, die unrichtigen Einflüsterungen, die aus unserem Unterbewußtsein kommen und die mehr instinktives Fühlen sind, genau zu sieben, eben Spreu vom Weizen zu trennen. — Hat der Perser Ihnen denn den Hof gemacht und etwa irgendwelche Abneigung gegen Ernst Mendel verraten?«
»Natürlich hat er mir den Hof gemacht — und ob! Aber Abneigung gegen Ernst — nein, im Gegenteil! Kamir Nussra und mein Verlobter waren sogar befreundet,« fügte sie sehr bestimmt hinzu. »Dies zu zeigen, wäre Nussra auch viel zu schlau gewesen. O — Sie kennen ihn nicht, Herr Harst. Er ist wirklich ein Schleicher und Heimtücker … Nur er kann …«
»Halt — halt, so kommen wir nicht weiter. Alles hübsch der Reihe nach, Fräulein Tussi. Damals vormittags experimentierte Mendel, wenn ich mich recht besinne, in seinem Zimmer bei Ihrer Frau Mutter mit einem neuartigen Betäubungsmittel, das die Nachteile des Chloroforms vermeiden sollte. Es war ein Sonntag, und mittags gegen zwölf fand dann der Perser Ihren Verlobten bewußtlos vor dem großen Tisch auf. Die Spiritusflamme, über der Ihr Bräutigam in einer Retorte die chemische Mischung, seine Erfindung, erhitzt hatte, brannte noch, die Retorte selbst war in winzige Atome zersplittert. Mendels seltsame Lähmungserscheinungen und Sinnesstörungen trotzten der Kunst unserer medizinischen Autoritäten. Zuerst war der Kranke in der Universitätsklinik, dann in der Privatklinik Professor Hirschs — und jetzt?«
Wieder ein reichlicher Tränenerguß …
»Jetzt,« schluchzte das kleine verliebte Fräulein, »jetzt befindet Ernst sich seit zwei Tagen bei Doktor Ferdinand Halden, der die Praxis meines Vaters in Alt-Schmargendorf und auch unser Haus übernommen hat.«
»Wie kam Halden dazu, Mendel bei sich aufzunehmen?«
»Aber sie sind doch die dicksten Freunde, Herr Harst … Sagte ich Ihnen das nicht? Sie duzen sich, und ich bin sogar auf diese Freundschaft immer ein wenig eifersüchtig gewesen.«
»Weshalb hat denn Halden den Freund nicht sofort behandelt?«
»Er war verreist …«
»Wollen Sie mir nun einmal die Lage der Zimmer des Persers und des Ihres Verlobten beschreiben, Fräulein Tussi. Kamir Nussra, sagten Sie vorhin, habe die beiden Vorderzimmer inne …«
»Es sind drei Vorderzimmer, Herr Harst. Das mit Flureingang hatte Ernst gemietet. Es grenzte an das des Persers. Die Verbindungstür war durch Schränke verstellt — ist es noch. Ernst hatte das Zimmer durch eine Holzwand auf seine Kosten teilen lassen, so daß sein sogenanntes Laboratorium gleichzeitig sein Schlafzimmer war.«
»Danke, Fräulein Tussi. — Das Zimmer steht jetzt leer?«
»Ja, bis zum 1. Mai, Herr Harst. Mutter hat Ernsts Sachen bereits zu Doktor Halden schaffen lassen. Sie nimmt ihn nicht wieder auf, zumal der Hausverwalter ihr erklärt hat, der Chemiker müsse … raus, das Haus sei keine Fabrik!«
»Offenbar hat also der Perser bei Ihrer Frau Mutter einen Stein im Brett, Fräulein Tussi?«
»Leider … leider! Mama war einst sehr verwöhnt, und sie möchte aus den jetzigen engen Verhältnissen gern heraus. Nussra ist märchenhaft begütert, Herr Harst, und …«
»Und wer wohnt in dem vierten vermieteten Zimmer?«
Tussi lachte etwas spöttisch …
»Der Uhu hat’s, Herr Harst. Das heißt — nur Ernst und ich nennen den alten Rentner Giesebrecht Uhu, weil er wirklich mit seiner schwarzen Hornbrille und dem grauen, ungepflegten Bart und der rot-blauen Geiernase wie ein Uhu ausschaut — wirklich, — und den Kopf trägt er immer ganz schief und eingezogen, und …«
»Was treibt der alte Herr denn?«
Tussi hob die Schultern. »Weiß ich nicht … Er ist so mürrisch und wortkarg, daß er mit mir noch keine zehn Worte gesprochen hat. Aber er bezahlt volle Pension, ißt sehr wenig, geht morgens aus, kommt mittags wieder, geht wieder aus, — eigentlich ist er nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen daheim. Sein Zimmerchen hält er selbst in Ordnung. Niemand darf hinein. Er hat ein Patentschloß an der Tür anbringen lassen, und …«