Dr. Norden Bestseller 105 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 105 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. »Nun haben wir auch eine Kinderärztin in der Nähe«, sagte Fee Norden, »Hörst du mir überhaupt zu, Daniel?«, fragte sie, als sie keine Reaktion vernahm. Dr. Daniel Norden war in die Zeitung vertieft. Wenigstens an diesem Samstag konnte er sich dafür mal Zeit nehmen. »Was hast du gesagt, Feelein?«, fragte er entschuldigend. »Ich habe gerade den Bericht über den Prozess gelesen.« Bei dem Prozess ging es um fahrlässige Tötung. Ein an sich tragischer Fall. Ein Patient hatte ein Kind überfahren, das später an diesen Verletzungen gestorben war. Beides war Dr. Norden und seiner Frau nahe gegangen, weil sie wussten, dass Heinz Höller den Schock bis heute noch nicht verwunden hatte. »Sie mussten ihn ja freisprechen«, sagte Fee. »Er hat das Kind nicht sehen können. Angeklagt werden müssten die Aufsichtspersonen, die dem Jungen erlaubten, auf dieser belebten Straße Rollschuh zu fahren.« »Sie werden es auch nicht erlaubt haben«, stellte Daniel fest.

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Dr. Norden Bestseller – 105 –

Das Schicksal einer schönen Ärztin

Sie liebt den Professor – doch weiß er es??

Patricia Vandenberg

»Nun haben wir auch eine Kinderärztin in der Nähe«, sagte Fee Norden, »Hörst du mir überhaupt zu, Daniel?«, fragte sie, als sie keine Reaktion vernahm.

Dr. Daniel Norden war in die Zeitung vertieft. Wenigstens an diesem Samstag konnte er sich dafür mal Zeit nehmen.

»Was hast du gesagt, Feelein?«, fragte er entschuldigend. »Ich habe gerade den Bericht über den Prozess gelesen.«

Bei dem Prozess ging es um fahrlässige Tötung. Ein an sich tragischer Fall.

Ein Patient hatte ein Kind überfahren, das später an diesen Verletzungen gestorben war. Beides war Dr. Norden und seiner Frau nahe gegangen, weil sie wussten, dass Heinz Höller den Schock bis heute noch nicht verwunden hatte.

»Sie mussten ihn ja freisprechen«, sagte Fee. »Er hat das Kind nicht sehen können. Angeklagt werden müssten die Aufsichtspersonen, die dem Jungen erlaubten, auf dieser belebten Straße Rollschuh zu fahren.«

»Sie werden es auch nicht erlaubt haben«, stellte Daniel fest. »Kinder sind eben unberechenbar. Aber sie kommen auf solche Gedanken, wenn es nicht genügend Spielplätze gibt. Wir leben in einer kinderfeind­lichen Gesellschaft, uns ist das doch längst klar, Fee. Also, was sagtest du?«

»Eine Kinderärztin hat sich in der Buchenstraße niedergelassen, Dr. Kerstin Delius.«

»Du lieber Himmel, das habe ich ja ganz vergessen!«, rief er aus. »Sie rief mich gestern an und möchte uns einen kurzen Antrittsbesuch machen. Ich habe ihr gesagt, dass sie gern gegen elf Uhr kommen kann.«

»Und das ist es gleich«, sagte Fee. »Hopp hopp, ich muss schnell noch ein bisschen Ordnung machen.«

»Es ist ja kein Staatsempfang«, meinte er lachend. »Und bei uns ist es immer ordentlich. Zu ordentlich ist auch nicht schön.«

Da kam Danny hereingestürmt, dreckig von Kopf bis Fuß.

»Liebe Güte, was hast du wieder gemacht?«, fragte Fee.

»Wir spielen schön, Mami«, erwiderte er strahlend. »Will nur schnell was trinken.«

»Wir bekommen Besuch«, sagte Fee.

»Wen denn?«

»Eine Kinderärztin, die sich hier niedergelassen hat.«

»Wir brauchen keine«, erklärte Danny kategorisch, »wir haben euch.«

Für ihn war das damit erledigt, und Daniel meinte gelassen, dass man ja nicht unbedingt geschniegelte Kinder präsentieren müsste.

Bald darauf läutete es. Fee öffnete selbst, da Lenni in der Küche beschäftigt war. Vor ihr stand eine schlanke junge Frau in sportlichem Kostüm. Sie hatte ein ernstes schmales Gesicht, große dunkle Augen und schulterlanges dunkelbraunes Haar. Ein schöner Mund lächelte schüchtern.

»Mein Name ist Delius«, sagte sie mit angenehmer dunkler Stimme, die den ersten Eindruck, den Fee von ihr hatte, wohltuend ergänzte. »Frau Dr. Norden?«

Vielleicht hatte sie erwartet, dass Fee nicht mehr so mädchenhaft jung aussehen würde. Sie war etwas verwirrt.

»Wir sind Kolleginnen«, sagte Fee in ihrer herzlichen Art. »Bitte, treten Sie ein. Wir freuen uns, Sie kennenzulernen.«

Dr. Kerstin Delius wurde auch von Daniel ganz lässig begrüßt.

»Eine Kinderärztin brauchen wir hier schon lange«, sagte er. »Es war eine gute Idee von Ihnen.«

»Ich habe das Haus von meinem Onkel geerbt, so war es mir möglich, eine Praxis einzurichten«, sagte Kerstin. »Es ist ja eine ziemlich teure Gegend. Ich habe in der Kinderklinik gearbeitet, bin jetzt aber froh, selbstständig zu sein.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Daniel.

»Sie praktizieren nicht?«, richtete Kerstin das Wort an Fee.

»Nein, die drei Kinder beschäftigen mich vollauf.«

»Drei haben Sie? Ich habe nur einen Sohn, aber er ist jetzt schon zehn Jahre alt. Er lebt bei meinen Eltern auf dem Land.«

Sie muss jung geheiratet haben, dachte Fee, aber Daniel hegte andere Gedanken.

Der Sohn lebt bei den Großeltern, sie eröffnete eine Praxis. Von einem Ehemann war nicht die Rede, und ihr Gesicht verriet, dass sie auch schon allerhand in ihrem Leben durchgemacht haben musste.

Kerstin spürte wohl seinen forschenden Blick. »Ich bin geschieden«, erklärte sie beiläufig.

»Mix uns doch mal deinen Muntermacher, Fee«, sagte Daniel zu seiner Frau. »Ich bin heute richtig faul.«

»Und ich störe Sie«, sagte Kerstin rasch. »Ich wollte mich nicht lange aufhalten, aber ich dachte, es sei gut, die Kollegen zu kennen, falls man in besonderen Fällen Hilfe braucht.«

»Immer zu Diensten, Frau Kollegin«, meinte Daniel lächelnd. »Auf den Drink bleiben Sie doch?«

»Gern. Ich freue mich, dass ich so nett empfangen werde. Dr. Porth war ziemlich ablehnend.«

»Machen Sie sich nichts draus. Er möchte am liebsten alles allein machen und nimmt sich sehr wenig Zeit für die Patienten. Hier mag man es, wenn sich der Arzt Zeit nimmt, wenn ich diesen kleinen Hinweis geben darf.«

»Das ist selbstverständlich für mich.« Man wird ja meine Praxis auch nicht gleich stürmen.«

»Kann man’s wissen? Kinder gibt es hier genug.«

»Aber wir haben Papi und Mami«, posaunte Danny von der Terrassentür her. Dann grinste der Lausbub von einem Ohr zum andern. »Die ist aber ganz nett, Papi, wollte sie mal angucken.«

Kerstin lachte. »Du bist auch nett.«

»Aber dreckig. Danny heiße ich. Felix und Anneka wollen jetzt bestimmt auch mal gucken.«

»Na, dann guckt nur«, meinte Fee.

So dreckig sie auch waren, so lieb waren sie auch, und dass Kerstin mit Kindern umzugehen verstand, fanden Daniel und Fee schnell heraus.

Man kam ins Plaudern. »Wollen Sie nicht mit uns essen?«, fragte Fee.

»O nein, vielen Dank, aber heute und morgen sind meine Eltern und Tim noch hier. Und am Montag fange ich schon gleich an. Es ist eine Umstellung.«

»Aber wenn Sie irgendwelche Fragen oder gar Sorgen haben, wissen Sie, wo wir wohnen«, sagte Fee.

»Ich nehme es als gutes Omen, dass ich Sie kennenlernen durfte«, sagte Kerstin. »Herzlichen Dank für Ihr freundliches Entgegenkommen.«

»Das ist wohl ganz selbstverständlich«, sagte Daniel. »Einen recht guten Beginn wünschen wir Ihnen.«

»Reizende Frau«, stellte Fee fest. »Sie gefällt mir.«

»Scheint schon allerhand mitgemacht zu haben«, meinte Daniel.

»Sie kann höchstens in meinem Alter sein«, sagte Fee.

»Aber du siehst jünger aus, Schatz.«

»Ich habe ja auch einen liebevollen Mann«, lächelte sie.

*

Ein Ehepaar wie aus dem Bilderbuch, dachte Kerstin auf dem Heimweg. Ja, da muss man glücklich sein, aber schnell schob sie den Gedanken an ihr eigenes Unglück von sich.

Vor der hübschen Villa in der Buchenstraße, arbeitete ein grauhaariger Mann am Pfosten. Als Kerstin ausstieg, richtete er sich auf und lächelte.

»Es ist vollbracht, Töchterchen. Das Türschild ist dran. Ich freue mich, dass der Name Delius draufsteht. Sieht sehr gut aus.«

Kerstin gab ihrem Vater einen herzhaften Kuss. »Wenn ich euch nicht hätte, Paps«, sagte sie innig.

Ein hübscher Junge, der Kerstins dunkles Haar und seines Großvaters helle Augen hatte, kam aus der Tür – Tim, der Sohn.

»Du hast dich aber lange vertratscht, Mami«, sagte er mit gelindem Vorwurf.

»Die Nordens waren so nett und herzlich, und sie haben drei reizende Kinder. Wollt ihr euch nicht doch entschließen, hierher zu ziehen? Das Haus ist doch groß genug.«

»Später können wir vielleicht darüber reden, wenn Tim aufs Gymnasium kommt«, sagte Armin Delius. »Leb du dich erst mal ein.«

»Hier meckern die Leute vielleicht, wenn wir mit zwei Hunden ankommen«, meinte Tim.

Es waren zwei bildschöne Bobtails, die auf die Namen Pummel und Wuschel hörten. Sie hörten tatsächlich aufs Wort, wenn sie sonst auch allerhand Unsinn im Kopf hatten.

Kerstin wurde auch von ihnen freudig begrüßt, und Marga Delius hatte schon das Mittagsmahl zubereitet.

»Du siehst richtig froh aus, Kind«, stellte sie zufrieden fest.

»Es ist gut, so nette Kollegen zu haben. Ein reizendes Ehepaar. Fee Norden ist eine bildschöne Frau. Mir ist fast die Luft weggeblieben.«

»Du bist auch schön, Mami«, sagte Tim. »Für mich bist du die Schönste.«

Es machte Kerstin glücklich, obgleich sie sich gar nicht schön fühlte. Aber es verriet ihr, wie sehr Tim an ihr hing, obgleich sie nicht viel Zeit für ihn hatte.

Er war gut aufgehoben bei den geliebten Großeltern, die so voller Verständnis für die Probleme ihrer Tochter waren. Sie waren so oft wie nur möglich beisammen, und diese Gemeinsamkeit hatte Kerstin geholfen, den schlimmen Schock zu überwinden, den die kurze Ehe ihr eingebracht hatte.

Freilich war es auch ein Schock für ihre Eltern gewesen. Auch sie hätten es Carlo Seifert nicht zugetraut, dass er Kerstin so schnell betrügen würde, aber das hatte er schon getan, als Tim unterwegs war. Und dann war er mit seiner Assistentin Jana durchgebrannt.

In ihrem verletzten Stolz hatte Kerstin auf jegliche Unterhaltszahlung verzichtet, es aber zur Bedingung gemacht, dass Carlo Seifert Tim nicht sehen dürfe. Auch darüber hatte er sich mit Nonchalance hinweggesetzt.

Reich waren Kerstins Eltern nicht, aber es ging ihnen recht gut. Sie hatten ihre Landwirtschaft, und sie waren zufriedene Menschen. Kerstin hatte ihr unterbrochenes Medizinstudium vollendet und dann als Assistenzärztin in der Klinik gearbeitet.

Vor sechs Monaten war der alte Onkel Karl gestorben und hatte ihr alles hinterlassen, was er besaß, und das war nicht wenig.

Nun hatte sie sich eine moderne Praxis eingerichtet. Sie freute sich, von dem Zwang befreit zu sein, immer nur das tun zu dürfen, was andere nicht tun wollten. Sie brauchte sich von den männlichen Kollegen nichts mehr sagen zu lassen. Sie hatte genug von den Männern, ein für alle Mal. Und dabei war sie einmal mit so vielen Illusionen in die Ehe mit dem Chemiker Dr. Carlo Seifert gegangen. Blind und taub, wie sie heute sagte. Jetzt aber war sie darüber weg.

Tim war wirklich ein lieber, goldiger Junge. Er machte ihr keine Schwierigkeiten. Er wurde von den Großeltern vernünftig erzogen. Auch sie hatten sehr jung geheiratet, und das kam Tim zugute. Bei ihnen war immer alles gut gegangen.

Sie verbrachten ein harmonisches Wochenende, und als sie vor der Rückfahrt noch einen Spaziergang mit Kerstin machten, war ihnen auch die Freude beschieden, die Familie Norden kennenzulernen, die auch umhergewandert war.

Eine halbe Stunde ging man gemeinsam zurück, sich bestens unterhaltend.

»Sympathische Eltern und ein netter Sohn«, meinte Daniel später.

»Da hast du wirklich nette Kollegen«, sagte Marga Delius zu ihrer Tochter.

»Das sind drei herzige Butzerl«, meinte Tim.

»Hoffentlich ist auch deine Sprechstundenhilfe nett«, sagte Armin Delius.

»Ja, sie ist sehr nett«, bestätigte Kerstin. »Ich habe jetzt schon eine recht gute Menschenkenntnis.«

Aber ein bisschen bange war ihr doch vor dem Anfang. Ihre Ellenbogen konnte sie nicht gebrauchen, dazu war ihr Wesen zu sanft.

*

Petra Winkler hatte das gleich heraus. Sie war eine resolute Person, sechsundzwanzig Jahre alt und recht ansehnlich.

Außerdem hatte sie Humor. Ihr konnte man nichts mehr vormachen. Sie brachte auch gleich eine Patientin mit, als sie am Montagmorgen ihre Stellung als Sprechstundenhilfe bei Kerstin antrat.

»Das ist Franzi Mellering, Frau Doktor. Die Haushälterin von Professor Mellering hat mich gebeten, sie mitzunehmen. Sie hat schon wieder zwei Nächte nicht geschlafen. Der Professor ist auf einer Vortragsreise. Die Lina ist entfernt mit mir verwandt. Eine Cousine von meiner Mutter. Sie kommt mit der Kleinen nicht zurecht, wenn der Vater nicht da ist.«

»Papi soll doch nicht wegfahren …«, schluchzte das Kind, das alles mitgehört hatte. Kerstin fand dies nicht richtig von Petra, aber sie wollte nicht gleich am ersten Tag mit Ermahnungen kommen, denn sie merkte, dass Petra es gut meinte.

»Der Papi kommt ja wieder«, sagte Kerstin tröstend.

»Du kennst ihn ja gar nicht«, flüsterte das Kind. »Doktors pieken bloß.«

»Ich pieke nicht. Wir unterhalten uns ein bisschen«, sagte Kerstin. »Schau, ich habe auch Spielsachen und Bilderbücher.«

Als Franzi diese betrachtete, raunte Petra ihrer neuen Chefin zu, dass das Kind zurückgeblieben sei.

»Wir sprechen nachher darüber, Frau Winkler«, sagte Kerstin nun doch mahnend.

»Sie können ruhig Petra sagen«, erklärte Petra.

Vorerst sollte Petra nicht viel zu tun haben. Sie legte sich alles zurecht, wie sie es haben wollte. Erfahrung hatte sie als Sprechstundenhilfe genug. Und Kerstin hatte Zeit, sich mit dem verschüchterten, verängstigten Kind zu befassen.

Sie war darüber recht froh, denn schnell hatte sie herausgefunden, dass ihr zum Anfang ein recht schwieriger Fall beschert worden war.

Franziska Mellering war sechs Jahre alt. Sie ging noch nicht zur Schule. Sie war körperlich und geistig nicht auf dem Stand einer Sechsjährigen, allerdings auch kein geschädigtes Kind.

Nachdem Kerstin sie gründlich untersucht hatte, wobei die Kleine auf ihr Zureden einsichtig reagierte, gab ihr Kerstin ein paar Testbogen. Allzu viel hielt sie zwar selbst nicht davon, aber sie wollte herausfinden, was Franzi überhaupt auffiel und was sie begriff.

»Du kannst dir alles genau anschauen. Ich komme gleich wieder«, sagte sie.

Sie ging zu Petra hinaus, die immer noch beim Einordnen war.

»Was können Sie mir über dieses Kind sagen, Petra?«, fragte Kerstin.

»Die Mutter ist vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Kleine war bei ihr im Wagen, wurde aber nur leicht verletzt. Sie muss einen entsetzlichen Schock bekommen haben. Seither klammert sie sich an ihren Vater. Ist ein sehr netter Mann«, erklärte Petra in ihrer klaren, knappen Art. »Franzi war dann einige Wochen in einem Kinderheim, aber dort kamen sie überhaupt nicht mit ihr zurecht. Tante Lina hat dann die Stellung übernommen. Sie ist eine gute Seele, aber sie selbst hatte nie Kinder. Und ich mag mich nicht aufdrängen, dann heißt es gleich wieder, ich will mich an den Professor heranmachen. Viel mehr weiß ich auch nicht, außer dass Frau Mellering eine flotte Person war, wenn das nicht gleich nach Klatsch klingt.«

»War sie eine gute Mutter?«, fragte Kerstin.

»Das weiß ich nicht. Ziemlich auffallend war sie. Und die Hausangestellten haben oft gewechselt. Der Professor ist ein sehr guter Vater, aber schließlich hat er seinen Beruf. So ein ganz Intellektueller ist das, ein Forscher. Ich glaube Biochemiker. Er ist vernünftig. Er hat Franzi freiwillig von der Schule zurückstellen lassen.«

»Danke für die Auskunft, Petra. Alles kann uns weiterhelfen. Vielleicht kann ich mich auch mal mit Tante Lina unterhalten, damit diesem Kind geholfen werden kann.«

»Ich habe gleich gewusst, dass Sie eine feine Frau sind«, sagte Petra. »Ich bin froh, dass Sie mich genommen haben.«

Der Kontakt war da. Kerstin drückte ihr die Hand. »Ich bin auch froh, Petra«, sagte sie. »Wir behalten Franzi heute hier. Ich habe Zeit. Ich kann sie beobachten. Sagen Sie Tante Lina Bescheid.«

»Gern.«

*

Zu Kerstins großem Erstaunen hatte Franzi eine ganze Menge aus den Testbogen herausgefunden.

»Jetzt machen wir ein Spielchen, Franzi. Ich sage dir Wörter und du sagst mir, was du dir dabei denkst.«

»Und wenn ich die Wörter nicht kenne?«, fragte die Kleine.

»Dann nehmen wir andere. Pass mal auf – Essen?«

»Ist eine Stadt, da waren wir schon mal.«

»Kochen?«

»Pudding.«

»Haus?«

»Garten.«

Und so ging es weiter. Kerstin notierte fleißig, um später alles noch mal überdenken zu können.

Dann kam sie zum Schluss. »Himmel?«, fragte sie.

»Sonne, Mond und Sterne.«

»Hölle?« Sie erwartete die Antwort ›Teufel‹, aber sie kam nicht.

»Da ist Mama«, sagte das Kind seltsam ruhig. Ein Frösteln kroch über Kerstins Rücken. »Wie kommst du darauf, Franzi?«, fragte sie sanft.

»Er hat es doch gesagt, dass sie zur Hölle fahren soll.«

»Wer hat das gesagt?«

»Juri.«

»Wer ist denn Juri?«

»Weiß ich nicht. Mama war sehr böse. Und dann hat es gekracht.«

»Was hat gekracht?«

»Das Auto, ich weiß nichts mehr. Nun ist sie in der Hölle. Papi sagt nein, aber sie ist in der Hölle, nicht auf dem Friedhof. Und ich kann nicht schlafen, wenn sie mich anschreit.«

»Sie kann dich doch gar nicht anschreien, Franzi.«

»Sie schreit mich aber an. Jede Nacht schreit sie mich an.«

Das Kind zitterte, Kerstin nahm es in den Arm. »Jetzt spielen wir etwas anderes. Im Garten ist ein Sandkasten. Da kannst du etwas bauen.«

»Hast du Kinder?«, fragte Franzi.

»Einen Sohn.«

»Kann er mit mir spielen?«

»Er ist nicht hier. Er ist bei den Großeltern.«

»Ich habe keine, ich habe überhaupt bloß meinen Papi. Mein Papi soll kommen. Mein Papi soll nicht wegfahren.«

Sie begann zu weinen, leise und jämmerlich. Kerstin war zutiefst erschüttert.

Sie nahm das Kind in die Arme und streichelte tröstend das Köpfchen. Und plötzlich schlief Franzi ein.

Kerstin legte sie auf das Untersuchungssofa und deckte sie zu. Leise ging sie hinaus zu Petra.

»Zwei Anrufe sind gekommen«, verkündete Petra freudig.

»Pssst«, machte Kerstin, »Franzi schläft.«

»Hier sind die Namen«, flüsterte Petra. »Scheint sich um Röteln zu handeln. Na, sehen Sie, es geht schon los.«

»Ich hoffe, dass Franzi schläft, bis ich von den Besuchen zurück bin.«

»Professor Mellering wird Ihnen bestimmt ewig dankbar sein, wenn Sie dem Kind helfen können«, sagte Petra.

*

Kerstin kannte sich in der Gegend gut aus. Sie hatte ihren Onkel ja oft genug besucht.

Zuerst fuhr sie zu den Jägers. Sie wohnten in einer Neubausiedlung, in solchen Silos, die Kerstin immer Beklemmungen verursachten, wenn sie daran dachte, wie Kinder in solchen Hochhäusern heranwachsen mussten. Gewiss hatte jede Wohnung einen Balkon, aber welche Mutter konnte ihr Kind da schon ruhig spielen lassen? Und dennoch war man froh, wenn man solche Wohnung bekam.

Frau Jäger hatte nicht nur ein Kind, sie hatte deren vier, und es war eine recht enge Dreizimmerwohnung. Die junge Frau machte einen gehetzten Eindruck.

»Wenn die anderen auch noch krank werden, drehe ich durch«, stöhnte sie. »Nur gut, dass Sie gleich kommen, Frau Doktor. Ich habe Ihre Anzeige im Wochenblatt gelesen. In der Nähe ist hier ja sonst kein Kinderarzt.«

Kerstin untersuchte das fiebernde Kind. »Nichts hat ihm gefehlt, bis er in die Schule gekommen ist. Aber da fangen sie ja alles auf«, jammerte Frau Jäger. »Die anderen sind im Kindergarten, aber wenn der Heinzi was Ansteckendes hat, müssen sie auch zu Hause bleiben. Da ist die Hölle los«

Hölle! Das Wort bereitete Kerstin jetzt Qualen. »Es ist nichts Ansteckendes, es ist eine Allergie«, sagte sie. »Dazu eine Erkältung. Der Junge wird bald wieder in Ordnung sein. Lassen Sie ihn schlafen. Ich lasse Ihnen ein Medikament hier, dann brauchen Sie nicht fortzulaufen. Ich komme morgen noch mal vorbei.«