Dr. Norden Bestseller 168 – Arztroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Dr. Norden Bestseller 168 – Arztroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. »Hallo, Jo-Ann, wie geht es heute?« begrüßte Dr. Daniel Norden das junge Mädchen, das jetzt sein Sprechzimmer betrat. Das feine Gesicht bekam etwas mehr Farbe, und die Augen leuchteten auf, als der Arzt so aufmunternd lächelte. Eigentlich hübsch konnte man Jo-Ann Kolding nicht bezeichnen, aber sie hatte ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, wunderschöne topasfarbene Augen, die von einem dichten Kranz seidiger dunkler Wimpern umgeben waren und einen aparten Kontrast zu dem hellblonden Haar bildeten, das bis auf die Schultern herabfiel. Dr. Norden mochte die junge Deutschamerikanerin gern, die so gar nichts von dem forschen Auftreten hatte, das man von Teenagern allgemein gewohnt war. Ihre Kleidung war ebenso geschmackvoll wie dezent. »Nun, wo drückt der Schuh, Jo-Ann?« fragte der Arzt väterlich. »Die Erkältung ist schon viel besser, aber sonst fühle ich mich nicht besonders gut«, gab Jo-Ann zögernd zu. Sie war aus dem warmen Florida gekommen und konnte sich an das recht rauhe Herbstwetter, das in München herrschte, nicht so recht gewöhnen. »Dann sollten wir Sie einmal gründlich untersuchen«, sagte Dr. Norden besorgt. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es ist etwas anderes, Herr Doktor. Ich brauche einen Rat. Die Atmosphäre bei meinen Verwandten bedrückt mich.« Das also war es! Dr. Norden blickte auf die Uhr. Er mußte dringend Hausbesuche machen und konnte sich nicht viel Zeit nehmen für Jo-Ann, und wenn jemand seelischen Kummer hatte, konnte man ihn nicht mit ein paar Worten abspeisen. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Jo-Ann? Kommen Sie doch heute abend zu uns, dann können wir uns in behaglicher Atmosphäre über Ihren Kummer unterhalten. Oder haben Sie bereits

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Dr. Norden Bestseller – 168 –

Die große Angst in meinem Herzen

Patricia Vandenberg

»Hallo, Jo-Ann, wie geht es heute?« begrüßte Dr. Daniel Norden das junge Mädchen, das jetzt sein Sprechzimmer betrat.

Das feine Gesicht bekam etwas mehr Farbe, und die Augen leuchteten auf, als der Arzt so aufmunternd lächelte.

Eigentlich hübsch konnte man Jo-Ann Kolding nicht bezeichnen, aber sie hatte ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, wunderschöne topasfarbene Augen, die von einem dichten Kranz seidiger dunkler Wimpern umgeben waren und einen aparten Kontrast zu dem hellblonden Haar bildeten, das bis auf die Schultern herabfiel.

Dr. Norden mochte die junge

Deutschamerikanerin gern, die so gar nichts von dem forschen Auftreten hatte, das man von Teenagern allgemein gewohnt war. Ihre Kleidung war ebenso geschmackvoll wie dezent.

»Nun, wo drückt der Schuh, Jo-Ann?« fragte der Arzt väterlich.

»Die Erkältung ist schon viel besser, aber sonst fühle ich mich nicht besonders gut«, gab Jo-Ann zögernd zu.

Sie war aus dem warmen Florida gekommen und konnte sich an das recht rauhe Herbstwetter, das in München herrschte, nicht so recht gewöhnen.

»Dann sollten wir Sie einmal gründlich untersuchen«, sagte Dr. Norden besorgt.

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es ist etwas anderes, Herr Doktor. Ich brauche einen Rat. Die Atmosphäre bei meinen Verwandten bedrückt mich.«

Das also war es! Dr. Norden blickte auf die Uhr. Er mußte dringend Hausbesuche machen und konnte sich nicht viel Zeit nehmen für Jo-Ann, und wenn jemand seelischen Kummer hatte, konnte man ihn nicht mit ein paar Worten abspeisen.

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Jo-Ann? Kommen Sie doch heute abend zu uns, dann können wir uns in behaglicher Atmosphäre über Ihren Kummer unterhalten. Oder haben Sie bereits etwas vor?«

»Ich habe nie etwas vor«, erwiderte sie leise. »Es ist alles so anders, als ich es mir vorstellte.«

»Dann kommen Sie also«, sagte er aufmunternd. »So gegen sechs Uhr, dann lernen Sie auch gleich unsere Kinder kennen. Meine Frau kennen Sie ja schon.«

Dankbar leuchteten Jo-Anns Augen auf. »Sie sind sehr lieb«, sagte sie leise. »Ich habe ja niemanden, mit dem ich mal vernünftig sprechen kann.«

So schlimm ist es also, dachte Dr. Norden, als er dann zu seinen Hausbesuchen unterwegs war. Er kannte die Verwandten von Jo-Ann nur flüchtig. Lange wohnten sie noch nicht in diesem Vorort, und bisher war er nur einmal zu ihnen gerufen worden, nämlich als Jo-Ann von der Grippe erwischt worden war.

Er mußte sich jetzt schwerkranken Patienten widmen und konnte nicht über Jo-Ann nachdenken. Am Abend sollte er mehr über ihren Kummer erfahren.

Was die Nordens bisher schon über dieses junge Mädchen wußten, hatte ihr tiefstes Mitgefühl erregt. Jo-Anns Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Sie selbst war zu dieser Zeit auf dem College gewesen und hatte es auch absolviert, obgleich die deutschen Verwandten sie schon damals nach München holen wollten. Jedoch hatte ihr Vormund bestimmt, daß sie bis zur Volljährigkeit in den Staaten bleiben sollte, und es war auch ihr eigener Wunsch gewesen.

Doch der Wunsch ihres Vaters war es gewesen, daß sie in München studieren solle, in seiner Heimatstadt, denn Joachim Kolding war gebürtiger Deutscher gewesen. Jo-Ann hatte sich verpflichtet gefühlt, den Wunsch ihres toten Vaters zu erfüllen.

*

Roman Kolding war ein Cousin von Jo-Anns Vater, also kein direkter Onkel. Er lebte mit seiner Frau Marlene und den beiden erwachsenen Kindern Nadja und Carlo in einem hübschen Einfamilienhaus, das er erst vor einem halben Jahr erworben hatte. Er war Prokurist in einem großen Kaufhaus. Soviel wußten die Nordens auch. Doch von dem, was sich in dieser Familie so abspielte, wußten sie nichts.

Mit zwiespältigen Gefühlen betrat Jo-Ann jetzt dieses Haus, das eigentlich ganz anheimelnd wirkte. Aber es fröstelte sie, als sie Carlos Stimme vernahm. »Für Hasso ist der Zug abgefahren, den kannst du abschreiben«, sagte er in seinem lässigen Ton, dann aber bemerkte er, daß Jo-Ann die Diele betreten hatte.

»Rede doch weiter!« sagte Nadja schrill.

»Jo ist gekommen!« zischte er.

»Na und«, sagte Nadja spöttisch. »Ihr hat Hasso anscheinend doch auch gefallen, und sie könnte es ruhig hören, warum der Zug abgefahren ist.«

Jo-Ann faßte Mut und trat ein. »Hallo«, sagte sie leise.

»Da bist du ja«, grinste Carlo.

»Carlo wollte mir gerade was über Hasso erzählen«, sagte Nadja.

»Vielleicht interessiert es dich auch.«

»Was ist mit ihm?« fragte Jo-Ann. »Muß er in der Klinik bleiben?«

»Er wird sie kaum wieder verlassen«, erwiderte Carlo brutal. »Der Bluterguß im Knie hat ein Sarkom zutage gefördert.«

Carlo war dreiundzwanzig und studierte Medizin. Wenngleich er das Studium auch nicht gerade ernst nahm, wußte er doch schon sehr gut Bescheid. An Intelligenz mangelte es ihm nicht, nur an Gefühl, und das versetzte Jo-Ann immer wieder in Bestürzung.

»Und was ist das, ein Sarkom?« fragte Nadja, die für nichts Interesse hatte als für sich selbst und ihr Äußeres. Sie war bildhübsch, aber eben nur das, sonst nichts.

»Das ist sehr schlimm«, entfuhr es Jo-Ann. »Ist Hasso operiert?«

»Na klar, dadurch ist es doch aufgekommen. Zumindest wird er jetzt sein Bein loswerden.«

»Wie kannst du nur so reden«, sagte Jo-Ann vorwurfsvoll.

»Tatsache, Mimose«, sagte Carlo zynisch. »Man wird noch ein bißchen an ihm herumschnippeln, aber retten kann man das Bein nicht.«

»Aber doch sein Leben«, flüsterte Jo-Ann.

Carlo kniff die Augen zusammen. »Wenn das noch ein Leben ist? Lieber Schwan, wenn ich mir vorstelle, daß Hasso beinahe mein Schwager geworden wäre.«

»Darüber brauchst du nicht mehr nachzudenken«, sagte Nadja wegwerfend. »Ich muß jetzt gehen. Ich habe Probeaufnahmen.«

Benommen blickte Jo-Ann die Geschwister Kolding an, die zwar den gleichen Namen trugen wie sie, aber mit denen sie sonst nichts gemein hatte. Und zum ersten Mal, seit sie in diesem Hause lebte, begehrte sie auf.

»Ihr habt eine seltene Moral«, sagte sie empört, drehte sich um und verließ das Zimmer, dann auch das Haus.

»Das Hühnchen muckt auf«, grinste Carlo. »Was sagt man dazu. Aber solange es goldene Eier legt, müssen wir ja still sein.«

»Laß das bloß Papa nicht hören«, sagte Nadja warnend.

»Wir sind ja allein, Nadja. Hoffentlich lohnt es sich wenigstens, daß das Mimöschen gehegt und gepflegt wird.«

»Und dann gibt es einen Knall, und sie heiratet, und wir gucken in den Mond«, sagte Nadja.

Er tippte sie auf die Stirn. »Da fehlt es bei dir, Nadja. Unser Cousinchen scheint noch nicht mal den Unterschied zwischen Männlein und Weiblein zu kennen, und schließlich bin ich ja auch noch da, falls sie den entdecken sollte.«

»Aber sie weiß, was ein Sarkom ist«, sagte Nadja.

»Unscheinbare Mädchen haben halt mehr Verstand als hübsche«, erwiderte er ziemlich anzüglich. »Ab und zu solltest du dein bißchen Verstand aber auch gebrauchen.«

Das war der Umgangston zwischen den Geschwistern, und wenn Jo-Ann auch dieses Gespräch nicht mithören konnte, andere ähnlicher Art hatten sie schon oft erschreckt.

Jetzt lief sie durch die Straßen. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, sich anzuhören, was Carlo über Hasso Gross sagte.

Sie wußte, daß er vor drei Tagen in die Behnisch-Klinik gebracht worden war, nachdem er beim Tennis unglücklich gefallen war. Er war der einzige aus dem Bekanntenkreis von Carlo und Nadja, für den sie eine gewisse Sympathie empfunden hatte.

Sie lief jetzt durch Straßen, die sie noch nicht kannte und dann sah sie plötzlich den Wegweiser zur Behnisch-Klinik, als würde ein fremder Wille ihr eingeben, was sie tun müßte.

Dr. Jenny Behnisch kam aus der Klinik, als Jo-Ann fast mit ihr zusammenstieß.

»Pardon«, stammelte das Mädchen. »Verzeihung.«

»Ist ja nichts passiert«, erwiderte Jenny. »Fehlt Ihnen etwas?«

»Ich möchte Hasso Gross besuchen«, flüsterte Jo-Ann.

Ein Schatten fiel über Jennys Gesicht. »Das geht nicht«, erwiderte sie.

Entsetzt blickte das Mädchen sie an. »Er ist doch nicht gestorben«, stieß sie atemlos hervor.

Dr. Jenny Behnisch betrachtete das Mädchen irritiert. »Wer sind Sie? Eine Angehörige?«

»Ich bin Jo-Ann Kolding. Mein Cousin hat über Hasso gesprochen. Es hat mich erschreckt«, fügte sie leise hinzu. »Es muß doch möglich sein, ihm zu helfen. Man kann einen Menschen doch nicht so abtun, wie Carlo das tut.«

Jenny Behnischs Interesse an Jo-Ann erwachte. »Wir mußten Herrn Gross darauf vorbereiten, daß ihm noch ein paar Operationen bevorstehen würden, aber ich dachte nicht, daß er darüber sprechen würde. Herr Kolding hat ihn vorhin besucht.«

»Und er hat gesagt, daß der Zug für Hasso abgefahren ist«, flüsterte Jo-Ann.

»Manche bedienen sich oft einer merkwürdigen Ausdrucksweise«, sagte Jenny Behnisch. »Sind Sie Hasso Gross freundschaftlich verbunden?«

»Ich kenne ihn noch nicht lange und nur flüchtig«, erwiderte Jo-Ann. »Aber das ist doch unwichtig, wenn es um ein Menschenleben geht. Man darf doch nicht alles gleich negativ sehen, sondern Hoffnung erzeugen. Denken Sie nicht auch so?«

»Ja, so denke ich auch.«

»Sie sind Ärztin?«

»Jenny Behnisch.«

»Bitte, sagen Sie mir, ob man Hasso helfen kann und wie. Carlo hat von Amputation gesprochen.«

»Das wäre der letzte Ausweg«, erwiderte Jenny. »Ich finde es nicht gut, wenn man so darüber spricht.«

»Ich auch nicht. Darf ich ihn besuchen?«

»Ja, gewiß, er hat hier ja nur seine Mutter, und sie ist verständlicherweise sehr deprimiert. Aber wir konnten es ihr und auch dem jungen Patienten selbst nicht verheimlichen, worum es sich handelt und was getan werden muß. Ein wenig Aufmunterung und positive Einstellung könnte ihm nur nützen.«

»Dann werde ich zu ihm gehen.«

Jenny nickte ihr anerkennend zu. »Das ist sehr nett, Fräulein Kolding.«

Bange klopfte Jo-Anns Herz, als sie vor dem Krankenzimmer stand. Aber sie machte nicht kehrt. Sie trat ein. Ungläubiges Staunen malte sich auf Hassos Gesicht.

»Jo-Ann?«

»Ich wollte dich mal besuchen«, sagte sie stockend. »Ich war gerade in der Gegend.«

»Hat es Carlo schon ausposaunt?« fragte er bitter. »Ich dachte nicht, daß er so kaltschnäuzig ist. Er soll besser nicht kommen und Nadja auch nicht.«

»Aber du hast nichts dagegen, wenn ich dich besuche?« fragte sie scheu.

»Du bist anders, Jo-Ann.«

»Du darfst den Mut nicht verlieren. Auf diesem Gebiet ist doch schon viel erreicht worden. Du bist jung, und es ist doch rechtzeitig herausgefunden worden.«

»Ach, weißt du, gemerkt habe ich schon lange, daß da was nicht stimmt, aber wahrhaben wollte ich es nicht. Morgen folgt die zweite Operation, und wer weiß, was danach kommt. Ich mache mir keine Illusionen. Wir haben auch nicht so viel Geld, um eine lange Durststrecke zu überwinden. Ich habe ja damit gerechnet, bald mit dem Studium fertigzuwerden und eine gute Stellung zu finden. Ingenieure sind gefragt.«

»Du wirst schon wieder gesund werden. Mach dir jetzt nicht solche Sorgen, Hasso. Und sei nicht traurig, wenn Nadja dich nicht besucht. Sie mag Kliniken nicht.«

»Du brauchst es nicht zu beschönigen, Jo-Ann. Sie ist oberflächlich und im Grunde genauso brutal wie Carlo. Man merkt das sofort, wenn man nicht mehr so mitmachen kann. Und ich habe mich auch schon ganz schön dieser Clique angepaßt gehabt. Hüte dich davor, Jo-Ann. Da geht man leicht baden.«

»Ich passe da sowieso nicht hinein, Hasso. Jetzt…«, sie kam nicht weiter, denn die Tür ging auf, und Hassos Mutter trat ein. Sie sah blaß und besorgt aus und musterte Jo-Ann mißtrauisch.

»Das ist Jo-Ann, Mama, ich habe dir von ihr erzählt«, sagte Hasso. »Sie hat mir Mut gemacht.«

Das Gesicht von Frau Gross entspannte sich.

»Das freut mich«, sagte sie.

»Ich komme morgen wieder«, erklärte Jo-Ann. »Ich muß nämlich auch zum Arzt.«

Sie sagte nicht, daß dies ein Privatbesuch war. Und als Frau Gross fragte, was ihr fehle, erwiderte sie, daß sie mit dem rauhen Klima nicht zurechtkäme.

*

Genau genommen war Jo-Ann froh, daß sie durch die Grippe Dr. Norden kennengelernt hatte, und als sie sich nun auf den Weg zu seiner Privatwohnung machte, ging ihr mancherlei durch den Sinn.

Es war zehn Minuten nach sechs Uhr, als sie bei den Nordens läutete. Lenni öffnete die Tür.

»Ich habe mich etwas verspätet«, sagte Jo-Ann, aber da kam schon Fee. »Macht doch nichts, Jo-Ann, mein Mann ist auch noch nicht da. Es freut mich, daß Sie uns besuchen.«

»Und erzählen soll sie von Amerika«, rief Danny schon durch die Tür.

Da standen alle drei und schauten Jo-Ann erwartungsvoll an, Danny, Felix und Anneka, drei Bilderbuchkinder, wie Jo-Ann feststellte.

»Nächstes Jahr fliegen wir nämlich auch nach Amerika«, sagte Anneka eifrig. »Da kennen wir auch nette Leute.«

»Gefällt es dir nicht bei uns?« fragte Felix.

»Doch, München ist eine schöne Stadt«, erwiderte Jo-Ann.

»Aber es ist kalt, und in Florida ist es warm, hat Mami gesagt«, warf Danny ein. »Erzähl mal.«

Jo-Ann erzählte, und Heimweh erwachte in ihr, vor allem nach ihrer Freundin Mona. Doch hier, in diesem Hause spürte sie auch Wärme, herzliche Wärme, und sie fühlte sich wohl.

Dann kam Dr. Daniel Norden, und die Kinder waren enttäuscht, daß sie zu Bett gehen mußten, obgleich Besuch da war.

»Ihr müßt morgen zur Schule«, erklärte Fee ihren Söhnen.

»Ich aber nicht«, sagte Anneka.

»Und dir fallen sowieso gleich die Augen zu«, meinte Daniel lächelnd.

»Kommt Jo-Ann mal wieder?« fragte Danny. »Sie kann sehr schön erzählen.«

»Bestimmt kommt sie wieder«, versprach Fee.

»Versprichst du es auch, Jo-Ann?« fragte Felix.

»Ich komme sehr gern.«

Ruhe war eingekehrt. Nach dem Essen setzten sie sich an den Kamin, der behagliche Wärme verströmte. Und der leichte Rotwein tat das Seine, sie gründlich zu durchwärmen.

»Nun schütten Sie Ihr Herz aus, Jo-Ann«, sagte Daniel Norden.

»Heute ist mir der Kragen geplatzt«, sagte sie. »Ich kann in diesem Haus nicht leben.«

»Und warum nehmen Sie sich nicht eine Wohnung?«

»Tante Marlene tut mir irgendwie leid. Onkel Roman kommt einfach nicht nach Hause, wenn es ihm zuviel wird. Aber sie muß alles ausbaden, was ihm nicht paßt. Ich habe mir alles anders vorgestellt, da Tante Marlene immer so herzlich geschrieben hatte. Und meinetwegen haben sie auch ein größeres Haus gekauft, damit ich zwei Räume für mich haben konnte. Es ist so schwierig, eine Entscheidung zu treffen. Aber mit Carlo und Nadja bekomme ich keinen Kontakt. Sie sind so egoistisch und lieblos zu ihrer Mutter, anstatt dankbar zu sein, daß sie solche Eltern haben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich bei meinen Eltern sein könnte, wenn ich sie hätte behalten dürfen.«

»Sie sind doch von diesen Verwandten nicht abhängig, Jo-Ann«, stellte Dr. Norden fest.

»Nein, nicht finanziell, aber es sind die einzigen Verwandten, die ich noch habe. Und Dad wünschte, daß ich in München studiere.«

»Was studieren Sie eigentlich, Jo-Ann?« fragte Fee.

»Psychologie. Ich möchte Psychotherapeutin werden.«

Fee und Daniel tauschten einen kurzen Blick und verstanden sich. Augenblicklich schien Jo-Ann nämlich selbst einen Psychotherapeuten zu brauchen.

Wie intelligent und vielseitig sie interessiert war, sollte das Arztehepaar dann aber doch im Verlauf des Abends in Erstaunen versetzen, und dann sprach Jo-Ann über Hasso Gross.

»Sie wissen über ihn Bescheid?« fragte Daniel.

Sie erzählte, wie sie es erfahren hatte. »Carlo hat es so brutal gesagt, daß ich einen Schock bekam«, gestand sie ein. »Ich bin zur Behnisch-Klinik gegangen und habe auch mit Frau Dr. Behnisch gesprochen. Dann habe ich Hasso besucht. Er tut mir sehr leid. Wir haben in den Staaten eine Spezialklinik für solche Fälle.«

»Ja, ich weiß«, sagte Dr. Norden, »aber die dürfte unerschwinglich für diesen Patienten sein.«

Jo-Ann blickte zu Boden. »Ich bin nicht unvermögend«, sagte sie stockend. »Ich werde zwar erst an meinem einundzwanzigsten Geburtstag erfahren, wie groß mein Erbe ist, aber ich kann auch jetzt schon über beträchtliche Summen frei verfügen.« Sie errötete. »Es klingt so anmaßend, wenn ich das sage. Ich mache sonst auch keinen Gebrauch davon und möchte Sie auch um Diskretion bitten. Meine Verwandten wissen nicht, was mein Großvater hinterlassen hat. Ich möchte darüber auch gar nicht sprechen, aber ich möchte Hasso helfen, doch es sollte nicht bekannt werden. Vor Carlo und Nadja hätte ich dann gar keine Ruhe mehr. Sie pumpen mich jetzt schon dauernd an. Ich bin vorsichtig geworden, weil ich schon kurz nach meinem Kommen zufällig hörte, aus welcher Sicht man meine Anwesenheit in diesem Hause betrachtet. Man möchte sich ein großes Stück von einem üppigen Kuchen abschneiden. So sagte es Carlo.«

»Und warum haben Sie nicht gleich wieder kehrtgemacht?« fragte Fee bestürzt.

»Weil Tante Marlene so erschüttert war. Sie hat an ihren Kindern wirklich keine Freude. Und man darf andere auch nicht gleich wegen einer dummen Bemerkung verurteilen. Aber ich komme mit Carlo und Nadja nicht zurecht. Sie haben so seltsame Freunde. Tante Marlene ist auch sehr unglücklich. Sie hat schon manchmal gesagt, daß sie froh wäre, wenn wenigstens eines ihrer Kinder so wäre wie ich. Ich finde das sehr traurig.«

»Sie haben doch selbst genug durchgemacht, Jo-Ann«, sagte Daniel Norden eindringlich. »Sie könnten es als Grund angeben, nach Florida zurückzugehen, daß Ihnen das Klima hier nicht bekommt. Ich würde das unterstützen, wenn Sie Hilfestellung brauchen.«

»Ich möchte jetzt Hasso helfen«, sagte Jo-Ann, »und dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich möchte, daß er in eine Spezialklinik nach Amerika gebracht wird, aber ich möchte nicht, daß es bekannt wird, daß ich das Geld dazu habe.«

Daniel und Fee Norden waren erst einmal sprachlos. Dann fragte Fee: »Bedeutet er Ihnen soviel?«

»Ihm muß geholfen werden«, erklärte Jo-Ann. »Ich habe seine Mutter gesehen. Sie ist so verzweifelt. Nein, Sie müssen nicht denken, daß ich ihn liebe. Aber er ist von Carlo und Nadja so maßlos enttäuscht worden wie ich auch. Ich glaube, er hatte viel für Nadja übrig, aber sie hat ihn schon abgeschrieben, wie es Carlo sagte. Für ihn sei der Zug bereits abgefahren! So brutal hat Carlo das gesagt. Es wirft Schmutz auf den Namen Kolding.«

»Sie haben damit doch nichts zu schaffen, Jo-Ann«, sagte Dr. Norden eindringlich.

»Mein Dad wäre zutiefst getroffen. Er würde auch helfen. Wären Sie bereit, es zu tun, Herr Dr. Norden?«

»Wenn Sie es wünschen?«

»Ja, ich wünsche es, wenn Sie Schweigen bewahren. Hasso muß eine Chance bekommen.«

*