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Das Original in überarbeiteter deutscher Fassung mit zahlreichen Anmerkungen. Der Londoner Rechtsanwalt Jonathan Harker reist nach Transsilvanien. Er soll dort den Grafen Dracula beraten, der nach England auswandern will und zu diesem Zweck ein Grundstück in London erwirbt. Während seiner Reise trifft Harker auf sehr misstrauische und abergläubische Gestalten, die ihn vor dem Grafen warnen. Im Schloss des Grafen verlaufen die Tage zunächst ruhig, da sich der Gastgeber selbst bei Tage nicht blicken lässt. Aber dann schöpft Harker Verdacht, denn der Graf hat kein Spiegelbild. Bald schon ahnt der junge Engländer von der unheimlichen Macht seines Gegners. Und er weiß, dass er die Mauern des Schlosses nie lebend verlassen wird, wenn er nicht flieht. In London wartet ein Heer von ahnungslosen Opfern auf den Vampir. Bram Stoker hat in diesem Roman Tod und Erotik auf faszinierende Art zusammengeführt. Dieses Buch gehört zur anerkannten Weltliteratur, es lässt sich auf verschiedenste Art interpretieren und lesen, als viktorianisches Sittengemälde, als spannender Abenteuerroman und als Schauerroman. Null Papier Verlag
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Bram Stoker
Dracula
Vollständige Deutsche Fassung
Bram Stoker
Dracula
Vollständige Deutsche Fassung
(Dracula)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Übersetzung und Fußnoten: Jürgen SchulzeÜbersetzung: Heinz Widtmann EV: M. Altmann, Leipzig, 1926 6. Auflage, ISBN 978-3-954180-08-0
www.null-papier.de/dracula
null-papier.de/angebote
Inhaltsverzeichnis
Editorische Anmerkung
Leben und Werk
VORWORT
ERSTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
ZWEITES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
DRITTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
VIERTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
FÜNFTES KAPITEL
Brief von Frl. Mina Murray an Frl. Lucy Westenraa.
Brief von Frl. Lucy Westenraa an Frl. Mina Murray
Brief von Frl. Lucy Westenraa an Frl. Mina Murray
Dr. Sewards Diarium
Brief von Quincey Morris an Herrn Arthur Holmwood.
Telegramm von Arthur Holmwood an Quincey P. Morris.
SECHSTES KAPITEL
Mina Murrays Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Murrays Tagebuch
SIEBENTES KAPITEL
Ausschnitt aus dem »Dailygraph« vom 8. August.
Logbuch der »Demeter«
Mina Murrays Tagebuch
ACHTES KAPITEL
Mina Murrays Tagebuch
Brief. Samuel F. Billington & Sohn, Sachwalter, Whitby, an Herren Carter, Paterson & Co., London
Brief. Herren Carter, Paterson & Co., London, an Herren Billington & Co., Whitby
Mina Murrays Tagebuch
Brief. Schwester Agathe, Joseph- und Marien-Hospital, Budapest, an Fräulein Mina Murray
Dr. Sewards Tagebuch
NEUNTES KAPITEL
Brief. Mina Harker an Lucy Westenraa
Brief. Lucy Westenraa an Mina Harker
Dr. Sewards Tagebuch
Lucy Westenraas Tagebuch
Brief. Arthur Holmwood an Dr. Seward
Telegramm. Arthur Holmwood an Dr. Seward
Brief von Dr. Seward an Arthur Holmwood
Brief. Abraham Van Helsing, Dr. med., Dr. phil., Dr. lit. etc., an Dr. Seward.
Brief. Dr. Seward an Herrn Arthur Holmwood
Dr. Sewards Tagebuch
Telegramm. Dr. Seward, London, an Van Helsing, Amsterdam
Telegramm Dr. Seward, London, an Van Helsing, Amsterdam
Telegramm. Dr. Seward, London, an Van Helsing, Amsterdam
ZEHNTES KAPITEL
Brief. Dr. Seward an Arthur Holmwood
Dr. Sewards Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Lucy Westenraas Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
ELFTES KAPITEL
Lucy Westenraas Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Lucy Westenraas Tagebuch
»The Pall Mall Gazette«, 18. September.
Dr. Sewards Tagebuch
Telegramm. Van Helsing, Antwerpen, an Seward, Carfax.
Dr. Sewards Tagebuch
Memorandum, hinterlassen von Lucy Westenraa.
ZWÖLFTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch.
Brief. Mina Harker an Lucy Westenraa.
Bericht von Patrick Hennessey, Dr. med., Mitglied der K. Ärztlichen Gesellschaft, k. Rat etc. etc., an John Seward, Dr. med
Brief. Mina Harker an Lucy Westenraa
Dr. Sewards Tagebuch
DREIZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch.
Mina Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
»The Westminster Gazette« 25. September. Das Geheimnis von Hamstead.
»The Westminster Gazette«. 25. September. Extrablatt
VIERZEHNTES KAPITEL
Mina Harkers Tagebuch.
Brief. Van Helsing an Frau Harker
Telegramm. Frau Harker an Van Helsing
Mina Harkers Tagebuch
Brief. Van Helsing an Frau Harker
Brief. Frau Harker an Van Helsing
Jonathan Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
Notiz von Van Helsing im Berkeley-Hotel im Handkoffer zurückgelassen, für John Seward, Dr. med., bestimmt
Dr. Sewards Tagebuch
SECHZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
SIEBZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
ACHTZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
NEUNZEHNTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
ZWANZIGSTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Brief. Mitchell Söhne & Candy an Lord Godalming
Dr. Sewards Tagebuch
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Wiedergabe eines Gespräches, von Van Helsing in Dr. Sewards Phonografen gesprochen
Jonathan Harkers Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
Telegramm. Rufus Smith, Lloyd, London, an Lord Godalming, zu Händen des k. Vizekonsuls, Varna
Dr. Sewards Tagebuch.
Telegramm. Rufus Smith. Lloyd, London, an Lord Godalming, zu Händen des k. Vizekonsuls, Varna.
Dr. Sewards Tagebuch
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
Mina Harkers Denkschrift
Mina Harkers Tagebuch
Jonathan Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Mina Harkers Tagebuch
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Mina Harkers Tagebuch
Abraham van Helsings Memorandum
Jonathan Harkers Tagebuch
Dr. Sewards Tagebuch
Dr. Van Helsings Memorandum
Mina Harkers Tagebuch
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Dieser Text basiert auf folgender Ausgabe:
Dracula : Ein Vampyr-Roman / Bram Stoker. Autoris. Übers. aus d. Engl. von Heinz Widtmann, 2. u. 3. Aufl., Leipzig, 1926: M. Altmann
Er wurde komplett überarbeitet, der neuen deutschen Rechtschreibung von 2006 angepasst und mit erklärenden Fußnoten versehen. Wo zweckmäßig wurden Wörter, Bezeichnungen und Begriffe auch einer aktuelleren Schreibung angepasst.
J. Schulze, Verleger
Abraham »Bram« Stoker (✳ 8.11.1847 bei Dublin; † 20.04.1912 in London) war ein irischer Schriftsteller, der hauptsächlich durch seinen Roman Dracula bekannt wurde.
Bram Stoker wird als drittes von sieben Kindern geboren. Die Eltern sind Abraham Stoker und Charlotte Matilda Blake Thornley.
Bis zu seinem siebten Lebensjahr leidet Stoker unter einer rätselhaften Krankheit, die ihn ans Bett gefesselt hält. Er erholt sich auf unerklärliche Weise. Seiner eigenen Aussage nach, hat ihn diese Erfahrung ein Leben lang beeinflusst.
1864 beginnt er ein Studium der Geschichte, Literatur, Mathematik und Physik am Trinity College in Dublin. Er zeichnet sich als außergewöhnlicher Athlet und Student aus. Anschließend erhält er eine Beamtenstellung bei der Dienstaufsichtsbehörde der Justizverwaltung in Dublin Castle. Aber hier wird er nicht lange glücklich.
Er arbeitet gleichzeitig als Journalist und Theaterkritiker und schreibt Artikel für das Dublin University Magazine. 1872 wird seine erste Kurzgeschichte The Chrystal Cup veröffentlicht. 1875 folgt die Kurzgeschichte The chain of Destiny. 1876 verfasst er den Bericht The Duties of Pretty Sessions in Ireland.
Sein Interesse am Theater und eine von ihm verfasste positive Rezession führt zu einer lebenslangen Freundschaft mit dem Schauspieler Henry Irving.
Stoker heiratet 1878 Florence Balcombe, die auch von Oscar Wilde umworben wird. Die kleine Familie zieht nach Chelsea in London, wo er als Manager von Irvings Lyceum Theatre arbeitet. Durch die Arbeit für Irving findet er Zugang zur Londoner Gesellschaft, wo er unter anderem auf den Maler James McNeill Whistler und den Autoren der Sherlock-Holmes-Geschichten Sir Arthur Conan Doyle trifft. Stoker wird Irvings Sekretär und bereist mit ihm die Welt. Daneben arbeitet er als Buchautor. Silvester 1879 wird sein Sohn Irving Noel geboren.
1881 erscheint Under The Sunset, Stokers erstes Buch, eine Sammlung von acht Kindermärchen.
1890 erscheint der erste Roman The Snak’s Pass. Im gleichen Jahr trifft Stoker bei einer okkulten Sitzung den ungarischen Professor Arminius Vámbéry, der ihm von der Legende des rumänischen Fürsten Vlad III. Drăculea erzählt. Man ist sich heute größtenteils einig, dass Stoker daraus die Figur des Vampirs Dracula entwickelte. In den nächsten Jahren ist er mit der Recherche zu historischen und kulturellen Details seiner Geschichte beschäftigt. Sieben Jahre arbeitet Stoker an dem Buch, bis es am 18. Mai 1897 erscheint.
Bis zu seinem Tod veröffentlicht Stoker noch weitere Kurzgeschichten und Romane, die aber heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind.
Bekannt ist und bleibt er für Dracula. Leider erlebt Stoker den weltweiten Erfolg seines Buches nicht mehr. Er stirbt 1912 in bescheidenen Verhältnissen in London. Die genaue Todesursache ist nicht bekannt.
Zu Ehren des Autors verleiht die Vereinigung der amerikanischen Horrorschriftsteller seit 1987 jährlich in verschiedenen Kategorien den Bram Stoker Award. Erhalten haben ihn unter anderem Stephen King, Clive Barker, Dean Koontz und Joyce Carol Oates.
Graf Dracula ist der berühmteste Vampir der Literaturgeschichte. Ins kollektive Gedächtnis gelangte er vor allem auch durch zahlreiche Verfilmungen des Stoffes. Schon Christopher Lee, Bela Lugosi, Klaus Kinski und Gary Oldman haben Dracula Gestalt verliehen.
Dracula steht am Anfang einer ganzen Reihe von Geschichten über Vampire, die in der Romantik und später im 19. Jahrhundert zu einem beliebten Thema der Literatur wurden.
Zur Zeit der Romanvorlage, Ende des 19. Jahrhunderts, ist Siebenbürgen (eng. Transylvania) ein Teil der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn und liegt im Königreich Ungarn. Heute zählt dieses Gebiet zu Rumänien.
Der Roman ist in Form von Tagebucheinträgen, Telegrammen und neidergeschriebenen Tonbandmitschnitten sehr geschickt und aufwendig konstruiert. Stoker gelingt damit der zu seiner Zeit sehr moderne Kunstgriff, die Protagonisten durch das Lesen der Korrespondenz und der Tagebücher in die Gedanken der anderen Personen vordringen zu lassen. Der Leser wird somit gleichzeitig zu einem unsichtbaren Mitwisser.
Der historische Vlad III., genannt »Der Pfähler«, war ein Adliger aus der Walachei, der im 15. Jahrhundert lebte. Sein Stammschloss ist heute allerdings nicht bekannt. Er trug den Beinamen Drăculea (Rumänisch für »Sohn des Drachen«), was Stoker allerdings fälschlicherweise mit »Sohn des Teufels« übersetze. Vlad war berüchtigt für seine Grausamkeit im Kampf gegen die Türken und Ungarn. Seine Feinde ließ er bei lebendigem Leib auf Pfähle spießen. Trotz seiner Grausamkeit verlor er letztlich den Krieg gegen die Türken, nachdem er mehrmals vom Thron gestoßen worden war, zurückkehrte und immer wieder die Seiten in der Auseinandersetzung zwischen Ungarn und Osmanischen Reich gewechselt hatte.
Um diesen Mann rankten sich schon zu Lebzeiten zahlreiche Legenden. Auch heute gehen die Meinungen über ihn auseinander. So wird er einerseits als einer der schlimmsten Massenmörder der Geschichte bezeichnet, andererseits soll er nicht grausamer als zu seiner Zeit üblich gewesen sein.
Stoker hat die Handlungsorte seines Romans selbst nie besucht. Er stellte umfangreiche Nachforschungen an und durchforstete Bibliotheken und Archive, vor allem die des Britischen Museums. Seine Recherchen waren so genau, dass selbst die Zugfahrpläne, die im Roman genannt werden, mit der Wirklichkeit übereinstimmten.
Wie diese Blätter entstanden sind, ergibt sich aus deren Lektüre. Alles Überflüssige ist ausgelassen worden, sodass sie, unabhängig von dem Glauben oder Nichtglauben späterer Geschlechter, als einfache historische Tatsachen dastehen. Sie sind durchaus keine Erzählungen vergangener Dinge, in denen das Gedächtnis sich irren kann, sondern alle Berichte sind sofort niedergeschrieben und spiegeln den Standpunkt und die Auffassung der betreffenden Schreiber treu wieder.
(Stenogramm)
Bistritz,1 3. Mai. München ab am 1. Mai 8:35 abends. Wien am frühen Morgen des nächsten Tages; sollte eigentlich 6:46 ankommen, der Zug hatte aber eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine herrliche Stadt zu sein, soweit ich es aus dem Waggon und in der kurzen Zeit, die mir zu einem Spaziergang zur Verfügung stand, beurteilen konnte. Ich fürchtete nämlich, mich allzu weit vom Bahnhofe zu entfernen, da wir so spät angekommen waren und jedenfalls so pünktlich als möglich abfahren würden. Der Eindruck war der, dass man den Occident verlassen und den Orient betreten hatte; die westlichste der prächtigen Brücken über die Donau, die hier eine beträchtliche Breite und Tiefe aufweist, versetzte einen jedenfalls mitten in die Zeit der Türkenherrschaft.
Wir fuhren rechtzeitig ab und kamen nach Einbruch der Nacht nach Klausenburg. Ich wohnte im Hotel Royal. Zum Diner oder vielmehr Souper aß ich ein Huhn, das mit rotem Pfeffer zubereitet war; sehr schmackhaft, aber dursterregend (Anm. Rezept für Mina verlangen). Auf meine Frage sagte mir der Kellner, man nenne es »Paprikahendl!« und ich würde es, da es Nationalgericht sei, überall in den Karpaten bekommen. Mein bischen Deutsch kam mir hier sehr zustatten; ich wüsste nicht, wie ich ohne es durchgekommen wäre.
Da ich in London noch etwas Zeit gehabt hatte, hatte ich das Britische Museum besucht und dort unter den Büchern und Karten über Transsylvanien eine Auswahl getroffen, da ich hoffte, einige Vorkenntnisse würden mir für den Verkehr mit den Edlen des Landes jedenfalls von Nutzen sein. Der Distrikt liegt im äußersten Osten des Landes, da, wo sich die Grenzen dreier Staaten, Transsylvanien, Moldau und Bukowina, treffen, mitten in den Karpaten. Einen genauen Anhalt für die Lage des Schlosses Dracula konnte ich jedoch nicht finden, da die Landkarten jener Zeit mit denen unserer Landesvermessung nicht zu vergleichen sind, aber ich fand, dass Bistritz, die Poststation für Dracula, ein ziemlich bekannter Platz ist. Ich will einige meiner Notizen hier eintragen; sie sollen mir als Anhalt dienen, wenn ich mit Mina über meine Reisen plaudern werde.
Die Bevölkerung Transsylvaniens setzt sich aus vier verschiedenen Nationalitäten zusammen: die Sachsen im Süden und, gemischt mit ihnen, die Wallachen, Nachkommen der Dazier; die Magyaren im Westen und Szekels im Osten und Norden. Ich gehe zu den Letztgenannten, die von Attila und den Hunnen abstammen sollen. Das mag sich wohl so verhalten; denn als die Magyaren im elften Jahrhundert das Land eroberten, fanden sie die Hunnen dort ansässig. Ich las, dass jeder nur erdenkliche Aberglaube dort unten in dem hufeisenförmigen Zuge der Karpaten zu Hause sei, als sei dort das Zentrum eines Wirbels abergläubischer Vorstellungen. In dieser Beziehung wird mein Aufenthalt wohl viel des Interessanten bieten (Anm. Ich muss den Grafen darüber befragen).
Ich schlief nicht gut, obgleich mein Bett ziemlich bequem war, denn ich hatte alle möglichen verworrenen Träume. Die ganze Nacht heulte ein Hund unter meinem Fenster, welches zu ihm in irgend einer Beziehung zu stehen schien; oder der Paprika war schuld, ich hatte alles Wasser in meiner Karaffe ausgetrunken und war doch immer noch durstig. Gegen morgen schlief ich endlich ein und erwachte erst auf heftiges Klopfen an meiner Türe, woraus ich schließe, dass ich sehr fest geschlafen haben muss. Zum Frühstück aß ich wiederum Paprika; eine Suppe von Maismehl, welches sie »Mamalika«2 nennen, und Eierkuchen mit einem Füllsel von gehacktem Fleisch, die »Impletata« (Anm. Auch hiervon das Rezept verlangen). Ich musste sehr rasch frühstücken, denn mein Zug ging kurz vor 8 Uhr, d.h. er sollte zu dieser Zeit gehen; als ich mich um 7:30 auf der Station einfand, musste ich fast eine Stunde im Wagen sitzen, bis endlich die Abfahrt erfolgte. Mir scheint es, als gingen die Züge umso unpünktlicher, je weiter man nach Osten kommt; wie mag es da erst in China sein?
Den ganzen Tag bummelte der Zug durch eine äußerst reizvolle Gegend. Manchmal sahen wir kleine Schlösser und Türme auf steilen Hügeln, ganz wie man sie in alten Chroniken abgebildet sieht; zuweilen passierten wir Flüsse und Bäche, die, nach den breiten Geröllstreifen auf beiden Seiten zu schließen, wohl häufig aus ihren Ufern treten.
Auf jeder Station lungerten größere oder kleinere Gruppen von Eingeborenen in allen möglichen Trachten herum. Einige von ihnen glichen ganz den Bauern, wie ich sie zu Hause oder auf meiner Reise durch Deutschland und Frankreich sah. Kurze Jacken, runde Hüte und Hosen aus hausgewebtem Tuch. Andere sahen wieder sehr malerisch aus. Die Frauen machten einen hübschen Eindruck, jedoch nur in der Entfernung, denn sie waren sehr plump um die Hüften. Sie hatten alle weite Ärmel; die meisten von ihnen trugen breite Gürtel, von denen Streifen herunterflatterten, wie Ballettkleider, nur hatten sie unter diesen ohne Zweifel Unterröcke. Am seltsamsten sahen die Slowaken aus, barbarischer als alle anderen, mit ihren mächtigen Cowboyhüten, weiten schmutzig weißen Pluderhosen und ungeheueren, schweren, fast einen Fuß breiten Ledergürteln, die über und über mit Messingnägeln besetzt waren. Sie trugen hohe Stiefel, in welche sie die Hosen gesteckt hatten, und zeichneten sich durch langes schwarzes Haar und große schwarze Schnurrbärte aus. Sie machen zwar einen malerischen, aber nicht sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Auf den Stationen hockten sie beieinander wie orientalische Räuberbanden, sind aber, wie mir gesagt wurde, äußerst harmlos und selbstzufrieden.
Die Dämmerung war hereingebrochen, als wir in Bistritz, einer alten, interessanten Stadt, ankamen. Sie liegt zweckentsprechend hart an der Grenze – von hier aus führt der Borgópass in die Bukowina3 – und hatte demgemäß eine sehr stürmische Vergangenheit, von der sie noch heute Spuren trägt. Vor fünfzig Jahren hatten ungeheuere Feuersbrünste dort gewütet, fünfmal war sie ein Raub der Flammen geworden. Gleich zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde sie belagert; sie verlor hierbei 13 000 Einwohner, da außer den Gefechten auch noch Hunger und Seuchen viel Opfer forderten.
Graf Dracula hatte mir geraten, im Hotel Goldene Krone zu übernachten, einem Haus nach altem Stil – zu meiner Freude, da ich so viel als möglich von dem sehen wollte, was das Land bietet. Ich wurde offenbar erwartet, denn als ich eintrat, traf ich eine ältere, gutmütig aussehende Frau in dem gewöhnlichen landesüblichen Kostüm. Weißes Unterkleid mit langer doppelter, hinten und vorne herunterhängender Schürze aus buntem Tuch, die allerdings zu knapp anlag. Als ich näher trat, machte sie einen Knix und sagte »Der Herr Engländer?«
»Ja«, sagte ich, »Jonathan Harker.« Sie lächelte und gab einem ältlichen Mann in weißen Hemdärmeln, der ihr bis zur Türe gefolgt war, einen Auftrag. Er ging, kam aber gleich darauf mit einem Briefe in der Hand wieder zurück:
Mein Freund! Willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie mit Ungeduld. Schlafen Sie wohl für heute. Um drei Uhr morgens geht die Postkutsche nach der Bukowina, ein Platz ist für Sie reserviert. Am Borgópass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir bringen. Ich hoffe, dass Sie eine gute Reise von London bis hierher hatten und dass Sie sich Ihres Aufenthalts in meiner herrlichen Heimat freuen mögen.
Ihr Freund Dracula.
4. Mai. – Ich brachte in Erfahrung, dass der Wirt einen Brief des Grafen erhalten hatte, der ihn beauftragte, den besten Platz in der Postkutsche zu belegen; als ich ihn über Details ausfragen wollte, wurde er jedoch zurückhaltend und gab vor, mein Deutsch nicht zu verstehen. Das konnte nur eine Ausrede sein, denn bisher hatte er es verstanden; wenigstens schien es so, denn auf alle meine Fragen war mir stets eine genaue Antwort zuteilgeworden. Er und seine Frau, die alte Dame, die mich empfangen hatte, sahen sich erschrocken an. Als ich ihn fragte, ob er den Grafen Dracula kenne und mir etwas von dessen Schloss erzählen wolle, bekreuzigten sich beide und brachen einfach das Gespräch ab, indem sie sagten, sie wüssten nichts davon. Das Geld wäre in einem Briefe gesandt worden, das wäre alles. Es war nur mehr wenig Zeit bis zur Abreise, sodass ich nicht mehr fragen konnte; übrigens war die Sache recht geheimnisvoll und wenig erfreulich für mich.
Kurz bevor ich wegging, kam die alte Dame zu mir aufs Zimmer und sagte in hysterischem Tone: »Müssen Sie denn hingehen, junger Herr? Müssen Sie denn wirklich gehen?« Sie war dermaßen erregt, dass sie das wenige Deutsch, das sie konnte, vergessen zu haben schien, denn sie mischte es mit Worten einer anderen Sprache, die ich absolut nicht verstand. Ich konnte ihr nur soweit folgen, um zu erkennen, dass sie Fragen stellte. Als ich ihr aber sagte, dass ich gehen müsse und dass wichtige Geschäfte mich riefen, fragte sie wieder:
»Wissen Sie denn, was heute für ein Tag ist?« Ich antwortete, es wäre der 4. Mai. Sie schüttelte den Kopf und sagte wieder: »O ja, ich weiß, ich weiß; aber wissen Sie denn nicht, was für ein Tag heute ist?« Als ich verneinte, fuhr sie fort:
»Es ist St. Georgsnacht; wissen Sie nicht, dass, wenn die Uhr heute Mitternacht schlägt, alle bösen Dinge in der Welt freien Lauf haben? Wissen Sie, wohin Sie gehen und zu wem Sie gehen?«
Sie war so verstört, dass ich den Versuch machte sie zu trösten, aber vergebens. Schließlich warf sie sich auf die Knie und flehte mich an, nicht zu gehen, wenigstens meine Abfahrt um einen oder zwei Tage zu verschieben. Es war zu lächerlich, das alles, aber dennoch fühlte ich mich unbehaglich. Auf alle Fälle hatte ich meinem Dienst nachzukommen und nichts durfte mich davon abhalten. Ich hob sie also auf, trocknete ihre Tränen und sie gab mir dann ein Kruzifix, das sie von ihrem Halse genommen. Ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte, denn als englischer Christ hatte ich gelernt, solche Dinge als mehr oder minder götzendienerisch anzusehen; ich brachte es aber auch nicht übers Herz, das Geschenk der alten Frau, die es so gut mit mir meinte und sich in einer solchen Erregung befand, zurückzuweisen. Vermutlich sah sie mir diese Zweifel am Gesicht an, denn sie legte mir den Rosenkranz um den Hals und sagte: »Um Ihrer Mutter willen.« Dann ging sie aus dem Zimmer. Ich schreibe diesen Teil meines Tagebuches, während ich auf die Post warte, die sich ohne Zweifel verspätet hat. Der Rosenkranz hing noch um meinen Hals. Ich weiß nicht, ist es der Aberglaube der alten Frau oder die gespenstigen Traditionen der Gegend oder das Kruzifix selbst, aber ich fühlte mich nicht so zuversichtlich als sonst. Wenn dieses Buch Mina vor mir erreichen sollte, so möge es ihr meine Abschiedsgrüße bringen. Da kommt der Wagen!
5. Mai. – Das Schloss. – Die graue Morgendämmerung ist vergangen und die Sonne steht schon weit über dem Horizont, der von Bäumen oder Hügeln – ich kann es nicht erkennen, da sich Nahes und Fernes unterschiedslos von ihm abhebt – wie ausgezackt erscheint. Ich bin nicht schläfrig, und da ich doch nicht geweckt werde, so schreibe ich natürlich einstweilen, bis der Schlaf kommt. Es sind so viele seltsame Dinge, die ich da berichten muss, dass es dem, der diese Aufzeichnungen liest, vielleicht vorkommen wird, als hätte ich vor meiner Abreise von Bistritz zu reichlich diniert. Darum führe ich hier mein Diner an. Ich aß einen sog. Räuberbraten – Stücke von Speck, Zwiebeln und Rindfleisch, gewürzt mit Paprika und an Stäben über dem Feuer gebraten, in der einfachen Weise wie das Londoner »Katzenfutter«. Der Wein war weißer Mediasch,4 der ein eigentümliches Stechen auf der Zunge erzeugt, das aber nicht unangenehm wirkt. Ich trank davon zwei Gläser, sonst nichts.
Als wir abfuhren, machte die ganze Versammlung vor dem Wirtshause, die unterdessen beträchtlich angewachsen war, das Zeichen des Kreuzes und streckte dann zwei gespreizte Finger gegen mich aus. Nur mit Schwierigkeiten erfuhr ich von einem meiner Reisegefährten, was das zu bedeuten habe. Erst wollte er nicht mit der Sprache heraus, als ich ihm aber sagte, dass ich Engländer sei, erklärte er mir, das sei ein Zauber oder Schutz gegen den bösen Blick. Das war nicht sehr erfreulich für mich, der ich eben an einen unbekannten Ort zu einem unbekannten Mann fahren wollte; aber alle erschienen so gutherzig, so besorgt und so sympathisch, dass ich mich einer gewissen Rührung nicht erwehren konnte. Ich werde den letzten Ausblick auf den Wirtsgarten und die sich um den Torweg drängende malerische Menge nicht vergessen; wie sie sich bekreuzigten, im Hintergrund das reiche Gezweige der Oleander und Orangenbäume, die in grünen Kübeln in der Mitte des Hofes standen. Dann ließ unser Wagenlenker seine lange Peitsche über die Köpfe der vier kleinen Pferdchen sausen, die davonstürmten; so traten wir unsere Reise an.
Ich verlor in der Schönheit der Gegend, durch die wir fuhren, bald die Gespensterfurcht und die Erinnerung daran. Allerdings, wenn ich die Sprache meiner Reisegenossen, oder vielmehr ihre Sprachen verstanden hätte, wäre ich die unangenehmen Eindrücke wohl nicht so schnell losgeworden. Vor uns lag ein grünes, sanft ansteigendes Land, voll von Wäldern und Gebüsch, da und dort ein steiler Hügel, gekrönt von einer Baumgruppe oder von Bauernhäusern, die ihre hellen Giebelseiten der Straße zuwandten. Alles in reichster Blüte, Apfel-, Pflaumen-, Kirsch- und Birnbäume, und als wir näher herankamen, sahen wir auch den grünen Rasen unter ihnen gesprenkelt von herabgefallenen Blütenblättern. Durch diese liebliche Hügellandschaft, die man das Mittelland nennt, zog sich die Straße und verlor sich weit in der Ferne im Grünen oder wurde von Fichtenwäldern aufgenommen, deren Spitzen wie dunkelgrüne Zungen da und dort an den Hügeln hinabliefen. Der Weg war holperig, trotzdem flogen wir mit fiebernder Hast darüber hin. Ich konnte mir diese Hast nicht erklären, aber der Fuhrmann war scheinbar darauf erpicht, ohne jeglichen Zeitverlust Borgó-Prund5 zu erreichen. Man sagte mir, dass diese Straße im Sommer ausgezeichnet sei, dass man sie aber jetzt noch nicht von den Schäden wiederhergestellt habe, die ihr der Winter zugefügt. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich scheinbar von den übrigen Straßen in den Karpaten, die, einer alten Tradition entsprechend, nicht in allzugroßer Ordnung gehalten werden. Von alters her lassen die Hospodare nichts daran ausbessern, um nicht bei den Türken den Glauben zu erwecken, man wolle Truppen gegen sie marschieren lassen, und so den nur unter der Asche glimmenden Funken des Krieges zum Auflodern zu bringen.
Jenseits der grünen schwellenden Hügel des Mittellandes erheben sich mächtige Waldhänge bis zu den himmelanstrebenden Schroffen der Karpaten. Rechts und links von uns stiegen sie an; die Abendsonne ruhte voll auf ihnen und brachte all die herrlichen Farben dieses entzückenden Landes zur Geltung; tiefes Blau und Purpur in den Schatten, Grün und Braun da, wo Gras und Fels sich trafen; endlose Perspektiven auf gezacktes Gestein und spitze Klippen bis dahin, wo die Schneehäupter majestätisch in die Lüfte ragten. Durch mächtige Risse im Gestein sah man da und dort im Lichte der sinkenden Sonne den weißen Gischt fallender Wasser. Einer meiner Gefährten berührte meinen Arm, als wir gerade einen Hügel umfuhren und sich der Ausblick auf einen ungeheuren schneebedeckten Gipfel öffnete, der dann immer uns gerade gegenüber zu liegen schien, als wir die gewundene Straße hinaufklommen:
»Sieh, Herr, Isten Szek! – Gottes Sitz«, und er bekreuzigte sich andachtsvoll. Während wir den endlosen Weg dahin fuhren und die Sonne immer tiefer und tiefer sank, begannen die Schatten rings um uns heraufzukriechen. Auf der schneebedeckten Bergspitze lag noch der Widerschein der scheidenden Sonne und sie erglühte in einem feinen, kalten Blassrot. Zuweilen trafen wir Tschechen oder Slowaken in malerischer Kleidung, und ich konnte bemerken, dass der Kropf hier ein sehr verbreitetes Übel ist. Am Wegrand standen viele Kreuze, und wenn wir ein solches passierten, bekreuzigten sich alle meine Wagengenossen. Hier und dort kniete ein Bauer oder eine Bäuerin vor einer Kapelle; sie sahen sich gar nicht nach uns um; so tief waren sie in Andacht und Hingebung versunken, dass sie weder Augen noch Ohren für die sie umgebende Welt hatten. Viel Neues gab es für mich zu sehen, z.B. Heuschober auf Bäumen und zuweilen herrliche Birkengruppen, deren weiße Stämme wie Silber durch das saftige Grün leuchteten. Manchmal begegneten wir einem Leiterwagen – dem landesüblichen Bauerngefährt, das lang und schlangenartig gegliedert, besonders geeignet schien, sich den Wegen anzupassen. Auf ihnen saßen ganze Gruppen heimkehrender Bauern, die Tschechen mit weißen, die Slowaken mit gefärbten Lammpelzen; die letzteren trugen lanzenartige Stäbe, deren Ende in eine Axt auslief. Als der Abend einfiel, wurde es sehr kalt, und die wachsende Dämmerung schien die unbestimmten Umrisse der Eichen, Buchen und Fichten in tiefes Dunkel zu versenken; in den Tälern aber, die tief unter uns sich dahinzogen, hoben sich noch einzelne Föhren6 scharf von ihrem Hintergrunde, altem Schnee, ab. Einigemale, als die Straße in Fichtengehölze eintrat, deren Dunkel sich dicht um uns zu legen schien, erzeugten weißliche Flecke, die zwischen den Bäumen flatterten, in uns eine halb furchtsame, halb feierliche Stimmung. Schon bei Sonnenuntergang waren ununterbrochen seltsam geformte, gespenstische Nebelfetzen durch die Täler der Karpaten hingefegt, und die daran geknüpften Gedanken und wilden Fantasien spannen sich nun weiter. Die Steigungen waren zum Teil so steil, dass die Pferde trotz der Eile des Postillons nur langsam vorwärtskamen. Ich wollte absteigen und zu Fuß gehen, wie wir es zu Hause tun, aber der Wagenlenker wollte davon nichts hören. »Nein, nein«, sagte er »Sie dürfen hier nicht gehen, die Hunde sind zu böse«, und dann fügte er hinzu: »Sie werden heute noch genug solcher Dinge haben, ehe Sie zu Bette gehen«; es sollte dies wohl eine Art grimmigen Scherzes sein, denn er sah umher, um sich des zustimmenden Lächelns der Übrigen zu versichern. Der einzige kurze Halt, den er einlegte, diente zum Anzünden der Wagenlaternen.
Als es ganz dunkel geworden war, schien sich eine gewisse Erregung der Passagiere zu bemächtigen; einer nach dem anderen sprach auf den Fuhrmann ein, gleichsam als wollten sie ihn zu noch größerer Eile anspornen. Er trieb die Pferde unbarmherzig mit der Peitsche an und zwang sie durch wilde Zurufe zu erhöhter Kraftanspannung. Ich konnte in der Dunkelheit einen grauweißen Fleck über uns bemerken, als wenn ein Spalt in den Felswänden wäre. Die Aufregung der Passagiere steigerte sich immer mehr; die gebrechliche Kutsche hüpfte in ihren ledernen Federn und schwankte wie ein Boot auf stürmischer See. Ich musste mich festhalten. Der Weg wurde ebener und wir flogen nur so dahin. Dann schienen die Berge näher heranzutreten und förmlich über uns zusammenzurücken; wir traten in den Borgópass. Einzelne der Mitreisenden gaben mir kleine Geschenke, die sie mir mit einem Ernst aufdrängten, der eine Zurückweisung unmöglich machte. Es waren ohne Zweifel seltsame Dinge, aber jedes wurde in der guten Absicht mit einem freundlichen Wort und mit einem Segenswunsch gegeben und mit jenen gefahrbeschwörenden Gesten, die ich schon vor dem Hotel in Bistritz gesehen hatte – dem Bekreuzen und dem Zauber gegen den bösen Blick. In fliegender Eile fuhren wir weiter; der Fuhrmann lehnte sich vor, die Fahrgäste starrten, die Ellbogen auf den Wagenbord gestützt, gespannt hinaus in das nächtige Dunkel. Es war offenkundig, dass etwas sehr Aufregendes geschah oder erwartet wurde; aber obgleich ich jeden meiner Reisegefährten fragte, keiner gab mir nur die kleinste Erklärung. Dieser Zustand der Aufregung hielt einige Zeit an; schließlich konnten wir die östliche Passöffnung erkennen. Dunkle drohende Wolken flogen über unseren Häuptern dahin und in der Luft lag eine schwere, drückende Schwüle. Es war, als trennte der Gebirgszug zwei grundverschiedene Atmosphären und als träten wir nun in die der Gewitter. Ich hielt nun selbst Ausschau nach dem Gefährte, das mich zum Grafen bringen sollte, jeden Augenblick erwartete ich, Wagenlaternen aufblitzen zu sehen, aber alles blieb dunkel. Das einzige Licht verbreiteten unsere Lampen, in deren flackerndem Scheine der Dampf von unseren warmgelaufenen Pferdchen wie eine weiße Wolke aufstieg. Etwas heller lag vor uns der sandige Weg, aber nichts zeigte an, dass sich auf ihm ein Wagen nähere. Die Fahrgäste seufzten erleichtert auf, was mein eigenes Missbehagen Lügen zu strafen schien. Ich dachte schon darüber nach, was nun zu tun wäre, als der Fuhrmann nach der Uhr sehend zu den anderen etwas sagte; so leise und ruhig, dass ich es kaum hören konnte. Ich meinte aber dennoch verstanden zu haben: »Eine Stunde vor der Zeit«; dann wandte er sich zu mir und sprach in einem Deutsch, wenn möglich noch schlechter als meines:
»Kein Wagen ist hier. Der Herr werden demnach gar nicht erwartet. Sie fahren nun am besten mit uns nach der Bukowina und kehren dann morgen oder übermorgen zurück; besser noch übermorgen.« Während der sprach, begannen seine Pferdchen zu wiehern und zu schnauben und wild auszuschlagen, sodass der Fuhrmann sie halten musste. Dann fuhr eine Kalesche mit vier Pferden von hinten an uns heran und hielt auf gleicher Höhe an, während die Bauern in lautes Geschrei ausbrachen und sich bekreuzigten. Beim Schein der Laternen konnte ich erkennen, dass die Pferde kohlschwarz und wundervoll gebaut waren. Die Zügel führte ein hochgewachsener Mann mit braunem Vollbart und einem großen schwarzen Hut, der sein Gesicht vor uns verbergen zu sollen schien. Als er sich zu uns wandte, konnte ich ein paar funkelnde Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen. Er sagte zum Postillon:
»Du bist sehr früh daran, mein Freund.« Der Mann stammelte verlegen:
»Der englische Herr hatte große Eile«, worauf der Fremde erwiderte:
»Weil du ihn, wie ich vermute, nach der Bukowina fahren wolltest. Du kannst mich nicht täuschen, mein Bester, ich weiß zu viel und meine Rosse sind zu flink.« Während er das sagte, lächelte er, und der Schein der Laterne fiel auf einen grausam aussehenden Mund mit sehr roten Lippen und scharfen, elfenbeinweißen Zähnen. Einer meiner Reisegefährten flüsterte seinem Nachbarn die Worte aus Bürgers »Lenore« zu:
»Denn die Toten reiten schnell.«
Der seltsame Kutscher hatte offenbar die Worte gehört, denn er sah lächelnd den Sprecher an. Dieser wandte sein Gesicht ab, indem er zwei Finger ausspreizte und das Kreuz schlug.
»Gib mir das Gepäck des Herrn«, sagte der Kutscher, und mit außerordentlicher Geschwindigkeit wurden meine Koffer abgeladen und auf der Kalesche untergebracht. Ich stieg dann auf der Seite des Postwagens aus, wo die Kalesche stand, wobei mit der fremde Kutscher half, indem er meinen Arm mit stahlhartem Griff umspannte; seine Stärke muss beträchtlich sein. Ohne ein Wort zu sagen, zog er die Zügel an, die Pferde wendeten und jagten der finsteren Passenge zu. Als ich zurücksah, bemerkte ich noch den Dampf der Pferde, der im Laternenschein emporstieg, und dunkel sich davon abhebend die sich bekreuzenden Gestalten meiner Reisegenossen. Ich hörte noch, wie der Fuhrmann die Peitsche klatschen ließ und den Pferden etwas zurief; dann flogen sie dahin, der Bukowina zu.
Als sie im Dunkel verschwunden waren, überlief mich ein eisiger Schauer, und das Gefühl der Verlassenheit kam über mich.
Der Kutscher legte mir einen Mantel um die Schultern und eine Decke um die Knie und sagte in fließendem Deutsch zu mir:
»Die Nacht ist kalt, und mein Herr, der Graf, hat mir geboten, besonders auf Sie Acht zu geben; hier unter dem Sitz steht eine Flasche Slibowitz7 (der Pflaumenbranntwein des Landes), falls Sie seiner bedürfen sollten.« Ich nahm nichts davon, aber es war mir immerhin eine Beruhigung zu wissen, dass so für mich gesorgt war. Ich hatte ein eigentümliches Gefühl, welches aber nicht als Furcht bezeichnet werden konnte. Wenn allerdings irgend eine Möglichkeit gewesen wäre, hätte ich lieber auf diese nächtliche Fahrt verzichtet. Der Wagen fuhr in scharfem Tempo dahin, dann machten wir eine vollkommene Kehrtwendung und fuhren wieder in entgegengesetzter Richtung. Ich hatte den Eindruck, als seien wir jedoch noch auf der gleichen Straße; ich merkte mir einige besonders auffallende Punkte und sah, dass ich mich nicht täuschte. Ich hätte gerne den Kutscher gefragt, was das zu bedeuten habe, tat es aber nicht, weil ich mir sagte, dass in meiner Situation ein Protest zwecklos gewesen wäre, wenn er wirklich etwas gegen mich im Schilde führte. Neugierig war ich aber, welche Zeit wir hätten; ich zündete ein Streichholz an und sah bei seinem Scheine nach meiner Uhr; es waren nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Es erfasste mich ein jäher Schreck; vermutlich hatten mich der allgemeine Aberglaube bezüglich der Mitternacht und meine jüngsten Erfahrungen etwas nervös gemacht. Ein peinliches Gefühl der Erwartung überkam mich.
Dann begann tief unten in einem Bauernhof an der Straße ein Hund zu heulen, ein langes, todestrauriges Weinen, wie vor Angst. Ein zweiter antwortete, und so pflanzte sich das fort, bis, getragen vom Nachtwind, der nun leise durch den Pass säuselte, ein wildes Heulen vernehmbar war. Es schien aus der ganzen Gegend zu kommen, so weit die Einbildung in den Schauern der Nacht reichte. Bei den ersten Lauten scheuten und schnaubten die Pferde, aber der Kutscher sprach leise auf sie ein und sie wurden wieder ruhiger, wenn sie auch zitterten und schwitzten, wie nach der Flucht vor plötzlicher Gefahr. Nun begann, noch weit entfernt, auf den Bergen zu beiden Seiten der Straße ein lauteres, heller klingendes Geheul – das von Wölfen –, welches die Pferde und auch mich in hohem Maße erschreckte. Ich war gesonnen, aus dem Wagen zu springen, während sie wieder schnaubten und wie toll ausschlugen, sodass der Kutscher seine ganze Kraft anwenden musste, um sie zu halten. In wenigen Minuten hatten sich meine Ohren an die Laute gewöhnt, und auch die Pferde waren wenigstens so weit beruhigt, dass der Kutscher absteigen und sich vor sie hinstellen konnte. Er streichelte und liebkoste die Tiere und flüsterte ihnen etwas in die Ohren, wie es die Pferdedresseure machen; das hatte eine gute Wirkung, denn unter seinen Zärtlichkeiten wurden sie wieder fügsamer, obgleich sie immer noch zitterten. Der Kutscher stieg auf seinen Bock und fuhr mit straffen Zügeln in flottem Tempo weiter. Dann bog er plötzlich quer über die Straße scharf auf einen sehr engen Weg nach rechts ab.
Bald waren wir unter Bäumen, deren dicht verschlungenes Geäst förmlich einen Tunnel über uns bildete, bald stiegen schroffe Felsen zu beiden Seiten kühn in die Höhe. Trotzdem wir geschützt waren, konnten wir den stärker werdenden Nachtwind hören; es pfiff und winselte durch die Felsen und klatschend und krachend schlugen die Zweige der Bäume zusammen. Es wurde immer kälter und kälter und bald fiel auch ein leichter Schnee, der uns und unsere Umgebung in einen weißen Überzug hüllte. Der scharfe Wind trug uns aus immer weiterer Ferne das Heulen der Hunde zu. Dagegen klang das Geheul der Wölfe näher und näher, gleichsam als wenn sie uns von allen Seiten umringten. Ich war sehr erschreckt und die Pferde teilten meine Furcht; der Kutscher aber schien nicht im mindesten beunruhigt. Er wandte den Kopf aufmerksam zur Rechten und zur Linken, aber ich konnte nichts bemerken.
Plötzlich, dicht zur Linken, tauchte eine flackernde blaue Flamme aus dem Dunkel auf. Der Kutscher sah sie zu gleicher Zeit; er hielt die Pferde an, sprang ab und verschwand in der Finsternis. Ich wusste nicht, was tun, umso mehr als das Geheul der Wölfe immer näher kam; aber während ich noch überlegte, kehrte unversehens der Kutscher zurück, nahm wortlos seinen Sitz wieder ein und weiter ging die Fahrt. Ich muss in Schlaf gesunken und im Traum von diesem Zwischenfall verfolgt worden sein, denn er wiederholte sich unzählige Male. Wenn ich daran denke, ist es mir wie ein grauenhaftes Albdrücken. Auf einmal erschien eine Flamme so nahe bei uns, dass ich sogar in der Dunkelheit, die uns umgab, die heftige Bewegung des Kutschers erkennen konnte. Er schritt rasch auf die Flamme los – sie muss sehr schwach gewesen sein, denn sie erleuchtete nicht einmal die allernächste Umgebung – und legte einige vom Wege aufgeraffte Steine zu einer besonderen Figur. Einer eigenartigen optischen Erscheinung muss ich hierbei gedenken; als der Kutscher zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie keineswegs, ich sah sie vielmehr gespenstisch weiterflackern. Das entsetzte mich, aber da die Erscheinung nur kurze Zeit anhielt, führte ich sie auf eine Sinnestäuschung infolge des langen Hinausstarrens in die Nacht zurück. Dann verschwanden rasch die blauen Lichter und wir sausten durch die Finsternis dahin, rings um uns das Geheul der Wölfe, die uns in einem weiten Kreise zu verfolgen schienen.
Einmal wieder begab sich der Kutscher weiter von der Straße weg, als er es bisher getan, und während seiner Abwesenheit begannen die Pferde ärger als je zu zittern und zu schnauben und vor Angst zu stöhnen. Ich konnte mir die Ursache nicht erklären, denn das Geheul der Wölfe hatte aufgehört. Da erschien der Mond, der durch die düsteren Wolken dahinjagte, über dem gezackten Kamm eines fichtenbewachsenen Felsbrockens, und bei seinem fahlen Licht erblickte ich um uns einen Ring von Wölfen mit weißen Zähnen, roten heraushängenden Zungen, sehnigen Beinen und zottigem Fell. Ihr grimmiges Schweigen war viel unheimlicher als ihr Geheul. Ich war wie gelähmt vor Schreck. Ein solches Gefühl hat man nur, wenn man sich unvermittelt einer ungeheueren Gefahr gegenübersieht.
Da plötzlich begannen die Wölfe wieder aufzuheulen, als wenn das Mondlicht eine besondere Wirkung auf sie ausübe. Die Pferde schlugen herum, stöhnten und sahen mit ihren rollenden Augen so hilflos um sich, dass es einem ganz wehe tat; aber der lebendige Ring des Verderbens umgab sie unentrinnbar von allen Seiten. Ich rief nach dem Kutscher, denn der einzige Ausweg schien mir, den Ring mit seiner Hilfe zu durchbrechen. Ich schrie und trommelte mit den Fäusten gegen den Wagenschlag, umso die Bestien fernzuhalten und ihm die Möglichkeit zu geben, die Kalesche zu erreichen. Was er tat, weiß ich nicht, aber ich hörte auf einmal den befehlenden Ton seiner Stimme und sah ihn dann auf dem Wege stehen. Er schwenkte seine langen Arme, gleichsam als wolle er ein störendes Hindernis bei Seite räumen, und die Wölfe wichen mehr zurück. Dann schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond und wir waren wieder im Finstern.
Als ich das Dunkel mit den Augen zu durchdringen vermochte, kletterte der Kutscher gerade auf den Bock; die Wölfe waren wie weggezaubert. Das alles war so seltsam und ungewöhnlich, dass eine schreckliche Furcht über mich kam; ich wagte nicht zu sprechen oder mich zu regen. Die Zeit schien mir endlos, da wir unsere Fahrt fortsetzten, nun in völligem Dunkel, denn die eilenden Wolken verdeckten den Mond. Meist ging es bergauf, zuweilen kamen kurze scharfe Senkungen. Plötzlich kam es mir zum Bewusstsein, dass der Kutscher den Wagen in den Hof eines großen, ruinenhaften Gebäudes lenkte, aus dessen weiten schwarzen Fenstern nicht ein einziger Lichtstrahl kam und dessen zerbröckelnde Zinnen sich wie eine gezackte Linie von dem nunmehr wieder mondhellen Himmel abhoben.
Bistritz ist eine Stadt im Nordosten von Siebenbürgen, Rumänien. <<<
Mămăligă ist ein aus Maisgrieß hergestellter fester Brei, ähnlich der italienischen Polenta, der in Rumänien, Moldawien und anderen Teilen des Balkans zur regionalen Kochtradition gehört. Besonders in Rumänien ist es ein Nationalgericht. <<<
Die Bukowina ist eine historische Landschaft im östlichen Mitteleuropa. Die nördliche Hälfte gehört zur Ukraine, die südliche Hälfte zu Rumänien. Die Landschaft grenzt im Südwesten an die Karpaten, den Übergang nach Siebenbürgen bildet der Borgo-Pass. <<<
Mediasch ist eine Stadt in Siebenbürgen im Kreis Sibiu (Hermannstadt), Rumänien. Sie liegt an der Târnava Mare (Große Kokel) und ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in Zentralrumänien. Nicht nur im Stadtwappen der Stadt sind Weintrauben zu sehen, sondern auch im Wappen des Heimatvereins, das zusätzlich auch Weinblätter zeigt. <<<
Die Bahnstrecke Prundu Bârgăului–Vatra Dornei ist eine nur noch teilweise existierende Bahnstrecke in Rumänien. Sie verlief von Siebenbürgen in die Bukowina und überquerte dabei einen Kamm der Ostkarpaten. <<<
immergrüner Baum <<<
Sliwowitz, eigentlich Slivova Rakija ist die gebräuchliche Bezeichnung für eine Rakija (Obstbrand) aus Pflaumen. Der Name ist vom slawischen Wort sliwa für Pflaume abgeleitet. <<<
(Fortsetzung)
5. Mai – Ich muss geschlafen haben; denn wenn ich wach gewesen wäre, müsste es mir doch aufgefallen sein, dass wir uns einem so seltsamen Platze näherten. In der Dunkelheit schien der Schlosshof von beträchtlicher Größe; dass mehrere Wege von ihm aus unter mächtige runde Torwege führten, ließ ihn vielleicht noch größer erscheinen, als er wirklich war. Ich habe ihn bis heute noch nicht bei Tage gesehen.
Als der Wagen hielt, stieg der Kutscher ab und reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich musste wiederum die Stärke bewundern, die in dieser Hand lag; sie schien wie eine Stahlzange, die meine Hand leicht zerdrückt hätte, wenn der Besitzer wollte. Dann nahm er meine Koffer heraus und stellte sie neben mich auf den Boden. Ich befand mich vor einem großen, alten Tore, das mit Eisen beschlagen und in einen stark ausladenden Torbogen von massivem Stein eingelassen war. Ich konnte bei dem zweifelhaften Lichte erkennen, dass der Stein roh behauen war, dass aber die Verzierungen von Zeit und Wetter schon stark gelitten hatten. Als alles ausgeladen war, schwang sich der Kutscher wieder auf den Bock, zog die Zügel an und verschwand dann mit Wagen und Pferden in einem der mächtigen schwarzen Torbogen.
Ich blieb schweigend auf meinem Platze stehen, denn ich wusste nicht, was tun. Von Glocke oder Klopfer keine Spur; durch diese drohenden Mauern und dunklen Fensterhöhlen hätte auch meine Stimme keinen Eingang gefunden. Die Zeit, die ich zum Warten verurteilt war, schien mir endlos und ich merkte, wie Furcht und Zweifel in mir aufstiegen. Wohin war ich geraten und unter was für Leute? Auf welches unheimliche Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? War das ein normaler Fall im Leben eines Anwaltschreibers, der hinausgeschickt wurde, um über den Ankauf eines Londoner Grundbesitzes durch einen Fremden mit diesem zu unterhandeln? Übrigens »Anwaltschreiber« – Mina hört das nicht gerne. Aber Anwalt! – denn eben als ich London verlassen wollte, hatte ich noch in Erfahrung gebracht, dass ich mein Examen bestanden hatte; ich bin also nun wohlbestallter Anwalt. Ich begann meine Augen zu reiben und mich selbst zu kneifen, um zu sehen, ob ich denn wirklich wach wäre. Es schien mir alles wie ein hässlicher Traum und ich erwartete, plötzlich aufzuwachen und zu Hause zu liegen und durch die Fenster in den fahlen Schein des Morgens zu starren, wie es mir manchmal in Zuständen der Überarbeitung passiert war. Aber mein Fleisch empfand den kneifenden Schmerz und meine Augen sahen klar. Ich war also wirklich wach und mitten in den Karpaten. Alles, was mir zu tun übrig blieb, war, mich zu gedulden und den Anbruch des Tages zu erwarten.
Als ich eben zu diesem Entschlusse gelangt war, hörte ich einen schweren Schritt innerhalb des Tores und sah durch die Ritzen ein Licht sich nähern. Dann vernahm ich das Rasseln von Ketten und das Dröhnen massiver Türriegel, die zurückgeschoben wurden. Ein Schlüssel drehte sich laut kreischend in dem scheinbar selten benutzen Schlüsselloch, und das große Tor ging auf.
Innerhalb desselben stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und schwarz gekleidet vom Kopf bis zu den Füßen; kein heller Fleck war an ihm zu sehen. In der Hand hielt er eine altertümliche silberne Lampe, auf der ohne Zylinder oder Schirm eine Flamme brannte, sie warf lange, zitternde Schatten in der Zugluft des offenen Tores. Der alte Mann lud mich durch eine verbindliche Geste mit der Rechten ein, näher zu treten und sagte in vorzüglichem Englisch, aber mit einem fremdartigen Akzent:
»Willkommen hier in meinem Hause! Treten Sie frei und freiwillig herein!« Er machte keine Bewegung, um mir entgegenzugehen, sondern stand starr wie eine Statue, als hätte ihn sein Willkommensgruß in Stein verwandelt. In dem Augenblick aber, da ich die Schwelle überschritten hatte, trat er rasch auf mich zu, ergriff meine Hand und drückte sie dermaßen, dass ich zusammenzuckte; dabei war die Hand so kalt wie Eis, mehr wie die eines Toten als eines Lebenden. Dann sagte er:
»Willkommen in meinem Hause. Kommen Sie frei herein. Gehen Sie gesund wieder und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie mit hereingebracht haben!« Die Stärke des Handdruckes erinnerte mich dermaßen an den eisernen Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte, dass ich einen Moment glaubte, er und der Mann, mit dem ich jetzt sprach, seien ein und dieselbe Person; ich fragte also, um sicher zu gehen: »Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte:
»Ich bin Dracula und begrüße Sie, Herr Harker, in meinem Hause. Kommen Sie herein, Sie bedürfen des Essens und der Ruhe, die Nachtluft ist recht kühl.« Während er so sprach, stellte er die Lampe auf eine kleine Konsole an der Wand und nahm mein Gepäck; er hatte es hereingetragen, noch ehe ich ihn daran hindern konnte. Ich erhob Einspruch, er aber sagte entschieden:
»Bitte, Sie sind mein Gast. Es ist schon spät und meine Dienerschaft ist nicht mehr verfügbar. Lassen Sie also mich für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Er trug tatsächlich meine Koffer durch den Torweg, dann eine steile Wendeltreppe hinauf, schließlich durch einen langen Korridor, auf dessen Steinfliesen unsere Schritte dumpf widerhallten. Am Ende dieses Korridors öffnete er eine schwere Türe, und ich sah auf ein hellerleuchtetes Zimmer, in dem ein gedeckter Tisch zum Abendbrot bereit stand, während in dem mächtigen Kamin ein großes Holzfeuer flammte und knisterte. Der Graf blieb stehen, stellte mein Gepäck nieder und zog die Türe hinter sich zu; dann schritt er durch das Zimmer, öffnete eine zweite Türe, die in ein kleines achteckiges, scheinbar fensterloses Gemach führte, das nur von einer einzelnen Lampe erleuchtet wurde. Jenseits desselben öffnete er eine weitere Tür und bat mich einzutreten. Es bot sich mir ein willkommener Anblick: ein großes, gut erleuchtetes Schlafzimmer, das von einem umfangreichen Kamin, in dem ebenfalls ein Holzfeuer laut prasselnd brannte, angenehm durchwärmt wurde. Der Graf brachte mein Gepäck und sagte, die Türe zuziehend: »Sie werden nach Ihrer Reise sich waschen und Toilette machen wollen. Ich denke, Sie finden alles nach Wunsch. Wenn Sie fertig sind, dann kommen Sie bitte in das andere Zimmer, wo das Abendbrot Ihrer wartet.«
Das Licht, die Wärme und des Grafen herzlicher Willkommensgruß hatten alle meine Zweifel und Befürchtungen zerstreut. Nachdem ich so wieder meine normale geistige Verfassung erlangt hatte, fühlte ich einen quälenden Hunger. Schnell machte ich mich zurecht und ging in das andere Zimmer.
Das Souper war schon angerichtet. Mein Gastfreund stand an einer Seite des Kamins, an das Steingesims gelehnt, und lud mich mit einer verbindlichen Handbewegung ein, Platz zu nehmen.
»Ich bitte, setzen Sie sich und essen Sie, wie es Ihnen passt. Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich mich nicht beteilige, denn diniert habe ich schon und zu soupieren bin ich nicht gewöhnt.«
Ich händigte dem Grafen den versiegelten Brief ein, den Herr Hawkins mir für ihn übergeben hatte. Er öffnete ihn und las ihn mit ernster Miene durch; dann gab er mir ihn mit freundlichem Lächeln zurück. Besonders eine Stelle aus dem Briefe bereitete mir besondere Freude:
Ich bedaure sehr, dass ein Anfall von Gicht, mit welcher ich ja schon immer zu schaffen hatte, mir unbedingt verbot, eine größere Reise zu machen und Sie zu besuchen. Aber es macht mir Freude, Ihnen einen Stellvertreter senden zu können, der mein weitgehendstes Vertrauen besitzt. Er ist ein junger Mann, energisch, talentiert und durchaus zuverlässig. Er ist in meinen Diensten aufgewachsen und sehr diskret. Er steht jederzeit während seines Aufenthaltes zu Ihrer Verfügung und ist ermächtigt, Aufträge jeder Art von Ihnen entgegenzunehmen.
Der Graf trat selbst an den Tisch heran und hob den Deckel von einer Terrine, in der ein prächtiges gebratenes Huhn lag. Dieses, mit etwas Käse und Salat, sowie eine Flasche alter Tokaier,1 von dem ich zwei Gläser trank, bildeten mein Abendbrot. Während ich aß, erkundigte sich der Graf über meine Reise, und ich erzählte ihm der Reihe nach alle meine Erlebnisse.
Unterdessen hatte ich die Mahlzeit beendet und auf Wunsch des Hausherrn einen Stuhl ans Feuer gezogen. Ich zündete mir eine Zigarre an, die er mit anbot, indem er sich zugleich entschuldigte, da er selbst Nichtraucher sei. Ich fand nun Gelegenheit, ihn etwas zu beobachten und, ich muss sagen, er besitzt eine sehr ausdrucksvolle Physiognomie.2
Sein Gesicht war ziemlich – eigentlich sogar sehr – raubvogelartig; ein schmaler, scharf gebogener Nasenrücken und auffallend geformte Nüstern. Die Stirn war hoch und gewölbt, das Haar an den Schläfen dünn, im übrigen aber voll. Die Augenbrauen waren dicht und wuchsen über die Nase zusammen; sie waren sehr buschig und in merkwürdiger Weise gekräuselt. Sein Mund, so weit ich ihn unter dem starken Schnurrbart sehen konnte, sah hart und ziemlich grausam aus; die Zähne waren scharf und weiß und ragten über die Lippen vor, deren auffallende Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann in diesen Jahren bekundeten. Die Augen waren farblos, das Kinn breit und fest, die Wangen schmal, aber noch straff. Der allgemeine Eindruck war der einer außerordentlichen Blässe.
Im Scheine des Kaminfeuers hatte ich auch seine Hände bemerkt, die auf seinen Knien lagen; ich hielt sie für ziemlich zart und schmal. Nun, da ich sie in der Nähe sah, bemerkte ich, dass sie sehr grob aussahen, – breit, mit eckigen Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm Haare auf der Handfläche. Die Nägel waren lang und dünn, zu nadelscharfen Spitzen geschnitten. Als der Graf sich einmal über mich neigte und diese Hände mich berührten, konnte ich mich eines Grauens nicht erwehren. Möglicherweise war auch sein Atem unrein, denn es überkam mich ein Gefühl der Übelkeit, das ich mit aller Willenskraft nicht zu verbergen vermochte. Der Graf bemerkte dies scheinbar und zog sich zurück; mit einem grimmigen Lächeln, das seine Zähne noch mehr hervortreten ließ, nahm er wieder seinen Platz am Kamin ein. Wir schwiegen eine Weile, und als ich gegen das Fenster sah, bemerkte ich die ersten leisen Anzeichen des kommenden Tages. Es lag eine beängstigende Stille über allem; doch als ich schärfer aufhorchte, war es mir, als vernähme ich tief unten in den Tälern das Bellen vieler Wölfe. Mit funkelnden Augen sagte der Graf:
»Hören Sie die Kinder der Nacht? Was für Musik sie machen!« Es mochte ihm in meinem Gesichtsausdruck etwas aufgefallen sein, denn er fügte rasch hinzu:
»Ja, mein Herr, ihr Stadtbewohner seid eben nicht imstande, einem Jäger nachzufühlen.«
Dann stand er auf und sagte:
»Übrigens werden Sie müde sein. Ihr Bett ist bereit, und morgen können Sie nach Belieben ausschlafen. Ich habe bis Abend auswärts zu tun; schlafen Sie also wohl und träumen Sie gut.« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Türe zu dem achteckigen Zimmer und ich trat in mein Schlafgemach.
Ein Meer gemischter Gefühle umbrandete mich; ich zweifle; ich fürchte; ich denke an seltsame Dinge, die ich meiner eigenen Seele gar nicht einzugestehen wage. Gott schütze mich, und sei es auch nur um derer willen, die mir teuer sind.
7. Mai. – Es ist wieder früher Morgen, aber ich habe die letzten vierundzwanzig Stunden wenigstens ausgeruht und mir wohl sein lassen. Ich schlief dann noch bis spät in den Tag hinein und erwachte von selbst. Als ich mich angekleidet hatte, begab ich mich in das Zimmer, wo ich zu Abend gegessen, und fand ein kaltes Frühstück bereit; der Kaffee war in einer Kanne auf dem Kamin heiß gestellt. Auf dem Tische lag ein Kärtchen, auf dem die Worte standen »Ich muss leider noch einige Zeit fern bleiben. Warten Sie nicht auf mich. D.« So setzte ich mich denn hin und ließ mir die Mahlzeit munden. Als ich fertig war, suchte ich nach einer Glocke, um von der Dienerschaft abräumen zu lassen; nirgends konnte ich etwas dergleichen entdecken. Das war allerdings merkwürdig in einem solchen Hause, das nach allem, was mich umgab, den Eindruck des größten Reichtums erweckte. Das Tafelservice ist von Gold und so wunderschön gearbeitet, dass es einen geradezu unermesslichen Wert besitzen muss. Die Portieren, die Bezüge der Stühle und Sofas, die Vorhänge meines Bettes waren aus den kostbarsten Stoffen und müssen schon in der Zeit, wo sie angefertigt wurden, einen immensen Preis gekostet haben. Sie sind Jahrhunderte alt, dabei vorzüglich gehalten.
Ich habe solche Dinge ja auch in Hampton Court3 gesehen, aber da waren sie zerrissen und abgenützt und von den Motten angefressen. In keinem der Zimmer ist ein Spiegel. Nicht einmal ein Toilettespiegel über meinem Waschtisch, sodass ich meinen kleinen Handspiegel aus dem Koffer nehmen musste, um mich überhaupt rasieren und frisieren zu können. Ich habe bisher weder einen dienstbaren Geist gesehen, noch einen Laut gehört, außer dem Heulen der Wölfe um das Schloss. Nach Beendigung meiner Mahlzeit – ich weiß nicht, soll ich sie Frühstück oder Diner nennen, denn es war zwischen fünf und sechs Uhr, als ich sie einnahm – sah ich mich nach Lektüre um, denn ich wollte ohne Einverständnis des Grafen doch das Schloss nicht verlassen. Bücher, Zeitungen, sogar Schreibzeug fehlten in diesem Zimmer; ich öffnete deshalb eine Türe und befand mich in einer Art Bibliothek. Die Tür gegenüber der zu meinem Schlafzimmer wollte ich auch öffnen, fand sie aber verschlossen.
In der Bibliothek entdeckte ich zu meiner größten Freude eine reiche Auswahl englischer Bücher, ganze Schränke voll, und gebundene Jahrgänge von Zeitungen und Zeitschriften. Lose Exemplare lagen auf dem Tische in der Mitte des Raumes, keines aber war von neuerem Datum. Die Bücher hatten den mannigfaltigsten Inhalt – Geschichte, Geografie, Politik, Nationalökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege – alles über England, über englisches Leben, über englische Sitten und Gebräuche. Sogar Nachschlagewerke waren vorhanden, wie das Adressbuch von London, das »Rote« und das »Blaue« Buch, Withakers Almanach, die Armee- und Marine- und – mein Herz lachte dabei – die Juristenrangliste.
Während ich so in den Büchern herumstöberte, öffnete sich plötzlich die Türe und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, wie ich geschlafen hätte. Dann fuhr er fort:
»Es freut mich, dass Sie sich hier herein gefunden haben, denn ich bin sicher, dass Sie viel des Interessanten vorfinden werden. Diese Freunde hier« – er legte die Hand auf eines der Bücher – »sind mir wirklich gute Freunde geworden; sie haben mir schon seit Jahren, lange ehe ich den Entschluss fasste nach England zu gehen, viele, viele frohe Stunden bereitet. Durch sie habe ich ihr großes, schönes England kennengelernt, und es kennen, heißt es lieben. Ich sehne mich danach, in den dichtbelebten Straßen Ihres ungeheueren London zu promenieren, mitten in dem Getriebe und Gewühle der Menschen, teilzunehmen an ihrem Leben, ihren Schicksalen, ihrem Sterben und an all dem, was eben London zu dem macht, was es ist. Aber leider kenne ich Ihre Sprache nur aus Büchern. Sie, mein Freund, werden natürlich sagen, ich spreche sie.«
»Aber, Graf«, rief ich aus, »Sie kennen und beherrschen das Englische durchaus.« Er verbeugte sich mit ernster Miene.
»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre schmeichelhafte Anerkennung; aber ich fürchte trotzdem, dass ich erst ein kleines Stück auf dem Wege vorgeschritten bin, den ich ganz zurückzulegen gedenke. Es ist ja richtig, ich kenne die Grammatik und die Wörter, aber ich weiß sie doch nicht zu verwenden.«
»Aber«, wiederholte ich, »Sie sprechen ausgezeichnet.«
»Nein, nein«, entgegnete er, »Ich weiß wohl, dass, wenn ich in Ihrem London lebe und spreche, es keinen gibt, der mir nicht sofort den Fremden anmerkt. Das ist mir nicht genug. Hier bin ich ein Adeliger, ein Boyar;4 das Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Fremder im fremden Lande ist man gar nichts, niemand kennt mich, und einen nicht kennen, heißt sich nicht um ihn kümmern. Ich will mich in nichts von den anderen unterscheiden und nicht haben, dass jemand stehen bleibt, wenn er mich sieht, oder seine Rede einen Moment unterbricht, wenn er mich sprechen hört, und sagt: Aha, ein Fremder. Ich bin solange Herr gewesen, dass ich auch Herr bleiben will, wenigstens will ich nicht, dass jemand Herr über mich ist. Sie kommen zu mir nicht allein als Geschäftsträger meines Freundes Peter Hawkins in Exeter, um mir zu berichten, dass meine Geschäfte in London so oder so stehen. Sie werden hoffentlich eine Zeit lang hierbleiben, damit ich durch das Sprechen mit Ihnen den englischen Akzent erlerne; und ich bitte Sie, es mir zu sagen, wenn ich einen Fehler mache, und sei es der kleinste. Es tut mir leid, dass ich heute so lange wegbleiben musste; aber Sie werden es mir verzeihen, wenn ich Ihnen sage, dass eine Menge wichtiger Geschäfte auf mir lastet.«
Ich versicherte ihm, dass ich gerne alles tun werde, was in meinen Kräften stünde, und fragte ihn, ob ich dieses Zimmer jederzeit betreten dürfe, wenn es mir beliebe. »Ja, gewiss«, sagte er und fügte hinzu:
»Sie können im Schloss hingehen, wo Sie wollen, außer dahin, wo die Türen verschlossen sind; dahin werden Sie ja übrigens auch gar nicht wollen. Es hat seine Gründe, dass die Dinge nun einmal so sind; und sähen Sie mit meinen Augen und hätten Sie meine Erfahrungen, so würden Sie mich noch leichter begreifen.« Ich erwiderte ihm, dass das ja ganz selbstverständlich sei, und er fuhr fort:
»Wir sind hier in Transsylvanien, und Transsylvanien ist nicht England. Unsere Wege sind nicht die Ihrigen und manches möchte Ihnen sonderbar erscheinen. Nach allem, was Sie gehört haben, wissen Sie ja ohnehin, dass sich hier seltsame Dinge ereignen.«