Dramatische Rundschau 04 - Ewe Benbenek - E-Book

Dramatische Rundschau 04 E-Book

Ewe Benbenek

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Beschreibung

Wenn Sisters stolzieren, Mütter verwirren, Politiker irren, Fußballer flirren, Manifeste offenbaren und Hilden Gefahren - bekämpfen!, dann feiert die Dramatische Rundschau 04 ein rauschendes Fest zwischen zwei Buchdeckeln. Mit Theaterstücken von Ewe Benbenek, Ruth Johanna Benrath, Wolfram Lotz, Leo Meier, Milena Michalek, Ferdinand Schmalz und Illustrationen von Johanna Benz. Dramatische Rundschau 04: Ewe Benbenek: Tragödienbastard / Ruth Johanna Benrath: im wald (da sind) / Wolfram Lotz: Die Politiker / Leo Meier: zwei herren von real madrid / Milena Michalek: Das hier / Ferdinand Schmalz: hildensaga

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Ewe Benbenek | Ruth Johanna Benrath | Wolfram Lotz | Leo Meier | Milena Michalek | Ferdinand Schmalz

Dramatische Rundschau 04

Herausgegeben von Friederike Emmerling, Oliver Franke, Stefanie von Lieven, Barbara Neu und Bettina Walther

 

 

Über dieses Buch

 

 

EWE BENBENEK Tragödienbastard

RUTH JOHANNA BENRATH im wald (da sind)

WOLFRAM LOTZ Die Politiker

LEO MEIER zwei herren von real madrid

MILENA MICHALEK Das hier

FERDINAND SCHMALZ hildensaga. ein königinnendrama

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

»DER URSCHLUND IST ÜBERWUNDEN NICHT.«

Fünfzig ist das neue Hundert, raunt es durch halbvolle Theaterräume.

Wo sind sie denn alle?

Die Theaterjunkies und Kulturverrückten, die Schauspielfans und Dramaqueens, die Coronaüberdrüssigen und Lebenshungrigen, wo sind sie geblieben?

Frühsommer 2022, Corona schien vorbei, und trotzdem blieben die Theater leer. Coronabeschränkungen wurden fast bedauernd wieder aufgehoben. Nicht die Fülle wurde gestaltet, sondern die Leere verwaltet.

Zugegeben, die Bedingungen für einen Neustart hätten besser sein können. Corona lauert noch immer, und Russland führt Krieg. Das Gas wird knapp, die Preise steigen und mit ihnen die Temperaturen. Die Welt dreht durch.

»der urschlund ist überwunden nicht«, so heißt es in der hildensaga von Ferdinand Schmalz. Und was sich bei ihm auf den ewigen Kreislauf aus Krieg und Gewalt bei den Nibelungen bezieht, könnte zeitloser nicht sein. Fast scheint es, als stecke auch unsere Zukunft im Urschlund fest. Welche Rolle kommt da noch dem Theater zu? In Zeiten von Netflix, TikTok, NFTs, Metaverse wirkt es fast wie aus der Zeit gefallen, ein behäbiger alter Dampfer mit Retrocharme. Ist Theater auf einmal ein Unort geworden, ein vom Urschlund verschluckter? Dabei böte es sich doch an für geistigen Gruppeneskapismus mit dramatischem Unterhaltungswert, eine Brücke über den Schlund, ein Licht am Ende des Tunnels, ein Hoffen, Glauben, ein Wollen wider die Realität? Wo sind all die Menschen hin, wo sind sie geblieben? Aus einem Publikum, mit dem zu rechnen war, ist ein unberechenbares geworden. Kaum noch Abonnenten. Das ist bitter. Denn die Menschen sind ja nicht grundsätzlich weg. Sie gehen einfach nur nicht ins Theater. Dafür fluten sie die Straßen, wenn die Frankfurter Eintracht den Europapokal nach Hause bringt.

Bei der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings 2022 an Lina Beckmann forderte der Theatermacher Michael Quast zu folgendem Gedankenspiel auf: Was wäre, fragte er, wenn der Frankfurter Jubelsturm nicht durch den Fußball, sondern durch das Theater ausgelöst worden wäre? Tränenüberströmte Gesichter, die gemeinsam Eintracht rufen; Bengalos als Lichter in der Nacht, weil nichts so glücklich macht – wie das Theater? Hunderttausende, die jubeln, weil die Zukunft ihrer Theater sichergestellt ist?

Das hört sich unvorstellbar an.

Welche Form des Theaters könnte in der Lage sein, derart zu begeistern?

Es müsste ein berauschendes Theater sein, ein Theater, das niemanden auslässt, weil jede Inszenierung ein Fest ist − selbst die traurigste – und weil es nicht nur zum Zuschauen einlädt, sondern auch zum Reden, Trinken, Ausruhen, Streiten, Lieben, Leben.

Wann ging dem Theater eigentlich der Rausch verloren? Einst tobten die Bakchen durchs Kithairon Gebirge, heute toben Fußballfans durch Frankfurt. Geben wir das Dionysische nicht verloren. Es ist ja da. Brodelt rauschend unter der Oberfläche auf der Suche nach einer Öffnung, einem Spalt.

Offenbarung, Stimulierung, Kontrollverlust und Hingabe, Explosion der Sinne, Intensität und elektrisierende, überschwappende, gierige, unkontrollierbare, betörende Sprache – all das und noch vieles mehr wird das berauschende Theater brauchen. Dazu weit offene Türen und Fenster, durchlässig und offenporig, um anzulocken und einzuladen in das, was Theater sein kann, wenn es einen brennenden Kern, ein Kraftfeld, in sich lodern lässt. Kein alter Dampfer, sondern pure Energie. Ein Theater, das alle und alles aufladen kann mit Freude und Lust, mit Durst nach mehr, nach Schmerz und Gefühl und Katharsis. Schon in diesem Buch rasen die königlichen Hilden, während Politiker ekstatische Endlosschleifen drehen, Frauen stampfen klack klack bämm bämm wie Göttinnen durch die Nacht und rebellieren mit den Tieren im Wald, ein »Theater der Freundschaft« wird manifestiert, und Fußballer erwarten uns mit überraschender Zärtlichkeit. Schwer vorstellbar, dass einem solchen Lodern der Urschlund gefährlich werden kann. Vielleicht sogar im Gegenteil. Der Urschlund ist ja nicht nur schwarzes Loch, sondern auch lichte Öffnung – ins Unvorstellbare. Wenn wir ihn schon nicht überwinden, nutzen wir ihn doch einfach, um berauschendes Theater zu entfesseln. Wir brauchen es mehr denn je.

Friederike Emmerling

EWE BENBENEK, geboren 1985 in Kamienna Góra, Polen, studierte Kultur-, Politik- und Literaturwissenschaft. Von 2014 bis 2019 forschte und lehrte sie am Institut für Neuere deutsche Literatur/Theaterforschung an der Universität Hamburg. Gleich mit ihrem ersten Theatertext Tragödienbastard (gefördert durch UniT) gewann sie 2021 den renommierten Mülheimer Dramatikerpreis. Am 30. Oktober 2020 fand die Uraufführung am Wiener Schauspielhaus in der Regie von Florian Fischer statt. In der Jurybegründung bescheinigte der Regisseur Jakob Weiss dem Tragödienbastard eine »unglaubliche Aufrichtigkeit und Verletzlichkeit«. Der Theaterkritiker Janis El-Bira nannte das Werk »für ein Debüt überwältigend«. Ebenfalls 2021 wurde Ewe Benbenek in der Kritikerumfrage von Theater heute als beste Nachwuchsautorin gekürt.

Als Kind kam A ǀ B ǀ C mit ihren Eltern aus Polen nach Deutschland. Trotz Abitur und Studium fällt es ihr schwer, die Demütigungen der Kindheit abzulegen. Das Fremdsein bestimmte den Alltag. Und trotzdem ist sie eine AufstiegsSHERO. Wütend schwanken die Stimmen zwischen zärtlich brutaler Erinnerung, kindlicher Hilflosigkeit und rauschhafter Rebellion. Denn seitdem es die »chosen sisters« gibt, können die Demütigungen von einst auch mit Stolz getragen werden – weil erst sie sie zu dem machen, was sie sind: Göttinnen.

EWE BENBENEKTRAGÖDIENBASTARD

STIMMEN

A

B

C

B

Also. Jetzt. Anfangen.

C

Anfangen, oder?

A

Puhhhh,

aiaiaiaiai,

B

Okay …

Los,

los jetzt.

A

Warum muss das so schwer sein?

Warum muss das immer wieder so schwer sein?

Warum muss sich das immer wieder so schwer anfühlen?

C

Ist doch einfach jetzt.

Ist doch jetzt der Raum da, hier wurde doch der Raum gegeben. Jetzt sind auch schon die Lichter an, verdammt.

B

Also los!

Los jetzt! Es muss doch hier jetzt losgehen.

A

Warum kann es sich nicht leicht anfühlen?

Warum kann es sich, verdammt nochmal, nicht leicht anfühlen, es zu sprechen, es auszusprechen, das Wort, das erste Wort. Das erste Wort, das Gewicht hat, das eine Rolle spielt, diese Worte, um die es hier doch gehen soll.

C

O Gott, was?

Ja, was, wenn es nicht kommt?

Was, wenn es wieder und wieder nicht kommt? Das Wort.

A

Das erste Wort ist das Wichtigste, oder? Ist doch so.

B

Was, wenn es nicht durchkommt, das Wort, was, wenn das erste Wort schon nicht durchkommt,

C

Ja, wenn das erste Wort schon so gar nicht einschlägt,

B

dann hast du doch eh schon verloren, oder?

A

Ja, aber wie? Wie kann es kommen? Wie kann das Erste von einer kommen, die als Letzte gekommen ist? Wie kann es von einer kommen, nach der keine mehr gekommen ist und nach der wohl keine mehr kommen wird?

B

Ja, da wird wohl keine mehr kommen. Schade.

A

Ja, schade, genau. Das tut weh, das tut so verdammt weh, ich weiß gar nicht, ob ihr euch das vorstellen könnt. Aber da ist halt keine mehr drin, weil es nicht drin ist, weil es für eine wie mich einfach nicht drin ist. Ich weiß, ich weiß, an der Oberfläche sieht es so aus, als wäre hier noch eine drin gewesen. Ich hätte es auch gewollt, aber ist einfach nicht drin, da ist einfach keine mehr drin, weil es unter diesen ganzen Bedingungen einfach nicht drin ist, für so eine wie mich, wenn ich mich nicht nur abschuften will die ganze Zeit. Also bin ich es. Bin ich es? Bin ich hier das Ende? Immer und immer wieder, immer und immer wieder, die Letzte? Muss es denn so sein? Ist es denn so? Warum muss ich es sein, die es machen muss,

B

die hier immer und immer wieder den Anfang machen muss.

A

Eine muss es ja tun.

C

Eine muss ja damit anfangen.

A

Wieder und wieder

B

Immer wieder,

immer wieder dasselbe Ritual. Wenn sie sagt:

»Wiesz co, wiesz, w tedy, w tedy bylo cos takiego cos to sie nazywalo Ausweis. Wiesz Ausweis, to sie tak nazywalo.«

Ich stehe vor der Tür, und ich gehe hinein, und ich stehe vor der nächsten Tür, vor der Tür zu ihrer Wohnung, die mal die Wohnung war, in der ich gelebt habe,

mit ihr,

in dieser Wohnung da, die da auf dem Dorf ist,

in dem heute fünfzig Menschen leben,

in dieser Gegend da, dieser bergigen,

tam gdzie jest snieszka,

in diesem Dorf da,

als ich mit ihr dort lebte,

mit dir,

bis wir,

nicht du und ich,

sondern wir,

ich und sie,

ich und die Eltern,

meine Eltern,

bis wir dann eines Tages gegangen sind,

na ja, eigentlich sind wir gefahren, mit dem Auto, eines Tages, von dort weggefahren, über zwei Grenzübergänge gefahren, an denen beide Male zwei Männer in Uniform »die Ausweise« gesagt haben, ohne ein verdammtes »Bitte« hinterher. Das »Bitte« war nicht drin, das »Bitte«, das konnte man sich damals bei solchen wie uns sparen, damals, als wir rübergefahren sind, mit dem Auto, es war Nacht, und es gab da so ein Zittern, das im ganzen Auto vibrierte, bei jedem Grenzübergang,

jetzt,

ich reise ein,

mit so einem Pass,

reise wieder ein,

oder reise ich zurück?

Ich weiß es nicht mehr,

reise jetzt ein,

mit einem anderen Pass,

mit dem Pass aller Pässe,

mit dem allerbesten Pass,

jahhh,

jahh,

mit so einem weinroten Luxuspass,

mit so einem Pass, mit dem man fast überall hinreisen kann, aber nur die, die ihn haben, die anderen, tja, die haben Pech gehabt,

ja dieser Pass, dieser weinrote Luxuspass, der jetzt da ist,

der lange hat auf sich warten lassen, der ein Jahrzehnt hat auf sich warten lassen, dieser schöne Pass, der uns, um an ihn zu kommen, ein Jahrzehnt durch die Flure der Behörde geschlurft hat, dieser Pass,

auf den wir, also auf den ich und meine Eltern, also nein, anders, auf den doch eher meine Eltern so lange gewartet haben, oder?

A

Zumindest habe ich immer gedacht, dass sie tiefst sehnsüchtig auf ihn gewartet haben, auch wenn ich eigentlich nicht weiß, wie es für sie war, was weiß ich schon, wie sich das Warten für sie angefühlt hat.

Immer dasselbe,

immer wieder dasselbe Ritual.

Ich bin zu Besuch und denke:

Ja, na toll, bin ich jetzt auch so eine von denen geworden? So eine deutsche Touristin? Weil den passenden Pass habe ich ja, so einen deutschsprachigen, obwohl Pässe nicht sprechen können, oder doch? Na ja, wenn er sprechen könnte, dieser schöne Weinrote, dann würde er sagen: Blink! Blink! Tatatat! Congrats, jetzt hast du ihn! Den besten Pass, den Pass aller Pässe,

aber sorry,

soll ich mir jetzt auf die Schulter klopfen, oder was?

Was hat das mit mir zu tun, ich habe mir doch nichts von dem Ganzen ausgesucht, und wenn sich schon jemand auf die Schultern klopfen kann, dann meine Eltern.

B

Das ist aber auch Bullshit,

weil das alles willkürlich ist,

weil das nichts mit Menschen zu tun hat,

weil das nichts damit zu tun hat, wie gut du bist, oder wie viel du geleistet hast,

so ein Pass, so ein schöner weinroter, mit dem du jetzt einreist, in dieses Land, in dieses Land, von dem man sagt, es sei vom Kapitalismus aufgefressen worden, von der neuen Rechten dort aufgefressen worden, dieses Land, das sich an den Westen verkauft hat, das sich bloß nicht wieder an Russland verkaufen wollte, sagen meine Eltern.

A

Heute,

immer wieder,

immer wieder einmal im Jahr,

fahre ich ein,

ich fahre ein und werde abgeholt,

mein Onkel,

er steht am Bahnsteig und hat eine Cappi auf und grinst,

grinst unter seinem Schnäuzer, den er da schon seit dreißig Jahren auf seiner Oberlippe hat,

das ist ein echtes Style Statement, denke ich immer wieder,

dieser Schnäuzer,

diese Schnäuzer,

die sie da damals alle hatten und heute noch haben.

Diese Männer,

und die Schnäuzer über ihren Mündern,

aus denen mir seit dreißig Jahren,

aus denen mir seit fucking dreißig Jahren

chauvinistische Kackscheiße entgegenkommt,

diese Männer,

die auch Onkels sind,

diese Onkels,

die dir auf der Familienfeier ein Bier organisieren oder auch zwei, und eine Kippe,

die sie dann heimlich mit dir hinter der Garage rauchen,

damit deine Eltern das nicht mitbekommen,

diese Männer,

und ihre Chauvi-Schnäuzer,

die du trotzdem doch irgendwie liebst.

C

Immer wieder dasselbe Ritual,

immer dasselbe Ritual,

ein Ritual aus der Zeit, als sie noch lebte.

Ich gehe den Dorfberg zu ihrer Wohnung hoch.

Ich gehe durch die erste Tür und stehe vor der zweiten Tür und klopfe:

»Prosze.«

Ich trete ein, und sie sitzt da, auf ihrem Stuhl am Ofen in der Küche, weil der Kohleeimer neben dem Ofen steht und die Kohle in den Ofen geschüttet werden muss, mit einer Schaufel. »Babcia, jestem tutaj, przyjechalam.«

»Jestes moja«, sagt sie sanft.

Immer wieder dasselbe Ritual. Ich mache Schwarztee. Ich hole die Venensalbe aus dem Schrank, um ihre Beine einzucremen. Sie wehrt sich. Aber ich creme die Beine trotzdem ein. Wir schweigen, weil wir beide wissen, dass es doch schön ist, und dann:

»Masz kogos? Masz kogs w zyciu?«

B

Und ich will sagen:

»Nie mam.«

Ich will sagen, es ist anders, anders da in diesem Land, in dem ich jetzt lebe, da ist es anders, babcia, weißt du, da ist es ganz, ganz anders, weil da brauchen wir Frauen keinen Mann und keinen Ehering und keine Kinder, will ich sagen. Ich sitze vor ihr, vor dieser Frau, vor dieser alten Frau, vor dieser Mutter, vor meiner Großmutter: »Wiesz, ja, ja jestem inna generacia.«

A

Eine andere Generation,

a different generation.

We are a different generation,

a different generation,

in a country,

in diesem Land,

in dem man zum Identifikationspapier »Ausweis« sagt,

in diesem Land da, in dem ich lebe,

da ist es anders, will ich zu ihr sagen.

In diesem Land da,

ist es halt liberaler

und die Frau halt freier,

sage ich zu ihr,

und während ich das sage,

während ich das zu ihr sage,

merke ich schon,

B

dass ich,

dass ich selbst so überhaupt keinen Bock hab,

keinen Bock auf dieses Narrativ,

auf dieses Narrativ vom goldenen Westen,

das vielleicht das Narrativ meiner Eltern ist oder war,

aber das ich nicht unterschreiben kann,

was weiß ich schon, ich weiß es auch nicht,

wie es denn eigentlich ist,

ich weiß eigentlich auch nicht,

wie sich das alles für mich anfühlt,

ich weiß nur, dass ich schon beim Reden,

schon während ich rede,

so keinen Bock habe,

so einfach gar keinen Bock mehr habe auf das Narrativ,

auf das Narrativ von der Frau, von der freien Frau,

weil der goldene Westen sie nicht frei gemacht hat,

die Frau,

vielleicht einige von ihnen,

aber mich nicht so richtig, denke ich,

und meine Mutter schon gar nicht, oder?

C

Und während ich ihr das erkläre, während ich ihr das alles erkläre, während ich versuche zu beantworten, warum da kein Kind ist und kein Mann und kein Ehering, glotzt mich die Mutter, glotzt mich Mutter Maria, glotzt mich das Mutter-Maria-Bild mit Maria und ihrem Baby Jesus im Arm und ihrem Heiligenschein,

A

das Bild glotzt mich da bedrohlich von der Wand an, an der es hängt.

Und sie sieht mich an, wie jemand, der das alles nicht akzeptieren kann, der meine Antworten nicht akzeptieren kann, weil es doch Regeln gibt, weil sie doch selbst Regeln befolgt hat, die sie als Frau zur Frau gemacht haben,

diese Sakramente, aber

B

sie,

sie ahnt es,

sie und die Mutter Maria an der Wand da,

sie ahnen es,

dass da eine vor ihnen sitzt,

die die Sakramente nicht befolgt,

dass ich sie nicht befolge und befolgen werde.

Sie ahnen es.

Sie und Mutter Maria an der Wand.

Und ich, ich will am liebsten aufstehen und dieses scheiß Maria-Bild von der Wand reißen und es zerstückeln und im Ofen verbrennen und schreien:

CHOR

Ich,

ich bin eine Göttin,

ich bin eine Göttin der Nacht,

und gehöre zu ihnen,

gehöre zu den Schwestern,

die ich mir ausgesucht habe,

und die mich ausgesucht haben,

die Kreaturen sind,

die Bastardinnen sind,

die sich ihre Götterbilder selbst gebaut haben,

die sich selbst zu Göttinnen erklärt haben.

C

Ich will ihr sagen, auch, wenn sie mich nicht verstehen wird, will ich ihr sagen: Babcia, ich bin nicht allein, auch wenn ich die Letztgeborene bin.

A

Ich.

B

Ja, ich.

C

Ich, die Letzte.

B

Ich, nach der keine andere mehr kam.

A

Ich habe den Schlüssel umgedreht. Es war nach Mitternacht. Der Zug verspätet und so. In der Stadt, in der ich jetzt lebe, habe ich den Schlüssel umgedreht, gestern, als ich wieder zurückgekommen bin in meine Wohnung, ich wollte reingehen,

B

und noch bevor ich den Schlüssel in das Schloss gesteckt habe, hatte ich schon Schiss. Schiss davor,

C

in diese Wohnung zu treten.

B

Schiss davor, dass sie da einfach weg sein könnte,

C

die Wohnung,

B

also, dass sie da einfach verschwunden sein könnte, hinter der Eingangstür. Dass sie abgefackelt ist, während ich nicht da war. Da stand ich dann also vor der Tür und dachte, ey, das kann nicht sein, dass da was gebrannt hat, das würde man ja riechen. Da kam mir aber schon der Wasserschaden in den Kopf geknallt. Vielleicht ein Wasserschaden! Ja, vielleicht gab’s ’n Wasserschaden, und jetzt ist alles kaputt.

A

Entspann dich, verdammt nochmal. Jetzt entspann dich, dachte ich mir. Entspann dich und geh rein, dreh den Schlüssel um, und geh einfach rein,

C

in diese Wohnung,

B

in eine dieser Wohnungen,

C

die ich, die ich und meine Schwestern, also diese Schwestern, die ich mir ausgesucht habe oder aussuchen musste, die wir, die wir uns immer wieder untereinander zuschieben, weil niemand Geld im Rücken hat, weil man nur so in der Stadt überleben kann,

B

vor dieser Wohnung stehe ich,

auch jetzt,

und immer wieder und denke:

A

Geh einfach rein,

ist doch jetzt deine,

also gerade,

also nicht für immer,

aber jetzt gerade,

also bis die Deadline kommt.

Die Deadline,

die es gibt,

die Deadline,

die Eigentum heißt,

die »Wohnen in Wohnungen« heißt,

die dir jedoch nicht gehören,

die mir nicht gehört,

diese Wohnung,

die ich mir von keinem Geld der Welt je werde kaufen können.

B

Also drehe ich den Schlüssel um und fürchte, dass ich in ein schwarzes Loch trete, in ein Nichts trete, weil sie schon weg ist, weil sie schon weitergezogen ist, die Wohnung. Okay, jetzt. Einfach rein, ich drehe den Schlüssel um und renne rein und mache so schnell es geht alle Lichter an. Noch da, sie ist noch da.

A

Noch alles da. Ist alles noch da.

C

Ist doch alles hier.

CHOR

Wir,

wir sind jetzt hier,

hier sind wir jetzt,

tja,

da kann man nichts mehr machen.

Wir,

wir sind jetzt hier,

so richtig,

so for real,

so mit Präsenz,

so mit In-Your-Face-Präsenz,

wir,

hier,

weil wir schon da waren,

weil wir schon hier waren,

weil wir da waren,

noch bevor ihr uns gesehen habt,

noch bevor ihr uns sehen wolltet,

wir,

wir sind hier,

und nicht mehr wegzukriegen,

weil wir es geschafft haben.

Nein!

Stopp!

Anders!

Weil sie,

weil sie es geschafft haben.

Oder nein!

Anders!

Nochmal anders!

Weil sie,

weil sie brav Schaffe-Schaffe gemacht haben,

obwohl man sie gerne mal übersehen hat,

obwohl man sie gerne mal so UPS, so Upsi, übersehen hat.

Sie,

die da vor uns waren,

sie,

die es geschafft haben,

sie,

die es für uns geschafft haben,

die uns herausgeschafft haben,

die uns aus der Schaffe-Schaffe-Schicht geschafft haben,

aus der wir jetzt doch raus sind!

aus der wir jetzt doch rausgestiegen sind!

aus der wir jetzt doch aufgestiegen sind!

B

Hä? What? Ich bin hier noch aus nichts rausgestiegen. Ich bin doch noch im Bett drin. Ist Montag, oder? Oder vielleicht doch noch Samstag? Ist das schon wieder so ein Samstag, der ein Sonntag geworden ist, der ein Sonntagabend geworden ist?

A

O Gott, o Gott. Sonntagabend ist noch schlimmer als Montagmorgen.

C

Wann klingelt denn der verdammte Wecker? Es ist doch schon längst Zeit, um hier aufzustehen, um aus dem Bett zu steigen. Warum bin ich hier denn schon wieder wach, und warum bewegt sich denn hier nichts in meinem Körper, verdammt!

B

Los! Raus! Da ist der nächste Monat, der auch bezahlt werden muss.

A

Jetzt steig hier aus dem Bett! Aufrichten! Aufstehen! Aus dem Bett steigen. Moment, aus dem Bett steigen? Komisches Wort. Und da war doch was, da war doch was mit dem Steigen, mit dem Aufsteigen, da versteckt sich doch schon wieder was, in diesem Wort, schon wieder so ein schönes Narrativ, so ein schönes, fieses Narrativ vom Aufstieg, vom Aufstiegshero.

B

Also AufstiegsSHEro muss es doch hier heißen. Also bitte! Die AufstiegsSHEro, ja, die, ja also du, »also du, du hast es doch jetzt richtig geschafft«, sagst du, zu mir.

»Du bist doch jetzt total angekommen und kannst dich doch entspannen, weil seien wir mal ehrlich«,

CHOR

Seien wir mal ehrlich!

Sagt ihr.

B

»Du musst doch jetzt nicht mehr arbeiten, ja doch, zwar schon arbeiten«, sagst du, »aber ja nicht mehr so arbeiten, wie diese da, diese da, die vor dir kamen, diese da, die nur Schaffe-Schaffe machen mussten, so musst du doch nicht mehr arbeiten, nicht mehr so arbeiten, wie die, die da vor dir kamen, weil, seien wir mal ehrlich«, sagst du, zu mir, »bei denen da, die da vor dir waren, die an Fließbändern standen, die da an CNC-Fräse-Maschinen standen, in staubigen Hallen, die da Elektroschmutz weggeputzt haben und ihren Stundenlohn abgerechnet haben in zu putzenden Klos, so, ja, ist das doch nicht mehr bei dir«, sagst du. Zu mir.

CHOR

Und ihr sagt,

du,

du hast es jetzt doch geschafft,

und ihr sagt,

aber du,

seien wir doch mal ehrlich,

zwinker, zwinker,

du hast es jetzt doch geschafft,

wenn wir mal ehrlich sind,

zwinker, zwinker,

bist du doch jetzt echt kein Arbeiterkind mehr,

A

kein Arbeiterkind mehr

C

kein Arbeiterkind mehr

B

kein Arbeiterkind mehr

A

Eines Tages, das weiß ich,

werde ich es schaffen.

C

Werde ich es schaffen, dir zu sagen:

A

Fuck you, honey,

was weißt du schon davon,

wie es sich anfühlt,

dieses Gefühl,

das Gefühl von Struggle,

obwohl doch alles gut ist.

Und ich denke:

C

Was,

was, wenn es möglich wäre?

Was, wenn es hier tatsächlich sein dürfte,

mehr als eine Sache zu sein,

wenn es hier möglich wäre,

alles zu sein.

Ich,

im Bett.

Es ist Montag.

A

Es muss losgehen, es muss weitergehen, aber da regt sich nichts. Ich, im Bett, Montag, es regt sich nichts. Ich kann da aber jetzt nicht anrufen und sagen: Sorry, Leute, ich komm nicht hoch, weil ich hier gerade mit anderen Dingen beschäftigt bin. Ich kann da jetzt nicht anrufen und sagen: Sorry, Leute, ich bin krank.

C

Du kannst nicht sagen, dass du krank bist, weil du nicht krank bist. Du bist kerngesund. Du kannst nicht sagen, dass du krank bist, weil er,

A

ja, er, er hat immer wieder gesagt:

CHOR

»In dreißig Jahren nur drei Tage krank«,

A

mein Vater,

C

dieser Vater,

er hat es gesagt,

immer und immer wieder,

hat er es stolz gesagt.

A

»In dreißig Jahren nur drei Tage krank.«

Der Vater, mein Vater, der heute Stunden im Bad braucht. Wenn ich ihn frage: »Was hast du da drin so lange gemacht?«, dann sagt er: »Gewaschen, Zähne geputzt, rasiert, eingecremt.«

Mein Vater, der,

wenn er heute einen Teller voll mit Essen vor sich hat, so langsam isst, dass Stunden vergehen können, und er einfach langsam weiter isst, während der Tag schon halb rum ist.

Mein Vater, den ich anschreie und sage:

CHOR

»Jetzt mach mal hin!«

A

Mein Vater, der plötzlich auf der Straße stehen bleibt, im Laufen, und sich irgendein Detail an einer Hauswand ansieht.

Mein Vater, der zur Schnecke geworden ist.

Mein Vater, von dem ich dachte, dass er jetzt vielleicht dement wird, dass man das doch abchecken muss, dass man das doch jetzt mal von einem Arzt ansehen lassen muss, diese

B

Slow-Mo-Show,

die doch nicht normal sein kann!

Mein Vater, der in Zeitlupe durch den Tag geht.

Mein Vater, der zum Arzt gegangen ist und sich auf Demenz hat testen lassen und über den der Arzt gesagt hat:

C

»Ihr Vater ist kerngesund.«

B

Mein Vater, den ich beschimpft habe, weil ich wahnsinnig geworden bin, dass er dort einfach plötzlich anhält und rumsteht und so total weg ist, so total in seiner Welt ist, zu der ich keinen Zugang habe.

A

Mein Vater, der auf meine Fragen nicht antwortet, der dir seine Geschichte verweigert, und wenn du nachfragst, machst du das auf Deutsch, um dich zu schützen. Weil du dich schämst, dass du einen Akzent hast, in dieser Sprache,

B

die deine Muttersprache ist, die du aufgehört hast zu sprechen. Diese Sprache, die, wenn du sie sprichst, deine Stimme so klein, so schwach, so verletzlich macht, dass es dann sofort wieder da ist, das Kind, das kleine verletzliche Kind, das du jetzt aber nicht mehr bist!

A

Meinen Vater, den ich anschreien möchte vor Wut und sagen möchte: Warum hast du einfach weitergearbeitet, dein ganzes Leben, warum hast du dich nicht organisiert? Warum hast du dich nicht solidarisiert mit jenen, die auch nur schuften mussten?

C

Warum? Warum hast du dich nicht verbündet mit jenen, die auch in deiner Lage waren?

A

Ich will fragen: Warum?

Warum hast du dich nicht solidarisiert, warum hast du dich nicht organisiert mit jenen, die dort auch mit dir an den Maschinen standen? Und ich will fragen: Hast du es nur nicht getan, weil dort an diesen Maschinen auch jene waren, die nicht unter dem Kreuz gebetet haben? Hättest du dich nur verbünden wollen mit jenen, die unter dem Kreuz beten, so wie du?

Warum, will ich ihn fragen, warum hast du dich angepasst, einfach nur angepasst

B

und angepasst

C

und angepasst

A

und deine Klappe gehalten?

Meinen Vater, den ich so liebe, dass ich ihm kaum ins Gesicht schauen kann.

Mein Vater, der später im Leben damit angefangen hat, so ganz aus dem Nichts, eine Helene-Fischer-CD aufzulegen und meine Mutter ins Wohnzimmer zu locken, um mit ihr Disco-Fox zu tanzen, Disco-Fox,

C

mit selbst choreographierten Dance-Moves.

B

Dance-Moves.

A

Dance-Moves.

C

Dance-Moves.

A

Am liebsten

C

würde ich

A

hierbleiben.

B

Einfach hierbleiben.

C

In diesem Zimmer.

A

In dieser Wohnung.

C

Weil mich da draußen das Licht zu sehr blendet und

A

weil sich heute für mich alle da draußen viel zu schnell bewegen.

C

Ich bin jetzt hier,

A

in dieser Wohnung,

B

diese Wohnung,

die ein Ausschnitt ist,

C

der aus der Welt geschnitten ist und nicht existieren muss,

B

nicht auf dieser Welt existieren muss,

A

der nicht mitmachen muss,

nicht mitmachen bei diesem ganzen Zeug da draußen.

B

Dieser Ort,

A

in dem

C

ich

A

eine Schnecke geworden bin.

C

Dieser Ort, in dem niemand auf

A

mich blicken kann

B

und sagen kann, dass

C

ich

A

zu langsam bin.

B

Ich,

C

hier,

B

im Schneckentempo.

A

Hier ist Schneckentempo das normale Tempo.

C

»Das Kind arbeitet gewissenhaft und genau, benötigt aber in der Regel mehr Zeit als vorgesehen und mehr Zeit als andere Kinder.«

B

Ja, da war doch was mit der Zeit, wie war das noch mal mit der Zeit? Ist sie schnell oder langsam gewesen? Ist sie schnell oder langsam geworden? Ich weiß es selbst nicht mehr.

A

»Das Kind arbeitet gewissenhaft und genau, benötigt aber in der Regel mehr Zeit als vorgesehen und mehr Zeit als andere Kinder.«

Ja, so oder ungefähr so stand es da doch, oder? Ich erinnere mich doch. So oder ungefähr so stand es da doch in diesen Zeugnissen, oder? Da war doch was. Zeugnisse. Sorry, fuck, o nein. Nein, nein, nein!

Ich wusste es doch.

Kommt sie da jetzt?

Kommt sie da jetzt?

Fuck, ja, da ist sie jetzt, diese Träne, diese fucking Träne. Ich hab da jetzt auch keinen Bock drauf, auf diese Träne, die sich hier jetzt aus mir herauspresst, die hier jetzt einfach hochkommt, die immer an so Stellen kommt, an denen sie nicht kommen sollte, diese Träne, von der man vielleicht sagen wird, dass sie die Träne eines Opfers ist, ’ne Opferträne, die Träne von einer, die sich zum Opfer gemacht hat, diese Träne, die hier jetzt wieder dazwischenkommt.

B

»Das Kind arbeitet gewissenhaft und genau, benötigt aber in der Regel mehr Zeit als vorgesehen und mehr Zeit als andere Kinder.«

Immer und immer wieder, so, so stand es da doch in den Zeugnissen.

Meine Eltern. Eine Drohung. Ein Zeigefinger, der drohend hin und her wedelt, aber der Zeigefinger, das war nicht der Zeigefinger meiner Eltern, sondern der Zeigefinger, der in den Zeugnissen steckte, und meine Eltern, die haben das doch auch nur zu übersetzen versucht. Also für sich zu übersetzen versucht. All dies.

A

Immer und immer wieder rennst du die Straße runter, du steigst in die U-Bahn, du weißt, dass du zu spät sein wirst, du weißt, dass es das Einzige ist, das Einzige, das du verhindern wolltest, am Tag, an deinem ersten Arbeitstag zum Beispiel und nach all den Tagen, die darauf folgen werden, fuck, du bist wieder nicht aus dem Bett gekommen, an diesem Montag, fuck, du bist wieder zu spät.

CHOR

Du bist zu langsam,

das ist deine Schuld,

also streng dich an,

schneller und schneller,

zieh das Tempo an,

schneller und schneller,

und mehr und mehr,

mehr und mehr in der Zeit,

und wenn du das nicht kannst,

und wenn du das nicht machst,

dann bist du nicht gut,

dann bist du nicht so gut,

dann bist du nicht so klug,

dann bist du nicht so klug wie die anderen.

A

Ich

B

hier,

C

jetzt.

A

In meiner Wohnung.

B

Aus der Welt geschnitten,

C

nur kurz,

A

ich,

B

in meinem Tempo. Und ich frage mich, weil ich kann nicht anders, weil da dieses Gefühl im Bauch ist, und weil ich das Gefühl hab, dass ich hier wahnsinnig werde, und ich frage mich, warum?

C

Warum bin ich es?

A

Warum bin ich es, die hier erklären muss? Warum bin ich es, die diesen ganzen Scheiß hier erklären muss?

C

Und ihr sagt:

CHOR

Weil wir es nicht verstehen,

weil,

Entschuldigung, sagt ihr,

weil Entschuldigung,

aber wir haben jetzt das Gefühl,

dass da jetzt auch ganz schön viel Wut mitschwingt,

wenn du hier so erzählst,

und Wut ist ja nicht gut,

und Wut ist ja nie gut,

sagt ihr,

und Wut wird uns ja alle nicht weiterbringen,

und Wut ist eigentlich auch total undemokratisch,

sagt ihr.

A

Ich

B

hier

C

in meiner Wohnung

A

aus der Welt geschnitten

B

in meinem Tempo und

C

ich frage mich:

A

Warum bin ich hier die Eine, die die Wut dahinter erklären muss, die Wut, die in ihnen steckt, die Wut, die in den Zeugnissätzen vom langsamen Kind steckt?

CHOR

Warum wir?

Warum müssen wir es tun?

Warum müssen wir hier erklären und erklären,

warum müssen wir uns erklären,

wir,

die wir hier aufgewachsen sind,

wir,

die wir hier zu Schulen gegangen sind.

Warum müssen wir unsere Wut erklären?

Und die Schmerzen hinter unserer Wut?

Warum müssen wir es tun?

Immer und immer wieder?

C

Und ihr sagt:

B

Wenn ihr das nicht erklärt,

A

wenn ihr das nicht in Sprache erklärt,

C

wenn ihr die Gründe nicht in einer Sprache erklärt,

die Gründe,

die Gründe für eure Wut,

die Gründe für eure Trauer,

die Gründe für eure Trauer und Wut,

wenn ihr das nicht erklärt,

A

wenn ihr das nicht in eine Sprache packt,

in eine Sprache,

die wir verstehen,

die wir gut verstehen,

wenn ihr das nicht macht,

wenn ihr das nicht machen könnt,

ja, wie?

B

Ja, sorry!

C

Ja, wie? sagt ihr,

CHOR

wie sollen wir es dann verstehen?

A

Und dann sprichst du, und du sprichst und sprichst. Und dann versuchst du, du versuchst und versuchst. Du versuchst zu sprechen, das zu besprechen, das zu erklären und zu erklären, und du sprichst und sprichst, und sie sagen:

CHOR

Was du sprichst,

was du da sprichst,

das verstehen wir nicht.

Die Worte,

die du sprichst,

die erklären das nicht,

die erklären nicht, was du zu erklären versuchst,

und wenn sie das nicht erklären,

wenn sie das nicht erklären können,

dann ist es nicht da,

dann ist das nicht da.

A

Und du fragst dich:

C

Was soll ich denn noch tun?

A

Und du fragst dich: Wenn das, was ich hier erkläre, ein Nichts ist,

B

weil ihr es nicht verstehen könnt, dann frage ich mich,

A

was ist dann überhaupt noch da?

C

Was darf dann überhaupt noch da sein?

A

Ich glaube, ich werde verrückt, weil da ist doch was, das kann doch nicht sein, dass hier nichts ist, da ist etwas, da ist doch das, was sich eingebrannt hat, etwas, das sich in mich eingebrannt hat, eine Geschichte, diese Geschichte,

immer und immer wieder,

immer wieder und wieder dasselbe Ritual.

Ich will ihr sagen,

meiner Großmutter sagen,

dass ich nicht alleine bin,

auch wenn ich die Letzte bin,

die Letztgeborene bin.

Ich will ihr sagen,

dass ich nicht alleine bin,

dass ich Ketten habe,

Ketten von Ketten,

und Haufen von Haufen von Verbindungen,

Verbindungen von Schwestern, die niemanden geboren haben,

und die niemanden durch ihre Pussy pressen werden,

nicht für Gott,

nicht für Jesus,

C

nicht für den Mann

B

oder den Staat.

A

Und ich will zu ihr sagen:

Wach auf!

Wach endlich auf!

Siehst du nicht?

Siehst du nicht,

dass sie dich betrogen haben.

B

Siehst du nicht,

dass du vor den Altar getreten bist,

vor den Altar,

mit weißem Schleier,

dass du »Ja« gesagt,

A

und dass du allein gelassen wurdest,

dass du durch dieses Leben gegangen bist

und dich zu Tode gearbeitet hast,

für diese Kinder,

die du alleine durchbringen musstest,

obwohl du alle Sakramente erfüllt hast.

C

Aber die Sakramente,

deine Sakramente,

die haben dich nie erfüllt,

die haben dich betrogen,

die haben dich verlassen,

die Sakramente,

sie haben dich um dein Leben gebracht,

sie haben dich um deine Lust gebracht,

sie haben dich um dein Glück gebracht,

deine Sakramente,

deine heiligen Sakramente.

Aber du kannst ihr das nicht einfach sagen,

du kannst ihr diese Dinge nicht einfach entgegenschreien,

denn vor dir,

vor dir,

A

sitzt eine alte, eine kluge, alte Frau, die wissen will,

die auch nur wissen will, ob du glücklich bist, weil du die ihre bist.

C

Immer wieder dasselbe Ritual,

immer wieder dasselbe Ritual, solange sie da war, bis sie nicht mehr da war.

Irgendwann hat es angefangen.

Irgendwann hat sie den Anfang gemacht.

Immer wieder dieselbe Geschichte.

Als sie das zweite Mal kam, als die Geschichte das zweite Mal kam, war ich mir nicht sicher, ob sie dement wird. Nach dem zweiten Mal hat sie sie noch ein drittes, ein viertes, ein fünftes, ein sechstes und ein siebtes Mal erzählt und sie dann mit ins Grab genommen. Doch bevor sie sie mit ins Grab genommen hat, die Geschichte, ist sie sichergegangen,

B

sieben Mal sichergegangen,

A

dass sie abgespeichert ist,

C

in mir, auf meiner Festplatte, die da in meinem Gehirn oder in meinem Herzen ist, ich weiß nicht genau wo.

Immer wieder dasselbe Ritual. Der Schwarztee, der Ofen, die Venensalbe. Und schon beim Eincremen weiß ich, jetzt, okay, jetzt, und sie sagt:

»Wiesz, w tedy, wiesz jak byla wojna, to przyszed, w nocy, przyszed i ja tam bylam z moja mama i z siostrami, i przyszed i mowil: ty! ja chce widziec, widziec Ausweis, twojego. Bo wiesz dziecko, w tedy, w czasu wojny to bylo cos takieko, cos co sie nazywalo Ausweis.«

A

Sie sagt das Ausweis-Wort, sagt Ausweis, sagt, weißt du damals, weißt du im Krieg, da gab es dieses Papier, das sie Ausweis nannten. Sie sagt das Ausweis-Wort, sie sagt es in akzentfreiem Deutsch, obwohl sie doch kein Wort Deutsch spricht.

CHOR

Ausweis,

Ausweis,

Ausweis,

ja, der Ausweis,

der damals schon so hieß,

und heute noch so heißt.

A

Sie sagt, plötzlich stand er da, in der Nacht oder am späten Abend, sie sagt, das weiß sie nicht mehr genau, nur dass es schon dunkel war, plötzlich stand in der Tür der Offizier, ein Offizier, ein deutscher Offizier, plötzlich stand er da in der Tür und zeigt auf mich und sagt das Wort, sagt: »Ausweis«, und ich suche meinen Ausweis, sagt sie, und sie sagt, wie er gesagt hat:

»Teraz, hodz ze mna nad dworze.«

Komm jetzt mit mir nach draußen.

C

Und sie sagt, dass sie nichts sagen konnte und dass sie mit nach draußen gekommen ist, dass sie mit ihm nach draußen kommen musste, vor die Tür, und sie sagt:

»No wiesz, wiesz co prubowal, wiesz.«

B

Und ich schweige, und ich sage nichts. Und sie sagt, du weißt schon, du weißt doch, was er probiert hat, und sie sagt, dann kam ein Auto, von irgendwoher, plötzlich, also hat er abgelassen, und sie sagt, dass er sagte: Dreh dich um, ich werde dich erschießen. Und sie sagt, dass sie sich umgedreht hat und dass sie in diesem Moment, genau in diesem Moment, dachte: