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Wo Götter lustvoll simuliert werden und Intellektuelle sich um Kopf und Kragen reden, wo auf den Mensch nur noch die Taube folgt und Pommes einfach nicht mehr kross sind, wo Menschenopfer vielleicht Leben retten, wenn das Wasser unaufhaltsam weiter steigt – diese und andere Gedankenexperimente in der Dramatischen Rundschau 05. Dramatische Rundschau 05: Emre Akal: Göttersimulation / Paul Grellong: Wer Wind sät / Caren Jeß: Dem Marder die Taube / Svealena Kutschke: no shame in hope / David Lindemann: Der Damm / Kathrin Röggla: Das Wasser
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Seitenzahl: 472
Emre Akal | Paul Grellong | Caren Jeß | Svealena Kutschke | David Lindemann | Kathrin Röggla
EMRE AKAL Göttersimulation
PAUL GRELLONG Wer Wind sät
CAREN JEß Dem Marder die Taube
SWEALENA KUTSCHKE no shame in hope
DAVID LINDEMANN Der Damm
KATHRIN RÖGGLA Das Wasser
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
1 Minute zur Zukunft des Theaters
Emre Akal
Göttersimulation
[Personenverzeichnis]
[Mottos]
Gebrauchsanweisung
NTRY
Noch am Anfang
LVL1
Am virtuellen Traumschloss
Am Tennis Court der Moderne
Der sumerisch-babylonische Pantheon
Analoge Realitätsverschiebung
Sprung zurück zum Tennis Court der Moderne
Zurück am virtuell göttlichen Traumschloss
Der sumerisch-babylonische Pantheon
LVL2
Analoge Realitätsverschiebung
Virtual Forest
Die virtuelle Grotte
Digitale Bonbon Welt
Die virtuelle Grotte
Der sumerisch-babylonische Pantheon
Weiterhin am Virtual Forest
LVL3
Analoge Realitätsverschiebung
Wieder am Tennis Court der Moderne
Die virtuelle Großstadt
Kurzer Schwenk zu Love Island
Analoge Realitätsverschiebung
Der sumerisch-babylonische Pantheon
NDGM
In der utopisch virtuellen Hochmoderne
XT
[Illustrationen]
Paul Grellong
Wer Wind sät
[Personenverzeichnis]
SZENE 1
SZENE 3
SZENE 5
SZENE 6
SZENE 4
SZENE 2
[Illustrationen]
Caren Jeß
Dem Marder die Taube
[Personenverzeichnis]
TEIL EINS. TAUBEN
INTRO.HEMEROPHILE 1
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
TEIL ZWEI. RATTEN
INTRO. HEMEROPHILE 2
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
TEIL DREI. FLIEGEN
INTRO. HEMEROPHILE 3
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
TEIL VIER. MARDER
INTRO. HEMEROPHILE 4
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
[Illustrationen]
Svealena Kutschke
no shame in hope
[Prolog]
I
II
III
IV
V
VI
VII
[Illustrationen]
David Lindemann
Der Damm
[Personenverzeichnis]
WOHNEN
ARBEITEN
24 STUNDEN SPÄTER …
OPFERN
[Illustrationen]
Kathrin Röggla
Das Wasser
[Stückanweisungen]
ERSTES BILD: DIE FLUT
STUDIO
IM BAUCH DES WALS
JONA
PERSÖNLICHES DRAMA
REFERENTENEBENE
IM BAUCH DES WALS
DAS PERSÖNLICHE DRAMA, TEIL 2
REFERENTENEBENE
THEATER
ZWEITES BILD: ÜBERFLUSS (NINIVE)
IM BAUCH DES WALS
KREDITINSTITUT
POLITISCHES PARKETT
ENTRACTE
DRITTES BILD: GRUNDWASSER (HOCHDRÜCKENDE GEWÄSSER)
IM BAUCH DES WALS
DER WALD
HÖRSAALBESETZUNG
IM BAUCH DES WALS
ENTRACTE: VOR DEM BAUCH DES WALS
VIERTES BILD: DÜRRE
STUDIO
REFERENTENEBENE
STUDIO
FÜNFTES BILD: DAS MEER
DAS MEER
[Illustrationen]
[Quellen und Erstaufführungen]
[Publikationen]
(Das Brutalste an der Aufgabenstellung ist, dass ich mich nicht hineinschreiben kann in eine wasimmer: Wut, Liebe, Verwegenheit. Muss kurzhalten. Auf den Punkt bringen. Ein Slogan! Ein Slogan! Das wär’s – Vielleicht …)
Das Theater der Zukunft ist: extrem aus der Übung in allem.
Der Spielplan hat das Gedenkjahr einer wichtigen Persönlichkeit genau um einen Tag verpasst. Das KBB hat sich bei den Gagen verrechnet: Die Putzkraft bekommt jetzt doppelt so viel wie das ganze Ensemble zusammen. Die Putzkraft hat vergessen, dass Geld tabu ist, und hat es betrunken herumposaunt. Das Ensemble weiß nicht mehr, wie Empörung geht, und beschließt, erst mal zu duschen. Die Regie ist zur falschen Adresse gefahren und sitzt jetzt in einem Park und sagt: Ich weiß nichts, ich hab alles außer einem Plan und Zigaretten. Die Öffentlichkeitsabteilung hat die Stadt mit Ankündigungen einer Inszenierung vom letzten Jahr plakatiert. Die Dramaturgie hat im Programmheft Mensch und Machtmechanismus gegendert, daneben hat sie aus Versehen Nacktfotos von sich gedruckt, darunter steht als Bildbeschreibung: Goethe in seinem Schreibzimmer beim Schreiben des Weltklassikers Die Räuber. Die Autorschaft hat sich mit Jack Nicholson verwechselt, das Stück besteht aus 4561mal dem Satz: »Das kann man so nicht sagen.« Die Kritik bemerkt in der Ankündigung lobend die Virtuosität der Hautfarben des Ensembles. Die Bühnenbildner*innen haben das Bühnenbild im Schlafzimmer vergessen, es steht jetzt ihr Bett auf der Bühne.
Der Tag der Generalprobe ist gekommen. Die Schauspielenden spucken sich gegenseitig unter die Achseln. Sie haben keine Tampons dabei. Das Licht im Saal geht an, es geht los, mit dem 5. Akt. Niemand hustet. Ein Spieler arbeitet sich knapp an seinem Schmerzbereich vorbei. Hysterisches Lachen im Publikum. Eine Kita stürmt die Bühne. Sie dachten, hier sei ihre Notbetreuung. Die Technik drückt den falschen Knopf, das Dach des Theaters öffnet sich, ein Hubschrauber fliegt darüber und streut die Flugblätter einer Anti-Abschiebungsdemo in den Saal. Der Soundtrack der nahen Loveparade übertönt den Abschlussmonolog des Chores. Eine suizidale Rentnerin springt aus dem fünften Stock im Nachbarshaus direkt durch das offene Dach des Theaters der Zukunft und landet auf dem Bett. Die Flugblätter machen einen Purple Rain.
Das Theater der Zukunft ist unprofessionell, es hat verlernt, wie man Dinge macht. Das Theater der Zukunft kann sich nicht mehr weißmachen – das Theater der Zukunft kann sich nicht mehr weismachen, etwas zu wissen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu öffnen. Das Theater der Zukunft ist offen.
Milena Michalek
Dieser Text entstand für den 1. Digitalen Fischer Salon 2021. Die Aufgabenstellung für alle anwesenden Dramatikerinnen und Dramatiker lautete: 1 Minute zur Zukunft des Theaters.
EMRE AKAL lebt als Autor und Regisseur in München. Seine Arbeiten, die sich an der Schnittstelle von Choreographie, Installation und Bildkomposition bewegen, waren u.a. am Stadttheater Bakırköy in Istanbul, am Maxim Gorki Theater in Berlin und in der freien Szene in München, Stuttgart und Wien zu sehen. Für sein Stück Ostwind erhielt er 2015 den Tanz- und Theaterpreis der Stadt Stuttgart, für den Theatertext Hotel Pink Lulu – Die Ersatzwelt 2020 den exil-DramatikerInnenpreis der Wiener Wortstaetten. Er wurde 2020 mit dem Förderpreis für Theater der Stadt München ausgezeichnet. Gemeinsam mit 86 weiteren Künstler*innen aus ganz Deutschland initiierte er 2019 das Ayşe X Staatstheater. Im Rahmen einer Residency an den Münchner Kammerspielen entstand seine Stückentwicklung Göttersimulation. Zuletzt wurde Nachkommen. Ein lautes Schweigen! am Theater Münster uraufgeführt.
Wenn du fliehen könntest, fliehen in eine virtuelle Realität, wenn du bestimmen könntest, welche Realität würdest du dir erschaffen? Das Ende des analogen Zeitalters ist angebrochen. Die Digital Natives haben sich in den virtuellen Welten als Gött*innen neu erfunden und halten in den unendlichen digitalen Weiten Hof. Plötzlich erscheinen zwei Alte (Erkin und Walter) – die letzten Zeugen des Analogen. Die beiden begeben sich auf die Suche nach der Unsterblichkeit. Wird es ein Aufbruch oder ihre letzte Reise sein?
»Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.«
Babylonische Tontafel, ca. 1000 v. Chr.
»Was nun zunächst die jungen Leute angeht, so sind sie heftig in ihrem Begehren und geneigt, das ins Werk zu setzen, wonach ihr Begehren steht. Von den leiblichen Begierden sind es vorzugsweise die des Liebesgenusses, denen sie nachgehen, und in diesem Punkt sind sie alle ohne Selbstbeherrschung. […] zornmütig und leidenschaftlich aufwallend in ihrem Zorne. Auch sind sie nicht imstande, ihren Zorn zu bemeistern, denn aus Ehrgeiz ertragen sie es nicht, sich geringschätzig behandelt zu sehen, sondern sie empören sich, sobald sie sich beleidigt glauben. Auch hoffnungsreich sind sie, denn das Feuer, das dem Zecher der Wein gibt, haben die Jünglinge von der Natur […], sie tun alles eben zu sehr, sie lieben zu sehr und hassen zu sehr, und ebenso in allen anderen Empfindungen. Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation.«
Aristoteles, 384–322 v. Chr.
»Mitleiden mit der Jugend. – Es jammert uns, wenn wir hören, dass einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem andern die Augen erblinden. Wüssten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie groß würde erst der Jammer sein! – Weshalb leiden wir hierbei eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was wir unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft unserem Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit: oder wenn wir uns nur als Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der Jammer darüber, dass diese Mission in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muss.«
Friedrich Nietzsche
Notiz oder Gebrauchsanweisung:
Ein drittes unfertiges Stück, Erinnerung an die Gegenwart.
Das ist nicht mehr, das ist vorbei.
Deshalb erinnern wir noch einmal gemeinsam.
Wir schauen da jetzt drauf. Doch diesmal anders, wie auch davor und davor.
Weil zum Wachsen, zum Erwachsenwerden, braucht man das, dass das alles anders wird!
Irgendwas. Neu denken. Neu! Neu!
WEIL WIR ENDLICH NEUES BRAUCHEN!
PS
Keine Eitelkeit!! Nur ein Tipp. Ein Hinweis. Eine Idee.
Verschwendet keine Zeit,
die Zukunft,
ist schon da.
PPS
Den folgenden Szenenreigen bitte als Tabulatoren begreifen.
Immer andere Orte, auch andere Themen. Nicht nach Fokus suchen, die Gegenwart ist nicht die Zeit der Fokusse. Das ist endgültig vorbei!
Danke an Olivia Ebert für diese intensive und gemeinsame Reise!
Wenn du fliehen könntest, fliehen in eine virtuelle Realität,
wenn du bestimmen könntest, welche Realität würdest du dir erschaffen?
Wenn du Macht hättest, wie würde eine perfekte Welt für dich aussehen?
Wenn du bestimmen könntest, welche Regeln gäbe es?
Ist deine Traumwelt eine glückliche oder ein Albtraum?
Würdest du Leben schenken oder töten?
Foltern, foltern vielleicht?
In einer perfekten Welt, in der du alles bestimmen kannst, wie frei oder unfrei sind Menschen?
Welche Farben hätte deine perfekte Welt?
Welche ungehörten Geschichten würden erzählt werden?
Welche Rollen würdest du spielen in
dieser Welt der absoluten Freiheit, in der du aussuchen kannst, wer du bist, wer du sein willst,
in der du alles anders machen kannst, endlich.
Ein Lichtlein leuchtet auf.
Zwei Menschenkörper, die baldigen Engel der Vergangenheit genannt, stehen da und halten sich fest am Rande des analogen Zeitalters. Im Sturm der Neuzeit klammern sie sich aneinander fest. Wie zwei zart Ertrinkende. Zwei gealterte Menschenkonstrukte klammern sich fest am »Wie es eben immer war« und »Wie es vielleicht nie mehr sein wird«. Noch einmal verstehen, noch einmal sehen, noch einmal dabei sein, beim Leben. Die Gegenwart ordnen vielleicht oder die Reise erst beginnen.
WALTER
Es knistert,wie wenn man einen Pulli auszieht oder Klettverschluss öffnet oder einen großen Ofen anzündet, mit trockenem Heu oder in die Handtasche … greift, dieses verheißungsvolle Bonbonknistern vielleicht, oder wenn man ein Geschenk auspackt am besonderen Tage oder in eine besonders knusprige Pizza … beißt.
Wir sind im digitalen Zeitalter angekommen, oder nein, das digitale Zeitalter ist bei uns angekommen, oder nein, das digitale Zeitalter hat begonnen, und wir haben es nicht bemerkt.
Stille.
Kann mir irgendwer sagen, wie Spotify funktioniert?
Ich habe seit 2011 keine Musik mehr gehört.
WO SIND MEINE BILDER? DIE BILDER SO EINES LEBENS.
Ich finde keine Fotos mehr, keine Fotos.
Stille.
Guten Abend.
WALTER + ERKIN
Mein Name ist Erkin und Walter …
WALTER
Ich bin gerade
80 Jahre alt geworden, körperlich.
Ich bin nicht mehr 79. Kein Witz.
Stille.
Ich habe diverse Freunde, die …
Ok, das stimmt nicht …
Ich habe keine Freunde mehr …
Die sind schon weg.
ERKIN
Ah doch, ich habe zwei Bekannte, die haben kein Handy,
deshalb haben wir uns seit zehn Jahren nicht gesehen.
Vielleicht leben sie auch gar nicht mehr.
Stille.
Na ja.Ich erzähle mal einen Witz zur Auflockerung:
Stehen ein alter weißer Mann und ein alter nichtweißer Mann
am Endpunkt zusammen, weil so ein Endpunkt eben immer der gleiche sein wird.
Unlustige Stille.
Dass du am Anfang der Zukunft mich brauchst,
meine Erfahrung, weil ich das kenne, das Neue.
Hingefallen, aufgestanden, weitergerannt.
Ich habe gekellnert, Speditionen gegründet, einen Hund gefüttert, ich habe vier Kinder gefüttert, ich habe mich gefüttert, mehr recht als schlecht, ich habe für einen Pass
mich angestellt in die Reihen.
WALTER
ICH, ich habe meinem Enkel den ersten Computer, das erste Handy gekauft, gekauft, von meiner Lebenszeit gekauft, mit meinen Händen gekauft, ich konnte ja nicht wissen, dass ich ihm das neue Zeitalter gekauft habe.
Dann war er weg, irgendwie weg, nicht mehr da, der Enkel, weg, weg, weg, körperlich schon noch da, irgendwie, aber doch weg, irgendwie.
ERKIN
Der ist davongeflutscht!
WALTER
So ein Alter, das war doch immer was Wertvolles.
Ob es das noch geben wird? Ob das Alter einfach ausgemerzt, ausgesetzt wird, wird es nur noch junge Körper geben, irgendwann?
Werden wir nicht mehr wir sein, sondern Utopisten, Neu-Erschaffer, Neu-Denker, alles anders, ist das so, ist das bereits so?
Stille.
Die ist weg,die Jugend, nicht mehr auffindbar. Die Jugend, die hineingeboren ist in ein neues Zeitalter, in eins, das wir nicht ernst genommen haben, in eins, das andere Formen, das wir nicht wahrhaben wollten. Eins, das von den Pixeln her so viel glatter sei, von den Pixeln her, so viel glatter, so bunt, die neue Welt, so bunt, so bunt, dass das Hineintauchen, das Hineingleiten, das Hineinrutschen, das Hineinschmecken, dass das etwas mit einem macht, das doch wieder Hoffnung macht. Sagen sie, die Pfleger.
Und weil die Farben, sagen sie.
Weil die so echter … in der anderen Welt, so viel … echter. Die alte Ordnung bricht jetzt auf, sagen sie, die Pfleger, das ist nicht mehr, das ist vorbei, weil das zu einfach war, weil wir da gar nicht viel leisten mussten für, das war ja einfach da, immer, das Wissen um unsere eigene, analoge Endlichkeit.
Stille.
Stille.
Stille.
… und es war, ja, es war so … einfach, das Früher.
Stille.
So einfach hineingeboren zu sein in eine Welt, in der alles schon immer so war, wie es halt eben immer war, wie wir sie gebaut haben, vollgebaut, zubetoniert, vollgestellt.
ERKIN
Zugemüllt!
WALTER
Zugemüllt!Was habe ich damit zu tun? Was habe ich mir schon geleistet als Lebensgrund, mir geleistet.
Mein Auto, mein Haus, meine Möbel, Essen, Wasser, Heizung, Strom, Ausgehen, Theater, Theater, das wiederum Strom … ein … … Kreislauf. Bin ich im ewigen … Kreislauf der Schuld, ein Schuldiger? Nein! Damit habe ich nichts zu tun, ich habe nur genossen, es war ja da.
Stille.
Da sollen doch bitte die, die da noch so ein langes Leben vor sich haben, da sollen doch bitte die mal was tun jetzt, umdenken … umschichten … umlenken, ist ja dann ihre Welt, habe ich meinem Enkel gesagt, das ist doch wie mit meinem Auto, habe ich ihm gesagt, wenn ich sterbe und dir meins hinterlasse, dann war das nie meins, dann ist das doch deins, von Anfang an deins gewesen, deins, und ich hab nur für dich … gearbeitet, habe ich gesagt. So ist das doch auch mit der Welt, habe ich gesagt, mit der Welt. Was hast du für die Welt getan, hat er mich gefragt, FÜR DIE WELT, ja was schert mich die… Welt! Für die bin ich doch schon gar nicht mehr da, für die Welt!
ERKIN
Die Welt, die Welt, das ist ja gar nicht mehr deine Welt.
WALTER
DAS IST JETZT ALLES ANDERS! ALLES NEU!
DAS MUSST DU NOCH ERLEBEN. Wenn ihr da durchgeht, wenn ihr … … Gott findet, dann dürft ihr eurer … Jugend wieder begegnen, sagen sie, die Pfleger, sagen sie, die Pfleger, und meinen es gut und meinen die … Zukunft, noch schnell ein Häppchen … Vergangenheit. Ja, ja, schon gut!
Ein Pfleger kommt herein mit einem Wagen voller Gerätschaften.
Er untersucht die beiden Menschenkonstrukte.
P
Are you ready to die?
ERKIN
Yes, we are ready to die!
P
Are you ready to die?
ERKIN
Yes, we are ready to die!
P
I’m asking you again.
Are you really ready to die?
ERKIN
Du musst jetzt sagen: Yes, we are ready to die.
Warum sagst du denn nichts?
WALTER
Weil ich es nicht weiß?
ERKIN
Wie kann man denn nicht wissen, ob man »ready to die« ist. Du hast doch ein ganzes Leben Zeit gehabt, dich darauf vorzubereiten.
Jetzt sag: Yes, I am ready to die – so zum Spaß.
WALTER
Yesimreadytodie.
ERKIN
Du sagst das wie jemand, der gar nicht weiß, was er da sagt.
WALTER
Ich sage das wie jemand, der etwas sagt, ohne zu wissen, was er da sagt, weil ich es nicht … weiß!
Ich weiß nicht, weiß nicht, was das bedeutet, Areyoureadytodie. Diese ganzen … neumodischen Wörter, ich kenne dieses Wort nicht!
ERKIN
Das ist kein Wort.Das ist ein Satz.
WALTER
Aha.
ERKIN
Komm, wir sagen das jetzt gemeinsam.
Are you ready to die?
YES – WE – ARE – READY – TO DIE!
WALTER + ERKIN
YES – WE – ARE – READY – TO – DIE!
P
I’m asking again:
Are you really, really, really ready to die?
WALTER + ERKIN
YES WE ARE REALLY REALLY READY TO DIE!
Der Pfleger setzt den beiden VR-Brillen auf.
Der eiserne Vorhang geht auf, oder ein anderer Wahnsinn.
Pixelfelder formieren sich zu einem Ort, wie man ihn im Theater nie gesehen hat bisher. Lieblich und wunderschön. Bestimmt möglich. Irgendwie. Empfehlenswert ist keine Nachahmung von bekannten Virtual Reality hypnotisch hyperrealistischen Orten. Da findet man doch irgendwas Eigenes.
Eine Horde Digital Native Gött:innen, sie toben exzessiv, feiern ein Fest, Denizysiengenannt.Der Wahnsinn, der pure Wahnsinn, da das so ist, mit der Neuzeit, da die der Wahnsinn ist.
Jubel.
Schreie.
Lachen.
Lachen.
Lebendigkeit.
Jugend.
Party.
ERESCHKIGAL
Oh, schau, das bist ja du! Das bin ja ich! Wir stehen hier gemeinsam: ein:e Liebesgött:in. Ein:e Kriegsgött:in. Ein:e Gött:in der Weisheit. Umhüllt mit göttlichen Körpern.
NAMMU
Oh, schau, da stehst ja du! Da steh ja ich. Du stehst hier so rum, du, eingepackt in ein ausgefallenes Götterkostüm.
NISABA
Oh, schau, bin ich jetzt ich? Oder schon wer anders? Ich? Mein Ich an sich oder doch schon wer anders? Na, wer bin ich?
ENLIL
Ja, nein, ich bin jetzt doch wer anders, wer oder was, jedenfalls ganz anders!
NINURTA
Ich schäme mich nicht, nicht mehr.[1]
ERESCHKIGAL
Ich tanze, tanze ausgelassen, tanze wie verrückt, tanze und schwinge die Arme.
NINEGAL
Schwinge die Arme ausgelassen, Arme Schwingen, für diesen Moment Freiheit.[2]
ERESCHKIGAL
Mein Hintern ist nicht mehr groß, er ist riesengroß, mein Hintern; ein riesengroßer göttlicher Butt und alle lieben ihn, alle lieben meinen Monster Bubble Butt.
NINEGAL
Ich wackle mit meinen klitzekleinen Brüstchen, wackle, ich wackle, es schlackert trotzdem, schlack macht es, schlack, schlack, schlack, und es ist egal, auch das, weil alles egal ist, hier!
INANNA
Schau! Sie legt sich hin und rollt auf dem Boden der Tatsachen, die hier keine mehr sind, hier gibt es keine Tatsachen mehr, hier tanzt sie ausgelassen.
ENKI
Hier habe ich keinen Fleischkörper mehr, der nicht in irgendein Raster passt, hier, hier nicht. Hier. Hier. Hier habe ich die perfekten Maße, in der Unperfektheit der neuen Zeit, weil hier so vieles und nichts eine Rolle spielt.
ENLIL
Sie tanzt sich in Trance, ich tanze mich in Trance, wir tanzen uns in Trance, sie tanzen sich in Trance …
NISABA
Ich bin jetzt groß, ich weiß nicht wie groß, ich weiß nur groß, vielleicht zehn Meter groß.
NINURTA
Meine Hände sind nicht mehr klein, meine Hände sind Wassermelonenhände, Schaufelhände, schau.
NINEGAL
Oh, schau, ich bin jetzt klein, ganz klein, eine kleine Göttin und oh, schau, ich bin grün, grün und klein, vielleicht zehn Zentimeter klein.
ENKI
Ich laufe durch die Beine der anderen Gött:innen, ich laufe durch ihre Beine und schaue in ihre Schritte, wow!
ERESCHKIGAL
Die schauen mich an, die Schritte, die da drin, die lachen mich an, die da drin, die bärtigsten Vulven und Korkenzieher Penisse, die lächeln mich an. Manche haben gar nichts da unten, wozu auch.
ALLE
Hahaha!
ENKI
Manche haben ein kleines Schweinchengesicht da unten hängen, das mich ansieht und lächelnd winkt, ich winke zurück, winke dem kleinen freundlichen Schweinsgesicht zu, ich winke, winke und denke, wie nett, echt nett, wir grüßen uns freundlichst, ein Waidmannsheil.
NAMMU
Das ist da neu eingezogen, wir mögen uns, weil wir uns hier fast alle mögen, wir mögen uns einfach, weil’s keinen Sinn macht hier, sich nicht zu mögen.
INANNA
Wir sind vorbeigerauscht am Sein, wie es nun mal immer war.
ENLIL
Das alte Wissen, die Jahrtausende, das nützt nichts mehr.
NINURTA
Hätte niemand ahnen können, dass diese Grenzen, diese nationalen Grenzposten der Welt,
ERESCHKIGAL
die genormten Sprachen des »wie es immer war«,
ENKI
die Fabriken der Körpergeneratoren,
NAMMU
die Bestimmer:innen über Richtig und Falsch und den Fortgang der Welt,
NISABA
dass die mit UNS nicht mehr kompatibel waren.
INANNA
Dass wir an den ganz großen Fragen der Zeit,
an den großen Fragezeichen der Gegenwart,
LACHEND vorbeirauschen würden,
dass wir KREISCHEND vorbeirauschen würden,[3]
ENLIL
VORBEI.
ALLE
Aus und vorbei!
ENLIL
Schau! Ich habe mir eine neue Haut gekauft.
ERESCHKIGAL
Oh! War die im Angebot?
ENLIL
Die war im Angebot von diesem neuen Designer.
NAMMU
Das ist die Haut vom neuen Designer.
Zeig doch mal. Ja, zeig doch mal.
ENKI
Das ist die Haut des neuen Designers.
ERESCHKIGAL
Die hat die Haut vom neuen Designer.
Zeig doch mal. Ja, zeig doch mal?
ALLE
Die »Super Shiny Skin«!
NINEGAL
Warum hat die die »Super Shiny Skin?«
ERESCHKIGAL
Die ist zum Skinmarket und hat sich für umgerechnet 500 Euro die »Super Shiny Skin« gekauft. Weil die das kann.
NINURTA
Manche können das eben!
NAMMU
Ich war beim Facemarket und wollte mir das »Baby Doll Face« kaufen. Es hat leider nicht gereicht. Es hat leider nur für ein Standardface gereicht.
NINEGAL
Was kostet so ein »Baby Doll Face«?
ALLE
200 Euro umgerechnet.
ERESCHKIGAL
Du hast keine 200 Euro umgerechnet für ein eigenes »Baby Doll Face«?
NINEGAL
Leider nein.
NISABA
Die hat keine 200 Euro für ein eigenes »Baby Doll Face«.
ALLE
Aha!
ENKI
Irgendwie wird man da nicht so wirklich ernst genommen, mit einem Standardface und einer billigeren Haut. Daher dachte ich, dann wenigstens was Süßes. Aber irgendwie wird man da nicht so wirklich ernst genommen, mit etwas Süßem.
NAMMU
So eine schöne »Super Shiny Skin«.
Die hätte ich gern.
NINURTA
Ich hatte mal eine »Superweiß Göttinnen Haut«.
Ich habe dafür meine Tante beklaut.
ENLIL
Die Spardose meines kleinen Bruders ausgeraubt und eine Freundin erpresst.
NINURTA
Ich wollte unbedingt diese eine Haut.
ENLIL
Das war ein Traum, den ich schon sehr lange hatte, ich konnte sie mir einfach nicht leisten.
NINURTA
Irgendwann hatte ich das Geld zusammen für die »Superweiß Göttinnen Haut«.
INANNA
Ich wollte einmal das Gegenteil sein von dem, was ich im echten Leben bin. Aber dann stellte ich fest, dass ich nicht anders behandelt wurde … sondern
immer noch wie eine Frau.
ALLE
Ach, man …! Wir sind halt doch nur irgendwie das, was wir gelernt haben, zu sein.[4]
Die Pixelfelder verschieben sich. Ein neuer Tab.
Eine ikosaedrische Sonne leuchtet am Himmel, Bäume, ein Tennis Court. Alles, was das analoge Herz erinnert und begehrt.
Erkin und Walter starten als Engel der Vergangenheit oder A und B ihre Reise.
Sie spüren in ihre Avatare und neuen Körper hinein. Wie kleine Kinder spüren und blicken sie begeistert und aber auch skeptisch, in die neue virtuelle Welt.
B
Schau, ich kann greifen. Ich kann etwas greifen. Greif mal meine Hand. Genau. Greif doch da mal hin.
A
Ich kann greifen und fast boxen.
B
Jetzt die Hüften.
Rechts. Links. Vor. Genau.
Rechts. Links. Vor. Genau.[5]
A
Rechts. Links. Vor. Genau.
B
Rechts. Links. Vor. Genau.
Rechts. Links. Vor. Genau.
Was ist?
A
Ob das für eine Seele gut … na, ich weiß nicht.
Ob das für eine Seele gut ist … macht dir das keine …?[6]
B
Rechts. Links. Vor. Genau. Rechts. Links. Vor. Genau.
Sollen wir versuchen, einen Schritt …?
A
Ich weiß nicht, wie das geht, ein … Schritt!
Was machen wir hier überhaupt?
B
Wir suchen Gott.
A
Herrgott! Weil der auf uns wartet, irgendwo.
B
Ja, so werden wir ihn sicher nicht finden.
A
Vielleicht auch besser so, ihn nicht zu finden.
Stille.
Stille.
Du kannst noch nicht mal gehen und willst Gott finden.
B
Vielleicht heben wir den Fuß und machen einen Schritt![7]
A
Mach du deinen Schritt, ich krabble erst mal! Wenn das geht … ich krabble zu … Gott.
B
Schau! Ich mache einen Schritt!
A
So, du machst einen Schritt! Aha! Vielleicht kann ich … kann ich doch auch einen Schritt …
Oh! Oh … Oh, jetzt ist mir schlecht!
B
Na komm! Eins, zwei, drei …
Oh … oh, jetzt ist mir auch schlecht!
A
Oh
B
Oh
A
Oh
B
Oh
A
Na, ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß ja nicht, ob das … ich fühle mich wie einer, der gar nichts mehr …[8]
Sie kotzen in die analoge Welt.
Unbeholfen.
Die Pixelfelder verschieben sich zu einem neuen Tab, ein neuer Ort, eine heilige Stätte der Erinnerung oder einfach des Gebets.
Gebetsrunde/Aufzählung der Legende.
ENLIL
Aber jetzt von vorn,
jetzt vom Anfang,
jetzt wie das alles begann, du bist dran:
ERESCHKIGAL
Wir könnten,
wir könnten jetzt eine neue Welt erzählen.
In neuer Erzählform, erzählend voran,
voran, voran.
NINEGAL
Wir sprechen uns voran,
ENKI
wir pirschen uns sprechtechnisch heran,
wir schreien uns sprachlich heran.
Gegen das Nichtvorkommende,
die Geschlossenheit,
Abgeschlossenheit,
das Kausale,
das Alte,
gegen den Tod, vielleicht.
ALLE
VORBEI!
NAMMU
Sprechen wir jetzt,
sprechen wir jetzt,
jetzt, damit wir sind!
ERESCHKIGAL
Wir müssen sprechen jetzt,
NISABA
über ein Gefühl sprechen jetzt,
ENKI
über eine Lebensspanne sprechen jetzt,
NAMMU
über den zehnten Stock eines Hochhauses sprechen jetzt,
sonst spricht ja niemand drüber.
ENLIL
Überes sprechen, jetzt,
das Kind, das da am Fenster steht.
NINEGAL
Hey!!,
flüstre ich dem Kind zu,
Hey!!!
NAMMU
Es versucht der Welt etwas zu erzählen,
ENLIL
schreit, schreit hinaus,
immer und immer wieder,
dass doch mal irgendjemand hinhört.
ENKI
Weil die Welt das nicht mehr kann, einen neuen Propheten hören, dazu ist sie zu laut, die Welt.
ERESCHKIGAL
O nein! Es hört auf, das Kind, hört auf zu sprechen mit
der Welt und sitzt beleidigt am Fenster, da,
blaues Bildschirmflackern,
ENKI
es ist beleidigt, das Kind, es
ist die Zukunft, das Kind,
ALLE
DIE ZUKUNFT IST BELEIDIGT!
NISABA
Über dieses Kind sprechen wir, damit es war,
damit es einmal war!
ENLIL
Jetzt du, sprich!
ERESCHKIGAL
Ich spreche,
ich spreche,
ICH SPRECHE FÜR ES!
NINEGAL
Warum sprichst du für es?
Kann es nicht selbst für sich sprechen?
Nur weil’s da hoch oben steht und niemand zuhört …!
Niemand …!
Sprichst du jetzt über es …!
Das ist nicht nett, über jemanden zu sprechen, wenn dieser jemand gar nicht da ist.
ENLIL
Weiter!
NISABA
Wir rufen dem Kind zu.
ENLIL
Hey!
Rufen wir dem Kind zu.
ENKI
NEIN,
DEM PROPHETEN.
BIST DU DA??
KANNST DU UNS HÖREN???
HALLO?
ERESCHKIGAL
Sprechen, immer wieder sprechen,
immer wieder Schleifen drehen,
entgegen dem Unerzählten.
NAMMU
Lasst uns über Narben sprechen,
NISABA
jetzt über das Erben,
ENLIL
über
Schuld sprechen, jetzt!
Sorgenvoll über Dunkelheit sprechen,
die Straßen aus sorgfältigem Beton,
NISABA
die Hochhausschluchten sorgten für ein kuscheliges Miteinander, die Menschen versorgten sich sorglos gegenseitig.
NAMMU
Sprechen über Spritzen in
Spielplatzbuchten, voll
sorgender Gedanken.
Die Nächte voller sorgenvoller Gebete.
NINEGAL
Wieso klingt das so ernst und so traurig, wenn du das sagst,
wenn du erzählst, von der echten Welt?
ENLIL
Weiter jetzt!
Wir gedenken dem Prophetenkind am Hochhausfenster, die Gedanken beim Kind, mit
dem besonderen Namen Deniz mit Z.
ALLE
DENIZ MIT Z!
NISABA
Damit wir uns erinnern,
dass das alles
ein einziger Kampf,
das alles wieder loszuwerden.
NAMMU
Und
wir in Wahrheit froh, dass
wir da drüber sind,
ALLE
da nicht mehr sind,
dass
wir da rausgekommen sind.
Die Pixelfelder verschieben sich, ein Tor, weit oben, eine Stimme aus einer anderen Dimension erschallt im Raum.
Virtuelle Wellen durchfluten den Raum.
Alles verschwimmt.
STIMME AUS DEM ANALOGEN//MERYEM/ANA/MUTTER/MARIA
Als die Welt begann zu sterben, machte sich der Atem sichtbar im kältesten beißenden Winter. Die Wörter und Sätze wuchsen zu Gebilden heran, in der kühlen Stille der Luft. Im Herzen ein immer wärmender Holzofen, mit einem Flötenkessel darauf und einer mollig warmen Katze nebendran, die, so schien es, dazugehörte, und ihre Augen grüßten die Flammen des Ofens, als kannten sie sich seit Anbeginn der Zeit, die Katze und der Ofen. Unter meinen Sohlen auf dem Schnee knarzte es laut und hinterließ eine Erinnerung mit jedem Schritt und jeder zurückgelassenen Spur meiner dicken Stiefelsohlen. Ich erinnerte mich, beim Betrachten meiner Fußabdrücke einer noch früheren Zeit, in der ich gerne rückwärts lief im Schnee, um eine falsche Spur zu legen, so dass mich niemand auffinden konnte. Also tat ich es wieder, ich lief rückwärts durch den Schnee. Ich lachte in meinen halb erfrorenen, von Großmutters Händen zitternd gestrickten Schal hinein, die Atemwärme blieb darin haften und richtete sich gemütlich ein, für eine Zeit. Ich blieb stehen auf einer Lichtung, schloss die Augen und genoss die Verschwiegenheit der Zeit.
Durch das kahle Kronendach konnte ich die Schäfchenwolken sehen, die ab und an hindurchblinzelnde nostradamusrote Sonne kündigte aus weiter Entfernung einen Frühling an, den ich erkannte, obwohl die Wolken und dieser Frühling nicht meine waren. Um dieses Bild eines endenden, mir fremden Winters in Ruhe zu betrachten und die Last meines schwangeren Bauches auszugleichen, wollte ich mich auf einen faulenden Baumstamm setzen, sah aber ein feines Gebilde darauf, silbrig weiße, feine Fäden wuchsen aus der Erde an ihm entlang, wie ein Häkeldeckchen, hübsch, als würden sie den Stamm hinunterziehen wollen, ins dunkle Erdenreich. Wir betrachteten uns, dieses hübsche Gebilde und ich, kurz. Als ich später zu Hause am Esstisch saß, fragte mich mein Mann, ob wir einmal zusammen rückwärts durch den Schnee laufen wollen, wie wir es als Kinder, damals, im Winter zu Hause, in unserem Dorf in der südostanatolischen Hochebene, getan hatten. Dass ich an diesem Tag bereits rückwärts durch den Schnee gelaufen bin, hatte ich ihm aber gar nicht erzählt. Puff! Da platzte es. In mir.
Digitale Verzerrung im Raum, Zeitsprung.
Beim Pressen, beim Drücken, beim menschlichsten Vorgang, noch bevor sein schwarzer Kopf herauslugte, bevor das Blut sich ausbreitete, der kleine, von einem zarten Schleim umschlossene Körper in die Welt hinausblinzelte, betrachtete ich meinen Mann, dessen Stirn von großen Schweißperlen hell leuchtete, wie ein Heiliger vielleicht; der gekommen war, um mir ein wenig Trost zu spenden. Ich erkannte in seinem Gesicht diese Angst, nein, ich erkannte in seinem Gesicht die größtmöglich menschliche Angst, verbunden mit der größtmöglich menschlichen Vorfreude, ein Leben zu zeugen. Ein göttliches Gefühl. Ich dachte nach über die Zeit, das Zeitalter, so vieles war nicht mehr, wie es einmal war. Nein, dieser Gedanke war kein beliebiger Gedanke, war kein Gedanke einer Frau, die das Glück hatte, ein Kind zu gebären, nein, dieser Gedanke war ein viel wichtigerer Gedanke, einer, den ich schon gedacht hatte, als ich durch den Wald lief und die feinen, zarten, manchmal feuchten, schleimigen und immer silbern weißlich glänzenden Muster die Stämme entlang wachsen sah, über alles hinweg; dass die Welt nie mehr die Welt sein würde, wie wir sie kannten, dass das diesmal anders war, dass diesmal ein Kind hineingeboren wurde in ein neues Zeit-Alter. In eins, zu dem wir nie gehören sollten. In eins, das wir nie verstehen sollten, so sehr wir uns auch bemühten. Ein Urschrei durchdrang den Raum, dieser Schrei war mein Schrei, er schrie meinen Mann an, er, der menschlichste aller Schreie, schrie alle im Raum an, er schrie das Baby hinaus und schrie gegen die neue Zeit an, die nicht mehr nur drohend näher kam, die schon über uns hinweggerollt war. Das kleine winzige Baby auf meinem Arm, überzogen mit einem feinen, silbrig weißen, glibbrigen Häkeldeckchen-Muster, schnappte nach Luft. Wir hatten fremdes Leben gezeugt.
Digitale Verzerrung im Raum. Die Pixelfelder verschieben sich. Eine ikosaedrische Sonne erscheint, 56K-Modem-Geräusch als nostalgisches Vogelgezwitscher, ein Tennisnetz, ein Hochsitz, alles, was ein analoges Herz schlagen lässt.
Die Engel der Vergangenheit am Tennis Court, als Zuschauer:innen nun eine Horde Digital Native Gött:innen. Grölen, jaulen, bewerten. Bewerten. Bewerten. Bewerten. A + B versuchen, Neues zu lernen. Halten von Schlägern, Halten von Bällen. Endlich wieder Tennis spielen. Endlich! Endlich ein wenig Gewohntes.
A
MEIN GOTT, IST DAS HERRLICH HIER!
MEIN GOTT, IST DAS SCHÖN HIER.
Da hat man alles, was man kennt.
B
Ich habe noch nie Tennis gespielt.[9]
A
Du hast noch nie … … Tennis gespielt, wie kann man denn noch nie … Also …
So herrlich! DA BLEIBEN WIR.
Dass wir das verdienen!
Sie versuchen zu spielen. Versuchen erst einmal, einen Ball zu halten. Einen Schläger. Dann aber lassen sie die Spiele beginnen.
Was hätten wir ihnen denn geben können …? Hm? Ich will nicht von Schuld … nicht von Schuld, nicht hier, nicht jetzt.
B
Du denkst zu viel.
A
Aber was hätte der Mensch, was hätte der auch, ja, ja, was hätte der denn … damals, was hätte man denn da …, damals, da, da war die Welt, die war da noch so …, RIESENGROẞ,[10] die Welt. Das waren Zeiten, da hat man noch nichtsahnend ins Universum … und konnte nicht lange … da reinsehen, weil da so Fragen … nicht lange, weil, so Gedanken, die kamen da auf, die man gar nicht, nicht richtig, die so eine Funktion eines alternden Hirns … sich da so … in so ein … Kopfuniversum … Da – musste man wegsehen von den Sternenbildern, ganz schnell … von der … Haptik der Dinge berauschen lassen, damit die wieder weggehen, die Gedanken und Fragen und … und vor allem die … zitternden … Aussagesätze in so einem … LEBEN, die einen anschrien und fragten nach dem eigenen … nach den Entscheidungen so eines Lebens … Accchhh!
B
Ich muss einen Witz erzählen. Treffen sich zwei Alte in einer virtuellen Welt. Der eine weiß, so mit weißem Lebenslauf – der andere eben nicht. Treffen sich am digitalen Tennis Court, auf der Suche nach Gott. Aus Versehen kommen sie damit ins Guinness Buch der Rekorde – als »die zwei ältesten Alten in einem virtuellen Spiel« und werden selbst zu Göttern, also unsterblich.
Stille.
A
Schaffen wir jetzt mit diesen Welten, wir da jetzt unsere eigenen … Universen und wenn wir sie, genau, Universen, schaffen, sind wir dann …? Also … maßen wir uns das an? Kann das richtig …? Wo ich nicht mal die Verantwortung für meine Katze tragen konnte, ich weiß noch nicht mal mehr, wie die heißt, die Katze! Ja! So habe ich sie die letzte Zeit immer … Katze, die durfte ja nicht mit ins Heim, da war ihr Name dann auch … egal.
Die Digital Native Gött:innen übernehmen das Tennisfeld und verdrängen das Alter.
ERESCHKIGAL
UND AUFSCHLAG!
A
Wir waren doch immer gute Zeugen.Wir haben zugesehen bei Reisen zum Mond, wir haben Kriege erlebt, Hunger, Leid, die ersten Fernseher … Zeugen, wir waren doch immer gute Zeugen …
DIGITAL NATIVES
SCHULDIG!!![11]
A
Da ist es wieder, in diesem Moment ist es wieder … das Wort Schuld, das drängt sich doch immer wieder … wie so ein kleiner Moskito … … äh … DRÄNGT, mein Gott, sich dieses Wort …
B
SCHMIEGT!
A
SCHMIEGT, sich an mein Ohrläppchen … und sitzt dann fest in meinem … MEIN GOTT,
B
HIRN![12]
A
Hirn! Von dem, was davon übrig … im Laufe so eines … LEBENS! Da ist man ja noch froh, um so ein wenig …
DIGITAL NATIVE GÖTT:INNEN
HIRN!!!
A
HIRN![13] Ja, jetzt. Dass man die einfachsten Dinge, die täglichen Maßnahmen zur Grundversorgung noch selbst … denken kann.
Was habe ich denn da mit Schuld … frage ich mich.
Die Pixelfelder fahren auseinander, die ikosaedrische Sonne verschwindet, Pixelwolken fahren auf, ein winkender Smiley Vollmond schaut wütend auf das Geschehen.
Nach einem 100000:0 gewonnenen Sieg marschieren die Digital Native Gött:innen zurück auf die digitale Tennistribüne. Göttin Ninegal bleibt zurück und beäugt A und B.
Entschuldigung, kleines … »Fräulein«, eine Frage, wir suchen …
B
Gott!
NINEGAL
Welchen?
A
Irgendein Gott, einer, der zuständig ist, vielleicht, irgendwer muss ja zuständig sein, hier.[14]
NINEGAL
Du musst schon wissen, welchen Gott.
A
Den Gott der Jugend vielleicht …
NINEGAL
Ach der, der ist an Altersschwäche verstorben.
A
Ach so … unser Beileid.
NINEGAL
Schon gut … so ist das Leben halt.
A
Ja.
Danke.
NINEGAL
Nicht dafür.
Die Pixelfelder verschieben sich. Zurück zum Traumschloss.
Die Digital Native Gött:innen streiten sich ums göttliche Kollektiv.
ENKI
Das bin ich! Ich bin Gott!
ERESCHKIGAL
Nein, ich bin der Gott!
NISABA
Nein, der Gott bin ich!
NINURTA
Nein, ich! Ich bin das!
INANNA
Ich bin sogar HAUPTGOTT!
NAMMU
Nein, ich! Ich bin der Hauptgott!
ENLIL
Nein, ich! Noch besser, ich bin die Hauptgöttin!
Ich muss die Gedanken für meine Welt umformulieren,
wenn eine Göttin nicht ihre Gedanken formuliert,
für so eine Menschenzukunft, ja wer dann …
ERESCHKIGAL
Und warum bist du jetzt hierDIE Göttin?
ENLIL
Weil einer DIE Göttin sein muss, in so einer Welt?[15]
Weil, wenn keiner Hauptgöttin ist, sondern alle nur irgendein Gott, ja wie soll das gehen? Wie soll das alles laufen?
Wenn keiner das Ganze strukturiert.
ERESCHKIGAL
NUR WARUM DU?
NINEGAL
Warum nicht ich,
NISABA
oder ich?
INANNA
Oder ich?
ENKI
Oder ich?
NAMMU
Ich bin dafür, dass wir alle Haupt sind,
weil das zeitgemäß wäre, wenn wir alle Haupt…
Damit wir alle gemeinsam bestimmen können, bestimmen über diese neue Welt.
ENLIL
Nur so funktioniert das nicht,das geht nicht, dass alle auf einmal Haupt…weil das ist ein Privileg,
das muss man sich erarbeiten, Haupt sein.
Entschuldige, entschuldige. Ich habe verdammt viel dafür bezahlt, dass ICH Hauptgöttin sein kann!
Gott ist eine Frau.
Gott ist jetzt eine Frau.
Gott ist jetzt eine Rachefrau.
Ich habe viel bezahlt für diesen Körper.
Gott ist jetzt eine verdammt wütende Frau
und die Geschichte der Welt,
die schreibt sich jetzt neu,
weil eine Frau die Geschichte neu denkt.
NINURTA
Eine Frau …
NAMMU
Wir müssen neue Namen finden.
NINURTA
Neue Namen brauchen wir,
neue Gedanken,
neues Denken, das ist doch so was von verbraucht …[16]
NAMMU
Wenn Gott, die echte, eine Frau gewesen wäre,
hätte es dann anders ausgesehen auf der alten Welt?
Hätte es Fruchtbäume in allen Parks aller Städte gegeben?
Dass wir nach dem Frühlingswind im Herbstgestöber uns nur gemeinsam hätten treffen müssen, die Früchte unserer Parks zu sammeln?
INANNA
Hätten wir sie zusammen auf den großen Plätzen der Stadt gegessen?
Hätten Bäume wem gehört? Hätte man die dann besitzen können, oder hätten die uns einfach allen gehört, wenn ihnen doch die Welt gehört?
ALLE
Früchte essen für umsonst,
weil’s die einfach gibt auf der Welt.
ENLIL
Da hast du aber nicht genug bezahlt,
in die NFT Märkte hineingezahlt,
nicht genug investiert,
in eine ordentliche Super-GÖTTERTOGA,
investiert,
eine NFT Prada Super-GÖTTERTOGA investiert,
mit deinen Coins,
nicht genug hineingezahlt,
ALSO HALT JETZT MAL DIE FRESSE UND LASS MICH NACHDENKEN!
ICH MUSS JETZT EINMAL DEN FRIEDEN FINDEN,
SATT SEIN, DEN FRIEDEN FINDEN,
UM ÜBER DIE WELT ZU PHILOSOPHIEREN.
Dafür sollten wir jetzt einmal klarstellen,
dass die Hauptgöttin ICH bin, mir egal, welchen Geschlechts.
So.
Punkt.
Lass mich einmal nachdenken.[17]
Über die Welt. PUNKT!
In dieser Welt, hier bei uns,
da gibt es Fruchtbäume, überall, die stehen da.
Die stehen da einfach rum.
Überall.
Alle applaudieren, ob dieser genialen Idee.
ENKI
Wer kümmert sich um die?[18]
Wer säubert die Böden,[19]
und vor allem, wann?
Wer schneidet sie zurück, die Bäume, um ihre Produktivität zu erhöhen?
Und wer stellt sich die Fragen mit dem Ungeziefer, dass die gammelnden Früchte dann anziehen würde und die Parks und Raststätten nicht mehr begehbar wären?
ENLIL
Das macht dann ihr, dann.
Weil ich nachdenken muss, dann.
Das ist schon schwer genug, dann.
Wir müssen zusammenhalten.
Wir müssen zusammenhalten.
Das braucht alles System.
UND BESONDERS EINE FORM DANN!
SO EIN ZUHAUSE!
EINE FORM! EINE SAUBERE, AUFGERÄUMTE FORM![20]
DAMIT MAN DIE GRENZEN ABSCHREITEN KANN, DANN UND WANN.
Weil das ein Grundrecht ist,
das Recht, zu Hause zu sein, ein Grundrecht.
Ich fordere ein Grundrecht ein, im Angesicht der Tatsachen
fordere ich ein Grundrecht ein, nach einem friedlichen Zuhause.
Punkt. Aus.
WEIL ICH WIEDER AN ETWAS GLAUBEN MUSS!!
STIMME AUS DEM ANALOGEN//
SAG MAL, SPINNST DU ODER WAS, HAST DU DEIN KONTO LEERGERÄUMT ODER WAS! HAST DU SCHON WIEDER IN DEIN SPIEL INVESTIERT? MACH DIE TÜR AUF! MACH DIE TÜR AUF! MACH DIE TÜR AUF!!! UND MACH DAS DINGGG AUSSSS! ICH SPERR DICH EIN! ICH SAG’S DIR! ICH SPERR DICH EIN! MACH DIE TÜR AUFFFF!!! MACH DIE TÜR AUF! MACH DIE TÜR AUF! MACH DIE TÜÜÜÜRRR AUFFF!!!
ENLIL
DIE SOLL MICH IN RUHE LASSEN, DIE REALITÄT!!!!
Stille.
Stille.
NAMMU
Was machst du eigentlich so in echt, wenn du kein Befehlsgott bist?
ENLIL
mit tiefer Stimme Du, ich bin Gabelstaplerfahrer …
Logistiker.[21]
Schwere Sachen transportieren und so.
Alle haben sich weggeschlichen,
wie das halt so ist.
ENLIL
mit tiefer StimmeHallo?
HALLO?
HALLO?
HALLLLOOO?
Die Pixelfelder verschieben sich. Ein neuer Tab. Ein neuer Ort. Eine Stadt. Pixelrauch umgarnt die hohen Häuser. Ausrastende Gött:innen auf weiter Flur. Ausrastende Sounds auf noch weiterer Flur. Zwei hilflose Engel der Vergangenheit schauen dem Treiben der Bilderflut zu.
Gewitter. Blitz. Wut liegt in der Luft. Große analoge Wut bricht in die virtuelle Welt hinein.
Gebetsrunde/Aufzählung der Legende.
ENKI
Weiter jetzt!
Kleine Prophetenkinderfinger
tippen, nach einem besseren Leben.
Keine Tippfehler!
Unendliches Flimmern von YouTube Klicks.
Blaues Licht, flackern im müden Gesicht.
Da das Leben ihn nicht schlafen lässt, da, ein schlaffer
Schlaf, der ihn nicht leben lässt.
Er schreibt schreibwütig am Script für eine bessere Welt.
Deniz mit Z!
Deniz mit Z!
Er träumt,
träumt sich fort,
denkt, er denkt,
werden wir eines Tages zusammensitzen,
an einem Frühsommerabend,
alles ausblendend,
bei einem Glas Tee,
auf der Ruine des höchsten Hochhauses, die Köpfe verrenkend,
zusammensitzen,
auf die städtische Ebene sehen,
zurückgewonnen, Bäume überall, Fliegen.
Wird es wieder Fliegen auf der Autoscheibe geben?
Werden wir zusammensitzen und uns gemeinsam erinnern,
an diese Zeit?
Und lachen und gemeinsam lachen.
Ausladend laut auslachen,
uns an den Kopf fassen,
an den Kopf und
erstaunt sein, wie man nur sein konnte so.
Was macht der Mensch für Sachen!
Das ist das mit der Macht.
Wirst du dann noch sein?
Werde ich dann noch sein?
Wird es uns dann noch gegeben haben?
Das Prophetenkind?
Es steht da, noch immer am Fenster,
zehnter Stock.
Es schaut da auf andere Fenster, noch immer,
die Weite verwehrt, immer noch,
schreit es hinaus:
Wem gehört die Gegenwart?
WEM GEHÖRT DIE WIRKLICHKEIT?
KANN DIE WEM GEHÖRN?
[1]
Stimme aus dem Off // Jetzt hör endlich auf und kümmere dich um die wichtigen Dinge im Leben!
[2]
Stimme aus dem Off // NURUNSINNIMKOPF!
[3]
Stimme aus dem Off // Hör auf zu heulen!!
[4]
Stimme aus dem Off // Ein Indianer kennt keinen Schmerz.
[5]
Stimme aus dem Off // Jetzt mal stillhalten!
[6]
Stimme aus dem Off // Alles nur zu Ihrem Besten! Damit Sie lange leben.
[7]
Stimme aus dem Off // Jetzt den rechten Fuß. Genau! Gut gemacht.
[8]
Stimme aus dem Off // Ich mache das nicht sauber! Sie können das dann gerne aufschlecken!
[9]
Stimme aus dem Off // Können Sie das nicht einmal halten? Ja, was können Sie überhaupt noch?
[10]
Stimme aus dem Off // Huhu, sind da noch ein paar Gehirnzellen über? Nutzen Sie die noch? Na also!
[11]
Stimme aus dem Off // Ich bin dann nicht schuld an Ihrem Ableben, wenn Sie die Tabletten nicht nehmen!
[12]
Stimme aus dem Off // Wozu hat Gott Ihnen ein Hirn gegeben? Wie wäre es mal mit Benutzen?
[13]
Stimme aus dem Off // Ihr Hirn hat auch mal bessere Zeiten erlebt, oder? Ein wenig Gehirnjogging würde Ihnen guttun.
[14]
Stimme aus dem Off // Na ja, Sie haben ja nicht mehr lang! Da müssen Sie jetzt auch nicht mehr so viel denken.
[15]
Stimme aus dem Off // MEINGOTT, NICHTS, WIRKLICHNICHTSMACHSTDURICHTIG!!
[16]
Stimme aus dem Off // Werd erst mal erwachsen, dann wirst du schon sehen, wie das ist, erwachsen zu sein!
[17]
Stimme aus dem Off // Kannst du nicht einmal dein Hirn anschalten!
[18]
Stimme aus dem Off // Ich habe mein Leben vergeudet, damit du einmal was wirst, na danke!
[19]
Stimme aus dem Off // Jetzt räum endlich auf! Ich lass dich verhungern! Gibt heut sonst nix mehr!
[20]
Stimme aus dem Off // EINSCHWEINESTALL! EINSCHWEIN! DU! EINSCHWEIN!
[21]
Stimme aus dem Off // Wenn aus dir noch mal was wird! Wenn aus dir überhaupt irgendwas wird!
Virtuelle Wellen durchfluten den Raum.
Alles verschwimmt.
STIMME AUS DEM ANALOGEN//MERYEM/ANA/MUTTER/MARIA
Mit dem Einkehren der neuen Zeit veränderte sich die Welt. Nur tat sie es so bescheiden, dass wir trotz der Schnelligkeit, trotz der alles umwälzenden Veränderungen, noch immer Zeit hatten zu glauben, es sei alles in Ordnung. Meine Spaziergänge draußen in der Natur wurden immer seltener. Die wenigen Momente, in denen ich durch einen Wald oder einen Park lief, war mein Kopf so voller Bilder, Zitate, Gedanken, Nachrichten, Gehörtem, Gesagtem, Verstandenem, Unverstandenem, dass ich im selben Wald die Luft nicht mehr spürte, wie ich sie einst gespürt hatte. Das weiche Moos unter den Füßen, das Rascheln unter der Fußsohle im sanften Herbst, nein, in diesen Malen lief ich durch den Wald, als würde ich durch die grauen Großstadtstraßen laufen. Früher hatte der Wald eine Offenheit, eine Weite in sich, aber dann schien ich nur mehr fähig, in mich zu sehen, nicht mehr hinaus, in mich hinein, ich konnte durch den Wald laufen, um nach einer oder zwei Stunden zufällig zu verstehen, dass ich wieder zu Hause angelangt war, vor dem Hochhaus, in dem wir wohnten, mich kurz umsehend und wundernd über das Verschwinden der Zeit … – –
Ich fuhr mit dem Aufzug hinauf. In den zehnten Stock zu fahren, fühlte sich schon immer an, als entferne man sich vom Sein, weil der Mensch gar nicht gemacht war, so weit oben zu sein. Ich beobachtete meinen Vater, wie er mit seinen hängenden Birnenwangen, der selbst wieder zum Kind geworden, das sogenannte Kind ansah, mit ihm lachte. Mein »Sohn« war zwei oder drei Jahre alt. Er versuchte, meinem Vater beizubringen, auf dem Handy Videos anzusehen. Das dreijährige Kind war zu ungeduldig mit meinem Vater, der es wirklich lernen wollte, um noch teilzuhaben an der Welt. Ich beobachtete ihn manchmal, wie er das Handy nahm, heimlich verzweifelnd versuchte, die Leichtigkeit des Kindes, das Selbstverständnis, die Professionalität im Umgang mit diesen Geräten nachzuahmen. Dann fragte er das »Kind«, bat es um Hilfe, bettelte es an, schenkte ihm etwas, meistens Geld. Dieses sogenannte »mein Kind« im Alter von drei Jahren, hatte etwas in sich, oder an sich, dass es massiv von uns unterschied. Ein neues Mutterland und das waren nicht wir.
Die Pixelfelder verschieben sich. Ein neuer Tab. The Virtual Forest. Smiley Pilze überall.
Pixeliger Farn. Ein Ort also, der Kindheitserinnerungen wahr werden lässt.
A + B, die Engel der Vergangenheit, stehen Hand in Hand und beobachten eine längere Weile eine überdimensionale Wolke, vielleicht auch ein fliegendes Pferd mit rosa Schweif, oder einen Riesenwurm mit Namen »Nimmersatt«, der sich durch die Landschaft frisst.
Ein einsames Bild. Mal kurz Stille. Mal kurz genießen.
B
Treffen sich zwei alte Männer, einer weiß, der andere nicht, treffen sich und suchen nach der ewigen Jugend,[1] um sich zu entschuldigen vielleicht. Sie wollen nicht blind sterben und suchen nach … in Wahrheit nach Vergebung und Unsterblichkeit, vor allem Unsterblichkeit. Am Eingang zum Weg der Sonne sehen sie zwei furchtbare Wesen, halb Mensch, halb Straßenfeger, die den Eingang bewachen.
HORDE DIGITAL NATIVE GÖTT:INNEN
Was ist Ihr Begehren?
A
Wir suchen Gott und wollen nach Leben und Tod fragen.[2]
HORDE DIGITAL NATIVE GÖTT:INNEN
Das ist noch keinem gelungen.
Der Weg steht euch frei.
Da ist noch keiner herausgedrungen.
Atmet langsam in der zweispurigen Tunnelstraße,
nach zweimal zwölf Stunden durchgerungen,
in absoluter Finsternis setzt Dämmerung ein. Nach noch mal zweimal zwölf Stunden, die Lunge durchgewrungen, von Feinstaub umschlungen, wird es hell, und der Held gelangt in einen Garten, viel besungen. Dort sitzt sie, Nammu, die Mutter der Urmeere …
Mit Namen: Nammu, die Mutter der Urmeere …
B
Ah danke! Von den Straßenfegern bekommen sie eine Information und wandern weiter.
A
Durchqueren Meere, umschiffen schwimmende Müllhalden einer kapitalistischen Parallelgesellschaft. Sie benutzen Hemden als Segel, zerschlagen steinerne Riesen und so weiter – ich halte mich kurz – und treffen auf einer einsamen Autobahnraststätte auf einen Mann, halb Gott, halb Mensch. Dieser Halbgott mag die beiden Alten.
Er gibt ihnen einen Tipp, für den sie ihr gesamtes Erspartes und ihre Rente als Gegenleistung hergeben müssen.
B
Weil: Nichts ist umsonst.[3]
A
Er nennt ihnen also den Standort einer Bar. Eine räudige Bar mit Rabenkopf am Eingang, einer, mit dem man klopfen muss und nur hereingelassen wird, wenn man irgendetwas entspricht und die Wächter nicht Racial Profiling betreiben.
Horde Digital Native Gött:innen buhen laut aus dem Hintergrund.
Und man dann, ist man erst mal drin, darin den Cocktail des ewigen Lebens bestellen kann.
Die Geschichte spielt zur Abwechslung mal nicht im Westen.
B
Sicherheitshalber klopft also der alte nichtweiße Mann an die Tür, um eine Abweisung zu verhindern.
Stille.
A
Er, das alte nichtweiße Menschenkonstrukt, wird hineingelassen. Mit dem Cocktail in der Hand laufen sie die gesamte Strecke wieder heim, voller Vorfreude, voller Lebendigkeit, fast jugendlich.
B
Angekommen in ihren Heimzimmern, treffen sie sich im Aufenthaltsraum und stellen den Cocktail des ewigen Lebens ab.
A
Dann aber das mit dem Urin, der denkt, er wäre ein fortwährender Wasserfall, der nie aufhören kann zu plätschern, und dem Anusmuskel, der nicht mehr hält, was er verspricht, rennen sie in ihrem greisen Tempo noch mal kurz aufs Klo.
Sie machen es schnell, voll kindlicher Nervosität, eine Hoffnung in sich tragend, und rennen schlurfend, zwei Schritt vor, vier zurück, in ihren Aufenthaltsraum. Dort sehen sie einen 17-jährigen Angehörigen. Ein weltweit erfolgreicher Onlinemanager, der, durch das ganze Reisen und all die Termine und ja auch einer modernen Gleichgültigkeit wegen, nur alle zwei Jahre vorbeikommt, um nachzusehen, ob seine Mutti noch atmet, der nun kettenrauchend dasteht und am letzten Schluck des unendlichen Lebens genüsslich schlürft und …
Oh!! Ich muss aufs Klo![4] Dringend! Das ist das eigentlich Wichtige, das aufs Klo ich … komme, bevor es mir wieder zuvor… kommt. HERRGOTT! Sogar hier muss ich aufs … Klo!
B
Kannst du das nicht halten, für noch einen Moment?
A
Ich würde es aufschieben, einen Riegel vor… nur fragt das nicht, und weil’s nicht … ist das doch eben dann ganz gut, dass ich davor eben noch selbst … wann es kommt, da selbst … dass das nicht auch einfach über mich … dass ich da selbst …!
B
Ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich entscheidest,[5] das Pinkeln hat sich ja angemeldet und gesagt, ich komm jetzt dann.
A
Darüber kann ich jetzt nicht …
weil’s grad schon nicht mehr nur sich … meldet,
das macht sich jetzt auch schon … bemerkbar.
Ich muss aufs … Klo!!!
Sein Körper schlaff, die Brille ab.
Aus dem Off:
STIMME AUS DEM ANALOGEN//A
Schnell.
Ja, schneller.
Ja, passen Sie doch … auf!
Herrgott!
ICH KANN DAS SELBST HALTEN!
ICH HALTE DAS SELBER!
Das hatte mal eine …
das da unten, eine funktionierende Funktion,
auch wenn’s nicht mehr so aussieht,
JETZT SCHAUEN SIE MIR DA NICHT HIN! Ich warne Sie!
AU!
Sie tun mir …!
SIE TUN MIR …!
JETZT LASSEN’S MEINEN ARM LOS!
AUA!
AU!
Entschuldigung!!
AU!
Es tut mir … es tut mir leid!
Ich wollt nicht schreien.
Ahhh AU!!
Schon gut.
AUA!
Entschuldigung.
Stille.
Jetzt bitt ich Sie mich kurz allein, auf dem Klo, da kurz allein … weil, ich kann das wirklich schon … das, selber, das kann ich schon, seit ich drei bin, drei, seit also 77 Jahren.
Ich bin also ferner am ersten selbständigen Klo-Gang dran,
als Sie fern von ihrer … Pubertät.
Mein erster eigener Klo-Gang ist näher am Zweiten Weltkrieg dran, als Ihre Entfernung vom ersten Roboter auf dem … Mars.
Also lassen S mich bitte in Ruh und vor allem …
mein Geschäft … allein machen.
BITTE DANKE!
A kommt zurück. Setzt die Brille auf, fällt aber hin.
A
Au! Ich bin hingefallen!
B
Ja, steh doch auf.
A
JA, WIEEE???
A liegt da, wie ein Tierchen, wie ein Insekt, vielleicht auch wie eine Schildkröte, die auf ihren Panzer gefallen ist. Er versucht, sich aufzuraffen. Er schafft es nicht.
Die Pixelfelder verschieben sich. Ein neuer Tab. Ein neuer Ort. Die liebliche Süße des wunderschönen Waldes löst das Dunkle einer virtuellen Grotte ab.
Der Engel der Vergangenheit, A, liegt noch immer da.
ERESCHKIGAL
zu A und B Oh, man!
Die Alten sind alt.
Die Neuen immer neu,
am Neuanfang!
Und schon wieder die Alten,
was machen die alten Geister in der neuen Welt?
Die Toten
sind doch tot.
Schuldige,[6]
schuldig,
schuldhaft,
schuldvoll,
am schuldigsten.
Die jucken mich doch gar nicht,[7]
die Untoten,
die alten Geister interessieren mich nicht.
Die Welt,
interessiert mich nicht, die alte Welt.
Wozu sich die Fragen stellen nach Natur,
nach verseuchten Gewässern.
Nach Müllbergen.[8]
Atombunkern.
Abgasen.
Atombomben.
Toten.
Seuchen.
Wozu?
Wenn ich jetzt hier,
das bessere Haus,
die bessere Natur,
der bessere Mensch,
was interessiert mich diese uninteressante,
uninteressierte Welt.
Was brauch ich schon, die Welt!
Wenn ich exakt hier, nachhaltig sein kann.
Wenn ich exakt hier, keine Natur zerstören muss.
Wenn ich exakt hier, alles haben kann,
was soll ich da noch, freitags auf die Straße gehen,
was soll ich da noch, politisch werden,
was soll ich mich da, um Kranke kümmern,
was soll ich mich da, um Bäume sorgen,
die Scheiße meines Hundes, in rote Plastiktüten packen.
Was soll ich da aufs Klo, so primitiv, das Klo!
So ein Menschenkörper,
so ein analoger Fleischkörper,[9]
was unterscheidet den, von einem Auto?
So primitiv, mein Gott.
Du steckst was rein, damit es läuft,
du steckst was rein, damit es läuft.
Wenn jetzt schon hier, die absolute Anwesenheit,
das absolute Fühlen also,
fast das absolute Sein also,
wenn jetzt schon hier, die Nachhaltigkeit,
wenn das jetzt schon möglich ist, dann …
Was ist in fünfzig Jahren los …
wenn man den Fleischkörper gar nicht mehr braucht.
Wer kann da noch mit Gewissheit sagen,
dass die alte Welt,
nicht auch schon eine gewesen ist …
wer kann das sagen?
Das kann doch niemand mehr sagen,
dass all das, all das,
was mir beigebracht wurde,
angeraten,
zugetragen,
vorgetragen wurde,
dass das alles nur eines ist:
Ein Scheiß!
Ein Scheiß!!
Ein Scheiß![10]
Deshalb ist das hier,
nicht der Endpunkt von Wirtschaftskollapsen,
das Ende aller menschlichen Sorgen,
ist das hier, nicht das Sanatorium für abgewirtschaftete Seelen,
– ist das hier, ein Resultat,
Ist das hier, der Urururenkel von Ödipus,
der hier die Anklage von neuem erhebt,
obwohl er doch erst am Anfang steht.
– Das hier ächzt noch keuchend unter der Vergangenheit.
Das hier ist der Ort, wo man Sätze hinausschreien muss,
die viel zukünftiger sind als man selbst.
Die Zukunft ächzt und raunzt,
UND SCHREIT UNS AN: DIE ZUKUNFT IST VORBEI!
Wann wurde sie zum Mann? Die alte Welt.
Wann wurde sie, die Welt, zum erwachsenen, alten, stinkigen Mann.
Wann wurde sie, die ganze Welt, kongenial kolonisiert.
Komplett durch die Fressen, die fressen alle mit Gabeln,
nur manche nicht,
die sitzen auf Stühlen, nur manche nicht,
die sitzen alle beim Kacken, nur manche Verkackte nicht.
Und jetzt kommst du …
und jetzt du.