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Von denen, die wir mögen und die trotzdem nach rechts abdriften, von Safer Spaces, die bei aller Gleichheit uneins sind, von Gewissenhaften, die den Krieg niemals für beendet erklären können, von einem Mädchen mit Hutschachtel, das den Holocaust überlebte, von gespensterhaften Spurensuchern in der Vergangenheit und einem queeren Frühlings Erwachen mit schmerzhaftem Verlust. Von diesen und anderen Krisen erzählen die neuen Theaterstücke der Dramatischen Rundschau 06 poetisch, dokumentarisch und bei aller Tragik immer wieder auch sehr komisch. Mit Stücken von Anaïs Clerc, Lamin Leroy Gibba, Jakob Nolte, Lisa Sommerfeldt, Guido Wertheimer, Leonie Lorena Wyss und Illustrationen von Johanna Benz. Anaïs Clerc: faulender Mond / Lamin Leroy Gibba: Doppeltreppe zum Wald / Jakob Nolte: Der Krieg ist vorbei / Lisa Sommerfeldt: Mädchen mit Hutschachtel / Guido Wertheimer: Wir werden diese Nacht nicht sterben / Leonie Lorena Wyss: Blaupause
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Seitenzahl: 332
Anaïs Clerc | Lamin Leroy Gibba | Jakob Nolte | Lisa Sommerfeldt | Guido Wertheimer | Leonie Lorena Wyss
ANAÏS CLERC Faulender Mond
LAMIN LEROY GIBBA Doppeltreppe zum Wald
JAKOB NOLTE Der Krieg ist vorbei
LISA SOMMERFELDT Mädchen mit Hutschachtel
GUIDO WERTHEIMER Wir werden diese Nacht nicht sterben
LEONIE LORENA WYSS Blaupause
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Warum schreiben?
[Kapitel]
Anaïs Clerc
Faulender Mond
[Personenverzeichnis]
EINS, EINS
SIE SPIELT
EINS, ZWEI
EINS, DREI
ZWEI, EINS
ANTJE SPIELT
ZWEI, ZWEI
ZWEI, DREI
DREI, EINS
DREI, ZWEI
DREI, DREI
EIN UNGEBORENES KIND
[Illustrationen]
Lamin Leroy Gibba
Doppeltreppe zum Wald
[Personenverzeichnis]
[Anfang]
[Illustrationen]
Jakob Nolte
Der Krieg ist vorbei
[Personenverzeichnis]
ERSTE SZENE
ZWEITE SZENE
DRITTE SZENE
VIERTE SZENE
FÜNFTE SZENE
[Illustrationen]
Lisa Sommerfeldt
Mädchen mit Hutschachtel
[Personenverzeichnis]
1. PROPAGANDAFILM
2. ZU HAUSE
3. GURS
4. JULIE
5. HEINZ
6. EDITH
7. NEW YORK
8. WIEDERGUTMACHUNG
9. TÖCHTER
10. LONG ISLAND, NEW YORK
11. VERGEWISSERUNG
12. STOLPERSTEINE
Anhang
Zeittafel
[Illustrationen]
Guido Wertheimer
Wir werden diese Nacht nicht sterben
[Widmung]
[Motto]
Prolog
I FEBRUAR 2020
II MAI 2020
III AUGUST 2020
IV FEBRUAR 2021
V JULI 2021
VI DEZEMBER 2021
VII MAI 2021
VIII NOVEMBER 2021
IX DEZEMBER 2021
X JANUAR 2022
XI MAI 2022
EPILOG
[Illustrationen]
Leonie Lorena Wyss
Blaupause
[Mottos]
1
2
3
4
5
6 BUM BUM EIS – INTERMEZZO
7
8
[Danksagung]
[Illustrationen]
Quellenhinweise und Erstaufführungsdaten
[Publikationen]
[Kapitel]
[Folgen Sie uns]
(…)
Ich bin keine Klassenaufsteigerin, keine Bildungsaufsteigerin, meine Mutter hat studiert, und meine Familie hat mein Studium gefördert. Trotzdem hat es knapp drei Jahrzehnte gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich Autorin werden darf, dass das geht, als Bauernenkelin, als Fischkopp, als Schwester von drei Bauarbeitern – und als Mädchen. Autorin –, das wird man nicht einfach, weil man das will, das ist man, weil man das ist, und ich dachte jetzt nicht, dass ich das sei. Schriftsteller, das waren für mich Günter Grass und Thomas Mann, Goethe, Schiller, Eichendorff. Und dann und wann auch eine Frau, Ingeborg Bachmann oder Marie Luise Kaschnitz, die waren sehr besondere Ausnahmen, dachte ich, denn Literatur, in meinem Kopf war das sehr lang eine Domäne der Männer. Wie ja eigentlich fast alles. Und ich war eine kleine Caren Erdmuth, die spielte Klavier und pflückte den Giersch für die Kaninchen, die es dann sonntags zu essen gab, und ich schrieb später dann auch vor mich hin, aber das machte mich ja nicht direkt zur Autorin. Ein unreflektiertes Gefühl von Minderwertigkeit als Ergebnis transgenerationaler Zusammenhänge hielt mich davon ab, Kunst, Autorschaft als ernsthaften Berufswunsch zu begreifen.
(…)
Meine älteren Brüder sind beide Straßen- und Tiefbauer, der jüngere ist Elektriker. Sie haben andere Lebensrealitäten. Und ich bewege mich gern in verschiedenen Realitäten. Ich bin kein Fan vom Verharren in der eigenen Bubble, vom ständigen weichen Aufprall gegen das immer Gleiche, das Bekannte, das Gären im eigenen Saft. Das Betreten verschiedener sozialer Räume schafft nicht nur wertvolle Begegnungen,
sondern spiegelt Diversität. Hier entsteht Reibung,
hier geht was los,
geht was auf, ja,
hier öffnet sich was.
Hier findet Austausch statt, der auch mal unbequem ist, und ich kann auch nicht sagen, dass mir das immer gefällt, aber ich kann sagen, dass ich das brauche. Soziale Unterschiede treiben mich um und lassen mich nicht los. Die Welt ist mehr als der Echoraum unserer Privilegien. Und sie endet auch nicht an den Pfählen politischer Korrektheit, auch wenn wir uns eine gerechtere Welt mit lieberen Menschen wünschen. Keine Sorge, ich plädiere nicht für politische Unkorrektheit. Ich bin aber überzeugt davon, dass die Regulation von Sprache die Diversität sozialer Gruppen teilweise verkennt, mindestens aber unterschätzt. Solange Strukturen ungerecht bleiben, wird es das Bedürfnis geben, dagegen aufzubegehren, und einigen Menschen bleibt oft nur das Mittel der Sprache, um sich zur Wehr zu setzen. Beleidigungen sind oft Ausdruck von Aggression durch Hilflosigkeit. Ich will es nicht bagatellisieren. Im Gegenteil. Sprache, ich sagte das bereits, kann gewaltsam sein und Macht ausüben. Sie ist Erzeugnis sozialer Kontexte. Aber ich finde elementar, dass die künstlerische, die literarische Sprache frei bleibt. Wenn ich ein Theaterstück in einem schwachen sozialen Milieu spielen lasse, kann es erforderlich sein, dass sich seine Figuren beleidigender Sprache bedienen. Das ist ja eigentlich klar. Dennoch nehme ich im Kollegium wahr, dass Autor:innen vorsichtig werden, sich im Zweifelsfall lieber für ein in dieser Hinsicht unverfängliches Thema entscheiden. Ich zweifle aber grundsätzlich am Konzept der Vermeidung.
Was ist »gute literarische Sprache«? Ich glaube, gute Sprache ist die, die zuhört. Zuhören schult ein gutes dramatisches Sprachvermögen. Wie reden die Menschen an der Uni, im Dschungelcamp, in der Förderklasse, auf dem Bau, wie reden sie in der Kneipe, am Arbeitsplatz, in der Raucherecke, wie reden sie in ihrem Lifestyle-Podcast, auf einer Podiumsdiskussion, wie reden sie miteinander über andere, wie reden sie mit Mama, wie mit dem kleinen Bruder, wie mit dem Nachbarn, wie reden sie mit sich selbst. Wir betreiben Codeswitching, wodurch wir uns über bewegliche Grenzen hinweg begegnen. Das diverse Spektrum sprachlicher Codes ist fürs Schreiben weitaus wertvoller als die Kenntnis, dass die Präposition »wegen« mit dem Genitiv gebildet wird. Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, ok, aber auch der Tod gehört zum Leben, Bastian Sick, so what, dyslexics have more fnu. Schreiben ist nicht die epigonale Nachahmung von Literatur, die sich längst bewiesen hat. Schreiben gehört nicht allein dem Bildungsbürgertum. Gutes Schreiben ist nicht konservativ wohlformulieren.
Vokabeln wie toxische Farbbeutel,
Sätze wie sanfte Hände,
Dialoge wie Tennis oder Schach,
die verbale Gewalt des Pöbels vor den Grenzzäunen der Bourgeoisie,
politisches Gaslight,
love speech,
hate speech,
dirty talk,
all das begeistert mich, dieser Reichtum an mündlicher Sprache, diese Vielfalt, die dramatisches Schreiben für mich aufregend und unberechenbar macht, die sie vitalisiert.
Einen sensibilisierten Umgang mit Sprache finde ich sinnvoll. Dass wir einander mit Worten nicht verletzen, lohnt sich zu lernen. Ich bin jedoch skeptisch, wenn ich das Gefühl habe, die Nomenklatur korrekter Sprache dient mehr dazu, sich hinter ihr zu verstecken, eine bloße Positionierung zu markieren. Schließlich dient Sprache auch immer der Selbstprofilierung.
Bei literarischer Sprache halte ich es für elementar, zu fragen, wo sie herkommt und was sie will. Ist ein Stück hoffnungslos veraltet und reproduziert irgendeinen Müll, der längst obsolet ist? Will sie ixothym etwas verteidigen, über das man einfach mal hinwegkommen sollte? Oder verfolgt der Text mit seiner Sprache eine bestimmte Absicht, intensional oder ästhetisch? Stellt er sich mit Neugierde diffizilen Problemen und muss den weidwunden Leib dafür einmal auf die Bahre wuchten, das Übel exponieren? Dann sollten wir uns die Sache zumindest ansehen.
(…)
Ich glaube, erst die Mannigfaltigkeit der Sprache verschafft Erkenntnisgewinn und vermeidet Unterkomplexität. Und das Theater darf kein braver Spießer sein. Seine Sprache ist kein Stall Kaninchen, die man zähmen kann. Sie wird sich widersetzen. Immer. Und sie wird sich stets wandeln. Sie ist also gar nicht zu fassen, nicht zu begreifen, sie ist organisch, lebendig und nicht faktisch. Sie hat enorme Superkräfte, mit denen sie sich über Grenzen hinwegzusetzen vermag, mit denen sie über Mauern fliegt, durch Wände geht, Dimensionen von Zeit und Raum unterläuft, sich wirklichkeitswidrig Fakten verwehrt, sie kann stützen und stürzen, motivieren und verletzen, sie kann empowern und fürsorglich sein. All ihre Kräfte sollten wir ernst nehmen, wenn wir mit ihr umgehen. Sprache birgt einen großen Reichtum, und Reichtum birgt Gefahren. Wer will, dass Sprache Falsch und Richtig markiert, will nicht viel von Sprache. Das Schlechte bleibt in der Sprache, solange das Schlechte in der Welt bleibt.
Eine andere Sprache, literarisch wie alltäglich, die mich sehr interessiert, ist die akademische Sprache. Gegen die man sich in meinen Augen übrigens genauso auflehnen darf wie gegen vulgäre Sprache. Weil sie Grenzen markiert, insofern sie ein gewisses Bildungsniveau voraussetzt. Sie kann als Distinktionsmittel fungieren. Insofern erweist sich auch die akademische Sprache als Machtinstrument.
(…)
Ein Text, der sagt: Mich musst du erst mal verstehen, wenn du mit mir reden willst, ist autoritär. Fachsprache wie Fremdwörter im Allgemeinen helfen der Differenzierung, sie ermöglichen Genauigkeit in Deskription und Deutung. Oder aber wie meine Großmutter gesagt hätte, »Ja, ja, dat hett allns sin Wissenschaft …« Meistens sagte sie das, wenn sie auf Situationen keinen Bock mehr hatte und langsamen Schrittes den Raum verließ. In meinen Ohren stets eine Paraphrase für »fickt euch doch«.
(…)
Zitieren ist etwas Ambivalentes, finde ich. Es kann der Untermauerung von Inhalten dienen, nicht selten dient es aber auch der Nobilitierung von Text. Als könnte ein Text erst schwerwiegend sein, nachdem er sich am Steinbruch der Geistesgeschichte und -gegenwart bedient hat. Das Zitat als ideelles Statussymbol irritiert mich. Es ist toll, dass es das alles gibt, ja, Goethe, Brecht, Foucault, aber Jetzt ist Jetzt, und die Toten zu zitieren, bedeutet immer, die Distanz zu ihnen fiktional auszufüllen. Ein historisches Zitat ist stets aus seinem Originalkontext demontiert und in eine neue Situation montiert; zwangsläufig modifiziert sich dabei das Gesagte, es vollzieht sich eine kulturelle Transferleistung. Und die ist spannend, mithin wird sie selbst Kunst, mindestens Mehrwert – aber ich ärgere mich über das Zitieren als intellektuellen Schmuck. Ich finde es problematisch, wenn Zitate Bildungsgrenzen markieren. Wenn sie nicht einfach nur der saftigen Bereicherung dienen, sondern dem Zweck der Selbstprofilierung genügen. Das Zitat kann Ausdruck bildungsbürgerlichen Dünkels sein, es kann aber auch die geile Frucht sein, auf die du in einem Text gestoßen bist und in die du hineinbeißt und aus der dann der Saft der Erkenntnis fließt, dir ein Aha-Erlebnis beschert, das du gerne teilen möchtest, und dessen Urheber:in du unbedingt nennen möchtest, um gebührenden Respekt zu zollen.
Wenn du aber ein Zitat benutzt, dessen Inhalt du selbst schon gedacht oder empfunden hast, kann es sein, dass das Zitat nur dem Marketing deiner Rhetorik dient. Dann brauchst du es eigentlich nicht. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Sag ich immer. Aber ach, ich will Sie nicht belehren. Ich will Sie nur dazu ermutigen, mit offenem Herzen durch die Welt zu gehen und die Inspiration durch ein merkwürdiges Erlebnis an der Eisdiele genauso ernst zu nehmen wie einen tollen Satz aus einem Buch. Außerdem will ich dafür plädieren, in Literatur das Geile zu suchen, das für Sie individuell Packende, und nicht das Gefühl der Verpflichtung zur kulturellen Bildung.
(…)
Es ist super, dass hier jedes Semester Schriftsteller:innen sprechen dürfen (Universität Duisburg-Essen, Anm. d. Red.), um ihre Poetologien zu vermitteln. Wir Gegenwartsautor:innen sind verfügbar, wir sind präsent und reagieren mit unserer Kunst auf das, was gerade passiert. Wir sind da. Wir sollten wie Blut durch die Literatur- und Theaterwissenschaft fließen. Wir geben Aufschluss über die Toten. Ich meine das nicht so pathetisch, wie es klingt. Im Gegenteil, eher fast will ich, ganz vorsichtig, die Literatur etwas profanieren, zumindest von ihrer kulturalen Glorifizierung und der Verteidigung eines literarischen Bildungskanons ablenken und mich für ein Bild von Literatur als nahbarer, aufregender Gegenwartskunst einsetzen.
(…)
Caren Jeß
Auszüge aus ihrer Poetikvorlesung I
Universität Duisburg-Essen, April 2024
Anaïs Clerc, geboren in Fribourg, studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. In der Spielzeit 2022/2023 absolvierte sie das Förderprogramm Dramenprozessor des Theaters Winkelwiese. Weitere Stipendien und Auszeichnungen: 2022 Sonderpreis für Schreiben für Junges Publikum, Osnabrücker Dramatiker:innenpreis gemeinsam mit Yazan Melhem für die gegangen sind, Hausautorin am Schauspiel Bern (Spielzeit 2023/2024), 2024 Einladung zum Heidelberger Stückemarkt mit brennendes haus, gleichzeitig wurde das Stück mit dem Preis des Nachwuchswettbewerb Theater Drachengasse ausgezeichnet. faulender Mond wurde am 12. Oktober 2024 am Stadttheater Gießen in der Regie von Amelie von Godin uraufgeführt.
Der Mond am Himmel war schon immer da. Er beobachtet uns, er sieht alles. Für Antje und Sie zeigt sich der Himmelskörper in verschiedener Gestalt. Für Sie als ungeborenes Kind im Bauch, das sie verliert. Für Antje als Big-Moon-Joker, dem Spielautomat, bei dem sie zu häufig nach den Sternen greift. Nach ihren Verlusten finden sie Zuflucht, finanzielle Sicherheit und einen Alltag in der Fleischerei. Sie wetzen die Messer, teilen die Koteletts entzwei, jagen Rind und Schwein durch den Fleischwolf, belegen lustige Sandwiches. Doch wem gehört eigentlich die Fleischerei? Wer gibt den beiden ein kleines Stück Hoffnung in einer ungerechten Welt? Wo sollen sie hin, wenn auch die Fleischerei von innen heraus faul ist? Ist die Welt verroht, bleibt nur noch der Ausweg hoch zum Mond.
ANAÏS CLERC
SIE
ANTJE
KIND (ungeboren)
BIG-MOON-JOKER (Spielautomat)
/ markieren kurze Pausen oder ggf. Überlappungen.
Musiklinks dienen zur Inspiration.
Der zweite Teil darf ausschließlich im Zusammenhang zum dritten Teil aufgeführt werden. Grund dafür ist eine Verhinderung einer möglichen Verzerrung.
Der Spruch an der Wand kann einer der folgenden sein:
»Die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.« – Alice Weidel
»Drecksack-Antifakindern bekiffter Eltern gehört eine verpasst und sie in den Dreck geworfen. Ihnen gehört gedroht, dass sie nächstes Mal unter der Erde liegen.« – Egbert Ermer
»Wenn jemand kommt und den ganz großen Knüppel rausholt und das damit schafft, innerhalb von zwei Tagen zu beenden, bin ich sofort dabei.« – Beatrix von Storch
Mit dem Zitat ist sorgfältig umzugehen.
S
ANTJE und SIE bereiten Wurstfachwaren vor.
A
Bockwürste, Leberkäs, Rindergulasch.
S
Alles gestorben.
Eisbein, Kalbsfleisch, Salami.
A
Alles tot.
Was übrig bleibt, geht zum Wurstsonderpostenmarkt um die Ecke.
S
Und wird von den Wurstsonderpostenmarktbesucher*innen verzehrt.
BEIDE
Blut, Arbeit, Leben.
A
Ach, Mädchen. Ich habe dir doch schon fünfzigmal gesagt, du musst das kleiner schneiden. Schau mal hier /
und hier /
so wird das gemacht, so ist es richtig.
S
Ich gebe mir ja Mühe.
Das weißt du ja, dass ich mir Mühe gebe, fuck!
A
Mühe, ha! Mühe!
Davon kaufen sich die Menschen nicht ihr Essen, Kindchen.
S
Nein. Aber dass ich mir Mühe gebe /
das kann man ja dann auch einfach mal sehen und / merken, oder!
A
Das / das hier /
nennst du dir Mühe geben? /
Bist wohl abgelenkt – Denkst du wieder nur an diesen /
an diesen MANN!
S
Ist halt ein Sandwich /
Einfach nur ein Sandwich.
A
Gib’s wenigstens zu, wie du dich mit ihm durch die schmutzigen Bars schleppst und säufst, während die alte Antje auch noch deinen Teil wegarbeiten muss!
S
Du bist doch gar nicht sooo alt!
A
ANTJE macht aggressive Sandwiches.
S
Du ziehst dich nur an wie aus dem letzten Jahrhundert.
A
Was?!
S
KiK ist kein Kleiderladen, Antje.
Müller ist keine Parfümerie.
Du bist keine Lady /
Sondern eine Wurstverkäuferin.
A
Bin ich bescheuert, oder stehen wir beide hier?!
Pause.
Nimm deinen Kopf aus deinem verwöhnten Gesäß.
S
Okay, okay.
Akzeptiert.
Sorry.
A
Ja, sag ich doch. Verstehst du, so? So ist es schön.
Ja, so ist es FEIN. Wetzwetzwetzwetz.
S
Dann muss ich jetzt nur noch jeden Abend eine Nikotinduftkerze anzünden, einen Til-Schweiger-Film ansehen /
dann bin ich genauso wie DU!
A
ANTJE wirft den Fleischwolf an und fleischt hemmungslos. Wrrrrmmmm wrrrrrmmmm prrrrrreeeeeeeess.ANTJE wetzt ein Messer und schneidet einen Rippenknochen entzwei.
S
Du weißt / du bist die Einzige, mit der ich noch zusammenarbeiten kann.
Ich habe es nicht böse gemeint.
Antje? Antje?
A
Pha!
Denkst du, dass irgendjemand noch mit DIR arbeiten mag?!
Ich verstecke meine Meinung vielleicht nicht.
Aber über dich sagen sie, dass du ein faules und unfreundliches Stück bist, das gerne etwas Besonderes wäre.
Awh / kannst du das bitte übernehmen, das ekelt mich / das kann ich nicht, das mag ich nicht, das ist ja / RICHTIGES Blut … La / la / la …
S
SIE schneidet einen ganzen Schweinekopf voneinander.
Ich weiß, dass die anderen auf mich eifersüchtig sind, das weiß ich ganz genau.
Siehst du das hier, Antje? Hast du mal Animal Farm gesehen? Weißt du, warum niemand mit dir zusammenarbeiten mag?
Weil du ein Schwein bist, ein kleines Schwein mit einer schweinigen Meinung zu politischen Dingen /
Antje bewirft Sie mit Mettbrötchen oder mit einem Gewürzbauch.
Das kann jetzt nicht den ganzen Tag so gehen.
Oder?
Ach, Antje!
A
Wie du hier gelandet bist, das würde mich echt interessieren, Mädchen.
S
wendet sich schnell ab, schneidet lustige belegte Brötchen. Brötchen mit Tierchen fürs Pläsierchen.
Sag ich nicht. Sag ich niemandem.
Schau mal, hihi, der Bär kehrt zurück.
Habe ich gelesen, dass Wildtiere wieder vermehrt nach Europa kommen, auch der Adler und /
es gibt auch neue Bestimmungen gegen die Überfischung, hast du das gewusst?
Das habe ich heute gelesen und gedacht, dann kann doch alles wirklich gar nicht so schlimm sein.
A
Du seist einmal Künstlerin gewesen, einmal ganz kurz /
das hat mir jemand erzählt.
Wölfe kommen dann auch zurück?
Haha, Schauspielerin oder so. Ich mag Wölfe. Und Löwen auch.
S
Sag ich nicht.
A
So musst du das /
schneiden
ausschaben
weiden
Siehst du, so.
Haha, Schauspielerin.
S
Und wenn schon.
A
Man sollte sich nicht dafür schämen, was man ist, nie.
S
Ist das eine von diesen Lebensweisheiten, die du aus dem FLOW-Magazin ausschneidest? Jeden Tag ein liebes Wort für dich selbst?
GROW – GLOW – SLOW.
HILFT’S?!
Es ist wieder so weit, ich bin wieder an diesem Punkt.
Und Bauchweh habe ich auch, so ganz Komisches.
So niedrig, hier so und so / ein Zerren.
/
Ich habe es wirklich überall probiert.
/
Ich habe es bei Wandergruppen probiert und bei einem Zirkus für Jugendliche und bei jedem einzelnen, bei jedem noch so kleinen Haus. Ich habe es bei unkonventionellen Gruppen probiert und ich habe sogar
/
Hallo, Holiday Inn, brauchen Sie eine Animateurin? Für den Sommer vielleicht wenigstens?
/
Sie sagen, es ist ihnen zu abbildend, sie sagen, es ist ihnen zu / EPISCH.
Sie wollen Textflächen, in denen Pferde mit Topfpflanzen tanzen und Schmetterlinge gegen Magersucht kämpfen, und eine antike Figur schenkt mir einen Fruchtsaft, und sie sagen mir /
In diesem Vorgang kannst du jetzt Gefühle abbilden /
FÜHLST DU DENN GAR NICHTS DABEI /
und ganz ehrlich /
nein, DABEI empfinde ich schon lange nichts mehr. Was ist denn das / was haben denn Fruchtsäfte / für eine / für eine
DRINGLICHKEIT?!
/
Dann sage ich, dass ich eben ein konkreter Mensch bin, eine konkrete Rolle will in diesem Leben, etwas, an dem ich mich festhalten kann, dass ich einer von diesen Menschen bin, der sich unbedingt festhalten muss und die angefangen haben, zu spielen, um sich festzuhalten, und dann sagen sie /
dann sage ich, dass ich einfache Kunst für einfache Menschen machen will, dass ich etwas machen und spielen will, was alle verstehen und dann /
sie sagen dann, das ist nicht mehr Theater, und das reicht nicht, und das ist kein Stück, und ich /
ich weiß es nicht / alles, was ich weiß /
dass ich doch immer so viel Hunger habe.
Ich habe sogar bei McDonalds einen Burger von dem Tablett einer anderen Person gestohlen und /
hast du wirklich gar keinen Job für mich?
/
Etwas Kleines. Irgendetwas. Ich will nicht weg von der Bühne, ich gehöre doch hierhin. Ich bin doch /
eine Figur.
/
12,50 die Stunde?
/
Das ist fair. Ja, doch, das werde ich machen, 20 Stunden die Woche klingt gut.
Eine Garderobe. Einige Mäntel, aber noch nicht genug. Es sind nie genug.
S
Hallo, guten Abend. Einen Euro dann gerne und hier ist Ihre Marke.
Tommy Hilfiger, Nummer 68.
Lacoste, Nummer 31.
H&M Kunstpelz, hier ist die Nummer 101.
Hunger Hunger Hunger
Hunger /
K
Hunger Hunger hat sie mit mir.
Nur wenn ich nicht hungrig bin, ist es warm, ist es ruhig, ist es voll. Ist es rosa und rot und feucht. Feuchtwarm, angenehm, wohl.
Da, wo ich bin, muss ich mit niemandem teilen. Es ist meine Sphäre, mein Saft, in dem ich mich ganz alleine befinde, und da wo ich bin /
muss ich nichts und kann nur liegen und warten, und ab und zu krümme ich einen Finger oder zucke ein Bein und dann /
klatschen die Menschen und sind
ENTZÜCKT.
S
Ich gebe Ihnen zwei Marken, den Rucksack müssen Sie einzeln abgeben.
Sie kann nicht mehr sagen, wann es genau angefangen hat /
K
Da, wo ich bin, ist es immer sauber, und es ist meistens gefüllt.
Sie isst genug, doch, sie isst wirklich genug, DAS macht sie ziemlich gut.
S
Das mache ich gut, das mache ich richtig gut.
Ja, wir sind immer da.
Ja, wir übernehmen die Verantwortung.
Ja, das ist genug Trinkgeld / dochdoch.
Eine Schrippe / oder so. Doch es ist genug.
K
Da, wo ich bin, bleibe ich unberührt.
Da, wo ich bin, sollte es nur Schutz und Nahrung geben und nichts Böses.
Da, wo ich bin, bin ich am Anfang noch unentdeckt. Und kann beobachten und hören, alles /
S
Hier, ein Abendprogramm.
Das erwartet Sie heute.
Sie bekommen 12,50 die Stunde.
Und sie hat gesagt /
okay.
Ein Zimmer oder so ähnlich,
schimmelfrei,
eine Krankenversicherung (von jetzt an pünktlich bezahlt).
Ein Fahrrad mit zwei vollen Reifen,
nie mehr ohne Fahrschein U-Bahn fahren,
Laufschuhe in der richtigen Größe, keine abgetragenen,
morgens einen richtigen Kaffee,
manchmal schlafe ich bei meinem Nachbarn nur wegen der Kaffeemaschine,
die hat so einen richtigen Milchschäumer, so einen großen, und sie funktioniert leise, ganz leise per Knopfdruck /
einmal Geld, Geld, Geld,
ich lebe ganz neu von DIESER Leidenschaft,
EIN GANZER EURO TRINKGELD, GEIL, DANKE VIELMALS.
K
Da, wo ich bin, bin ich einfach so hineingeraten. Und dann war es ganz schön, und wenn etwas SCHÖN ist,
dann lässt es sich doch auch wirklich bleiben. Das reicht doch – Dass es SCHÖN ist.
Am Anfang so, ungefähr so klein, und dann bin ich eingedrungen, und wie das ist bei Eindringlingen,
wenn man verpflegt wird, wächst man und
wächst
und wächst
und wächst.
Und jetzt habe ich DAS hier bekommen, und DAS ist mir gewachsen, und jetzt bin ich eben /
wie eine Limette, so groß bin ich schon. Und ich werde wachsen wie eine MA-MA-MAMA-Mango, wie eine PA-PA-PAPA-Papaya und /
S
;Nur überleben will der Mensch.
Und wo es Futter gibt /
da wird gearbeitet.
K
Treten werde ich sie müssen, so fest TRETEN /
bis sie irgendetwas merkt.
Wie kann man denn so etwas nicht / ich bitte dich / nicht merken.
S
Ich bin müde.
Ich bin hungrig.
Ich mag nicht mehr, kann ich nach Hause?
K
Da, wo ich bin, werde ich nicht ewig bleiben, nur ein paar Wochen noch werde ich dableiben, und dann werden sie mich wohl herausholen müssen, MÜSSEN, weil /
da, wo ich bin, muss niemand ewig bleiben, da, wo ich bin, bin ich nur ein Gast.
Hihihi, eingeschlichen habe ich mich, einfach so.
S
trettrettrettrettrettret /
Nicht jetzt, nein, bitte, nicht schon wieder /
W
Wie wir seit einigen Wochen überallhin kotzen,
Abfalleimer, Blumentöpfe, Briefkästen / es tut mir leid für dich.
S
Vor zwei Stunden war ich /
also vor zwei Stunden noch hat mir ein Arzt so gesagt /
K
Das ist doch klar, dass das nicht Sportverletzungen sind.
Das ist doch klar, dass Sie nicht grundlos so einen Hunger haben.
Das ist doch klar, was hier los ist mit Ihnen.
S
Dass mir das gerade jetzt in dieser Position passieren wird.
Ich war immer so der Mensch, wenn mir Freundinnen ihre Kinder zum Halten gegeben haben, habe ich sie so gehalten, ein bisschen auf und ab, ein bisschen so und gesagt, das ist aber ein besonders SÜẞES Exemplar, extrem niedlich, und dann habe ich sie ganz schnell zurückgegeben, bevor sie /
K
HÖR AUF ZU TUN, ALS WÜRDE DIR DAS LEBEN PASSIEREN!
S
Kinder suchen sich ihre Eltern aus,
und einige Eltern suchen sich gegenseitig aus,
K
Andere haben sich eigentlich nie irgendetwas ausgesucht.
Macht es einen Unterschied, ob du es dir ausgesucht hast?
S
Nein, natürlich nicht.
Du hast mich ausgesucht, du wirst bleiben.
Es wird gut sein, es wird anstrengend sein, es wird ein Leben sein.
Aber was ist eine Arbeiterin ohne Arbeit?
K
Arbeit bin ich also.
S
Ja. Du bist Arbeit.
K
Ein Mensch ist Arbeit?
S
Natürlich, ja.
Du wirst niedlich und süß sein, aber du wirst auch Arbeit sein. Menschen sind immer Arbeit.
Ich werde für dich kochen müssen. Es wird Brei geben aus Früchten und Gemüse und Kompott.
Ich muss jetzt anfangen zu planen, was ich esse, damit dir nichts fehlt. Leinsamen, Fischöl und /
keine Spitzbuben mehr und / keine Lausbuben /
die tun mir nicht gut.
K
Wo werden wir essen? In deinem Zimmer? Auf dem Boden, auf dem Holzboden?
S
Wir werden auf dem Teppich sitzen, und ich werde dich füttern.
K
Auf dem Boden – Toll, ganz toll.
S
Wir können einmal in der Woche in das vietnamesische Restaurant, einmal in der Woche wird das gehen.
K
Wirst du überhaupt Zeit für mich haben?
Wirst du mit mir spazieren gehen oder mir ein Bilderbuch kaufen? Ich möchte so ein Buch mit Tieren aus Plüsch, ein Buch, das Geräusche macht? Und eine Latzhose möchte ich, geht das? Und vielleicht eine Spieluhr mit einer schönen Melodie?
S
Wenn ich nicht arbeite, werde ich das, genau das machen. Und ich werde von diesen Maiswaffeln, die extra für Kinder sind, kaufen und ein gelbes Shampoo, das extra für Kinder gemacht worden ist.
K
Ich möchte das grüne, das riecht nach Apfel. Und ich möchte, dass du mir deinen Finger so lange hinhältst, bis ich zugreifen kann. Ich will, dass du an meinem Kopf riechst und ein ganzes Leben siehst. Ich möchte, dass du mit mir Helikopter spielst und mich hochhebst und dass es dich nicht stört, ständig meine Kleidung zu waschen und zu wechseln. Ich wünsche mir, dass du weinen musst, wenn ich spreche. Das grüne Shampoo, denn ich mag Früchte viel mehr als /
S
Ich werde beides kaufen. Ich werde mich um dich kümmern, ja. Versprochen.
K
Wirst du merken, wenn es so weit ist, wirst du es kommen sehen? Wirst du vorbereitet sein?
S
Ich werde es bestimmt während der Arbeit merken. Genau so hier, stehend und nichtsahnend, und jemand wird mich fragen, warum ich schon wieder esse.
K
Du wirst weiter hier arbeiten?
S
Ich werde möglichst lange bleiben und sparen. Ich werde mich schnellschnell festanstellen lassen und dann so tun, als hätte ich nichts gewusst, und hoffen, dass es bis dahin niemand merkt.
BEIDE
Clever, richtig clever. Niemand?
S
Niemand bis auf / ER.
ER merkt das. Ich denke, das denke ich wirklich /
was auf der grünblauen Kugel passiert, wird ja gesehen, beobachtet, bewertet /
ER hat gesehen, wie die Wälder größer geworden sind, wie die Tiere geboren wurden, wie das Leben angefangen hat, von Anfang an war ER da.
ER sieht alles.
ER sieht, wie ich überall hin kotze seit Wochen, in Pflanzen, in Briefkästen, in Pfannen.
ER sieht, wie ich Rechnungen verbrenne und stehle.
K
ER sieht, wie sich die Haut dehnt, die Beine schwerer werden, wie es wächst.
Das alles sieht er / ER da oben.
Er lacht mich an und/[1]
S
Schon als Kind habe ich das ganz fest geglaubt, dass ER, ER da oben auf alles aufpasst, alles unter Kontrolle hat und nichts BÖSES geschehen kann, solange er da ist, versteht ihr, solange ER DA IST, KANN NICHTS BÖSES GESCHEHEN /
auch wenn ich wandere im finstersten Tal, fürchte ich mich nicht, denn du bist bei mir.
K
Weil wenn er nicht verhindern könnte, dass es etwas Böses gibt, warum sollten wir dann an ihn glauben?
S
Also, ich meine, irgendetwas muss uns doch beschützen, oder?! Das kann doch nicht, doch nicht immer so sein? Wenn ich nicht mehr daran glaube, nicht mehr an diese Kindervorstellung / was hält mich dann noch fest?
K
PRAISE, Praise the lord!
S
NEIN!
O GOTT, NEIN! ALSO NICHT GOTT /
Ich habe doch nicht DEN gemeint, nicht diese Intendanz /
Instanz.
Ich habe den MOND gemeint.
La Luna.
So werde ich dich nennen. Wie den Mond.
K
Luna? Nenn mich doch gleich Merlin oder Kleopatra. Oder Elektra oder sonst so was Göttliches.
S
Ich meine doch Luna wegen dem Mond. Verstehst du?
Der Mond / also der sieht für mich immer alles.
K
Also mache ich dasselbe wie /
S
ER ist ein himmlischer Körper, und das bist du / doch irgendwie auch.
Das habe ich mir schon immer vorgestellt, schon als ich ganz klein war. Dass der Mond alles beobachtet.
K
Meinst du? Ich bin vom Himmel geschickt?
Wie ein / ein Engel?
S
Du kannst die Schwerkraft der Erde, meiner Erde beeinflussen.
Du kannst die Gezeiten der Ozeane lenken.
Du kannst sein / wie der Mond.
Aber Engel gibt es nicht.
K
Ist ein bisschen viel verlangt von einem ungeborenen Kind, oder?
Weißt du auch gleich, wie ich aussehen werde? Werde ich SCHÖN sein? Schön genug für diese Welt?
S
Ich werde diese Holzbuchstaben kaufen, die aussehen wie Clowns, damit ich deinen Namen auf die Tür schreiben kann.
Also, ein Buchstabe kostet so 6,90 oder so und /
ein Nachtlicht, du brauchst unbedingt ein schönes Nachtlicht.
Du wirst schön aussehen.
Ich werde in diesen Kinderladen gehen, in dem immer nur beige Dinge im Schaufenster liegen und fragen /
K
Verkaufen Sie Nachtlichter?
Haben Sie eines in Mondform?
Das wie der Mond leuchtet und das man unten anknipsen kann?
S
Mein Kind soll den Mond kennen /
alle Phasen, alle Völlegrade, alle Sehnsüchte, jede Leere soll es kennen dürfen.
Es soll wissen, dass es immer alles sehen darf, mein Kind soll die ganze Welt sehen können und alles machen dürfen.
K
Sie bekommen ein Kind? Wie schön.
Das werden die Menschen sagen, und ich werde treten wie noch nie zuvor.
S
Genau. Ich bekomme ein Kind und das, DAS IST SCHÖN, doch, das ist wirklich schön.
Siehst du, wie ich mich auf dich freue?
K
Ich sehe das, ja.
S
Ich freue mich wirklich.
K
Ich sehe das, und ich sehe /
mehr, ich sehe alles kritisch.
S
Ich höre auch mehr, als ihr alle immer denkt.
Da, schau. Da kommt wieder diese Frau. Die mit dem schwarzen Cape und den roten Fingernägeln und dem roten Mund. Sie ist wichtig, ganz wichtig.
Schau, wie sie sich bewegt.
K
Wirst du das schaffen?
Und die Frau mit den roten Nägeln und den roten Lippen /
JETZT IST SIE WÜTEND. Und sie ruft, und sie /
wirft ihren Mantel auf den Boden und schreit.
S
Ich werde das schon schaffen, wirklich, es wird schon gehen, glaub mir doch /
K
Du wirst es schaffen? Ich bin nicht mal da, und du bist schon /
soweit?
Schon jetzt an diesem Punkt, Mutter?
S
Das ist nur vorübergehend, das wird sich ändern, es wird besser werden.
Es gibt weniger Netze in der Nordsee /
der Wolf, der Seeadler, der Bär! Sie alle kommen zurück nach Europa und, und /
Mutter, du hast mich Mutter genannt?
K
HEBEN SIE DIE JETZT AUF ODER WAS?
Hat die Frau gefragt und ihre Nägel in die ehrfürchtige Theke gekrallt.
DAS IST DOCH IHR JOB.
Das sehe ich alles, und ich sehe dich, und was du hier machst, sehe, wie es dir, wie es uns geht in diesem Leben und /
seit kurzem, seit kurzem, frage ich mich /
GIBT ES EIN RECHT DARAUF, SEIN LEBEN ZU MÖGEN?
S
Nein.
Ich kann mich gerade nicht bücken, das darf ich im Moment nicht. Das ist zu gefährlich für mich.
K
Stell dir vor, du wachst auf /
stell dir vor, du wachst auf und /
das Warme ist weg, die Geborgenheit ist weg.
Will man so was?
Will man das wirklich?
S
Aber ich freue mich doch auch auf dich.
Ich habe doch wirklich schon ein paar Dinge in meinem Kopf zurechtgelegt, und ich /
Das, DAS Nachtlicht. Der Mond und du / und ich.
K
Niemand braucht noch ein Kind /
ein Kind wie mich.
S
Natürlich. ICH, ICH brauche ein Kind wie dich. Wärme und /
es funktioniert schon, wirklich. Ich suche auch ein größeres Zimmer, ich finde etwas, wirklich, du kannst meine alte Krippe haben, und am ersten Schultag werde ich hinter dir stehen.
K
Mehr, mehr, mehr, immer mehr /
so funktioniert das doch nicht mit den Menschen, das ist doch alles KEIN DIALOG, KEIN VORSCHLAG mehr /
S
Ich mache dir Brei aus den Karotten, und wir können /
schau, ich habe doch schon eine Kuscheldecke herausgesucht, einen allerersten Pyjama, und ich habe eine Babyhängematte und /
K
Wie du den Wecker an die Wand wirfst, um nicht aufstehen zu müssen, wirst du irgendwann mich an die Wand werfen.
S
Ich bin nur müde.
Wir sind doch alle ein bisschen müde.
K
Ich möchte nicht geboren werden.
Niemand möchte noch geboren werden.
S
Aber warte, ich, ich / nein /
K
Wir sind raus, ich sage euch, wir sind alle raus.
Das regelt der Markt nicht mehr, schon lange nicht mehr.
Das regeln die Kinder, die Kindgebliebenen, das regeln die Künstlerinnen für diese Welt schon lange nicht mehr.
aktuelles Datum / Menschheit laut Weltuntergangsuhr so bedroht wie nie zuvor.
S
Haben Sie schon viel gekauft?
Können Sie es vielleicht zurückgeben?
Es tut mir leid, aber ich / ich kann keinen Herzschlag hören.
Das hat die Ärztin gesagt. Einfach nur das und mir ihre Hand auf die Schulter gelegt.
Und SIE hat sich gebückt, die Hand nach dem schwarzen Cape der schicken Besucherin ausgestreckt und hat gekotzt /
auf die roten Schuhe der schicken, wichtigen Frau gekotzt und gekotzt und /
der Mond ist verfault, weil er zu lange zugesehen hat. Der Mond ist verfault /
wie ein Apfel von innen heraus von frisch zu modrig, wie nach einem Würmerbefall ist er weich geworden /
niemand pflückt ihn jetzt noch.
Und ich werde das Mondlicht nun wieder zurückschicken müssen, denn erwachsene Menschen ohne Kinder sollten wirklich keine Nachttischlampe in Mondform besitzen.
Der Staub des Mondes, die losgelösten Krater, die Müdigkeit lösen sich und landen in euren Gesichtern.
Der faulige Mond bedeckt uns, und niemand hat es kommen sehen, niemand bis auf /
[1]
Clair de Lune von Claude Debussy − https://www.youtube.com/watch?v=CvFH_6DNRCY
A
ANTJE und SIE.
S
Die Handlungen sind ruhiger und ruhiger geworden.
A
Das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid.
S
Deswegen /
sie haben dann nur gesagt, so freche Menschen wie mich brauchen sie nicht.
Als wäre das mit dem Kotzen Absicht gewesen.
A
Und der Typ?
S
Ist jetzt Regisseur. An der Burg, am Berliner Ensemble, in Erlangen / irgendwo. Egal.
A
Hast du nie mehr / wirklich nie mehr gespielt?
S
Na, ich bin doch jetzt hier. Nicht so übel.
Was ist es schon das Theater /
abhacken und verwerten und verkaufen /
wenn nicht auch eine einzige große Fleischerei.
A
bastelt Sandwiches, vorsichtig. Vielleicht macht sie ein Smiley und schenkt es ihr.
Was machst du denn heute noch?
S
SIE schweigt.
A
Willst du mitkommen? Ich habe, also ich gehe / auf den /
Parteiabend.
S
Ist das dein Ernst? Du weißt genau, was ich davon halte.
A
Ich frag ja nur.
Du weißt /
Ich, also ICH habe denen vieles zu verdanken /
S
Denen verdanken andere Menschen noch ganz andere Dinge, das weiß ich.
A
Ich sage es dir ungerne, aber meine Wohnung ist größer als dein Zimmer, und das verdanke ich der Partei.
S
Du bist ja trotzdem auch alleine.
Alleine in der Wohnung, alleine in einem Zimmer.
A
Es wird auch Sandwiches geben, gute Sandwiches. Nicht so etwas hier.
S
Ja?
S
Das ist gut, Antje, du hattest recht. Das schmeckt wirklich ziemlich gut.
A
Das ist ein Braunvieh, das kann ich schmecken. Ein junges Braunvieh, das merke ich an den Sehnen.
Wie lecker, wie schmackhaft.
S
Nicht das billigste Bier / das ist selbstgebraut, oder?
Und das Brot riecht selbstgebacken. Aber ein bisschen muffig, findest du nicht?
Aber ein guter Belag, eine stabile Sauce.
A
Dekoration mit Blumen, Wiesen, Felder, wie die heimatlichen Gefilde früher ausgesehen haben für mich.
Ein sehr schön eingerichteter Raum.
Hui, Zierkissen zum Draufsitzen. Rote Rosen regnet es für mich.
S
Was ist denn mit dem da? Hihi, Antje, der sieht ja grimmig aus.
Wandbild mangelhaft, Stimmung sinkend.
Antje, ich weiß nicht, ob das für mich eine so gute Idee war.
A
Antje hat heute schon mit vier Personen gesprochen, die sie noch nicht gekannt hat.
Eine von denen hat gesagt, dass sie ganz nahe wohnt. Kann man ja mal zum Tee einladen, das gute Geschirrset aus dem Schrank nehmen oder so.
Was machste denn hier schon wieder so rum, Mädchen?
S
SIE ist wieder müde, ist immer müde.
Wann gehen wir denn wieder?
A
Dafür hast du überhaupt keinen Grund, es ist doch alles schön, es ist doch alles da. Die machen das doch nett, das ist doch tolle Gastwirtschaft.
Schau, da drüben kannst du Postkarten mitnehmen, sie haben sehr viele tolle Motive.
BEIDE
Was für ein Abend!
S
Möchte jetzt wirklich nach Hause. Antje, müssen wir noch lange bleiben?
A
ANTJE wird unterbrochen bei ihrem Gespräch mit dem Tischnachbarn.
Wir sind doch gerade erst angekommen, quasi.
S
Aber ich fühle mich so /
niemand spricht mit mir. Ich mag mit niemandem sprechen.
A
Pssst / jetzt reiß dich mal zusammen.
Die sind doch alle ganz freundlich. Der da, der ist doch freundlich. Du bist die Einzige, die hier heute Tränen vergießt. Lass dich doch einfach einmal darauf ein.
S
Dieser Spruch an der Wand / das findest du nett?
Das kann doch nicht dein Ernst sein.
A
Ich finde es nett, wenn ein Buffet für mich vorbereitet ist, JA! Ich finde es nett, wenn sich jemand mit mir unterhält UND mir eine Frage stellt! Ich finde es nett, wenn Menschen nett sind, JA!
S
Wie du zu denen gekommen bist, das würde mich echt mal interessieren.
A
Geht dich gar nichts an.
Schau mal hier, dieser Salzstreuer. Hihihi, das ist die Mutterkuh, und das ist die Kinderkuh. Schau, Salz und Pfeffer. Hast du gewusst, dass Kühe auch neun Monate lang schwanger sind?
S
Warum magst du denn einen schwangeren Kuhsalzstreuer!
Ernsthaft, was machst du bei denen?
A
Ab und zu im Büro mitarbeiten und so. Die haben mir Excel erklärt, das ist doch was.
An Abenden wie diesem gutes Essen verzehren. Dazugehören.
S
Der Mensch neben dir weiß nicht einmal deinen Namen,
du bist doch keine / Prinzessin oder irgendwas. Du bist für die einfach jemand, den sie brauchen können.
A
Ich bin für die nicht nur jemand, den sie brauchen können. Die schätzen mich, die sind dankbar für mich.
S
Sie kennen dich aber nicht, wie ich dich kenne. Mach dir nichts vor.
A
Wie willst du mich schon kennen?
S
Ich weiß, wann du Angst hast. Ich weiß, wie oft du Pausen machst und welche Arbeiten du nicht magst. Ich weiß, welche Lieder dich glücklich machen und welche du hörst, wenn du sowieso schon traurig bist. Für die sind alle doch nur eine Nummer, die sie brauchen, nur ein Prozentsatz.
A
Du bist so ein undankbares Stück.
S
Sorry, ich hätte einfach wirklich nicht mitkommen sollen.
SIE packt ein FLOW-Magazin aus.
Seite 37 – »Wie lerne ich, NEIN zu sagen, auch in Gruppen.«
A
Bah, pack das hier weg.
Du kannst das ja auswendig.
S
Willst du das nach mir lesen?
WILLST DU ES LESEN?! Spätestens morgen kommst du ja eh und fragst danach.
A
Dann geh doch, du kannst ja gehen.
S
Du weißt ganz genau, dass ich mit dem Bus hier nicht wegkomme.
Dann brauche ich zwei Stunden nach Hause.
A
Nicht mein Problem, dass du keinen Führerschein hast.
S
Du bist so gemein.
A
Du willst doch gehen.
Und wenn auch nur ein / EIN Mann da wäre, denn du gut finden würdest, dann /
dann wärst du übermorgen noch da, ODER!
S
Antje, sag schon. Wie bist du zu denen gekommen? Wie hast du die / kennengelernt? So eine Entscheidung, das passiert doch nicht einfach so?
A
Sag ich nicht. Sag ich niemandem.
S
Ach komm. Die anderen in der Fleischerei haben mir erzählt, dass du /
Vorstrafen hast.
Pause.
Ja-ha. Ich weiß das. Vorstrafen und so eine Weltanschauung / da reden die Menschen. Sag es mir, komm schon / was hast du gemacht?
A
streichelt die Salzstreuerkuh Hab doch gesagt, sag ich nicht.
S
Geschichte gegen Geschichte.
Stimmt es, dass du / gespielt hast?
Ich habe –