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Ein Independent-Filmer. Ein junger Hochschulabsolvent. Ein Mann und sein Medienimperium. Ein Musiker. Eine Frau, mit blauen Haaren. Ein gescheiterter Theaterautor. Und Lisa. Alle verbindet Andy Warhols Vision einer Welt, in der jedem eine Viertelstunde Ruhm blüht, von denen am Ende aber nur 3 Minuten übrigbleiben. Tibor Baumann hat mit Drei Minuten für jeden einen kulturkritischen Roman für die jungen Träumer der 80er und 90er geschrieben, die ihren Platz in der unüberwindbaren Massenkultur des 21. Jahrhunderts finden und sich nicht mit den üblichen Ausreden einer Gesellschaft abspeisen lassen wollen.
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Seitenzahl: 505
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Impressum
Erste Auflage: 2017
Gestaltung und Satz: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Druck: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Lektorat und Korrektorat: Mareike Kirnich, Lisa Helmus
Covercollage: Viktoria Maly
eISBN: 978-3-945431-27-6
Zitate mit freundlicher Genehmigung:
Rainald Grebe, Stromausfall und Soundcheck (Das Robinson Crusoe Konzert)
Isabelle Šuba, Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste
Einstürzende Neubauten / E N /, Die Befindlichkeit des Landes (Silence is sexy)
The Great Park, I know what I make isn‘t fine (Winter)
Erobique & Jacques Palminger | Barbara Stützel, Wann strahlst du
(Songs for joy 2)
Aus technischen Gründen können in dieser elektronischen Publikation formative Stilmittel des Autors nicht umgesetzt werden. Wenn Sie den vollen Umfang des Romans genießen möchten, empfehlen wir das gedruckte Buch.
© Copyright kladde | buchverlag Pfaffenweiler – Freiburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm und andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert, digitalisiert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
www.kladdebuchverlag.de
für Nora & Norbert
Inhalt
Impressum
02. Dezember
Königin Maab
10. Februar
Christine K.
Arno E.
Akgül U.
30.April
Verloren, nicht Verlierer
15. Mai
Sylvia E.
Katherina D.
10. Oktober
Zwischen den Jahren
Feel safe little Boy
01. Januar
Ina K.
Achim C.
02. August
28. Oktober
A Pale Horse Oder: ein faulender Reiter auf einem kranken Gaul.
21. März
Edelbert M.
Schwelbrand I
Schwelbrand II
Schwelbrand III
27. Juni
Helga N.
Theresa U.
04. September
Tim W.
Wildern
11. November
Jetzt
Für diese Minuten
Die Decke der Zivilisation, die ist ja hauchdünn.
Rainald Grebe
Stromausfall und Soundcheck,
Das Robinson Crusou Konzert
Ich entscheide gerne selbst, was für mich ein Weltuntergang ist.
Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste
(Regie: Isabell Šuba, 2014)
02. Dezember
Wie ein Nick Cave Song am Morgen – wie ein endgültiger Abschied.
Wie totales Versagen – oder absoluter Sieg.
Wie eine Doppelschicht – nach durchzechter Nacht,
unerbittlich,
like a knife,
stocked in my flesh –
oder: zwei Töpfe voll Rote Bete.
Königin Maab
Der dunkle Parkplatz zwischen den Grünflachen, den rauschenden Bäumen und den langen, geduckten Gebäuden strahlte die Hitze des Tages noch ab. Begrenzt wurde die Insel durch den Schein der Laternen, der die anbrandende Dunkelheit in deren Grenzen verwies. Auf diesem Eiland war Mika gefangen. Das Auto war das letzte, gestrandet zwischen den weißen abgefahrenen Linien. Der Kofferraum stand offen. Das Licht der geöffneten Luke fiel auf ihn, rückte ihn in den Mittelpunkt des Eilands. Er trug ein schwarzes Hemd und Stoffhose, eine Kappe in grau meliertem Muster. Seine gedrungene Gestalt war vor Müdigkeit eingesunken, sein Blinzeln langsam. Zwischen den Knien, eine Hand an das feucht-kühle Glas gelegt, hielt er eine Bierflasche. Mika starrte in die Dunkelheit und wusste, dass niemand da war, um zu sehen, wie das Licht ihn in den inszeniert scheinenden Mittelpunkt setzte. Träge, fast nachlässig, schob er sich die Kappe in den Nacken und quittierte sich selbst mit einem schiefen Lächeln an niemanden.
Er saß da und genoss die Stille.
Oder die Kühle.
Wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Vor ihm auf dem gelblich erhellten Teer standen einige Taschen und mehrere braune Kartons, aus denen Aktenordner herausragten, sodass die Laschen nicht mehr schließbar waren. Die Ordner enthielten die Notizen, die Bewerbungen, die einzelnen typisierten Zuordnungen. Die Vorlage für die digitale Kartei. Dazwischen lagen lose die nicht verwendeten Formulare, unbenutztes Notizpapier, Marker und Kulis, Klebeband und Locher, Büroklammern und Tacker. Neben den Kartons standen die Fototasche, das Stativ und die beiden Laptops. Das Werkzeug der letzten beiden Tage, um die richtigen Gesichter zusammenzutragen.
Er nahm traumwandlerisch, aber plötzlich, als sei er aus einer Starre erwacht, einen tiefen Zug aus der braunen Bierflasche und sah durch die Dunkelheit zu den schmalen Gebäuden. Den Tag hatten er und sein Kollege in dem linken der Bauten verbracht. Im Versuch, die Farben der kleinen lokalen Zweigstelle des Senders unterzubringen, waren einzelne Flächen blau-weiß gestrichen worden. Länglich gezogen, zwei Stockwerke, kleine Fenster, teilweise in Versatzstücken renoviert, erinnerten sie ihn an alte, umfunktionierte Kasernen, an militärische Gelände, wie jene, die ein Freund von ihm immer als eine Kindheitserinnerung beschrieb. Da war sie wieder, die Isolation. Mika sah mit schwimmendem Blick auf. Er hatte auch diesen Freund in den letzten Wochen aus den Augen verloren. Krampfhaft versuchte sich Mika zu erinnern, ob er schon aus Berlin zurückgekommen war, oder seinen Bruder gefunden hatte, was passiert war.
Er gab es auf. Er wusste es nicht mehr. Und in dieser Akzeptanz gab er sich selbst Absolution.
Die Nacht hatte etwas Beruhigendes für ihn und bettete diesen ersten Etappensieg ein. Mika hatte sich in den letzten Wochen bewiesen, hatte sich und denjenigen, die ihm eine Chance gegeben hatten, bewiesen, dass er gegen die steigende Arbeitsflut, über jede Schmerzgrenze hinaus arbeiten konnte und wollte. Er hatte mit Fleiß und bedingungslosem Willen den Sieg der ersten Etappe errungen, jedoch nicht ohne Opfer, die über ihn selbst hinausgingen. Er schätzte, dass es so sein musste.
Er nahm noch einen Schluck. Blinzelte langsam.
Einen Sieg, den er von dem Opfer, das er dargebracht hatte, loslösen wollte. Noch ein Schluck. Es nicht wahrhaben wollte. Ein letzter Rest aus der Flasche. Eine letzte Chance, es wegzuspülen.
Er stellte die leere Flasche zur Seite und angelte sich eine neue aus dem Kasten, der hinter ihm in dem Kofferraum stand. Ein paar Chancen hatte er noch.
Er wusste, dass er auch mit einer zweiten Flasche nicht fähig sein würde, sich das Opfer auf dem Altar seines Egos schönzureden. Er drehte die braune Flasche, die ihn nicht dazu befähigen würde, das Telefonat im inneren Monolog in die Bedeutungslosigkeit zu quatschen. Mika sah die Flasche an. Und entschied sich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Umständlich setzte er das Feuerzeug als Hebel an. Das Ploppen verebbte über die gelbliche Lichtinsel hinaus in die Dunkelheit und wurde von den Häuserfassaden geschluckt.
Das Telefonat, dieser kurze Kontakt in die Außenwelt, fern vom Rummel um die Filmproduktion, hatte eingeschlagen wie ein überraschender Fliegerangriff. Er dachte an Lisa und unweigerlich, als ob sie es für ebendiesen Moment geschrieben hätte, an ihre Fingerübung vom zweiten Dezember. An jenes Bild, das zufällig entstanden war. Mika hatte das Messer hektisch auf das Brett geschmissen, wollte gerade zur nächsten Knolle greifen und hielt inne. Um ihn herum tobte das Hauptgeschäft; Flammen stießen aus der Pfanne, der Pass stand voll mit dampfenden Gerichten, Willie stellte einen weiteren Stapel Dreck auf die Spülstraße. Die Hitze und der Küchengeruch standen dick in der Luft. Mika zog das Handy und fotografierte das Zufallsensemble. Dann schrie der Koch, er solle die Salate fertig machen, die Schnitzel würden kalt werden und Mika verwahrte den Moment in seiner Tasche. Für Lisa. Damit sie niemals so wie er in der Küche und hinter dem Zapfhahn enden würde. Die Worte, die Lisa dazu verfasst hatte, strichen sanft durch seinen Kopf. Wie aufkommendes Treibgut, an das sich der Ertrinkende krallt, im Wissen, dass es nur ein Stück Holz, ein schlechter Scherz, eine kaum reelle Chance ist, die ihn im offenen Ozean verhöhnt. Diese wöchentlichen Texte und Gedichte von Lisa schienen eine Nut zu haben, deren Gegenstücke Momente waren, die Mika, als einziger Leser und Zeuge ihrer Worte, so zusammenführte: der Schiffbrüchige und das Treibholz. Mikas rettendes Schiff von dem einsamen Eiland, auf dem er seit Jahren vor sich hindümpelte, zwischen kleinen Projekten und Gastrojobs, war diese Chance, dieses Projekt und die letzten dreißig Stunden Arbeit am Stück für das Casting der Kleindarsteller und Komparsen. Er nahm einen weiteren Schluck und versuchte sich noch einmal einzureden, dass Lisa das verstehen würde. Es funktionierte nicht und so dachte er wieder an ihre schmalen Sätze, an ihr Gedicht als Übung zu seiner Momentaufnahme. Dass er sie auswendig konnte, waren alte Reflexe aus seiner Jugend; als er noch dachte, er würde Schauspieler werden. Vielleicht war es aber auch andersherum gewesen und diese Fähigkeit des schnellen Auswendiglernens hatte ihn zu dieser Annahme gebracht.
Tief sog er die schwere Nachtluft ein.
Er blickte über die Kartons hinweg zu dem finster aussehenden Gebäude, wartend auf seinen Kollegen, der ihn wieder zurückholen würde in die Welt, in die Arbeit, in die Aufgabe. Vor allem würde der Tag endlich vorbei sein, wenn er mit den letzten Einträgen unter dem Arm das Gebäude verlassen würde. Dann könnte Mika endlich nach Hause. Endlich ins Bett fallen. Endlich schlafen und vergessen.
Sein Gewissen biss hart in sein Herz.
Es tat ihm leid. Er fragte sich die Stirn runzelnd, ob er sich vielleicht in ihr getäuscht hatte. Und ob er sie nicht einfach lieben könnte, auch wenn sie aufhören würde, Jagd auf einen nebulösen Traum zu machen.
So wie er es tat.
Er trank noch einen Schluck.
Sein Blick wurde hart, als ob er sagen würde, um sich selbst freizusprechen: Lisa, da musst du eben durch.
Als Lisa ihn kennengelernt hatte, war sie fünfzehn Jahre alt und sehr traurig gewesen. Die Familie überwand sich an diesem herrlich klaren Januarmorgen und kam, um Abschied zu nehmen, auf einem kleinen Gottesacker zusammen. Lisas Großvater, der Vater ihrer Mutter und dessen Bruder, war im Alter von neunundsechzig Jahren in seinem verwilderten Garten gestorben.
Er hatte leicht bekifft gegen zehn Uhr morgens, gegen die Januarkälte in einen alten afghanischen Mantel eingepackt, zufrieden eine Katze streichelnd, in dem Garten vor dem alten bunten Bauernhaus, auf einem israelischen Schemel gesessen. In dem Haus, in dem der Alte mit seiner dritten Frau, drei Freunden und einer Freundin lebte, war erst vor einer knappen Stunde wieder Stille eingekehrt. Das Fest, das sie zu dem Geburtstag seines besten Freundes Holger gegeben hatten, war plätschernd in den ersten Morgenstunden zu Ende gegangen. Er saß dort, streichelte versonnen die dicke, schnurrende Katze und blinzelte in den blau herandämmernden Tag.
Er genoss die Stille.
Oder die Kühle.
Wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Gegen Mittag fand ihn sein Freund und Reisegefährte Holger. Der Alte saß da, leicht zur Seite gesunken, die Mundwinkel etwas herabhängend.
Er sprach ihn an, doch der Alte reagierte nicht. Er atmete auch nicht mehr. Er war gestorben. Die Katze lag immer noch auf seinem Schoß unter seiner linken Hand und schlief wohlig. Zwischen den Spitzen des Zeigefingers und des Mittelfingers der Rechten klemmte noch der bräunliche Rest des Joints. Holger weinte, wie nur Hippies weinen konnten; eine Generation begann zu sterben.
Lisa hatte nie regelmäßigen Kontakt zu ihrem Großvater gehabt. Ihre Mutter hatte ihren Vater geliebt, sich aber meist mit ihm gestritten. Weshalb sich dies so verhielt, hatte Lisa damals am Gatter der letzten Ruhestätte noch nicht verstanden. Aber sie ahnte damals schon, dass es einen komplizierten, in der Geschichte dieser Menschen verwachsenen Grund dafür gab, weshalb die Gelegenheiten, bei denen Lisa ihren Hippiegroßvater besuchte, sehr unregelmäßig gewesen waren. Dafür waren sie umso freudiger und aufregender in ihrem Gedächtnis geblieben.
Lisa und ihre Mutter kamen also an diesem Morgen mit dem etwas gealterten Opel zu dem schmiedeeisernen Tor. Der Wind pfiff kalt, um den Friedhof herum lagen nur Felder. Der schützende Waldrand war von der Landwirtschaft als schwarzer Schattenriss an den Horizont gedrängt worden. Lisa hatte ein schwarzes Kleid anziehen müssen, das fürchterlich kratzte und zu allem Übel ihren aufkommenden Busen, den sie nicht mochte, betonte. Ihre Mutter war auch in Schwarz, aufgetakelt, eine Fellboa wärmte ihren Hals und die große Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Sie schämte sich dafür, dass sie um den Alten weinte. Trotzdem traf sie der Tod ihres Vaters hart. Sie standen in einer kleinen Gruppe der älteren Verwandtschaft, alles normale und respektable Leute, die dem Anlass angemessen in Ruhe und gedämpften Begrüßungen der Vollzähligkeit harrten. Lisa hasste es. So war ihr Großvater nicht gewesen. Und sie hasste die aufgesetzte Miene ihrer Mutter, die ihre Tränen unter Beihilfe der Sonnenbrille kaschieren wollte.
Nun war es so weit, niemand trudelte mehr ein. Ihre Mutter sah sich hektisch um und versuchte mit Hühnerscheuchbewegungen und gedämpftem »So, dann mal auf« die trauernde Gemeinde in den Friedhof zu kolportieren. Die faltige und geschrumpfte Tante Esther sagte: »Nun warte doch. Dein Bruder fehlt noch«.
Der Blick von Lisas Mutter ließ die Luft noch weiter unter den Nullpunkt sinken.
Und genau in jenem Moment, als ob es in einem Script geplant worden wäre, wurden Geräusche und eine Melodie von dem Hügel erahnbar, auf dem direkt hinter dem Friedhof die Landstraße in Schlangenlinien verlief. Die Gemeinde sah, schwarz gekleidet und mit geschmacklosen Krawatten bewehrt, kollektiv auf. Als sich bewegende Punkte wurde eine Autokolonne sichtbar, sanft wehten Motorengeräusch und Musik den Hügel herab. Kurz verschwanden die Autos in einer Senke. Dann erschien der Tross wieder, um eine Kurve biegend, die Musik wurde mit jedem Meter, den die neun Autos zurücklegten, lauter. Die Kolonne war aus alten Autos wild zusammengewürfelt, ein Sammelsurium, das mehr der Idee einer Generation, denn der der Fortbewegung entsprungen war; Autos verschiedenster Bauart, bunt bemalt und krachig stinkend, zwei alte VW Busse, ein kleiner Transporter, zur fahrenden Wohnung umgebaut. Die Spitze bildete ein rostroter Kadett, den der Alte mit seinem Freund Holger gefahren hatte. Sie hatten keine Eile, fuhren in langsamer Manier vor dem Friedhof vor.
So sah Lisa Mika das erste Mal. Der röhrende Kadett hielt direkt vor dem Friedhof; der getragene, alte Song schwoll an, als er die Türe öffnete und hinter ihm die seltsam gealterte Meute aus Weltenbummlern und Überlebenskünstlern den Wagen entstieg. Er war das männliche Ebenbild seiner Schwester: dieselben blauen Augen, die wohl von der Mutter herrührten, die etwas vorwitzige Nase des Vaters und die geschwungenen Augenbrauen. Aber auch ein Spiegel in eine andere Welt: sie hoch und schlank, er klein und untersetzt, er war unrasiert, zerfeiert; unter dem schwarzen Anzug, das schwarze Hemd halb offen, einen langen, schwarzen Seidenschal umgewickelt, eine grau melierte Arbeiterkappe in den Nacken geschoben, unter der die Haare wirr hervorstanden.
Mika kam auf die Gruppe zu, die sich öffnete und eine Straße zwischen den Geschwistern bildete.
»Wer ist das?«, fragte Lisa, die ihren Blick nicht abwenden konnte, sich aber trotzdem zu ihrer Mutter beugte.
Während hinter ihm die Freunde und Weggefährten des Alten mit Instrumenten bestückt aus den Autos stiegen, kam er vor Lisa und ihrer Mutter etwas schwankend zum Stehen. Einige der anderen Gäste wandten sich kopfschüttelnd ab.
»Ich bin Mika, ich habe dich das letzte Mal gesehen, da warst du noch winzig. Ich bin der Bruder deiner Mutter.« Er lächelte sie an, warm und freundlich. Dann hob er den Blick zu seiner Schwester: »Hallo Miranda, lange nicht gesehen«.
Lisa sah ihre Mutter an, die sich umdrehte und geradewegs, die feinere Gesellschaft mit sich nehmend, auf den Totengarten zusteuerte.
»Du bist doch Lisa, nicht wahr?«, fragte Mika verschwörerisch.
Lisa nickte.
»Lisa, kommst du jetzt bitte!« Ihre Mutter klang, als ob sie Angst hätte, dass sich ihre Tochter infizieren könnte, als sie gehend nach ihrer Tochter rief.
Er zog eine kleine Flasche Schnaps aus der Tasche seines Jacketts, nahm einen tiefen Zug und sagte mit einem schiefen Lächeln: »Na dann, lassen wir den alten Wirrkopf mal gehen«.
Er nahm Lisa bei der Hand und ging mit der sie erfassenden Welle an bereits musizierenden Freunden in Richtung des Friedhofs. Es fühlte sich gut an, ihre Hand in seine zu legen; so stellte sie es sich vor, dass sich ein Vater anfühlen musste.
Jeder nahm auf seine Weise Abschied. Lisa weinte, Miranda bebte, Mika trank und die Mutter der Geschwister nahm ihren Mann, den sie in Indien kennengelernt hatte, obwohl sie aus der gleichen kleinen Stadt kamen, neben sich zur letzten Ruhe.
Der kalte Wind verwischte die Musik über die gleichgültigen Felder.
Ab diesem Moment sahen sich Mika und Lisa regelmäßig. Entgegen dem Willen Mirandas war es eine Entwicklung, die so stetig war, dass sie unabänderlich wurde. Die verzweifelte Mutter versuchte mit allen Mitteln ihre Tochter davon abzuhalten ihren Onkel zu sehen. Verbote und Drohungen, Sanktionen und Appelle an die Vernunft halfen nichts. Sie änderten nichts daran, dass Lisa ihren Onkel verehrte und sich vor allem in dessen Leben, das sich so von dem ihrer Mutter mit dem Alltag, dem gepflegten Beruf und den gemaßregelten Vorstellungen unterschied, Hals über Kopf verliebte. Je älter Lisa wurde, desto weniger nutzte der Widerstand der Mutter.
Nur zweimal kam es zu direkten Konflikten, in denen Miranda versuchte, Lisa vor ihrem Bruder Mika zu schützen. Die erste Begegnung war eher dem Zufall und der dadurch entstehenden Entschlossenheit denn einem Plan geschuldet. Miranda war an diesem Abend mit einer Kollegin ins Kino gegangen und gegen elf Uhr auf dem Nachhauseweg. Eine Abkürzung nehmend, um die Bahn noch zu erwischen, ging sie an einer lärmenden Kneipe vorbei. Da stand ihr Bruder, das Geschirrtuch lässig am Gürtel, eine Kippe zwischen den Zähnen. Der frohe Lärm aus der Kneipe schluckte seine Worte, die er mit einem Glas in der Hand betonte. Theo stand vor ihm und grinste, während sich Lukas betrunken an seinem älteren Bruder festhielt. Daneben Anna, das dunkelblonde Haare nach oben gesteckt, lächelnd beobachtete sie Mika, wie dieser innehielt, einen letzten Satz sagte und so seine Freunde in prustendes Gelächter versetzte. Während alle lachten, verebbte Mikas Lachen zu einem sanften Lächeln, das er Anna schenkte. Miranda stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und fühlte sich aus etwas ausgesperrt, das sie nicht benennen konnte.
Kurzentschlossen überquerte sie die leere Straße und steuerte mit hackenden Schritten auf die Gruppe zu. Mika warf gerade die Kippe fort und drehte sich zu Anna. Es war das erste Mal, dass sie sich beide trauten sich so anzusehen. Die Bewegung im Hintergrund zog Mikas Blick aus Annas Augen.
»Miranda! Was machst du denn hier?«
»Ich muss dir was sagen.«
Theo beobachtete die Szenerie stumm, während Lukas sich betrunken gegen die rote Backsteinwand sinken ließ. Wie einem Instinkt folgend, stellte sich Anna näher neben Mika. Die fremde Frau dämpfte den Moment. Selbst der Lärm aus der vollen Kneipe schien sich zurückzunehmen. Mika machte einen Schritt auf Miranda zu, lächelte und breitete die Arme aus.
»Ja toll, komm doch mit hinein.«
Er hatte getrunken, Miranda sah das sofort; er hatte den gleichen euphorischen Zug um die Augen wie früher ihr Vater.
»Nein.« Das Wort hielt ihren Bruder auf Abstand. »Lass Lisa in Ruhe, du verdrehst sie völlig. Das geht so nicht weiter.«
»Aber Mira.«
Die Koseform schnitt in Mirandas Gesicht eine Schneise.
»Nenn mich nicht so.«
»Ok, gut, ja – Miranda.«
„Du erinnerst mich an ihn, wie du da stehst, es ist wirklich erbärmlich.“
Theo wollte etwas sagen, aber Mika hob die Hand.
„Lass uns bitte einfach in Ruhe“, setzte Miranda nach.
Damit drehte sie sich um und ihre Schritte klackten von Laterneninsel zu Laterneninsel durch die Dunkelheit.
Trunken und leer starrte Mika ihr nach.
„Wer war das denn?“ Anna sah besorgt in Mikas Gesicht.
„Meine Schwester Mira.“
Das Wort fühlte sich seltsam an in seinem Mund und Mika wusste sofort, dass er das sowohl aus Trotz als auch aus Nostalgie gesagt hatte. Er wusste nicht weshalb, aber bis zu der Krankheit, bis zum Tod ihrer Mutter hatte er seine große Schwester so genannt. Danach war die Koseform verschwunden, als ob sie mitgestorben wäre.
Als sie Kinder gewesen waren, hatten sie ein wildes und seltsames Leben mit ihrem Vater geführt. Keine Verbote, keine unnötigen Regeln, kein Anschreien, keine Prügel, keine Angst vor der Zukunft oder dem Kontakt mit Mensch, Tier und Dreck. Eine glückliche und verrückte Kindheit zwischen Deutschland und Asien, auf Partys und performativen Kunstveranstaltungen. Eine Kindheit, um die sie jeder beneidete, wenn sie zufällig davon erzählten, was Miranda heute nicht mehr tat, und Mika nur, wenn er betrunken war und sich fragte, warum er ein sich aufarbeitender Irrer geworden war, anstatt einfach seinem Vater nacheifernd durch die Welt- und die eigene Geschichte zu treiben.
Aber es gibt keinen Korpus ohne mindestens zwei Seiten.
Denn fiel ihre Betrachtung auf die andere Seite dieses prägenden Zeitraums, musste anerkannt werden, dass es keine wirkliche Unterstützung gab. Sicherlich wurde nichts ausgeschlossen, nichts verboten, was die Wünsche oder Träume der Kinder anging, es war alles erlaubt – er hätte den Alten nur damit schockieren können, wäre er zur Bundeswehr gegangen oder hätte bei einer Bank gelernt, da war er sich sicher – aber so war ihm eben auch alles gleichgültig. Es gab keinen Druck. Aber daher auch keine fördernden Regeln oder Antrieb.
Das warf seine Schwester ihrem Vater immer vor. Mika dagegen hatte es tief in sich vergraben. Ihr Vater verstand nicht, was das Problem war. So schwelte der Konflikt, immer nur in kleinen Scharmützeln ausgetragen, vor sich hin. Eine Welle, die sich aufbaute und ihren Gipfelpunkt erst mit Lisa erreichte.
„Sag mal, warum hasst dich meine Mutter so?“
Lisa sah ihn über den Schein zweier Kerzen hinweg an. Sie war nachts von daheim weggelaufen, zum Zug, und kurzerhand zu Mika gefahren und hatte ihn schlicht mit „Darf ich bei dir schlafen?“ begrüßt. Jetzt saßen sie auf seinem kleinen, überwucherten Balkon und tranken Wein. Sie war sechzehn und hatte mittlerweile schon eine beachtliche Sammlung an Gutscheinen in einem alten Jutebeutel gehortet. Jedes kleine Blatt, jeder Gutschein, handbeschrieben, war Lisa mehr wert als alles andere. Zusammengenommen waren sie das Versprechen, dass etwas von Bestand und Verbindlichkeit existieren musste. Ein Hort, den sie immer, egal wo sie hinging, mit sich herumschleppte, baumelnd über die Schulter gehängt.
„Miranda hasst mich doch nicht. Sie ist wütend auf deinen Großvater. Oder sie war es, jetzt ist der alte Wirrkopf ja nicht mehr. Und sie hat es immer als unfair empfunden, dass ich gemacht habe, was ich wollte.“
„Das hätte sie ja auch tun können.“
Er schwenkte den Wein in dem kleinen Wasserglas ein wenig hin und her und atmete dann tief durch.
„Hat sie dir mal was von deinem Vater erzählt?“
„Nein, ist verboten“, sagte Lisa achselzuckend.
Er wollte das respektieren. Mika goss sich Wein nach.
„Verstehe.“
Aber er fand es unrespektabel. Mika nahm einen Schluck.
„Na ja, dein Vater war ein echter Spießer, ein Idiot, ein Macho, ein Schwein, ein echtes Arschloch, der sie aufriss mit einem schicken Auto und der Kohle, die er schon verdient hatte. Da war deine Mutter etwas älter, als du es jetzt bist. Unser Vater mochte ihn nicht besonders, aber wie immer sah er in allem, was seine Kinder getan haben, das Richtige. Und dann bist du ins Spiel gekommen. Deine Mama war schwanger und hat irgendwie gespürt, dass es jetzt heikel wird. Die Schule noch nicht fertig und dieser Typ, dein Vater, dazu, der eigentlich gar kein Kind wollte. Sie hoffte, dass unser Vater eingreifen würde. Einmal auf den Tisch hauen würde. Ich glaube, sie wusste nicht wirklich wie; also was er genau hätte tun sollen, was sie von ihm erwartete. Aber etwas musste er tun. Aber unser Vater tat nichts, das war so. Schon immer. Kurz vor deiner Geburt ist dann dein Vater abgehauen. Über Nacht, er war einfach weg. Hat die Stadt gewechselt. Den Job. Und weil er nicht da war, hat sie eben unserem Vater die Schuld gegeben. Nicht ganz unberechtigt, aber heftig und unerbittlich. Oft schrie sie ihn an, dass es noch besser wäre, wenn Mama noch leben würde. Sie dachte das. Vielleicht stimmte es auch. Ein bisschen sicherlich.“
„Warum?“
„Dein Großvater… Er war ein Trinker, ein Kiffer, ein Blatt im Wind. Er konnte wunderbar sein, aber er verzweifelte schnell an allem. Er konnte viel, aber nicht die Verantwortung für zwei Leben übernehmen. Miranda hat ihn für alles verantwortlich gemacht, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist.“
Lisa sah ihren Onkel mit großen Augen an.
„Was hat das mit dir zu tun?“
„Ich weiß nicht.“ Mika trank aus. „Ich glaube, ich bin ein rotes Tuch für sie. Sie hat keinen ihrer Träume verwirklichen können.“
„Aber du hast.“
Er lachte und das Lachen warf sich von den Häusern in die Straßen hinunter.
„Na, wenn du meinst, dass ein paar Kurzfilme und nebenher in der Gastro jobben die Erfüllung meiner Träume sind – dann kennst du mich aber schlecht.“
„Aber du hast dir den Weg doch ausgesucht.“
Sie sah ihn an. Voller Bewunderung für den erfolglosen Menschen, der trotzdem immer wieder beharrlich und ohne zu zögern alles auf eine Karte setzte, um kleine Projekte voranzubringen. Ohne es zu wollen, sonnte er sich darin, auch wenn der Grund, weshalb er Lisa mochte, nicht in dieser Egopolitur lag.
„Ja, da hast du recht.“
Lisa schwieg eine Weile und sah über die Dächer der etwas niedrigeren Häuser hinweg auf den Sternenhimmel. Dann sagte sie langsam, als ob sie vorsichtig eine schon lange ins Auge gefasste und nun endlich reife Frucht pflücken würde:
„Mama ist immer da, sie will immer etwas von mir, sie sagt, ich soll dieses tun und soundso gut sein in der Schule und das lernen, damit ich was Anständiges habe.“ Sie rang mit den Worten; spürte, dass sie nicht genau erklären können würde, worum es ging. Es nicht schaffen würde, die Zusammenhänge ihrer und der Biografie Mirandas, all die dadurch entstehenden Verknüpfungen auf den Punkt zu bringen, sodass sie wieder auf die jetzt vorhandenen Umstände verwiesen.
„Als ich Alex mit heimgebracht habe, hat sie ihn ausgefragt, als ob es darum gehen würde zu testen, ob er gut genug für mich ist. Sie ist immer da, wie etwas Leitendes und Beschützendes… Und dabei ist nie wichtig, wie es mir gerade geht, oder was ich tun will – sie ist immer da… Und trotzdem bin ich immer alleine.“
Mika sah sie ernst an und nickte. Es war, als ob seine Schwester eine verdrehte Fassung ihrer eigenen Erziehung neu inszenieren würde. Es schauderte ihn. Er fragte sich, wie seine Inszenierung von außen wohl aussehen mochte.
„Ich lass dich nicht alleine. Versprochen.“
Der etwas pathetische Moment, durch den Wein, die sternenklare Nacht und den Kerzenschein verstärkt, floss warm zwischen Onkel und Nichte, die wie Bruder und Schwester waren, und steigerte sich zu dem Gefühl, sogar wie Vater und Tochter zu sein.
Lisa und Mika saßen wie auf einem Raumschiff in einem Mikrokosmos auf dem Balkon und umkreisten ihre Welt.
Als Lisa am nächsten Morgen auf dem kleinen Sofa ein wenig verdreht erwachte, hatte Mika das Haus bereits verlassen. Er musste zu einem Treffen in dem Biergarten drei Straßen entfernt. Dort versammelten sich die kleinen Filmemacher, die Beleuchter und Kamerairren, die Möchtegernautoren und Traumregisseure der kleinen Stadt, um zu beraten, was mit den Gerüchten anzufangen sei, dass im nächsten oder übernächsten Jahr hier ein Film gedreht werden solle. Die Gerüchteküche flüsterte seit Monaten von einer großen Produktion. Keines der kleinen Start-up-Projekte, keine Hinterhofproduktion, sondern ein Hauch dessen, dem alle hinterherträumten, hinterherrannten. Sie wurden sich in dem Moment da es dieses Gerücht gab bewusst, dass sie nun nach jahrelanger, gegenseitiger Unterstützung und Zusammenarbeit plötzlich und unweigerlich zu Konkurrenten werden würden. Die Entschlossenheit, zu handeln, war da. Während sich Lisa Kaffee mit dem alten, verdreckten Herdkocher in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung aufsetzte, saß er im Biergarten an einer klebrig-orangen Bierbank und hörte sich an, wie alle Pläne schmiedeten. Um dabei zu sein. Um ein Stück vom möglicherweise hier gebackenen Kuchen abzubekommen. Über eine Stunde hinweg wurden unausgegorene Pläne diskutiert und sich immer weiter in Phantasien hineingesteigert, die dazu dienen sollten, Teil dieser Produktion zu werden. Dann trank Mika sein Bier aus und meldete sich wartend. Als Ruhe am Tisch eingetreten war, sagte er:
„Ich weiß ja nicht genau, auf welchem Planeten ihr so lebt, aber ich denke, dass ihr alle eure Pläne hier in Schnaps einlegen könnt, bis ihr sie morgen vergessen habt. “Alle Augen waren düster auf ihn gerichtet. „Ich sage euch jetzt mal, wie das laufen wird. Die werden sich die Stadt hier vorher ansehen; noch bevor klar ist, wer tatsächlich Regie führen wird. Die Produktion wird sich hier umsehen. Sich erkundigen. Und was wird sie hier finden?“
Er sah in die hoffnungslos hoffenden Gesichter seiner Kollegen.
„Na uns!“, platzte Theo heraus. Lena strich sich lächelnd die blauen Haare nach hinten. Milan versuchte, mit den Händen die Kellnerin an den Tisch zu locken, ohne den Monolog zu stören.
„Falsch.“ Alle sahen Mika an. Susi wollte einhaken, ihre wirren Pläne, in denen sie den Produzenten beschatten wollte, verteidigen, aber Mika war schneller.
„Sie werden gar nichts finden, überhaupt nichts. Kein Studio, keinen Equipmentverleih, keine Filmtruckvermietung, keinen Cateringservice, keine Komparsenfirma, keine Locationscouts, keine Prestigeprojekte – nichts. Und dann, vielleicht dann, finden sie uns: einen Haufen von unorganisierten Indies, die nichts als kleine Projekte vorzuweisen haben und halb am Absaufen sind. Und deshalb werden sie alles mitbringen. Vom ersten Regieassistenten bis zum letzten Schraubendreher. Das Einzige, was sie lokal rausgeben werden, sind Runnerjobs – als Praktikum für die ganz verzweifelt Hoffnungsvollen. Und wisst ihr, was passieren wird, wenn sie fertig sind mit den Dreharbeiten?“
Die Stille seiner Freunde und Kollegen war bedrückend, er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht hier, am Baum unter dem sie saßen, aufknüpfen würden.
„Genau – gar nichts. Sie packen zusammen und sind wieder weg. In der Heimat werden sie dann erzählen, dass es da eine kleine Möchtegerngroßstadt gibt, die noch total unverbraucht ist; neue Motive, Stadtverwalter, die noch nicht die Augen verdrehen, wenn die das Wort „Filmproduktion“ hören, Studenten und Indies, die bereit sind, sich einen Arm abzuhacken, um dabei zu sein. Und sie werden die Geschichte vom heiligen Drehortmekka verbreiten und dann werden vielleicht neue Filme hier produziert werden. Und die werden es genauso machen und alles und alle mitbringen. Und wenn jemand jetzt irgendwas gründet, säuft das einfach ab. Weil hier nicht oft genug gedreht werden wird. Weil wir einfach zu nah an der eigentlichen Industrie dran sind. Wir können hier nichts Eigenes aufbauen. Keiner braucht das ganze Getöse zweimal innerhalb von hundertdreißig Kilometern.“
Die Worte schmerzten ihn selbst. Es waren Gedanken, die er sich nur heimlich dachte. Sie auszusprechen, machte sie realer, als ihm lieb sein konnte.
Es war still am Tisch; einige sahen verlegen in ihre Gläser, andere schüttelten den Kopf. Der Einzige, der zustimmend nickte, war Schmidt. Die Stimmung stand im Missverhältnis zum strahlenden Tag. Trotz des Kopfschüttelns war allen klar, dass Mika recht hatte. Er war immer ihr Anführer gewesen. Der Typ, der aus dem Nichts etwas erschaffen konnte. Aber gerade jetzt hätte er sie doch dorthin, auf die Höhen des Olymps führen können.
„Mann Mika, sieh das doch mal positiv!“ Susi hatte ihre Chance ergriffen. Alle wandten sich ihr zu. Die Diskussion startete wieder am Anfang.
Schmidt warf Mika unter seinen tiefen Brauen einen Blick zu. Und Mika hielt sich heraus.
Unterdessen war der Kaffee brodelnd fertig und von Lisa mit einem Schluck Milch versehen worden. Die Tasse mit beiden Händen umschließend, hatte sie sich an den Küchentisch gesetzt. Sie nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab, direkt neben eine kleine Papierrolle. Da lag ein neuer Gutschein für sie. Mika musste ihn gestern Nacht, als sie auf dem Sofa eingeschlafen war, gemacht haben. Das Papier war nicht weiß, eher gebrochen wie eine Eierschale, grob geschöpft und an einem Ende mit einem kleinen Holzstück der Längsseite nach verklebt, sodass es aufwickelbar war. Alle Gutscheine, die ihr Onkel ihr schenkte, sahen so aus. Wie eine Miniaturschriftrolle. Nach der Beerdigung hatte er ihr den ersten Gutschein geschenkt. Er hatte ihn während des Leichenschmauses gemacht, bei dem sich der Tisch in zwei Hälften geteilt hatte, auf deren Schnittstelle, der Grenze zwischen den Welten Lisa gesessen hatte.
– Eine Runde auf mich –
hatte auf dem Zettel gestanden.
Mika machte es sich zur Angewohnheit, diese Gutscheine an Lisa zu verschenken. Für niemanden sonst tat er das. Er wusste auch nicht genau weshalb, aber es erschien ihm passend. Die Möglichkeiten, die die Zettel mit dem Holzstück boten, waren unterschiedlich; von klein, unscheinbar und absurd wie
– Ein Spaziergang –
– Krisenkaffee –
– Wettschwimmen mit einem Bein –
– betrunkenes Wettrennen –
– Schwarzfahren –
oder
– Schwimmbadeinbruch –
bis hin zu größeren, ja eher Geschenken, wie
– Amsterdam und zurück –
– Konzert in London –
– Tattoo und Filmpremiere in Berlin –
– Fahrrad –
Lisa ging sparsam mit den Gutscheinen um, das fand Mika gut und sie war stolz darauf. Sie setzte sie nicht nach Lust und Laune, sondern überlegt ein, wenn es wirklich notwendig war. Das brachte sie immer wieder zu Momenten, die sie anders nicht erlebt hätte; wie, als sich ihr erster Freund Alex von ihr getrennt hatte und sie bemerkte, dass sie nun dringend eine Runde Armdrücken brauchte.
Und seine Versprechen wurden immer erfüllt. Ausnahmslos.
Lisa wickelte den Papierstreifen sacht von dem Holzstück. Mit schwarzer Tinte in seiner großzügig-verschwenderischen Schrift hatte ihr Onkel den Zweck des Gutscheins auf das Papier geschrieben:
– Einmal gerettet werden –
Sie sah einige Zeit auf die Worte, die das Papier aufgesogen hatte. Dann wickelte sie den Streifen sorgfältig wieder auf, holte ihren ockerfarbenen Jutebeutel, den sie neben ihre Lederjacke an die abgewetzte Garderobe gehängt hatte, und verstaute ihn darin. Sie zog ihre Schuhe an, warf sich, da es ein schöner, sonniger Tag war, die Jacke über die Schulter und öffnete die Wohnungstür.
Sie sah zurück, überlegte einen Moment. Es war nur ein Schritt zurück. Nur ein weiterer zu Mikas Schreibtisch.
Sie schloss die Türe wieder, ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich auf den großen Polstersessel, der langsam den Lederbezug verlor. Lisa nahm sich einen Block und einen Stift und begann unvermittelt, zu schreiben.
Mika trank noch ein Bier und sah zu, wie sich die Diskussion wieder in die Bahnen bewegte, die sie vor seinem Einspruch genommen hatte. Er war ein Trabant seines früheren Heimatplaneten geworden. Schmidt saß neben ihm. Die Arme über dem massigen Körper verschränkt. Das hitzige Reden der Freunde geriet zum unverständlichen Sermon. Mika beugte sich etwas zu Schmidt.
„Sag mal, hast du was von Justus gehört?“
„Schmidt nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug. „Nein. Schon länger nicht mehr. Das letzte Mal habe ich ihn bei der Ausstellung gesehen.
Warum fragst du?“
„Mach mir Sorgen um ihn... Beim letzten Mal, als ich ihn gesehen habe, bei ihm... also... kennst du das Porträt?“
Schmidt nickte. Über den Tisch hinweg warf Susi Mika einen bösen Blick zu. Mika lächelte spöttisch zurück. Sie war gerade dabei, in einem überdimensioniert wirkenden Schreibbuch die Ergebnisse des Treffens festzuhalten. Mika trank in einem Zug seinen Krug leer, stellte das leere Glas ab und legte einen Schein daneben. Im Aufstehen klopfte er mit den Knöcheln auf den Tisch.
„Viel Erfolg allerseits.“ Dann zu Schmidt: „Meld dich mal. Und sag Bescheid, wenn du was von Justus hörst.“ Die Gruppe sah ihm nach. Er konnte die Blicke förmlich spüren. Er schwor sich, recht zu behalten. Endgültig niedergeschlagen schlenderte er die Straße hinab. Er wollte nach Hause, noch ein wenig schlafen, dann sich den Schweiß von der Haut duschen, um die Nacht hinter dem Zapfhahn überstehen zu können. Irgendwoher musste das Geld kommen.
Er wusste, dass sein Zug längst abgefahren war, dass es hier nichts mehr zu erreichen geben würde. Aber er wusste auch nicht wohin. Ebenso wie die letzten Jahre hatten seine Bemühungen nichts hervorgebracht, außer kleinen Projekten. Er hatte einfach zu spät mit alldem angefangen, war zu sehr an seine Heimatstadt geknüpft.
Er gelangte zu dem alten Sandsteinbau, in dem er wohnte, genoss die kühle Luft des Hausflurs und als er an seiner Wohnungstüre angekommen war, hatte sich ganz weit unten in seinem Bewusstsein eine Idee eingenistet, ein Gedanke, der nur „fort“ hieß – Flucht nach vorne.
In seinem Arbeitszimmer sah er Lisas Pferdeschwanz über der Lehne des Arbeitssessels, den er bei der Auflösung einer Arztpraxis abgestaubt hatte. Sie wippte leicht im Takt des Stiftes, der über das Papier huschte.
„Was machst du da?“
„Schreiben.“
„Das ist gut.“
„Wie war das Treffen?“ Lisa kannte die Freunde und Kollegen ihres Onkels. Sie wäre gerne mitgekommen, um sie wiederzusehen.
„Darüber will ich nicht reden.“
Der Stift hielt inne.
„Ich muss mich ein bisschen hinlegen.“
Mika verließ das Arbeitszimmer und versank in einen tiefen, schwitzenden Schlaf, lang hingestreckt auf dem Bett.
Und Lisa schrieb.
Die Kurzgeschichte, die Lisa aus einer pubertären Idee heraus geschrieben hatte, fand er erst einige Wochen später. Er kam, nachdem er mit Kollegen den Feierabend im Alkohol ertränkt hatte, gegen acht Uhr morgens nach Hause. Er war aber nun, da der Tag auch schon wieder da war, nüchterner als er angenommen hatte und beschloss deswegen, noch Zeit am Schreibtisch zu verbringen, ohne dabei ein bestimmtes Ziel zu haben. Er schob die Notizen des Vortages für das Drehbuch für ein Musikvideo einer lokalen Band, an dem er gerade arbeitete, zur Seite. Die Schrift auf dem darunter hervorkommenden Blatt irritierte ihn, da es nicht seine war.
Er las die Geschichte in einem Zug und sank dann gegen Mittag ins Bett, mit dem Geschmack eines anklingenden Katers und eines entstehenden Plans auf der Zunge.
Als sich Lisa und Mika einige Tage später trafen, legte er ihr die Geschichte auf den Tisch des kleinen Cafés, in dem er Milan zu treffen hoffte, da er von ihm immer noch Geld bekam, das er dringend brauchte. Dass Milan nicht hier herumhing, konnte nur bedeuten, dass er endgültig von seinen Schwierigkeiten gefressen worden war, oder einfach wie immer keine Kohle hatte, um hier Bier trinkend herumzuhängen.
„Was ist das?“
Sie sah über die Kaffeetasse hinweg zu ihm.
„Ich hab dir gerade was erzählt.“ Lisa klang trotzig.
„Und ich habe dir gerade eine Frage gestellt. Was ist das?“
„Eine Kurzgeschichte…“, antwortete sie kleinlaut.
„Von dir?“
„Ijah“, dehnte sie ihre Antwort.
„Ja oder nein?“
„Ja, von mir.“ Sein harter Ton irritierte sie. „Was soll das?“
„Schreibst du mehr?“
„Oft, ja.“
Mika nickte und streckte sich über den Tisch gebeugt Lisa entgegen, bis er ihr tief in die Augen sah. „Ist das ernst?“
Sie überlegte. Dann sagte sie nickend, den ernsten Blick ihres Onkels imitierend: „Ja.“
„Gut, sieh dir an, was ich dazu notiert habe, nächste Woche reden wir dann noch mal drüber.“
Dann lächelte er sie an.
„Was hast du gerade erzählt?“
Mika schleppte sich nach einer langen Schicht zwischen Bier und Schnaps an den Briefkasten. Trotz des Rausches drang ihm die Kälte durch seine Lederjacke tief in die Knochen. Nur der Abschied von Anna war noch warm auf seinen Lippen. Aber die Erwartung hatte ihn nach Hause getrieben. Er hatte ganz langsam, Stück für Stück, einen Kontakt aufgebaut. Ein junger Unternehmer, der Erste hier, der scheinbar mit Hand und Fuß dabei war, eine Produktionsfirma zu gründen und der in den letzten eineinhalb Jahren Interesse an Mikas Arbeit gezeigt hatte. Nachdem Mika die neueste Fassung seines Drehbuchs fertiggestellt hatte, hatte er es ihm zusammen mit einem – wie sein Vater gesagt hätte – „handschriftlichen Schreibebrief“ in den Briefkasten geworfen. Und hoffte auf Antwort. Jeden Tag aufs Neue. Und heute, war er sich sicher, würde sie da sein.
Der Schlüssel verhakte sich in dem Schloss des blechernen Briefkastens. Mika rüttelte kraftlos fluchend daran.
Über diese eineinhalb Jahre schien sich für Mika alles eingedampft, reduziert zu haben wie ein Sud, der, über Stunden gekocht, immer dicker und weniger wurde. Es gab nur noch die drei Punkte, um die er sich drehte:
Schaffengehen.
Das Hoffnung schüren.
Die Arbeit mit Lisa. Die Zeit mit Lisa. Die Hoffnung für Lisa.
Mika widmete sich und seine Zeit, all sein Können und Wissen, das er sich selbst hart erarbeitet hatte, seiner kleinen braunäugigen Nichte. Er las alles, was sie schrieb, kritisierte und korrigierte es, half ihr dabei, Wettbewerbe und Schreibwerkstätten ausfindig zu machen, stellte ihr Lektüre zusammen und gab ihr Leseaufgaben. Und Lisa übernahm die Besessenheit ihres Onkels, die er in seiner Jugend nicht anerzogen bekommen hatte; die Disziplin, den Willen, den er sich über die Jahre erarbeitet hatte, und genoss gleichzeitig die Nächte mit ihm in Bars und auf Konzerten, zwischen seinen seltsamen Freunden und seinem Hang zum Exzess.
Sie wurde immer besser. Stück für Stück.
Mika indessen vergrub sich immer mehr und wurde im Beisein von anderen immer fröhlicher, wenn er getrunken hatte und daheim, alleine war, immer einsamer, sodass er sich wünschte, wieder zu trinken. Die Kontakte zu seinen Kollegen und Freunden waren über die vergangenen eineinhalb Jahre seit der Konferenz im Biergarten unter der großen Buche sporadischer geworden. Er hatte kein Projekt, um sie einzubinden, kein Geld dafür, keine Zeit und alle seine Ideen wuchsen auf Größen heran, die er nicht umsetzen konnte. Manchmal glaubte er, während er angesoffen die menschenleere Bar putzte, um sie für den nächsten Tag vorzubereiten, dass er gemieden wurde, wegen seiner harten Worte, weil er nicht nur sich, sondern auch allen anderen nichts mehr zutraute.
Nur in Lisa investierte er sein Vertrauen.
Er baute sie auf wie ein Boxtrainer, der mit jeder Einheit seinen Kämpfer zum Champion machen will. Mika wurde der gealterte Trainer, der nie das erreicht hatte, was er hätte erreichen können und forderte dafür seinen Schützling umso mehr. Nach einem halben Jahr kam er auf die Idee der Fingerübung, um Routine in ihr Schreiben zu bringen und um eine Art Abhängigkeit zu schaffen; ihr beizubringen, dass sie schreiben musste, um sich vollständig und wohl zu fühlen.
Jede Woche erhielt Lisa eine Fotografie von Mika. Völlig unterschiedlicher Art. Mal waren es Schnappschüsse, mit der Handykamera aufgenommen. Dann wieder vorbereitete Fotografien aus seiner Sammlung. Oder die Aufnahme des Selbstporträts, an dem Justus gerade verzweifelte. Momente und Gegenstände, Assoziationsketten, die er ihr anlegte. Zu jeder Aufnahme musste Lisa einen Text, gleich welcher Art und Länge, verfassen; egal ob Prosa, Lyrik, Impression oder Kurzgeschichte, sie hatte eine Woche dafür und musste sich strikt an die Abgabe halten. Seine Schwester hasste ihn dafür, denn nun wollte Lisa nur noch das Eine, nur noch das und nur das:
Schriftstellerin werden.
Mika rüttelte an dem Briefkastenschlüssel und mit einem schnappenden Geräusch brach das müde Metall.
„Fuck! Du Scheißteil.“ Mikas Faust landete seitlich auf der Türe des Briefkastens und hinterließ hallend eine Delle in dem schlecht lackierten Blech. Durch die Schlitze unterhalb der Türe konnte Mika den Brief sehen. Er versuchte, die Finger durch die Öffnung an das Papier zu bekommen. Es fehlte kaum ein Zentimeter. Mika drückte seine Hand fester hinein. Es reichte nicht. Er versuchte, die Hand lang und dünn zu machen und schob mit einem kräftigen Ruck, konnte das Papier schon fühlen. In der Hoffnung, besser heranzukommen, bewegte er die Hand nach links. Das Blech schnitt ihm in die Hand. Er zog sie heraus und sah irritiert und übernächtigt auf den klaren Schnitt, der quer über seine Handfläche verlief. Mit der unverletzten Hand holte er sein Handy hervor und machte ein Foto.
Das Rot des austretenden Blutes leuchtete auf dem Bildschirm, direkt neben dem Original.
Eine weitere Aufgabe für Lisa.
In einem halben Jahr würde Lisa die Schule beenden, es wurde nun ernst für sie und für ihn. Sie begann damit, ihre eigens erdachten Klischees zu bedienen, rauchte dick gedrehten Schwarzen Krauser, verbrachte Tage in Cafés, auf ihrem Zimmer oder in der Wohnung ihres Onkels mit Notizbuch und Laptop. Er verdoppelte seine Aufgaben für sie und trieb sie von einem Wettbewerb zum anderen, hatte mit ihr eine Schreibwerkstatt erobert, in der Lisa ihre Sommerferien verbracht hatte. Die schulischen Aufgaben erledigte Lisa, um ihrer Mutter den Wind aus den Segeln der Kritiktiraden zu nehmen, zwar mit einem Minimum an Aufwand, aber mit maximalem Ergebnis.
Sie hatte das Talent zum Überleben.
Mika wusste das.
Er fischte umständlich mit der linken Hand nach dem Brief und blutete mit der rechten auf den alten Steinboden des Hausflures. Mika erwischte schließlich mit den Fingerspitzen den Brief, den er nun durch anhaltenden Druck hinauf zum Briefkastenschlitz führen konnte.
Vor einigen Wochen war Lisa bei ihm aufgetaucht, den Jutebeutel über der Schulter, und hatte einen der Gutscheine am hölzernen Ende in der Hand. Es war gegen sieben Uhr morgens und Mika war völlig zerknautscht. Lisa hatte Liebeskummer und einen heftigen Streit mit ihrer Mutter hinter sich.
– Zwei Tage fort –
Sie fuhren gemeinsam an den Stadtrand von Leipzig in eine alte verfallene Villa, die eine Freundin von Mika für wenig Geld erworben hatte. In dem ehemals großen Ballsaal veranstaltete sie Technoparties, in dem riesigen Garten züchtete sie Bienen und selbst gebastelte Bänke für diejenigen, die nach durchgetanzter Nacht noch Sonne und mehr zu trinken brauchten. In der Wohngemeinschaft im ersten Stock kamen Lisa und er unter. Vor ihrer Abreise wanderte Mika mit Lisa durch die Stadt, suchte seinen Weg und blieb dann vor einem ehrwürdigen Bau stehen.
Lisa versuchte zu sehen, was er ihr zeigen wollte, als er mit ausgestreckter Hand auf das Gebäude zeigte.
„Was ist das?“
„Das ist das deutsche Literaturinstitut.“
Sie standen eine Weile davor. Mika beobachtete Lisa, wie sie ihrerseits das bewegungslose Gebäude beobachtete.
„Ich helfe dir dabei, wenn du möchtest.“
„Ja, bitte Mika, ich will hierher.“
Das Training hatte nun das Ziel, dort genommen zu werden. Beim ersten Mal. Nicht wie Mika, der immer nur abgelehnt worden war. Sie sollte es schaffen. Titelkampf.
Mika riss den Brief auf.
Lieber Mika,
erst einmal Danke für dein Drehbuch.
Ein spannender Stoff, aber ich denke, du überhebst dich damit.
Ich habe dafür keine Kapazität. Falls du jemanden als Produzenten im Boot hast, sag Bescheid.
Liebe Grüße,
Stevie
Am Rand sog sich das Papier rot mit dem Blut aus Mikas Hand. Unter seinen abgetragenen Stiefeln hatte sich eine schmutzige Pfütze aus Schmelzwasser gebildet. Sein Kiefer malmte, dann nickte er, zerknüllte den Brief und warf ihn in den kleinen Plastikeimer, der für lästige Werbung und Sonntagskäseblätter von der Hausverwaltung unter der Briefkastenzeile bereitgestellt worden war.
Mika nahm mehrere Stufen auf einmal, sperrte die Türe auf, ging direkt in das Badezimmer und wickelte sich ein Handtuch um den Schnitt, setzte sich an den Rechner und schickte Lisa das neue Bild. Sie hatte jetzt noch ein halbes Jahr vor sich, dann war die Schule vorbei, dann würde sie ihr Abitur haben und aus Ernst würde blutiger Ernst werden. Für Mika war das schon lange alles Krieg. Und ein halbes Jahr vergeht schnell, wenn man sich auf eine Invasion vorzubereiten hat.
Es hatte sich quer über die Innenfläche der Hand eine Narbenwulst gebildet. Mika öffnete und schloss langsam die Hand. Mit dem Daumen verdeckte er sie, fuhr darüber. Wenn er lange schrieb, spannte die vom Briefkasten hinterlassene Narbe. Er hätte die Wunde versorgen lassen sollen. Das Fenster stand offen und der warme Abend quoll in das enge Zimmer. Es war schon weit nach Mitternacht und Mika war gerade dabei, sich zusammen mit den Projektnotizen für einen Film, den er schon lange verloren wusste, in den Müll zu werfen. Das Klingeln riss ihn aus den Gedanken und fort vom Schreibtisch. Er stolperte durch die dunkle Wohnung zur Türe, öffnete sie und drückte gleichzeitig den alten Türsummer. Er hoffte auf Anna.
Das Licht sprang an.
Frauenschuhe klackten die Treppe hinauf.
Im Licht des Hausflurs kam seine Schwester die Stufen herauf. Sie war gut gekleidet, als ob sie zu einem geschäftlichen Meeting gehen würde, und sie wirkte kalt wie Stein.
„Hallo Mikesch.“
„Hallo Schwesterherz, komm rein.“ Mika lächelte. „Immer möchtest du nicht hereinkommen.“
„Hör mir zu: Sie hat jetzt ihr Abitur bestanden. Sehr gut sogar, was bei den Flausen, die du ihr in den Kopf setzt, ein Wunder ist. Aber sie ist klug. Wenn auch nicht klug genug, um zu begreifen, dass du versuchst, deine Träume durch sie zu verwirklichen.“
Sie hatten die gleichen hellblauen Augen, als ob es diese Augenpaare dreimal gegeben hätte. Mama, Tochter, Sohn; wie ein einziges Blau.
„Na dann wären wir schon zwei“, sagte Mika lächelnd.
„Hör zu, Bruderherz.“ Sie spie das Wort aus, als ob es bitter wäre. „Du wirst sie jetzt in Ruhe lassen. Lisa hat jetzt die Chance, etwas Gutes aus sich zu machen. Etwas Sinnvolles zu lernen, einen guten Mann zu finden.“ Miranda legte ihrem Bruder den Zeigefinger auf die Brust. „Lass sie in Ruhe.“
Mika atmete durch.
„Sie hat Talent, deine Lisa, wirklich – und noch viel wichtiger ist, sie hat den Willen, zu arbeiten und alles auf eine Karte zu setzen.“
Das Licht im Hausflur erlosch. Mit energisch unterdrücktem Zorn betätigte Miranda den kleinen Knopf in der Mitte der Wand zwischen den Wohnungstüren und das Licht sprang wieder an.
„Du kennst sie nicht, sie tut dir gegenüber so stark, um dich zu beeindrucken. Aber ich kenne sie. Sie hat nicht die Kraft, in so einem Haifischbecken zu bestehen, in dem du dich ja wohlfühlen magst. Das machen ihre Nerven nicht mit. Du machst sie kaputt. Also: Lass-sie-in-Ruhe!“
Die Geschwister sahen sich an. Beide wirkten gewaltbereit. Dann drehte Miranda sich um und begann, die Treppen hinabzusteigen.
„Wovor hast du eigentlich solche Angst? Davor, dass sie Erfolg hat? Mit etwas, das du nicht schätzt?“
Seine Schwester lachte schnaubend, drehte sich um und sah ihn an.
„Du kapierst es nicht, oder? Ich habe Angst davor, dass sie endet wie du. Einen Traum jagend, der schon vor Jahren zerplatzt ist, der dich mit knapp dreißg in einer kleinen Wohnung vom roten Teppich oder weiß ich was träumen lässt – und nichts erreichst du hier, gar nichts.“ Sie sah, dass ihre Worte jetzt schon in ihm arbeiteten.
„Ich habe Angst davor, dass meine kleine Lisa meinem idiotischen Bruder in den seltsamen Krieg um seine Träume folgt, den unser verdammter Vater angezettelt hat.“
Sie sahen sich an. Mika musste an eine Rutsche denken, an eine große orangene Rutsche, auf der er sich früher nur mit ihr getraut hatte, jauchzend hinabzugleiten. Die Klebrigkeit des Momentes kotzte ihn an.
„Du hast schon lange verloren, kleiner Bruder“, fügte sie ehrlich bedauernd an.
Dann drehte sie sich um und ging die Treppen hinab. Sie würde ihn erst wieder ansehen, wenn ihre kleine Lisa vor ihm und seinen Träumen in Sicherheit sein würde.
Er sah ihr nach.
Dann sah er nur noch in den leeren Hausflur.
Sein eigener Schatten fiel lang die Treppen hinab.
Dann erlosch das Licht.
Und er stand nur von der Seite seiner Wohnungstüre beleuchtet da, spürte den rauen Untergrund der Fußmatte an den nackten Fußsohlen und starrte in die Dunkelheit, den Worten seiner Schwester und der orangenen Rutsche hinterher.
In seinem Inneren arbeitete es immer noch.
Ihre Worte, das „Hier“, von dem sie gesprochen hatte, rastete in die Nut des in Mikas erwachsenem „Fort“ ein. Ob er Lisa tatsächlich das antat, was Miranda ihm vorwarf, darüber dachte er nicht nach.
Mika schob die beiden ineinander verkeilten Wörter, die zu einer riesigen Bedeutung in ihm angeschwollen waren, vor sich her. Er wurde immer unzufriedener und launischer. Diejenigen, die ihn nicht gut kannten, schoben es auf das Künstlerklischee und wollten entweder gar nichts mehr, oder ihm auf die Nerven fallend, mehr mit ihm zu tun haben. Nur Lisa blieb gleichbleibend an der Seite ihres manischen Onkels und stürzte sich in die Vorbereitungen zur Bewerbung. Es schien, als ob Lisa immer schneller spurten und Mika immer langsamer schleichen würde. Nach wochenlangem Hin und Her-überlegen stellte er morgens Kaffee trinkend fest, dass seit dem Abend mit seiner Schwester ein dreiviertel Jahr vergangen war. Wie ein langgezogenes Gummiband schnellte Mika plötzlich zum Tisch und begann, das Kündigungsschreiben für seine Wohnung zu verfassen, während er sich fragte, wer seiner Freunde oder Verwandten so viel Platz haben könnte, seine Bücher zu beherbergen.
Das Telefon unterbrach seine Gedanken.
„Ja?“
„Mika, ich habs!“ Lisas Stimme überschlug sich, sie raschelte mit irgendetwas.
„Was hast du?“, sagte er nicht ganz bei der Sache.
„Sie haben mich eingeladen!“
Jetzt war er bei der Sache.
Vor vier Monaten hatten sie die gemeinsam immer wieder durchdachte, lektorierte und justierte Bewerbung an das Institut geschickt. Ihr Entwurf für einen Roman mit dem Titel „Königin Maab“ und ein ausgearbeitetes Kapitel waren die Grundlage. Mika hatte Lisa eingeschärft, dass es sein könnte, dass sie beim ersten Mal nicht einmal eingeladen werden würde. Sie hatte noch nichts Großartiges veröffentlicht, hatte zwar drei Wettbewerbe mit Kurzgeschichten gewonnen und hatte daher auch schon einmal auf der Buchmesse lesen dürfen, konnte die Referenz der Schreibwerkstatt am Chiemsee mit Bravour vorweisen, aber das alles und auch die Tatsache, dass „Königin Maab“ von Mika für gute Arbeit befunden wurde, waren keine Garantie. Er schärfte ihr ein, dass es sein könnte, dass sie sich mehrere Jahre lang bewerben musste. Und dass, selbst wenn sie es im ersten Anlauf schaffen würde, ihr drei unfair harte Tage bevorstehen würden. Seine Schwester war nicht mehr aufgetaucht, Lisa kommentierte das nur damit, dass sie Miranda auch nur noch selten sah, weil sie das Flehen und Schimpfen nicht mehr ertrug. Sie wohnte in einer WG, war direkt nach bestandenem Schulabschluss bei ihrer Mutter ausgezogen und hielt sich als Postbotin über Wasser. Und Mika hatte sich von seiner Heimatstadt ohne aktive Handlung verabschiedet, hatte die Arbeit mit Lisa als letztes Projekt gesehen. Das jetzt zu Ende ging. Sein Beschluss war, weit weg zu gehen. Dorthin, wo ihn eine vielleicht noch nicht erahnte Chance bringen würde. Der Plan, den er dafür hatte, behielt er für sich, aus Aberglauben. Früher, so hatte er festgestellt, hatte er immer die Wünsche und Pläne und Träume mit anderen geteilt. Er war vielleicht zu euphorisch gewesen, als ob er im Vorabfreudentaumel das erst wachsende Pflänzchen zerdrückt hätte. Er behielt also den genauen Plan seiner Entscheidung für sich. Und er hasste die Entscheidung und wollte gerade deshalb um jeden Preis zu ihr stehen.
„Das ist ja großartig. Glückwunsch Kleine, gut gemacht. Wann gehts los?“
„In sechs Wochen muss ich dorthin, dann wird dort vorgelesen und kritisiert und besprochen. Danach wählen sie aus den dreißig Eingeladenen zehn. Die sind dann ein Jahr dabei, als Probejahr.“ Sie klang betont lässig, zu lässig.
„Was machst du gerade?“
„Ich packe meine Bücher.“ Er versuchte, auch so betont lässig zu klingen. Es fühlte sich eher verzweifelt an.
Kurz war es still, er hörte bei ihr irgendwo Kinderlachen.
„Du willst wirklich weg, Mika?“
„Ja, ich muss – du schaffst es ja schon mit neunzehn, ich habe es immer noch nicht hinbekommen.“
„Warum bewirbst du dich nicht noch bei dieser Filmproduktion?“
„Vitamin B bringt einen da rein und nicht eine Bewerbung… Außerdem werden die alles mitbringen. Das habe ich schon vorletzten Sommer gesagt. Aber mir glaubt ja keiner.“
Die erfolglose Biergartenverschwörung setzte weiterhin akribisch auf ihren Plan, um irgendwie Teil des ersten Filmrummels in der kleinen Stadt zu werden. Mika distanzierte sich weiterhin, so wie sich wegen seiner Haltung alle von ihm distanzierten. Alle wollten sich lieber an eine vage Hoffnung, als an düstere Prophezeiungen klammern. Aber der Plan hatte bisher zu keinem Erfolg geführt. Mika sah sich dadurch bestätigt, woraus er auch keinen Hehl machte. Das machte ihn unbeliebt und letztlich einsam. Vielleicht ein weiterer Grund, weshalb er einerseits dachte, wegzuwollen und sich andererseits innerlich und unbewusst darauf vorbereitete, nur vom grellen Bildschirm beleuchtet, aus Augenringen starrend, die Bewerbungsmail zu schreiben. Wenn er seine eigene Meinung widerlegen würde, könnte er vielleicht den Worten seiner Schwester entfliehen, die ihn nachts verfolgten. Er müsste nur eine Chance bekommen. So könnte er den Worten, die das Ungetüm nährten, dem Alptraum, sinnlos in der eigenen Stadt wie das Opfer einer Messerstecherei zu sterben, entkommen. Er hätte das alles sagen, es zugeben können.
Stattdessen sagte er:
„Wir feiern das nächste Woche, ja?“
„Ja, machen wir.“
Am nächsten Donnerstag nahmen sie sich mindestens fünf Kneipen vor, blieben aber bereits in der ersten, Mikas Stammkneipe, hängen und feierten dort lange und anhaltend. Er lobte sie den ganzen Abend in den Himmel hinauf und kettete sie mit Schnaps an die Erde, bis sie ein Taxi brauchte, in das sie auf der kurzen Strecke des Nachhausewegs einmal kotzte.
Mika war gelaufen. Der Tag dämmerte heran; alleine und besoffen schwankte er nach Hause.
Als er die Wohnung betrat, blieb er in der Türe stehen und sah sich um. Seine halb eingepackte Wohnung sagte ihm nichts mehr und das Kündigungsschreiben lag wie eine Anklageschrift ungeschickt auf seinem Schreibtisch. Dieser letzte Schritt, der seine Entscheidung zumindest symbolisch besiegeln würde, zu dem hatte er sich bisher nicht durchringen können. Auf dem Umschlag war schon Staub.
Ohne genau darüber nachzudenken, fuhr er den Rechner hoch, suchte die Website der Produktionsfirma. Es wäre der Scherz des Jahrhunderts, wenn ausgerechnet derjenige, der unkend und düster prophezeiend durch das Eintreten des Gegenteils seiner Weissagungen eine Chance erhalten würde. Er öffnete das Mailprogramm, kopierte die Adresse und schrieb eine kurze, ohne Umschweife und falsche Freundlichkeit formulierte Email, in der er sagte, dass er Erfahrung mit Filmprojekten unterschiedlichster Art habe, dabei war, die Stadt zu verlassen, und dass er gerne als Regieassistent arbeiten würde, da dies für ihn und seine Zeit hier ein schöner Abschluss wäre. Er hängte sein Portfolio an, verschickte die Mail und schleppte sich trunken ins Bett, um angezogen in einen tiefen Schlaf zu verfallen.
Mika riss sich aus seinen Gedanken, als ob er mehr geträumt denn gedacht hätte. Er sah über den stillen Parkplatz hinweg. Die Leere stimmte ihn melancholisch. Die unausgesuchte Zufälligkeit der Ereignisse, die ihn hierher an den Rand dieses Kofferraums gebracht hatten, ließ ihn immer noch erstaunen. Die Ironie darin ließ ihn dagegen grinsen.
Als er den Anruf bekommen hatte, dass seine Initiativbewerbung vorliege, dass Interesse da sei wäre, einen „Local“ als zweiten Regieassistenten an Bord zu haben, dass er noch mit dem ersten Regieassistenten telefonieren müsse, ob er sich denn imstande sähe, ein Komparsencasting zu leiten und überhaupt die organisatorischen Aufgaben zu erfüllen, hatte alles urplötzlich Geschwindigkeit aufgenommen. Er hatte „Ja“ gesagt, obwohl er sich plötzlich vor dem professionellen Koloss, der da auf ihn zustampfte, fürchtete. Aber es war eine geile Furcht. Eine Furcht, die ihn seine Pläne, das Kündigungsschreiben und alle anderen Tätigkeiten verwerfen ließ. Er hatte beschlossen, wirklich „Ja“ zu sagen, die Chance als vollwertig zu sehen. Er kündigte seine Arbeit hinter dem Tresen und in der Küche und schmiss sich in die aufkommende Arbeitsflut.
Mit schweren Gliedern raffte Mika sich auf, und begann unter dem hohlen Blick der schwarzen Fenster die Kartons und Taschen in den Kofferraum zu verladen.
In dem hinteren Gebäude hatten Mika und sein Kollege gearbeitet. Unten im Foyer hatten die Scharen von Bewerbern gewartet, manche bis zu acht Stunden. An langen Tischen aufgereiht, von seinem Kollegen aus der Produktion mit ruhiger, aber bestimmter Art erst registriert – „Bitte füllen Sie das vollständig aus und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden“ –, dann beruhigt – „Jeder kommt dran, haben Sie einfach ein wenig Geduld“ – und schließlich aufgerufen – „Die nächste Gruppe bitte“.
In Fünfzehnergruppen wurden sie dann von einem Praktikanten des Senders den Flur hinabbegleitet. Er hielt freundlich lächelnd die Zettel in der Hand. Dann eine Treppe hoch, die in einen schmalen, fensterlosen Flur mündete. Wenn eine neue Gruppe ankam, konnte Mika durch die Türe die Sohlen auf dem Linoleum des Flurs quietschen hören, in dem unter zitternden Neonröhren die Luft stand.
Nervös suchte sich jeder einen Platz auf den Stühlen.
Schon wieder warten.
Mit Anspannung ging jeder anders um. Manche wurden still, manche wurden aufgekratzt und mitteilungsbedürftig, andere verwuchsen mit ihrem Smartphone:
Bin bald dran #casting.
Am Ende des Flurs war die Türe, hinter der Mika die auf drei Minuten angesetzten Castings abhielt. Bei manchen funktionierte die zeitliche Vorgabe. Andere wiederum entwickelten während des Castings einen Rededrang, der den zeitlichen Rahmen sprengte, oder waren potenzielle Anwärter auf eine kleine Nebenrolle mit ein, zwei Sätzen, wozu Mika sie vor laufender Kamera improvisieren ließ.
Die in dem Flur sitzenden Bewerber sahen sehnsüchtig dem Praktikanten nach, der in der Türe am Ende des Flures verschwand, Mika immer wieder Wasser, Kaffee und die Unterlagen brachte, um ihn am Laufen zu halten.
Mika war froh über den Raum, der ihm zur Verfügung gestellt worden war. Er machte es ein wenig erträglicher. Es war einer dieser Konferenzräume, im Hintergrund eine neu in die Wand gebrochene Balkonfront, durch deren geöffnete Türen der Sommertag hereinzwitscherte. In der Mitte des Raumes stand ein großer grauer Tisch, ein blau bezogener Stuhl dahinter, ein zweiter davor.
Auf dem Tisch stand der Laptop, Notizen zu jedem Einzelnen; abgehackt, aber doch so informativ, dass er den Bewerber einzuordnen vermochte. Daneben die bereits abgearbeiteten Menschen in Form ihrer Formulare. Der Praktikant tauschte den alten Stapel gegen den neuen.
Die Kamera auf dem Stativ wies mit schwarzem gleichgültigen Auge auf eine weiße Wand, vor der er die Bewerber und Bewerberinnen mit ihrem Namensschild für die Fotos positionierte.
Er hatte aufgesehen, den Praktikanten angelächelt, für ein gesprochenes Danke reichte die Kraft nicht mehr. Mika wartete, bis er den Raum verlassen hatte, sich auf den Weg machte, seinem Kollegen vor der lechzenden Masse den abgearbeiteten Stapel zurückzubringen. Ein Signal, die Nächsten zu schicken; eine Art Viehtrieb.
Ein Schluck Kaffee.
Die Halswirbel durch eine Kopfdrehung knacken lassen.
Ein ignorierender Blick auf die Uhr über der Tür. Die Zeiger waren unerbittlich.