Drei Wochen und ein ganzes Leben - Kerry Greine - E-Book

Drei Wochen und ein ganzes Leben E-Book

Kerry Greine

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Beschreibung

Pasta, Vino und Dolce Vita – das ist es, was Sienna vorschwebt, als sie in den Urlaub nach Italien fährt. Sie hat die Nase voll von ihren überbesorgten Eltern – schließlich ist sie erwachsen und kann gut auf sich selbst aufpassen. Unterwegs lernt sie den Fotografen Tino kennen. Das leichte Flair des Südens lässt die beiden den Alltag vergessen und die Funken zwischen ihnen sprühen. Doch was verschweigt Tino? Warum ist er manchmal so abwesend und nachdenklich? Durch einen unerwarteten Anruf erfährt Sienna, was Tino ihr zu verheimlichen versucht. Ihr Vertrauen in ihn und ihre Liebe ist zerbrochen. Sind Sienna und Tino bereit, füreinander zu kämpfen? Oder reichen drei Wochen nicht für ein ganzes Leben?

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Kerry Greine, Juli Larsson

Drei Wochen und ein ganzes Leben

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Samstag, den 10. Juni

Samstag, den 10. Juni

Sonntag, den 11. Juni

Montag, den 12. Juni

Freitag, den 16. Juni

Sonntag, den 18. Juni

Montag, den 19. Juni

Montag, den 19. Juni

Dienstag, den 20. Juni

Mittwoch, den 21. Juni

Donnerstag, den 22. Juni

Freitag, den 23. Juni

Freitag, den 23. Juni

Samstag, den 24. Juni

Sonntag, den 25. Juni

Donnerstag, den 29. Juni

Freitag, den 30. Juni

Freitag, den 30. Juni

Samstag, den 01. Juli

Dienstag, den 04. Juli

Dienstag, den 04. Juli

Mittwoch, den 05. Juli

Donnerstag, den 06. Juli

Donnerstag, den 06. Juli

Leseprobe „Ein Tropfen Liebe“

Impressum tolino

Samstag, den 10. Juni

~*~ Hamburg ~*~

„Und du bist dir ganz sicher, dass du das machen willst?“ Besorgt wanderte der Blick meiner Mutter zwischen mir und meinem überdimensionalen Trekkingrucksack hin und her. Ihre Augen schwammen in Tränen, doch sie kämpfte sichtbar dagegen an. Verständnisvoll lächelnd nahm ich sie in den Arm und drückte sie an mich. Ich wusste, wie schwer es ihr fiel, mich gehen zu lassen. Das war mir bereits klar, bevor ich diese Reise geplant hatte. Ich war ihr Baby, ihr Nesthäkchen, ihr Augapfel. Die letzten 25 Jahre war es ihre Aufgabe gewesen, mich vor allem, was mir schaden konnte, zu beschützen – und das hatte sie getan.

Zwar war sie dabei regelmäßig über das Ziel hinausgeschossen und hatte mir oft genug die Luft zum Atmen genommen, aber ich wusste immer, sie tat es aus Liebe zu mir.

„Ja, Mamma, ich bin mir ganz sicher! Und es sind ja nur ein paar Wochen. Ich habe es dir doch erklärt: Ich möchte auf den Spuren meiner Vorfahren wandeln und das Land kennenlernen, aus dem ich eigentlich stamme.“

„Deine Großeltern haben Sizilien nie wirklich verlassen. Da gibt es nicht sonderlich viele Spuren deiner Vorfahren, auf denen du wandeln kannst“, mischte mein Vater sich mürrisch ein und schüttelte genervt den Kopf. Während meine Mutter Probleme damit hatte, mich allein losziehen zu lassen, vertrat mein Vater die Meinung, es wäre rausgeworfene Zeit. Er konnte nicht nachvollziehen, warum ich – eine Tochter aus gutem Hause – freiwillig fast vier Wochen mit dem Rucksack durch Italien touren wollte. Ein Urlaub nach seinem Geschmack wäre es gewesen, mit dem Flugzeug erster Klasse zu fliegen und dann in Fünf-Sterne-Hotels zu wohnen.

Aber das war es nicht, was ich wollte. Ich wollte keine Upper-Class-Reise, ich wollte die Freiheit spüren, wollte Land und Leute kennenlernen, anstatt klimatisierter Hotels und viel zu teurem Essen. Ich brauchte keinen Prunk, keinen Glitzer und Glamour. Ich wollte das wahre Leben entdecken. Das Leben außerhalb der Mauern unserer Hamburger Villa und der besseren Gesellschaft. Doch das war ein Punkt, den mein Vater nie verstehen würde. Wir waren einfach zu unterschiedlich.

„Babbo, bitte!“ Flehend sah ich zu meinem Vater auf, der missmutig die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Ich mochte mich nicht noch mit ihm streiten, ich wollte nicht, dass wir so auseinandergingen. „Gib mir diese vier Wochen. Sie gehen ganz schnell vorbei und danach bin ich komplett für deine Kanzlei da.“ Beim Gedanken daran lief mir ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Es fühlte sich an, als wäre mein Leben nach diesen vier Wochen vorbei. Denn wenn ich wieder zu Hause war, musste ich in der Anwaltskanzlei meines Vaters antreten. Mein Jurastudium war abgeschlossen, die letzten Prüfungen lagen gerade hinter mir, bald ging der Ernst des Lebens los. Doch während meine Kommilitonen es gar nicht abwarten konnten, endlich loszulegen, bildete sich in meinem Magen ein unangenehmer Kloß.

Als ich Jolas alten Golf die lange Einfahrt zur Villa meiner Eltern hochkommen sah, wandte ich mich erneut meiner Mutter zu, die noch immer gegen die Tränen kämpfte.

„Vier Wochen, Mamma! Die vergehen ganz schnell, versprochen! Und wir werden zwischendurch telefonieren. Du wirst kaum merken, dass ich weg bin.“

Nun löste sich die erste Träne aus ihrem Augenwinkel. Schniefend wischte sie sie weg und schloss mich fest in die Arme. „Du bist einfach mein Baby, Sienna. Und du wirst es immer bleiben. Deine Geschwister sind schon so erwachsen, aber du … Jetzt verlässt auch du das heimische Nest und das …“ Sie brach ab und atmete tief durch, um sich wieder zu sammeln. Dann löste sie sich von mir und nahm meine Hände zwischen ihre. „Hier, falls du irgendetwas brauchst. Aber verrat es nicht deinem Vater“, sagte sie verschwörerisch, und ich spürte, wie sie mir ein Bündel Geldscheine in die Hand schob, während sie meinem Vater einen verstohlenen Blick zuwarf. Er bekam nicht mit, worüber wir sprachen, da er gerade Jola begrüßte, die aus dem Auto stieg.

„Mamma, ich habe genug Geld! Wirklich! Ich brauche es nicht!“, protestierte ich und versuchte, ihr das Geldbündel wiederzugeben, doch sie wiegelte ab.

„Sieh es als Notgroschen. Falls irgendetwas ist. Du weißt nie, was geschieht.“

Seufzend steckte ich das Geld ein und bedankte mich bei meiner Mutter. Ich wusste, sie meinte es nur gut, aber ich hätte ihr Geld wirklich nicht gebraucht – und eigentlich wollte ich es auch nicht.

Diese Reise war mein Wunsch. Sie war mein Ausbruch aus diesem goldenen Käfig, der mein Leben in den letzten fünfundzwanzig Jahren gewesen war. Sie sollte nicht dafür bezahlen, ich wollte es allein schaffen.

„Wollen wir dann los? Nicht dass der Zug noch ohne dich fährt.“ Jola riss mich aus meinen Gedanken. Ein Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk verriet mir, dass wir uns sputen mussten, wenn ich meinen Zug rechtzeitig erreichen wollte.

Schnell verabschiedete ich mich von meinen Eltern und hievte den schweren Trekkingrucksack in Jolas Kofferraum.

„Ich melde mich, wenn ich in Basel bin!“ Ich winkte den beiden noch einmal zu und stieg in den Wagen. Als wir die lange Auffahrt hinunterfuhren, konnte ich im Rückspiegel sehen, wie meine Mamma sich an Babbo schmiegte. In diesem Moment musste auch ich gegen einen Kloß in meinem Hals ankämpfen.

„Und du bist dir wirklich sicher, dass du mich nicht mitnehmen willst?“, fragte Jola, während sie durch Hamburgs Straßen fuhr, und schubste mich leicht mit dem Ellenbogen an.

„Ja, bin ich! Diese Reise ist nur für mich allein.“

„Aber du weißt, dass wir zu zweit eine Menge Spaß haben würden, oder? Wir würden Italien und vor allem die italienische Männerwelt mal so richtig aufmischen“, sagte sie kichernd.

„Das werden wir auch, Süße. Aber die Männerwelt muss warten, bis wir auf Sizilien sind.“

„Du bist gerade wirklich auf dem Selbstfindungstrip, oder?“

Ich zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster. Ein letztes Mal nahm ich meine Heimatstadt bewusst wahr, bevor ich für die nächsten Wochen verschwand und die Welt außerhalb der High Society, weitab von schicken Hotels, Nobelrestaurants und First-Class-Flügen kennenlernte.

„Selbstfindungstrip? Ich weiß nicht … Ich würde es eher als Abenteuer bezeichnen.“ Wir hatten bereits unzählige Male darüber gesprochen, und ich hatte Jola immer wieder erklärt, was mich antrieb.

„Das weiß ich doch, Süße! Und ich finde es toll, dass du es machst. Ich bin nur ein bisschen neidisch, weil du megacoole Orte sehen und wahnsinnig viel erleben wirst. Ich meine … Mailand! Was kannst du da shoppen!“

Kichernd schüttelte ich den Kopf. „Ich fahre doch nicht zum Einkaufen dahin. Außerdem ist Mailand längst nicht mehr so spannend, wenn man schon diverse Male da war. Ich will das Land kennenlernen und die Leute. Ich will mir selbst beweisen, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann, ohne dass Mamma und Babbo einspringen, wenn es mal schwierig wird. Abgesehen davon … Hast du dir mal meinen Rucksack angeschaut? Der ist so knallvoll, da passt nicht mal mehr ein Paar Socken rein. Shoppen ist also nicht.“

Am Hauptbahnhof angekommen, parkte Jola ihren alten Golf frech in einer Parkverbotszone.

„Willst du hier so stehen bleiben?“, fragte ich und deutete auf das Schild, das unübersehbar direkt vor uns hing.

„Klar! Ist ja grad keine Parklücke frei, und du glaubst doch nicht, dass ich dich allein zum Bahnsteig gehen lasse. Wenn meine beste Freundin zu so einem Abenteuer aufbricht, werde ich sie zumindest vernünftig am Zug verabschieden.“

„Und wenn du zurückkommst, ist dein Auto abgeschleppt“, gab ich zu bedenken, aber Jola lachte nur und stieg aus. Nach einem letzten Blick auf das Parkverbotsschild folgte ich ihr. Als ich am Kofferraum ankam, hievte sie gerade meinen Rucksack heraus.

„Boah, was hast du da drin?“, fragte sie ächzend und stellt ihn auf den Boden. „Hast du zur Sicherheit noch ein paar Backsteine mitgenommen? Damit du was zum Werfen hast, falls dich jemand belästigt?“

Ich schüttelte den Kopf und schnallte mir das schwere Teil auf den Rücken. Jola hatte recht. Wenn ich nicht wüsste, was ich alles eingepackt hatte, würde ich auch auf Backsteine tippen.

Als wir am richtigen Bahnsteig ankamen, war ich vollkommen aus der Puste. Mein T-Shirt und die Jeansjacke klebten unangenehm feucht an meinem Rücken. Schnell befreite ich mich von dem Ungetüm auf meinen Schultern und ließ den Rucksack auf den Boden fallen. Wenn ich daran dachte, dass ich das Teil die nächsten Wochen würde schleppen müssen, wurde mir ein wenig mulmig. Natürlich hatte ich das Gewicht des Trekkingrucksacks beim Packen getestet, doch ihn einmal kurz hochzunehmen und wieder abzustellen war etwas ganz anderes, als ihn über Hunderte Meter zu tragen. Na super! Das konnte ja heiter werden. Ich sah mich schon ächzend vor Schmerzen und Muskelkater irgendwo am Straßenrand liegen. Schnell schüttelte ich den Kopf, um diese Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben.

„Und du bist sicher, dass du nichts vergessen hast?“, fragte Jola und stupste meinen zwischen uns stehenden Rucksack mit der Schuhspitze an.

„Selbst wenn, wäre es jetzt wohl ein bisschen zu spät“, erwiderte ich. „Aber nein, ich denke, ich hab alles.“ In diesem Moment wurde ich von einem einfahrenden Zug unterbrochen, der lautstark an uns vorbeiratterte und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam.

„Auf geht’s!“, sagte Jola und trat vor mich. Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und drückte leicht zu, bevor sie mich in ihre Arme zog. „Ich wünsche dir ganz viel Spaß und tolle Erfahrungen. Genieß dieses Abenteuer – aber lass die Finger von der Männerwelt. Vergiss nicht, die erobern wir gemeinsam, wenn wir uns auf Sizilien treffen. Ich freu mich schon! Am liebsten würde ich gleich anfangen zu packen.“

„Na, das wäre wohl ein wenig früh“, erwiderte ich feixend. „Du musst noch ein bisschen warten. Aber ich freue mich drauf, dich in drei Wochen am Flughafen in Empfang zu nehmen. Und bis dahin … wird sicher alles gut gehen. Ich hab dich lieb, Süße!“ Ich gab Jola noch einen Kuss auf die Wange, dann stemmte ich den Rucksack erneut auf meinen Rücken und stieg in den ICE, der mich zu meiner ersten Station nach Basel bringen würde.

Nachdem ich das richtige Abteil gefunden hatte, richtete ich mich für die nächsten Stunden häuslich ein. Bisher hatte ich noch keinen Mitfahrer, daher konnte ich mich ein wenig ausbreiten.

Jola hatte den Bahnsteig schon verlassen. Wahrscheinlich hatte sie doch Sorge, dass ihr Auto abgeschleppt werden könnte. Als der Zug den Bahnhof verließ, lehnte ich mich entspannt zurück und schloss die Augen.

Das Bild meiner Mamma erschien in meinem Kopf. Wie traurig sie auf der Auffahrt gestanden und dem Wagen hinterhergeschaut hatte. Wie sie sich dort an meinen Vater gelehnt hatte, wirkte sie so klein und zart. Ich wusste, es tat ihr weh, mich gehen zu lassen. Doch sie wusste, sie hatte keine Chance, mich zu halten.

Ich erinnerte mich, wie meine Eltern reagiert hatten, als ich ihnen vor ein paar Wochen von meinen Reiseplänen erzählte. Meine Mutter war in Tränen ausgebrochen und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Immer wieder betonte sie, wie gefährlich es doch wäre, als Frau allein zu reisen. Sie zählte auf, was alles passieren konnte, und versuchte, mich umzustimmen.

Mein Vater hingegen hatte ganz anders reagiert. Als Familienoberhaupt hatte er nur grimmig die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf geschüttelt und gesagt: „Nein!“

Nur dieses eine Wort. „Nein!“

Jedes Mal, wenn ich versucht hatte, ihm zu erklären, dass ich trotzdem fahren würde, dass ich bereits gebucht hatte, kam es wieder: „Nein!“

Für ihn gab es keinerlei Diskussion. Er sagte kategorisch nein und ich hatte zu spuren. So war es immer gewesen. Doch ab sofort nicht mehr!

Ein paar Tage lang ging es so. Meine Mamma versuchte, mich mit Horrorstorys, die sie irgendwo gelesen hatte, umzustimmen. Sie erzählte mir von ausgeraubten Touristinnen. Von in der Bahn geklautem Gepäck. Von Vergewaltigungen. Von Messerstechereien. Von im Schlaf Ermordeten in irgendwelchen Hostels.

All das waren Sachen, die ich nicht hören wollte. Sosehr ich Mamma verstand, ich wollte mir von ihr keine Angst machen lassen.

Von meinem Vater hingegen kam auch in den Tagen danach nur dieses eine Wort, wenn ich versuchte, auf meine Reise zu sprechen zu kommen. Nein!

Irgendwann fragte ich ihn, ob er eigentlich wüsste, dass ich fünfundzwanzig Jahre alt sei und somit durchaus in der Lage und gesetzlich befugt, solche Entscheidungen selbst zu treffen.

„Meine Tochter wird nicht wie ein Hippie mit Bus und Bahn quer durch Italien reisen!“, war seine Antwort. Damit ließ er mich stehen. Er hatte seinen Standpunkt wieder einmal klargemacht.

Zwei Tage später lenkte er unverhofft ein. Was ihn dazu getrieben hatte, verstand ich bis heute nicht. Er vertrat zwar noch immer die Meinung, dass es rausgeworfene Zeit wäre, aber es kam nicht mehr das kategorische „Nein“ von ihm. Er schien sich damit abzufinden, da er sowieso nichts dagegen machen konnte, dass ich fuhr. Ich war überrascht, weil er meine Entscheidung auf einmal akzeptierte, und freute mich, dass ich es geschafft hatte, mich gegen meinen Vater zu behaupten. Das war in meinem Leben eher selten der Fall gewesen. Meist gab er Anweisungen, und die Familie hatte Folge zu leisten, ohne aufzumucken. So war es auch mit meinem Studium. Von klein auf war klar, dass ich Jura studieren und ebenso wie meine drei älteren Geschwister in die Kanzlei meines Vaters einsteigen würde. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich diesen Beruf für mich selbst gewählt hätte, wenn es meine Entscheidung gewesen wäre. Da es allerdings nicht meine Entscheidung war, hatte ich nie weiter darüber nachgedacht, was ich vielleicht lieber studiert hätte. Ich wollte mich nicht damit befassen, weil ich keine Sehnsucht, keinen Wunsch wecken wollte, der unerfüllbar bleiben würde.

„Hier noch Kaffee? Etwas Kaltes? Ein Schokoriegel?“ Ich öffnete die Augen, als eine männliche Stimme an mein Ohr drang. In der Tür zum Abteil stand ein Mann mit einem Servierwagen aus dem Bordrestaurant. Kaffee war jetzt gar keine so schlechte Idee.

„Haben Sie auch Cappuccino?“, fragte ich und der junge Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, tut mir leid. Cappuccino gibt es nur im Bordrestaurant. Ich habe bloß normalen Filterkaffee.“ Entschuldigend deutete er auf die große Thermoskanne.

„Okay, dann hole ich mir dort einen. Vielen Dank.“ Während ich in meinem Rucksack nach meinem Portemonnaie kramte, schloss er die Tür und zog weiter. Als ich es gefunden hatte und den Kopf wieder hob, sah ich, wie jemand in mein Abteil hineinschaute. Die Hände rechts und links an das Gesicht gelegt, starrte er durch die Scheibe, bis er merkte, dass ich ihn entdeckt hatte. Es ging so schnell, ich konnte das Gesicht nicht klar erkennen, denn im selben Moment zog derjenige hektisch den Kopf ein und eilte weiter. Eigentlich war gar nichts dabei. Vermutlich war es nur ein anderer Fahrgast, der seinen Platz gesucht hatte. Dennoch kam mir die Situation merkwürdig vor. Ich konnte nicht sagen warum, es war nur ein Bauchgefühl. Aber leider ein ungutes …

„Was war das denn?“, fragte ich mich leise. Dann schüttelte ich über mich selbst den Kopf. „Hat der Typ sich gerade wirklich benommen, als hätte ich ihn bei etwas ertappt? Oder werde ich jetzt schon paranoid nach den ganzen Horrorstorys, die Mamma mir erzählt hat?“ Auf einmal traute ich mich nicht, mein Gepäck allein im Abteil zu lassen, während ich ins Bordrestaurant ging. Seufzend steckte ich mein Portemonnaie wieder weg und holte eine Wasserflasche heraus, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Hätte ich doch bloß einen normalen Kaffee von dem jungen Mann und seinem Servierwagen genommen. Jetzt musste ich leider auf den kleinen Koffeinschub verzichten.

Samstag, den 10. Juni

~*~ Basel ~*~

Bis Karlsruhe hatte ich das Abteil für mich allein. Ich hätte gedacht, dass es nicht lange dauern würde, bis ich Gesellschaft bekam. Doch die seit Hamburg zugestiegenen Fahrgäste hatten entweder alle reservierte Plätze in anderen Abteilen oder ließen sich von meinem riesigen Trekkingrucksack abschrecken, der zwischen den Sitzen auf dem Boden stand. Ich hatte es nicht geschafft, ihn über meinen Kopf auf die Gepäckablage zu wuchten, und ihn daher kurzerhand stehen lassen.

Allmählich wurde ich unruhig. Seit mittlerweile fast fünf Stunden saß ich nun im Zug und ein gewisses menschliches Bedürfnis drückte mich. Doch noch immer spukten die Geschichten meiner Mutter von beraubten Fahrgästen und geklautem Gepäck durch meinen Kopf, daher traute ich mich nicht, meinen Rucksack ganz allein im Abteil zu lassen. Nicht einmal, um kurz auf der Toilette zu verschwinden.

Kaum setzte sich der ICE in Karlsruhe wieder in Bewegung, öffnete sich die Tür zum Abteil und eine Frau, nur wenig älter als ich, mit einem ungefähr fünfjährigen Mädchen an der Hand, schaute mich lächelnd an.

„Ist hier noch was frei?“, fragte sie.

Erfreut, endlich Gesellschaft zu bekommen – und dann anscheinend auch noch angenehme –, nickte ich. „Ja, klar! Kommen Sie rein. Ich hoffe, das geht so mit dem Rucksack, ich kriege ihn nicht da hoch.“ Ich deutete auf die Gepäckablage, aber die Frau schüttelte nur den Kopf.

„Ach Quatsch! Das passt schon. Nicht wahr, Michelle?“, fragte sie das kleine Mädchen, das sich schüchtern hinter ihr versteckte und mir nur verstohlene Blicke zuwarf.

Glücklicherweise reisten die beiden mit leichtem Gepäck und hatten nur einen kleinen Koffer, den wir gemeinsam in die Gepäckablage verfrachteten. Als die Frau neben der kleinen Michelle Platz genommen hatte, nutzte ich sofort die Gelegenheit – wer wusste schon, wann die zwei wieder aussteigen würden.

„Sagen Sie, würden Sie kurz auf mein Gepäck aufpassen? Ich will nur schnell auf die Toilette und mir einen Kaffee im Restaurant holen.“

Strahlend lächelte die Frau mich an. „Natürlich! Oder, Michelle? Wir passen gut auf.“

Das Mädchen nickte zaghaft und zeigte ein leichtes Lächeln.

„Das ist so lieb von dir, Michelle! Du bist sicher gut im Aufpassen, du bist ja schon groß“, wandte ich mich nun direkt an die Kleine.

Auf einmal ruckte ihr Kopf hoch und sie schaute mich aus großen Augen an. Dann breitete sich ein stolzes Strahlen auf ihrem Gesicht aus. „Mach ich gern!“, sagte sie, und ich sah ihr an, wie sehr sie sich freute, dass ich ihr diese Aufgabe zutraute.

„Möchten Sie vielleicht auch einen Kaffee? Oder etwas anderes? Wenn ich schon im Bordrestaurant bin.“

„O ja, ein Cappuccino wäre toll!“

Nachdem ich zugesichert hatte, der Frau einen Cappuccino mitzubringen, verschwand ich endlich in Richtung der Toiletten. Es wurde wirklich höchste Zeit!

Eine Viertelstunde später kehrte ich deutlich erleichtert mit zwei Cappuccini und einem Schokoriegel für die Kleine in unser Abteil zurück.

„Ich hab gut aufgepasst auf deinen Koffer!“, berichtete Michelle, kaum dass ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.

„Ehrlich? Das ist toll! Ich wusste, du bist genau die Richtige zum Aufpassen. Dafür habe ich dir auch etwas mitgebracht.“

Nachdem ich Michelle ihren Schokoriegel und der Frau den Kaffee gegeben hatte, nahm ich Platz und holte meinen E-Reader aus dem Rucksack. Als ich mich in die Geschichte um einen Rockstar vertiefte und mit der schwer verliebten Protagonistin des Romans mitlitt, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass Michelle mich kaum aus den Augen ließ, während sie ihren Schokoriegel verputzte. Immer wieder legte sie den Kopf ein wenig schief und musterte mich von oben bis unten. Ich wusste nicht, warum ich sie derart ansprach. Lag es an der Schokolade, die ich ihr mitgebracht hatte? Oder daran, dass ich gesagt hatte, sie sei bereits groß? Ich hatte keine Ahnung. Zwar mochte ich Kinder sehr, hatte aber bisher kaum Erfahrung oder Berührungspunkte mit den Kleinen gehabt. Während meine Klassenkameradinnen sich das Taschengeld mit Babysitten aufgebessert hatten, hatte ich so etwas nicht nötig gehabt.

Eine halbe Stunde später war ich schlauer.

„Mama, weißt du was?“, brüllflüsterte Michelle unüberhörbar. „Die Frau sieht aus wie Schneewittchen.“

Ich musste ein lautes Prusten unterdrücken, als ich die Worte der Kleinen hörte und aufschaute.

„Entschuldigen Sie bitte.“ Der Mutter waren die Worte ihrer Tochter sichtlich unangenehm. „Schneewittchen ist ihr Lieblingsmärchen. Das musste ich ihr schon Hunderte Male vorlesen“, erklärte sie. „Und mit den langen schwarzen Haaren und den blauen Augen dazu …“

Ich lächelte der Mutter beruhigend zu, dann wandte ich mich an Michelle, ohne auf die Entschuldigung einzugehen. „Vielen Dank, kleine Maus. Ich freue mich sehr, dass du denkst, ich sehe aus wie Schneewittchen. Ich finde nämlich, Schneewittchen ist wunderschön. Viel schöner als Rapunzel oder so. Von daher war das ein ganz schön tolles Kompliment.“

Michelle strahlte mich an. „Hast du denn auch sieben Zwerge zu Hause?“

Jetzt konnte ich nicht mehr und lachte schallend los. „Nein, leider nicht. Aber ich bin ja auch nicht das echte Schneewittchen.“

Das leuchtete ihr wohl ein, zumindest gab sie sich mit meiner Antwort zufrieden, und ich kehrte zu meiner Rockstar-Geschichte zurück.

In Freiburg verabschiedeten sich Michelle und ihre Mutter und stiegen aus. Doch ihre Plätze blieben nicht leer. Der ICE hatte den Bahnhof noch nicht einmal verlassen, als eine Gruppe junger Männer das Abteil betraten und sich auf die freien Sitze fallen ließen. Es dauerte nicht lange und der Dunst von Alkohol gepaart mit einer ordentlichen Portion ungewaschener Männerkörper lag in der Luft. Wie ich den hin und her fliegenden Wortfetzen entnehmen konnte, kamen die Typen gerade von einer Männertour und hatten wohl die letzte Nacht durchgefeiert. Und genau so rochen sie auch!

Mein Rucksack bekam von den Kerlen mehr als einen Tritt ab, und so sah ich mich irgendwann gezwungen, sie anzusprechen.

„Soll ich ihn hochstellen auf das Gepäckfach? Vielleicht würde einer von Ihnen mit anfassen?“, fragte ich bittend und ließ meinen Blick durch die Runde schweifen. Die Typen schauten sich nur an, doch eine Antwort bekam ich nicht. Stattdessen zog einer von ihnen zwei alte Colaflaschen, in denen sich nun vermutlich selbst gemischter Alkohol befand, aus den Innentaschen seiner Jacke. Unter lautem Gegröle wurden die Flaschen mit dem giftgrünen Inhalt geöffnet und von einem zum anderen weitergegeben. Kurz überlegte ich, ob sie mich einfach nur nicht verstanden hatten, doch sie sprachen untereinander Deutsch mit Schweizer Dialekt, daher ging ich davon aus, dass sie nur keine Lust gehabt hatten, zu antworten.

Nach ein paar Minuten wurde mir von dem Dunst, der in der Luft hing, ein wenig übel, und ich hatte den Drang, aus dem Abteil zu fliehen, damit dieser Gestank nicht bis in die letzte Falte meiner Klamotten kroch. Ich griff nach dem kleinen Flyer der Bahn, in dem die einzelnen Haltestellen und Ankunftszeiten des Zuges aufgeführt waren, und schaute, wie lange ich noch zu fahren hatte.

Erleichtert stellte ich fest, dass die nächste Station nicht nur bereits Basel war, sondern wir den Badischen Bahnhof in knapp zehn Minuten erreichen würden. Die kurze Zeit konnte ich auch stehen, beschloss ich und packte meine Sachen zusammen.

„Darf ich bitte mal durch?“, fragte ich und hievte den Rucksack auf meine Schulter. Einer der Kerle hatte zwar die Güte, mich nach meinen Worten kurz anzusehen, machte aber keinerlei Anstalten, seine Füße ein Stück beiseite zu nehmen, um mich durchzulassen. Genervt seufzend versuchte ich, mir einen Weg aus dem Abteil zu bahnen, ohne jemandem meinen Rucksack ins Gesicht zu hauen oder auf fremden Füßen herumzutrampeln.

Als ich es endlich geschafft hatte, das Abteil zu verlassen, und auf dem Gang stand, war ich schweißgebadet. Vielleicht hätte ich meine Jeansjacke erst im Bahnhof anziehen sollen, im Zug war es viel zu warm dafür. Aber gut, die paar Minuten würde ich es wohl aushalten.

Mit nur vier Minuten Verspätung erreichte der ICE den Badischen Bahnhof Basel. Nachdem ich mich durch die Menschenmassen aus dem Bahnhofsgebäude gekämpft hatte, ließ ich meinen Blick schweifen. Ein Stück weiter links sah ich Straßenbahnschienen und eine Haltestelle, doch das kleine Hotel, das ich für die nächsten zwei Nächte gebucht hatte, war laut Wegbeschreibung keine zehn Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt. Für die Strecke musste ich die Tram nicht nutzen, nach der langen Zeit in der Bahn würde mir ein kurzer Spaziergang trotz des schweren Rucksacks guttun. Bereits zu Hause in Hamburg hatte ich die Wegbeschreibung des Hotels vom Bahnhof zu ihnen ausgedruckt, da ich hier in der Schweiz nicht auf Google Maps zugreifen wollte. Die Roaminggebühren wären vermutlich unglaublich teuer und schließlich sollte es ein Low-Budget-Urlaub werden.

Gut gelaunt machte ich mich auf den Weg und ging die Straße in die angegebene Richtung hinunter. Als ich einen Wegweiser zum Tierpark entdeckte, stutzte ich kurz und sah auf die Wegbeschreibung. Laut dem, was ich las, sollte er auf den Zoo hindeuten. Aber das war wohl dasselbe.

Noch einmal schaute ich auf den Wegweiser, dann auf meine Beschreibung. Nein, irgendetwas konnte nicht stimmen, denn der Tierpark lag in der falschen Richtung. Er hätte auf der anderen Seite sein müssen. Nicht dort entlang. Ratlos sah ich mich um. Ich war keine fünf Minuten gegangen und hatte bereits das ungute Gefühl, mich verlaufen zu haben.

Auf dem kleinen Ausschnitt eines Stadtplans, der neben der Wegbeschreibung auf meinem Ausdruck zu erkennen war, waren die Straßennamen so winzig, dass ich die Augen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas lesen zu können. Dennoch wurde mir recht schnell klar, dass sich diese Straßen nicht in meiner Nähe befanden.

Ein paar Minuten irrte ich herum und schaute, ob ich eine der angegebenen Straßennamen irgendwo entdeckte, dann gab ich auf. Nun musste wohl doch Google Maps herhalten.

„Na toll, Sienna! Du bist erst ein paar Stunden unterwegs und schon hast du völlig die Orientierung verloren“, murmelte ich leise vor mich hin, während ich das GPS meines Handys einschaltete und mein Ziel eingab. Erschrocken schnappte ich nach Luft, als die App mir das Ergebnis präsentierte. Fünfunddreißig Minuten zu Fuß von meinem jetzigen Standort aus!

Angeblich lag das Hotel doch nur zehn Minuten vom Bahnhof. Hatte ich mich tatsächlich derart verlaufen?

„Okay, ein bisschen Bewegung tut mir nach der langen Zugfahrt wahrscheinlich ganz gut“, redete ich mir selbst gut zu und rückte den schweren Rucksack auf meinen Schultern zurecht. Dann machte ich mich auf den Weg.

Je näher ich meinem angeblichen Ziel kam, desto unsicherer wurde ich. Hatte ich wirklich die richtige Adresse des Hotels eingegeben? Als ich an eine Brücke kam, über die ich den Rhein überqueren sollte, löschte ich meine Eingabe und tippte den Straßennamen neu ein. Das Ergebnis war dasselbe. Google Maps war sich sicher. Ich sollte den Rhein überqueren.

Einen Moment lang schaute ich mich unschlüssig um. Der Bahnhof, an dem ich ausgestiegen war, lag weit hinter mir, es konnte also eigentlich nicht sein. Eigentlich … Dennoch blieb die App stur. Rüber über den Rhein!

Das Einfachste wäre gewesen, mir ein Taxi zu nehmen und mich hinfahren zu lassen. Leider konnte ich weit und breit keines entdecken. Noch fünfzehn Minuten behauptete die App. Die Hälfte hatte ich hinter mir, da würde ich den Rest auch schaffen. Und wenn an meinem Ziel nicht das richtige Hotel lag, konnte ich mir von dort aus immer noch ein Taxi gönnen, beschloss ich.

Mit neuem Elan nahm ich den letzten Teil der Strecke in Angriff.

Von außen betrachtet wirkte das kleine Hotel nicht sonderlich einladend. Das Gebäude war alt und heruntergekommen, die Fassade hätte dringend einen neuen Anstrich benötigt. Von dem Schild, das über der Eingangstür hing, blätterte bereits die Farbe ab, wodurch es kaum noch lesbar war. Basler Perle entzifferte ich. Ja, das war das Hotel, in dem ich die nächsten zwei Nächte wohnen würde, bevor meine Reise weiterging. Wie auch immer sie dazu kamen, einen Fußweg von zehn Minuten zum Bahnhof zu avisieren, dies hier war tatsächlich das Hotel, das ich bereits in Hamburg gebucht hatte. Ein wenig machte sich die Enttäuschung in mir breit. Was auf der Internetseite und den dortigen Fotos heimelig gewirkt hatte, sah in der Realität eher Furcht einflößend aus.

Nach über einer halben Stunde mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken tat mir jeder Knochen im Leib weh. Meine Beine brannten und meine Schultern und mein Nacken waren taub vor Schmerzen. Noch dazu war ich klatschnass geschwitzt, hatte einen Bärenhunger und musste dringend auf die Toilette. Meine Füße schmerzten so, dass ich glaubte, nie wieder laufen zu wollen. In diesem Zustand war es mir egal, wie das Hotel wirkte. Trotz des unschönen Erscheinungsbildes war ich einfach froh, hier zu sein. Ich wollte nur noch den Rucksack loswerden, eine Dusche nehmen, etwas essen und dann durchschlafen bis morgen früh. „Hoffentlich gibt es eine warme Mahlzeit im Hotelrestaurant“, murmelte ich, als ich in die kleine Lobby trat.

Überrascht blieb ich direkt hinter der Eingangstür stehen. So vernachlässigt das Äußere auch war, was das Innere des Hotels anging, hatten die Fotos im Internet nicht übertrieben.

Alles wirkte gemütlich und aufgeräumt. Kleine, mit dunkelrotem Samt bezogene Sessel standen linker Hand um ein paar niedrige, weiß lackierte Tische gruppiert. Die hellen Wände ließen den Eingangsbereich freundlich und einladend wirken. Große Zimmerpalmen in weißen Kübeln gaben den Sitzecken Gemütlichkeit und ein Gefühl der Abgeschiedenheit.

Vor mir, auf der gegenüberliegenden Seite der Lobby, befand sich eine breite Treppe, die ins Obergeschoss führte, wo vermutlich die Zimmer lagen.

Rechts von mir entdeckte ich einen Empfangstresen, der ebenso weiß lackiert war wie die kleinen Tische und hinter dem mich eine rüstige ältere Dame mit einem grauen Kurzhaarschnitt erwartete. Das Namensschild, das an ihrer schneeweißen Bluse steckte, verriet mir, dass sie Frau Weber hieß.

„Hallo! Sie müssen Frau Medina sein“, begrüßte sie mich bereits, während ich näher trat.

Am Tresen angekommen, hievte ich ächzend den schweren Rucksack von meinen Schultern und ließ ihn neben mich auf den Boden fallen.

„Ja, richtig. Sienna Medina“, bestätigte ich und wunderte mich kurz, dass sie bereits wusste, wer ich war. Aber gut, dieses Hotel hatte vielleicht zwanzig Zimmer, wahrscheinlich reisten nicht so viele Gäste am Tag an oder ab.

„Ach Gott, Herzchen, wie sehen Sie denn aus?“ Die Empfangsdame musterte mich erschrocken. Ich musste wirklich ein Bild des Jammers abgeben, wenn ich nur halb so aussah, wie ich mich gerade fühlte.

„Ich bin zu Fuß vom Bahnhof hergekommen“, erwiderte ich und versuchte, meinem Gegenüber ein Lächeln zu schenken. So kaputt, wie ich war, verrutschte es vermutlich eher zu einer Art gequälten Grimasse.

„Ach, sind Sie mit der Bahn aus Hamburg angereist?“, fragte Frau Weber, während sie mir den Anmeldebogen über den Tresen schob.

Ich nickte und fing an, meine Daten einzutragen. „Ja, richtig. Und bis ich dann erst zum Hotel gefunden hatte …“

„War es für Sie schwierig zu finden? Mein Mann ist ja immer der Meinung, diese Wegbeschreibung auf unserer Internetseite wäre vollkommen überflüssig. Aber er ist auch in Basel aufgewachsen. Für mich war es am Anfang nicht so leicht, mich hier zurechtzufinden. Deshalb habe ich darauf bestanden, den Weg vom Bahnhof hierher zu erklären.“

„Ja, die Wegbeschreibung hatte ich mir extra ausgedruckt, aber ich muss irgendwo falsch gelaufen sein. Zumindest hat es mich ziemlich verwirrt, als ich auf einmal auf die andere Rheinseite musste.“ Ich unterschrieb den Anmeldebogen und schob ihn über den Tresen zurück.

Frau Weber machte keine Anstalten, den Zettel an sich zu nehmen, und schaute mich nur verwirrt an. „Über den Rhein? Aber vom Bahnhof hierher … Sie müssen doch nicht …“ Auf einmal wurden ihre Augen riesengroß, ihr Mund öffnete sich und sie suchte sichtlich nach Worten. Es dauerte einen Moment, dann sagte sie: „Herzchen, kann es sein, dass Sie am Badischen Bahnhof ausgestiegen sind?“

Jetzt war es an mir, verwirrt zu schauen. „Ja, natürlich. Das ist doch der Baseler Bahnhof. Wo denn sonst?“ Ich verstand nicht, was Frau Weber damit meinte.

Auf einmal zuckten ihre Mundwinkel, als versuchte sie krampfhaft, ein Lachen zu unterdrücken. „Es gibt in Basel zwei Bahnhöfe, an denen der ICE hält. Sie sind am ersten ausgestiegen, von da aus laufen Sie zu Fuß sicher dreißig oder vierzig Minuten. Der andere Bahnhof, Basel SBB, ist hier die Straße runter, dort hinten um die Ecke und da können Sie ihn schon sehen.“

Nein! Das konnte nicht sein! Ich war nicht an der falschen Station ausgestiegen! Schnell zog ich mein Ticket aus dem Rucksack, um nachzuschauen – und ließ mich im nächsten Moment genervt ächzend gegen den Empfangstresen sinken. „Das gibt es doch gar nicht! Wie kann man denn so dämlich sein? Da steht es ganz klar und deutlich. Sie haben recht, ich bin tatsächlich eine Station zu früh ausgestiegen.“

„Kein Wunder, dass Sie so kaputt sind!“ Frau Weber ließ ihren Blick über meine sicher völlig derangierte Erscheinung gleiten. „Na, dann wollen wir doch mal zusehen, dass Sie wieder fit werden. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer, da können Sie sich ganz in Ruhe frisch machen. Und wenn Sie Hunger haben, das Restaurant ist bereits geöffnet.“ Sie griff an das große Brett hinter sich, wo die Zimmerschlüssel aufgereiht an der Wand hingen, und nahm einen davon vom Haken. Dann kam sie um den Tresen herum und ging voraus. Schnell schnappte ich mir meinen Rucksack und folgte ihr in Richtung der Treppe, während sie weitersprach: „Dort drüben, bei den Sitzgruppen, finden Sie das Restaurant. Mein Mann ist ein ganz hervorragender Koch. Wir führen das Hotel gemeinsam. Ich mache den Empfang und das Büro und er ist der Koch. Unsere Tochter hilft ab und an aus, wenn sie neben dem Studium noch Zeit hat, und wir haben natürlich auch ein paar Angestellte. Doch das meiste machen wir selbst. So ein Hotel … das war schon als Kind mein Traum. Ein eigenes kleines Hotel. Allerdings hatte ich mir damals nicht vorgestellt, es in der Schweiz aufzumachen. Aber gut, was tut man nicht alles für die Liebe.“ Mittlerweile waren wir im Obergeschoss angekommen, wo sie vor der Tür mit der Nummer 17 stehen blieb.

„Hier wären wir! Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt bei uns, und wenn Sie Fragen haben, finden Sie mich an der Rezeption.“ Sie stieß die Zimmertür auf und machte eine einladende Handbewegung. Dann drückte sie mir den Schlüssel in die Hand und ließ mich allein.

Das Zimmer war sauber und gemütlich eingerichtet. Als mein Blick auf das Bett fiel, konnte ich kaum noch widerstehen. Am liebsten hätte ich mich sofort in die weichen Kissen sinken lassen und meine Augen geschlossen. Den ganzen Tag im Zug zu sitzen und das Rattern zu spüren, hatte mich schon geschlaucht. Doch der Fußmarsch mit dem schweren Rucksack auf den Schultern hatte mir auch die letzte Kraft geraubt. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten und wollte in diesem Moment nur meinen schmerzhaft verspannten Rücken ausruhen und schlafen.

Sonntag, den 11. Juni

~*~ Basel ~*~

„Guten Morgen, Frau Medina! Haben Sie gut geschlafen?“ Frau Weber tauchte neben meinem Tisch auf, als ich am nächsten Tag beim Frühstück im Hotelrestaurant saß, und lächelte mich strahlend an. Ich fand es noch immer toll, dass sie sich die Namen der Gäste – oder zumindest meinen Namen – merken konnte. So fühlte man sich gleich ein wenig heimisch und auf jeden Fall willkommen.

„Guten Morgen! Ja, ich habe großartig geschlafen, vielen Dank. Das Zimmer ist wirklich schön und das Bett sehr bequem“, antwortete ich und legte mein Besteck aus der Hand.

„Haben Sie heute schon etwas geplant? Was wollen Sie sich anschauen?“, fragte Frau Weber und deutete auf die Zettel neben meinem Teller. Vor mir auf dem Tisch lagen ein paar Ausdrucke, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Eine Liste mit Sehenswürdigkeiten, die Basel zu bieten hatte. Doch ich konnte mich nicht entscheiden, was ich heute machen wollte.

„Ich weiß es ehrlich gesagt noch gar nicht so genau.“ Unsicher schob ich die Ausdrucke hin und her. Was wollte ich? Sightseeing auf eigene Faust? Eine Stadtrundfahrt? Ich hatte keine Ahnung.

„Falls Sie noch ein paar Tipps brauchen, melden Sie sich bei mir. Ich helfe gern, wenn ich kann. Ich habe auch Stadtpläne an der Rezeption, für den Fall, dass Sie einen haben möchten …“ Verschmitzt lächelte Frau Weber mich an. Ich verstand ihre Anspielung auf meine gestrige Aktion mit dem falschen Bahnhof nur zu gut und grinste ein wenig verschämt. „Ja, ein Stadtplan ist vielleicht keine schlechte Idee.“

„Kommen Sie einfach am Empfang vorbei, bevor Sie losgehen, dann gebe ich Ihnen einen. Und jetzt genießen Sie Ihr Frühstück. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Oh, auf jeden Fall. Vielen Dank, es ist alles sehr lecker! Einen lieben Gruß an Ihren Mann, er ist wirklich ein ganz ausgezeichneter Koch!“

Frau Weber strahlte bei meinem Kompliment für ihren Mann. „Ich werde es ihm ausrichten. Da wird er sich freuen. Wir sehen uns dann später. Einen guten Appetit weiterhin.“ Damit steuerte Frau Weber den nächsten Tisch an, an dem ein älteres Pärchen saß, und ich widmete mich wieder meinem Rührei.

Während ich mein Frühstück beendete, konnte ich beobachten, wie die Hotelinhaberin von Tisch zu Tisch ging und mit jedem ihrer Gäste ein paar freundliche Worte wechselte.

Mit meinen Eltern war ich bisher immer nur in großen, teuren Hotelketten abgestiegen. Dort war alles deutlich anonymer als in einem solch kleinen Hotel. Ich kannte es nicht, dass der Inhaber selbst derart bemüht um das Wohl seiner Gäste war, aber es gefiel mir ausgesprochen gut. Ich fühlte mich hier wohl und konnte mir gar nicht vorstellen, bereits morgen wieder abzureisen. Doch dann ging meine Fahrt weiter nach Mailand.

Als ich gestern Abend in meinem Zimmer vor dem Spiegel stand, hatte ich mich richtig erschrocken. Meine Haare standen wirr und verzottelt in alle Richtungen, mein Make-up existierte nicht mehr und verschwitzt, wie ich war, klebten meine Klamotten an mir. Ich sah aus, als wäre ich fünf Tage lang ohne Wasser und Nahrung durch einen Dschungel geirrt – und nicht nur mit der Bahn von Hamburg nach Basel gefahren. Kein Wunder, dass Frau Weber bei meinem Anblick so besorgt reagiert hatte.

Nach einer ausgiebigen Dusche hatte ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch gefühlt und nach einem reichhaltigen Abendessen im Restaurant des Hotels war ich beinahe wie neu. Bis auf meine schmerzenden Schultern, die sich durch die Last des Rucksacks vollkommen verspannt hatten. Was hätte ich alles für eine Massage gegeben!

In der letzten Nacht hatte ich geschlafen wie ein Stein und war dadurch heute Morgen wie durch ein Wunder fast wieder die Alte. Zwar waren mir meine Schultern wegen der ungewohnten Last noch immer ziemlich böse, doch ansonsten fühlte ich mich fit und freute mich, ein wenig von Basel kennenzulernen. Auch wenn ich mich nicht entscheiden konnte, wohin das Sightseeing mich führen würde. Wollte ich den wunderschönen sommerlichen Tag wirklich in einem Museum zwischen angestaubten Exponaten verbringen? Hatte ich Lust, mir in einer kalten Kirche Deckenmalereien anzuschauen? Wollte ich die Besonderheiten der Architektur irgendwelcher alten Gebäude bestaunen?

Nein! Wenn ich ehrlich war, war das so ziemlich das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte. In den letzten Jahren hatte ich viel zu viele Museen besucht, zu viel historisches Sightseeing gemacht, wenn ich mit meinen Eltern verreist war. Dieser Urlaub hier sollte nur meiner werden, und dazu gehörte auch, dass ich ausschließlich Sachen machte, auf die ich gerade Lust hatte. Das war schließlich einer der Gründe, warum ich nicht gewollt hatte, dass Jola mich begleitete. Ich mochte mich in den nächsten drei Wochen nicht nach jemand anderem als ganz allein nach mir selbst richten.

„Ah, da sind Sie ja. Haben Sie sich entschieden, was Sie heute Schönes machen wollen? Geht es ins Kunstmuseum? Oder mögen Sie lieber die Kathedrale besichtigen? Der Basler Münster ist wirklich beeindruckend! Oder wenn Sie an Büchern interessiert sind – die Papiermühle kann ich Ihnen nur empfehlen! Das ist ausgesprochen spannend, zu sehen, wie Papier hergestellt wird. Und dann diese Buchdruckkunst und das Binden – einfach toll!“ Frau Weber war voll in ihrem Element. Ich merkte deutlich, dass sie ihren Gästen regelmäßig Tipps gab, was sie hier in der Stadt unternehmen konnten. Sie war mit Feuereifer dabei und ließ sich erst stoppen, als ich sie unterbrach.

„Ich glaube, ich würde gern in den Zoo.“ Ganz spontan hatte ich mich aus dem Bauch heraus entschieden. Ich hatte in meinem Leben unzählige verschiedene Museen besucht, in den teuersten Restaurants gegessen, in den nobelsten Hotels übernachtet, doch ich konnte mich nicht daran erinnern, mit meinen Eltern jemals einen Zoo angeschaut zu haben.

Natürlich, mit der Schulklasse waren wir in Hagenbecks Tierpark gewesen und ein paar meiner Freundinnen hatten dort auch ihren Kindergeburtstag gefeiert, ich kannte also einen Zoo. Doch es war nie ein Familienausflug gewesen.

Irritiert stockte Frau Weber ihre begeisterten Ausführungen und schaute mich mit offenem Mund an. „In den Zoo?“, hakte sie nach, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

„Ja, richtig, der Zoo ist doch da beim Bahnhof in der Nähe, oder? Wo ich gestern fälschlicherweise ausgestiegen bin.“

Frau Webers Mundwinkel zuckten, dann schüttelte sie grinsend den Kopf.

„Nein, der Zoo ist hier bei diesem Bahnhof. Am anderen Bahnhof ist der Tierpark“, erklärte sie.

„Das ist aber auch verwirrend! Eine Stadt mit zwei großen Bahnhöfen und an beiden davon liegt ein Zoo in der Nähe.“

„Nein, ein Zoo und ein Tierpark“, verbesserte mich Frau Weber nachsichtig lächelnd. „Aber ich weiß, wie Sie sich fühlen. Mir ging es damals ähnlich, als ich hergezogen bin. Ich hatte auch Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden, dabei ist Berlin viel größer und unübersichtlicher als Basel. Über zwanzig Jahre ist das her und bis heute verlaufe ich mich in der Stadt. Wenn Sie in den Zoo möchten, schauen Sie, der Weg ist ganz leicht.“ Sie faltete einen kleinen Stadtplan auseinander, der vor ihr auf dem Empfangstresen bereitgelegen hatte, und griff nach einem Stift. „Hier sind wir und hier …“ Sie machte ein Kreuzchen an der Stelle, wo sich das Hotel befand, und zeichnete den Weg ein. „Hier ist schon der Zoo. Sehen Sie. Nur ein paar Minuten zu Fuß – und Sie müssen auch nicht den Rhein überqueren.“ Bei ihrer erneuten Anspielung auf meine Aktion von gestern zwinkerte Frau Weber mir spöttisch zu. Okay, das hatte ich verdient. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, und wäre ich im Zug nicht derart entnervt von der saufenden Herrentruppe gewesen, wäre mir das sicher nicht passiert.

„Na gut, das sieht wirklich einfach zu finden aus, das sollte wohl selbst ich schaffen!“, ging ich auf ihr Geplänkel ein. „Vielen Dank! Dann mache ich mich mal auf den Weg.“ Ich steckte den Stadtplan in die kleine Handtasche, die ich über der Schulter hängen hatte, und trat aus dem Hotel auf die Straße.

Obwohl es gerade erst kurz nach zehn Uhr war, verbreitete die Sonne bereits eine angenehm sommerliche Wärme. Langsam machte ich mich auf den Weg in Richtung Zoo. Ich genoss es, in meinem eigenen Tempo zu laufen, an einem blühenden Busch stehen zu bleiben und eine kleine Biene zu beobachten. Ich genoss es, mit niemandem sprechen zu müssen, die Geräusche der Stadt zu hören und durch nichts abgelenkt zu sein. Ich war mit mir allein und das machte mich glücklich. Ich hatte das Gefühl, noch nie in meinem Leben wirklich allein gewesen zu sein. Es war neu, aber es fühlte sich gut an.

Langsam schlenderte ich durch den Zoo, blieb an den Gehegen der Tiere stehen und nahm mir Zeit, ihnen zuzusehen. Besonders die Schimpansen hatten es mir angetan. Bestimmt eine Stunde beobachtete ich, wie sie so menschenähnlich und doch ganz anders agierten. Wie sie über Netze und Seile kletterten, wie sie sich gegenseitig Nähe gaben und miteinander kuschelten, wie sie spielten und tobten, als wären sie kleine Kinder. Ich konnte mich gar nicht daran sattsehen.

Am frühen Nachmittag holte ich mir an einem der Kioske ein Softeis und setzte mich damit auf eine Bank in die Sonne. Tief sog ich die Luft in meine Lungen, nahm diese Duftmischung aus Natur und Tieren ganz bewusst wahr und spürte, wie entspannt ich innerlich war. Ja, so hatte ich mir meinen Urlaub vorgestellt. Um mich herum herrschte Ruhe – obwohl Sonntag und noch dazu traumhaftes Wetter war, waren nicht sonderlich viele Menschen im Zoo unterwegs. Ein paar Touristen konnte ich ausmachen. Sie verrieten sich durch die allzeit bereiten Handys und Fotokameras, die jeden Schritt aufnahmen.

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Juli Larsson (Kerry Greine) Am Mellhorn 18 21423 Winsen/Luhe [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Covergestaltung: Wolkenart - Marie-Katharina Wölk www.wolkenart.com Lektorat: Tamara Fehn Korrektorat: SW Korrekturen e.U. [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7394-3558-9