Dreitausend und eine Nacht - Dorothea J. May - E-Book

Dreitausend und eine Nacht E-Book

Dorothea J. May

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Beschreibung

Die alte Dame Amanuee erzählt ihrem Neffen Flo von ihren großen Lieben. Durch intensive Trance und Traumreisen erfährt sie wunder- bare Verwandlungen, die sie in immer abenteuerlicheres Liebesglück entführen. Auch in ihr größtes Abenteuer: ihre göttliche Liebe zu Paul, eine chymische Hochzeit. Parallel dazu erlebt der Neffe einen Kriminalfall, der sein Weltbild erschüttert und ihn dazu bringt, sich von seiner Arbeit in den Medien zu verabschieden. Und auch er wird mit einem persönlichen Liebesdrama konfrontiert, das ihn vor große Herausforderungen stellt. Ein Buch über die eigene Macht, Schöpferkraft und göttliche Liebe, das die Leser auf eine faszinierende Reise durch die Zeiten mitnimmt. Eintauchen in der Welt von "Dreitausendundeine Nacht" verzaubert durch die Magie zeitloser Liebe und Lieben.

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„Liebe ist die Urquelle des Kosmos“ (Quantenphysiker Hans-Peter Dürr)

Dank

Von Herzen Dank an Philippe und seine zeitlose Liebe.

Dank an Lukas für seine tatkräftige, liebevolle Unterstützung und seine lachenden Träumereien.

Dank an Maria, die mit ihrer funkelnden Begeisterung dieses Buch reanimierte.

In größter Dankbarkeit neige ich mich vor meinen Eltern und meiner wunderschönen und weisen Tochter Anna-Giulietta, meiner Meisterin.

INHALTSVERZEICHNIS

ABSCHIED

FEUERTIGER

XZAR

HÜTE

HILFLOSIGKEIT

ERINNERUNGSRÄUME - ABEND I

WURZELN

SCHWINDEL

EHRLICHKEIT - ABEND II

AHNUNGEN

REALSATIRE

DÄMONEN - ABEND III

FREIHEIT

URTEIL

SCHOCK

PROGRAMMIERUNGEN - ABEND IV

KRIEGSRAT

UNERREICHT

LABORVERSUCH - ABEND V

DUNKELHEIT

RÄTSEL

ZWEIFEL – ABEND VI

SCHRITT

TRÄUME

NEUER MORGEN

ABSCHIED

„My funny Valentine, sweet, funny Valentine, You make me smile, with my heart. Your looks are laughable, unphotographable, Yet you‘re my favourite work of art...“

Chet Bakers unnachahmlich zarte Stimme verströmte sanfte Wehmut im Raum. Diese Stimme, die direkt aus dem Herzen des begnadeten, gefallenen Engels zu strömen schien, umwehte Amanuee und Paul.

„Ob Chet mir ein Trompeten-Solo bei meiner Ankunft schenkt, so wie damals in Paris?“ Paul der alte Schelm grinste. Der Abend im Blue Note in der Rue d’Artois, gleich neben dem Champs Elysees, war immer noch in Amanuees und seinem Herzen lebendig.

„Amanuee, meine Liebe...You are still my favourite work of art! Mein Lieblingskunstwerk!“

Der 87-jährige Paul flüsterte die Worte seiner 76-jährigen Geliebten ins Ohr und zog sie zu sich. Sie küssten sich zärtlich.

„Amanuee, heute ist es soweit. Ich gehe.“

Er drückte ihre Hand.

„Ich wusste es.“

Amanuee hauchte die Worte, als hätte sie Angst durch die Laute ihrer Stimme das spinnwebfeine Lichtnetz, das ihren Mann umgab, zu zerteilen. Sie lächelte ihn an. Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte, rannen über ihre Wangen.

Sie hatten diesen Augenblick so oft besprochen. Alles und Nichts war gesagt. Amanuee holte einige Male tief Luft und schluckte die Tränen hinunter.

Beide wussten, dass Veränderung die einzige Wahrheit im Leben, vielleicht sogar die Essenz des Universums, ist.

„Ich weiß es. Lieber Paul, ich werde alles so halten wie besprochen. Und du, melde dich, besuche mich. Vergiss mich nicht, bei all den neuen, aufregenden Welten und Wesen, die auf dich warten!“

Sie versuchte zu scherzen, was ihr nicht wirklich leicht von den Lippen kam. Sanft streichelte sie seine Hände mit den Altersflecken, deren Haut sich wie feinste Seide anfühlte. Ihr Sein atmete dieses vertraute Gefühl tief ein.

„Meine Liebe, wie du weißt, habe ich mich in den letzten Tagen fast nur noch in anderen Dimensionen aufgehalten. Ich bin bereit. Heute verlasse ich diese Form. Ich bin im Fluss mit dem Göttlichen. Meine Zauberin, rufe mich, wenn du dich nach mir sehnst. Du weißt ja am besten, wie es geht. Vergiss nicht, wie sehr ich mich auf unser Wiedersehen in einer anderen Welt, an einem neuen Schauplatz, freue. Denk daran, dann werde ich mich dir, knackig frisch, als Adonis präsentieren oder als schneidiger Commander eines Raumschiffs, was wäre dir lieber?“

Er zwinkerte ihr verwegen zu.

Amanuee nickte lächelnd. Tränen tropften in ihren Schoß und benetzten Pauls Hände. Noch ein letztes Mal küssten sie sich zum Abschied.

„Geliebte, ich habe gerade gesehen, dass dich in nächster Zeit ein alter Kollege von mir besuchen wird und meinen Nachlass möchte. Du kannst ihm vertrauen, gib ihm alle Papiere. Ich liebe dich, mein Engel. Viel, viel Spaß bei deinen neuen Unternehmungen und schockiere deine lieben Mitmenschen nicht zu sehr, du süße, junge Revoluzzerin.“

Amanuee schnitt eine Grimasse und grinste, wie ein Teenie. Paul kannte ihre Zukunftspläne und hatte sich bei der Vorstellung davon ziemlich ins Fäustchen gelacht. Ein letztes Mal zwinkerten sich die beiden zu.

Amanuee stand vorsichtig auf, ging mutig auf die Tür zu, umfasste die Klinke, drückte sie hinunter, ging hinaus ohne sich noch einmal nach ihrem Geliebten umzusehen. Sie ließ den Sterbenden, wie ausgemacht, allein.

All-Ein mit dem Licht göttlicher, allumfassender Liebe und liebenden Wesenheiten, Frequenzen aus anderen, lichteren Dimensionen.

Paul entschlief sanft. Sein Tod trat um 00:11 Uhr ein.

Feuertiger

Eine Salve befreienden Gelächters erschütterte das kleine, bunte Grüppchen, das in der Vorhalle des Krematoriums stand. Ein lässig gewandeter, schlaksiger Junge, so um die zwanzig, riss Witze und gab kuriose Grabin-schriften zum Besten. Eine, an die er sich erinnerte, lau-tete:

Bin gleich wieder da! Kurt Maria Klöbell Geboren: 1.12.1913 Gestorben: 8.4.1982

Dies löste bei den Trauergästen eine um sich greifende, fast hysterische Heiterkeit aus. Das kichernde, glucksende, immer hemmungsloser fröhlich werdende Grüppchen sprengte den Rahmen der düsteren Verbrennungsanlage. Mit eisigen Blicken bedachten umstehende Trauernde, die offensichtlich zu einer anderen Beerdigung gekommen waren, das pietätlose Pack, das so ungeniert und respektlos mit der Endgültigkeit des Todes umging. Sie konnten nicht ahnen, dass dieses Lachen und die farbenfrohe Kleidung dem ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen entsprachen.

Das Ereignis hatte sich in der Hamburger Gesellschaft wie ein Lauffeuer herumgesprochen: Paul Winkelmanns Tod sollte mit einem großen, ausgelassenen Fest und einer Art Performance gefeiert werden!

Winkelmanns Wunsch wurde von der Familie respektiert und in den Anzeigen dementsprechend weitergegeben. Die Trauergemeinde wurde dazu veranlasst schwarze Traurigkeits-Uniformen, Beerdigungs-Anzüge, das Kleine Schwarze, elegante, antrazithfarbene Hermes-Tücher und dunkle Prada-Täschchen gegen fröhliche Farben zu tauschen.

Paul Winkelmann war nicht irgendwer gewesen, sondern ein angesehener Hamburger Bürger, der viel für die Stadt und seine Menschen getan hatte. Sein Vermögen stammte aus dem riesigen Landbesitz einer alteingesessenen Hanse-Familie und war in den letzten Jahren dank seiner Großzügigkeit stark geschmolzen. Der angesehene Physiker, Arzt, Homöopath und Forscher war noch in den letzten Jahren mit hohen internationalen Preisen bedacht worden. Von vielen seiner alten Patienten, die ihn allesamt verehrten, wurde er schlichtweg als Wunderdoktor bezeichnet, was Paul Winckelmann gar nicht so recht gewesen war, galt er doch bei anderen als unseriöser Spinner und Scharlatan.

Diese Ansichten jedoch konnten ihm nichts anhaben, da die vielen, internationalen Ehrungen, Preise und Doktorhüte diese Meinungen aussagekräftig widerlegten. Neid und Missgunst hatten ihn sein Leben lang begleitet, aber immer wieder hatte er es geschafft mit seiner bescheidenen, liebevollen und bestimmten Art, die höchsten Wellen zu glätten. Berühmt war Paul Winkelmann für seine tagelangen rauschenden Feste. Er hatte lange vor seiner Abreise nach Hause, wie er es nannte, bestimmt, dass seine Beerdigung ein Freudenfest werden sollte.

Viele waren gekommen, um Paul Winkelmann das letzte Geleit zu geben. Das auffallend bunt gewandete Publikum fühlte sich in der düsteren Aussegnungs-Halle sichtlich unwohl und deplatziert. Die freundlichen Farben und legeren Kleidungsstücke, die die Trauergäste dem Wunsch des Verstorbenen entsprechend, angelegt hatten, verunsicherten sie. Nur Loyalität der Witwe gegenüber und Achtung des ausdrücklichen Wunsches des Verstorbenen hatte manche Gäste zu diesem unüblichen Schritt veranlasst. Locker und heiter zur Verbrennung der sterblichen Überreste eines Bekannten oder Freundes zu erscheinen, erschien dennoch den meisten völlig unverständlich und äußerst unpassend und provokant.

Allmählich füllte sich die Vorhalle mit immer mehr bunten Gestalten. Manche sahen etwas verschnupft aus. Jetzt erschien auch Amanuee, Pauls Frau, leichtfüßig, im weiten, grellbunten, indischen Rock mit heller Seidenbluse und einem wunderschönen goldenen Seidenschal mit üppigen Stickereien. Die 76-jährige Dame sah transparent und etwas zerbrechlich aus. Ein sympathisches Lächeln lag auf ihren Lippen. Alle die Amanuee kannten, hatten nichts anderes erwartet, oder vielleicht doch? Wenigstens ein kleines nervöses Zucken um die Augenwinkel, einen hoffnungslosen Blick oder wenigstens feuchte Wangen angesichts dieser wohl traurigsten Situation in ihrem Leben? Nichts von alledem.

Amanuee trat wie ein weiser, heiterer Engel von Grüppchen zu Grüppchen, tauschte mit jedem einige persönliche Worte aus, bedankte sich fürs Kommen und bat, auf ein Zeichen des Krematorium-Verwalters hin, die wunderliche Gesellschaft in die Haupthalle. Auf der Bühne war der Sarg zwischen herrlichen Blumen Gebinden aufgebahrt. Nicht schwarzes Ebenholz beheimatete Pauls Gebeine: Nein, sie lagen gut gebettet in einer bunten Kiste. Die Enkelkinder hatten den schlichten Fichtensarg grell und fröhlich bemalt. Er leuchtete in knallrot, zitronengelb, ultramarin-blau und türkis und sah aus wie ein Requisit der Monty Python-Truppe. Irgendwie erwartete man mit Spannung, dass sich der Deckel dieses Theaterrequisits plötzlich heben und ein lebendiger Paul, als Kasperle verkleidet, seine freche Nase herausstrecken würde. Doch nichts dergleichen geschah.

In der dumpf-kalten Atmosphäre des Krematoriums mochte, trotz aller Farbigkeit, nicht die richtige Stimmung aufkommen.

Amanuee betrat die düstere Bühne und sprach mit ruhiger und sanfter Stimme:

„Paul hat seinen Körper, den er in diesem Leben gewählt hatte, seine Hülle, hinter sich gelassen. Sein Selbst ist nach Hause gegangen, wir alle wissen nicht, zum wie-vielten Male.

Pauls Essenz, ein brillantes Licht, ein Licht, das wundervolle Liebe und Macht ausstrahlt, aber IST. Es IST jenseits von unserem Zeit- und Raumverständnis.

Wir alle sind gespiegeltes Abbild des Einen. Die Göttlichkeit, unser aller Kern, geht immer wieder auf herrliche Reisen zu ihrer Quelle.

Feiert mit mir heute das Licht, die Essenz Pauls und auch unser aller Licht und Herrlichkeit, die uns alle miteinander im Göttlichen verbindet – so hat er es sich gewünscht! Amen. So sei es! “

Sie strahlte die Gäste mit einem solch gewinnenden und attraktiven Lächeln an, dass manch einer weiche Knie bekam.

Spinnt sie jetzt völlig? Ist sie übergeschnappt? Weiß sie etwas, was ich nicht weiß? Geht das jetzt nicht etwas zu weit? Müssen wir uns das gefallen lassen? Die Fragezeichen auf den Gesichtern vieler Angehöriger und Freunde waren unübersehbar. Manch einer versuchte zu analysieren, zu überlegen, zu beurteilen, aber die Wärme und Liebe, die aus Amanuees Worten geflossen war, hatte jeden im Herzen erreicht und graue Zellen gelähmt.

Manch einer lächelte gottergeben und ein wenig säuerlich. Nur einige, wenige, allesamt aus Pauls Fangemeinde, sowie eine Handvoll Freunde, hatten keine Schwierigkeiten mit dieser Art des Abschieds.

Amanuee hatte anstatt der üblichen, klassischen Trauermusik vom Band eine fünfköpfige Zigeunerband aus Rumänien engagiert. Die Musiker hatten bereits neben der Verbrennungsbühne Aufstellung genommen. Sie fingen in dem Moment an zu spielen, als sich das Ungetüm von schwarz-violettem Samtvorhang mit einem ekelhaft quietschenden und aufdringlich brummenden Geräusch, vor dem bunten Sarg zu schließen begann.

Zu dieser Szene begannen die Musiker eine traurige und herzzerreißende Melodie zu spielen. Das Weinen der Geige riss auch noch die Fröhlichsten der Trauergemeinde in einen Strudel von Schniefen und Schnäuzen.

Eine perfekte Inszenierung. Synchron mit dem sich hinter dem Vorhang abspielenden Flammen-Inferno, steigerte sich die Musik zu einem rasanten, unwiderstehlich fröhlichen Finale. Freude und Traurigkeit wurden noch einmal heftig durcheinander gewirbelt und endeten in einer musikalischen Ekstase. Die Spannung in der dunklen Halle war gewaltig. Zurückgehaltene Gefühle bahnten sich ihren Weg: Tränen flossen, Nasen trieften, hinter geschlossenen Augenlidern wurden Erinnerungen an herrliche lustige Feste und Begegnungen mit Paul wachgerufen. Manche Trauergäste umarmten sich spontan. Manche fühlten gleichzeitig Trauer, Dank-barkeit und Lebensfreude im Angesicht des Todes. Die Referenzpunkte hatten sich verabschiedet und alles verschwamm im Taumel des Grenzenlosen.

Die vielen Kinder genossen den Partycharakter dieser außergewöhnlichen Beerdigung. Die Kleinen spielten und tanzten um die Musiker herum und verteilten bunte Taschentücher und Blümchen an die Gäste.

Amanuee überraschte die Trauergemeinde mit fröhlichen Volksliedern und Straßenmusik. Einige aus der älteren Generation reagierten aufgebracht und entsetzt. Auch manche der Jüngeren waren peinlichst berührt und kamen nicht zurecht mit dieser ungewohnten Situation. Keiner wagte es jedoch, den Saal zu verlassen. Dies Wechselbad der Gefühle strengte an. Auf mancher Stirn standen Ärger und Ohnmacht geschrieben. Tradition und Etikette wurden gnadenlos mit Füßen getreten. In der Tat, es war niemand gezwungen worden, zur Beerdigung zu gehen. Aber Neugier und Sensationslust hatten gesiegt, und so waren sogar mehr Gäste erschienen, als erwartet worden waren.

Jeder kam auf seine Kosten: Füße bewegten sich pietätlos zum Takt heiterer und mitreißender Musik, Kinder tanzten durch die Reihen. Die Klarinette jubilierte wie ein Vögelchen. Erregt, geschockt, aufgewühlt und tief berührt verließen etwa zweihundert Gäste nach circa fünfundvierzig Minuten die dunklen, kühlen Räume. Sie traten in den gleißenden Sonnenschein eines milden, sonnigen Frühsommertages hinaus.

Jetzt konnte kein einziger mehr daran zweifeln, dass Paul Regie geführt hatte: Auch die Inszenierung des Wetters zeugte von perfektem Timing. Vor dem Gottesdienst noch hatte es in Strömen geschüttet, und der Wetterbericht hatte nichts, aber auch gar nichts von Sonne verlautbaren lassen. Jetzt kitzelten wärmende und tröstende Sonnenstrahlen die Nasenspitzen der vielfach verschnupften Trauergäste.

Nachdem Amanuee, Pauls Witwe, an die hundert Hände geschüttelt hatte, stieg sie etwas ermattet in das Auto ihrer ältesten Tochter Tizia. Sie schloss ihre müden Augenlider. Flammen, Feuerrituale, zuckende Blitze, Licht und Hitze, feurige Zungen tanzten durch Amanuees Kopf. Gerade hatten sie Pauls Körper den barmherzigen Flammen preisgegeben. Die reinigende Macht des Feuerelements und die großartigen Umarmungen der Feuersalamander, in all ihrer Pracht und Lebendigkeit, hatten sie beeindruckt. Aber: Es hatte auch geschmerzt. Ihre tiefe Verbindung mit Pauls Körper hatte sich in feuriges Licht aufgelöst. Sie hatte die fließenden, lichten Äther-formen seiner Wesenhaftigkeit im Tanz mit den Feuer-geistern gesehen. Es hatte sich angefühlt, als ob sich auch ihre Haut teilweise von ihrem Körper gelöst hätte. Sie fröstelte. Sie fühlte sich nackt, gehäutet und ungeschützt. Trotz allem: Die Gewissheit der Ewigkeit, Unsterblichkeit und des Wiedersehens, des Immer-Da-Seins, waren so unumstößlich in ihren Zellen verankert, dass sie wieder lächeln musste. Ihre rechte Hand glitt an ihr Herz. Kurzfristig hatte ihr der Atem gestockt. Sie atmete einige Male tief durch, und das wirkte irgendwie erlösend. Plötzlich fühlte sie wieder Pauls Präsenz.

„Nimm deine Tigerpranke von meinem Körper“, dachte sie lächelnd und fühlte, wie der Druck abnahm, wie es ihr leichter ums Herz wurde und ihr Atem wieder rhythmischer zu fließen begann.

„Tiger, ich liebe dich. Wilder, sanfter Tiger bis bald … Im nächsten Theaterstück. Wie geht es dir? Wie ist es zu Hause? Komm mich bitte oft besuchen, du hast es mir versprochen.“

Ahnungen und Gedanken blitzten, wie Sonnenstrahlen, durch ihren Kopf. Sie fühlte den Windhauch im Haar und den Kuss des Geliebten auf der Stirn. Jetzt strömten Tränen und waren nicht mehr aufzuhalten. Sie gab sich ganz dem sehnsüchtigen Gefühl des Trennungsschmerzes hin und ließ die tausend Umarmungen, die Millionen Küsse, die unendliche Anzahl geflüsterter Liebesschwüre und all die leidenschaftlichen Begegnungen noch einmal an sich vorüberziehen.

Sie wusste, Tizia war feinfühlig genug, sie in diesem Moment in Ruhe zu lassen und sie fragenlos nach Hause zu chauffieren. Nass tropfte und rann es Wangen und Hals hinunter. Wie warmer Sommerregen aus Wolken, die aus Erinnerungen bestehen.

Sein Körper würde nicht mehr neben ihr liegen, einfach nicht mehr da sein.

Der körperliche Entzug machte ihr schon seit Tagen zu schaffen. Auf ihn hatte sie sich nicht gut genug vorbereitet. Sie fühlte Paul und seine Liebe – sie fühlte die Verbundenheit mit ihm auch zwischen den Welten, mal mehr, mal weniger. Aber sein warmer, wunderbar erregender Körper fehlte ihr. Sie kannte diese Entzugserscheinungen, sie hatte sich schon einige Male in diesem Leben damit auseinandergesetzt. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit und ihrer gerichteten Aufmerksamkeit sein würde, bis sich die physischen Zellen ihres Körpers wieder an das Alleinsein gewöhnt hätten.

Meditationen würden ihr helfen. Sie holte ihre Gedanken wieder ins JETZT.

Der kleine weiße Flitzer von Tizia fuhr etwas hart durch die Kurven, die Straßen leuchteten im Sonnenlicht und die Schönheit der Stadt und ihrer Häuser tat Amanuees Herzen gut. Sie fühlte diesen Tag als frisch und jung-fräulich – als einen Neubeginn.

„Heute ist der Festtag, den Paul und ich uns so oft ausgemalt haben, ich glaube wir werden ein lichtvolles Fest feiern und Spaß haben. Tizia, wie gefallen dir eigentlich die Musiker??“

„Fabelhaft, Mami. Ich war sehr, sehr ergriffen und ich fühlte Paul ganz nah. Ich bin sicher, er ist zufrieden mit uns. Wir haben ihn nicht mit unserer Trauer festgehalten. Ich glaube, er hat heute viel gelacht. Einige unserer Trauergäste waren richtig im Schock. Hast du gesehen wie Godefroys, Linnebachs, Almsinks und Böemanns reagiert haben? Aber die wussten doch, was auf sie zukommt. Sie hätten ja nicht zu kommen brauchen. Vielleicht gibt ihnen Pauls Inszenierung doch einige Denkanstöße. Wäre doch schön für sie. Auf alle Fälle haben sie genug zu quasseln für die nächsten zehn Jahre, bis sie selbst in die Kiste gehen. Mami, übrigens der bunte Sarg hat mich dann doch fast umgeworfen. Als ihn die Kinder anmalten – zusammen mit dem scherzenden Paul, fand ich ihn gar nicht so außergewöhnlich. Aber eben mit der Vorstellung von Pauls leerer Hülle darinnen und in diesem schrecklich, grusligen Krematorium ... da hat es mir schier die Sprache verschlagen. Das hatte so eine Magie und Lebendigkeit, dass ich glaubte der Sargdeckel würde sich sekündlich heben und Pauls bleiche Hand uns majestätisch witzelnd zum Abschied winken ...“

„Tizia, wie wundervoll, mir ging es ebenso. Genau diese Spannung hat sich Paul gewünscht. Der Lump! Hat er es wieder geschafft.“

Beide lachten und bogen in die herrschaftliche Toreinfahrt des Anwesens ein.

Der Straßenrand war bereits von den abenteuerlichsten Fahrzeugen gesäumt. In dieser feinen Gegend parkte am Bürgersteig vielleicht einmal ein alter Saab oder ein VW Cabrio, nicht aber zerbeulte Renaults, Fiats in grässlichen Farben, dreckverschmierte Campingbusse und sonstige geschmacklose Rostbeulen. Der Innenhof sollte heute autofrei bleiben, und so mussten sich die edlen Gefährte mit der Nachbarschaft von billigen Blechgefährten zufrieden geben.

Der sonst wild belassene Garten vor dem Winkelmannschen Anwesen bot heute einen außerordentlich gepflegten Anblick. Der Rasen war getrimmt, die blüh-enden Blumenrabatte gepflegt, und herrlich gedeckte Tische mit weißen Damasttüchern luden zum Tafeln ein. Von der großen Wiese hatten die Gäste einen wunderbaren Blick auf die Elbe und die langsam vorbeiziehenden Ozeanriesen. In der Mitte des Festparks ragte eine riesige, exotische Skulptur mit gewaltigen Ausmaßen in den blauen Sommerhimmel. Beim näheren Hinsehen entpuppte sich die Konstruktion, die mit einer Höhe von sieben Metern recht stattlich war, als ein imposantes schwarz-weiss-rot gestreiftes Tigertier aus Pappmaché.

Paul und Amanuee hatten sich in Bali in das fröhliche Raubtier verliebt. So wurde der gewaltige Papptiger in Containern verpackt nach Hamburg eingeschifft. Das war bereits vor fünf Jahren gewesen. Erst heute wurde das majestätisch und sehr freundlich dreinblickende Tier, seiner Bestimmung zugeführt. Inspiriert durch balinesische Verbrennungszeremonien wollte sich Paul heute, mit einem ähnlichen Ritual von Freunden und Verwandten, verabschieden. Da er den Zeitpunkt seines Abgangs ziemlich genau im Voraus gewusst hatte, hatte Amanuee das imposante Tier bereits vor Monaten zusammen mit einer befreundeten Kunstprofessorin und ihrer Bildhauerklasse zum Leben erweckt.

Die Projektgruppe hatte mit einer Fotodokumentation den Zusammenbau des herrlichen Tieres zu großartigem, wildrot-strahlendem Tigerleben bezeugt. Mit großen Plastikplanen war Paulchen-Tiger an Regentagen eingewickelt und zugedeckt am Boden gelegen und hatte sich auf heiße Zeiten vorbereitet. Paul konnte von seinem Lager aus den Fortgang der Arbeiten begutachten und kommentieren und hatte eine kindliche Freude an den Bastelarbeiten.

Tiger mit dir will ich reiten, nimm mich mit ins Licht, trage mich im Feuerwind – Lichtgestalten, die wir sind.

Heute war seine Feuertaufe. Auch Paulchen-Tiger würde in einen neuen Seins-Zustand übergehen und transzendieren. Die Vergänglichkeit wurde gefeiert. Die Künstler hatten sich bereits alle um den mächtigen Papiertiger versammelt. Ein Häufchen futuristisch-exotisch aussehender junger Menschen, die ihre Garderobe zur Feier des Tages mit Lust an Farbe und verrückten Details aufgepeppt hatten. Amanuee wusste dies sehr zu schätzen, fiel es ihr doch selbst oft schwer, nicht immer nur in ihren Lieblingsklamotten, Hosen und weitem Hemd, herumzulaufen.

Da stand sie nun, diese majestätische, freundlich dreinblickende, riesige Raubkatze. Die vier Beine mit den dicken Pranken ruhten auf einem Baugerüst aus Aluminium, an dem eine große, hellblaue Wanne mit Ästen und Papier befestigt war. In dieser sollte das Feuer entzündet werden. Die Balinesen legen den Leichnam in den Bauch der hohlen Pappmaché-Tiere und verbrennen beide zusammen. Da in unseren Breitengraden das Verbrennen von Leichen im eigenen Garten nicht erlaubt ist und erheblichen Ärger nach sich gezogen hätte, verzichteten Manu und Paul auf dieses Ritual. Aber wenigstens sollte der leere Tiger brennen – das hatten Manu und Paul über den Hamburger Kultursenat durchgesetzt. Da die Verbrennung an eine offizielle Kunstaktion mit der Akademie geknüpft war, hatten sie eine Sondergenehmigung erhalten.

Farbigkeit, Lebendigkeit und Ausstrahlung des unwirklich anmutenden Tieres verschlugen Amanuee aufs Neue die Sprache. Fast schien ihr die Skulptur wie ein gewaltiges Wesen von einem anderen Planeten, so lebendig und präsent wirkte sie in ihrer frischen Farbigkeit und den gewaltigen Dimensionen. Sie war handwerklich so außerordentlich künstlerisch und liebevoll gestaltet, dass das Tier die unvergleichlich fröhliche Sanftmut und Friedfertigkeit des balinesischen Volkes wie Liebesgeflüster in den nordischen Garten hineinwehte. Diesem exotisch verspielten Charme konnte sich niemand entziehen. Die Sonnenstrahlen zauberten einen Glanz auf die lackierte Tigerhaut, dass sie wie von einer gleißenden, heiligen Aura umgeben schien. Mit ihrem dritten Auge konnte Amanuee Paul auf dem Tiger reiten sehen, ihr eine Kusshand zuwerfend. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper.

Nie war sie so ergriffen, wie bei humorvoll frecher und lebendiger Schönheit. Der Park und die Villa wurden mit diesem magischen Wächter im Garten in einen völlig anderen Kontext gerückt. Alles wurde unwirklich, zu einer geträumten Welt, in der Dimensionen, Räume und Zeit andere Zusammenhänge spiegelten. Alles schien sich zu verschieben und plötzlich war das Unwirkliche viel realistischer als das Wirkliche. Nur das Tiger-Wesen aus Künstlerhand schien real. Haus, Garten und Gäste hingegen wirkten wie Statisten. Paulchen-Tiger hatte die Regie des Festes in seiner papierenen Leibhaftigkeit übernommen und zog magnetisch die Gruppen der Trauergäste in seinen Bann.

Paul und Amanuee hatten zusammen in Bali eine Totenzeremonie miterlebt. Die Verbrennung der Leiche, die frühestens 42 Tage nach dem Ableben stattfinden darf, wird von Gamelan-Orchestern, balinesischer Musik und scherzenden Teilnehmern begleitet. Dieses Fest, von tagelangen vorausgegangenen Ritualen und Zeremonien umrahmt, war so fröhlich, dass Paul und Amanuee es sich für ihre eigene Beerdigung jeweils vom anderen gewünscht hatten. In Bali war der Gang zur Verbrennungsstätte traditionell durchaus kein stiller, letzter Gang, sondern eher ein ekstatisches Bad in der Menge. Hier befreite man, beim Freudenfest der Verbrennung, die Seele des Toten von der Last der fünf Elemente. Eben auch ein Fest der Veränderung.

Der Elb-Garten hatte sich inzwischen mit Trauergästen gefüllt, die Musiker ihre Geigen und Klarinetten gestimmt. Sie spielten Melodien, bei denen niemand still zu sitzen vermag. Musik so irdisch, sinnlich und lustvoll, so tanzend zwischen tiefster Sehnsucht und himmlischster Freude, dass kein Hier-Gebliebener die frevlerische Tat begehen konnte, sich vom Leben abzuwenden und der Traurigkeit eines vermeintlich endgültigen Todes zu huldigen. Amanuee vertrat die Meinung, dass das Leben jede Minute gefeiert werden sollte, da der Tod nur ein kleiner Schritt in ein anderes Leben sei, in eine andere Realität. Für sie existierte nur das JETZT. Der Sinn einer Totenfeier lag für Amanuee im Feiern des Da-Seins, in der leidenschaftlichen Hingabe an das Sein – Da-Seins-Freude. Und für sie galt es, den Dank an den Verstorbenen auszudrücken, der sich dazu bereit erklärt hatte, mit ihr und allen anderen Freunden und Feinden ein Stück seines Weges zu gehen und zu teilen, mitzuspielen im Theaterstück, das Leben genannt wurde.

Die Gäste bedienten sich an dem einladenden Büffet, an dem weiß geschürztes Catering-Personal stand. Lange, gedeckte Tische waren aufs Phantasievollste von den Studenten der Akademie dekoriert worden. Papierne Drachen und andere Fabelwesen kämpften zwischen echten Lotos-Blüten auf weißem Damast. Die Kunstwerke sollten später als prachtvolle Grab-Beigaben mit den dazugehörigen Wünschen von Gästen den reinigenden Flammen geopfert werden. Die Wünsche wurden symbolisch durch die Fabelwesen den Flammen überbracht. So sollten sich die Gedanken in reinste, feurige und manifestierende Geist-Energie umwandeln.

Die atemberaubende Schönheit der Kompositionen wurde noch belebt von den schmeichelnden Gerüchen, die aus den überall aufgestellten Duftlampen strömten, die mit herrlichsten, ätherischen Ölen gefüllt waren. Eine Mischung von Rose und Bergamotte zog über die Tische, entspannte verkrampfte Gesichtsmuskeln und drang bis tief hinein in die Herzen. Keiner konnte sich den zauberischen Kräften und der Magie all dieser Schönheit entziehen. Alle vorgefassten Meinungen über Unanständigkeit, Unmöglichkeit und Verrücktheit eines solchen Leichenschmauses schmolzen dahin wie Eis im Angesicht der Sonne. Für einige der Gäste, die Gleichgesinnten, war diese Art des Rituals mit Freude, Erleichterung und einem singenden Herzen verbunden, hatte es sie doch ihr Leben lang nach einer ähnlichen Zeremonie verlangt und gedürstet. Sie lachten und tanzten oder standen in Grüppchen zusammen, unterhielten sich, sannen nach und badeten im Teich der Liebe.

Amanuee, von allen kurz Manu genannt, fühlte wieder Pauls Präsenz. Ihre Fähigkeiten hellsichtig zu sein hatten in den letzten Jahren zugenommen. Körperlose Wesenheiten, wie Engel, Schutzgeister, persönliche Führer und auch andere kosmische Wesenheiten, waren für sie energetisch und manchmal auch visuell wahrnehmbar. Sie spürte die kleinsten Veränderungen, Verdichtungen und Schwingungen. Sie konnte störende Entitäten erkennen, die für unangenehme Realitäten, wie z.B. Krankheiten und Süchte, sorgten. Immer wieder hatte sie ihre Fähigkeiten geprüft und mit den Erkenntnissen und Sicht-weisen anderer hellsichtiger Menschen verglichen. Sie wollte anfänglich sicher sein, dass sie sich nicht in blau-äugigen Einbildungen verlor. Ihre Freundin Ingrid besaß seit ihrer Kindheit diese nicht immer beneidenswerten seherischen Fähigkeiten. Wie oft hatte Ingrid Manu von Beerdigungen erzählt, bei denen sie klar und deutlich die oder den Verstorbenen neben dem Grab gesehen und sich mit ihm unterhalten hatte. Dabei hatten ihr die Körperlosen immer wieder zu verstehen gegeben, dass die Trauer der Angehörigen und Freunde es ihnen sehr erschwerte, in die Dimensionen des Lichts zu wechseln, die für sie ein Weitergehen und Lernen bedeuteten. Durch die oft sehr egoistische Trauer der Angehörigen wurden sie in der Erdenschwere festgehalten und schaff-ten es manchmal nicht über die Astralebene hinaus.

Lotte, die vierjährige zerzauste Schönheit, Tochter von Mattias und Anouk, kam mit ausgestreckten Ärmchen auf Manu zugerannt. Manu fing sie auf, drehte sich ein-mal schwungvoll mit ihr im Kreise und hielt sie fest im Arm.

„Manu, komm, komm mit, du musst Feuer machen. Der Tiger muss jetzt brennen. Komm! Bitte, bitte mach Feuer! Bitte!“ Lotte befreite sich flugs aus Manus Armen und riss sie mit sich fort und hinter sich her. Der riesige Reisig- und Holzhaufen unter dem Bauch der Skulptur wartete nur darauf entzündet zu werden. Aber die Zeremonienmeisterin Manu hatte anderes im Sinn.

„Halt, Schätzchen, erst einmal wollen wir alle zusammen um den Tiger herumtanzen und ihn richtig feiern, bevor ihn die Feuerflammen aufessen! Meinst du nicht, Süße, dass seine Schönheit und Mächtigkeit noch einmal richtig gewürdigt werden muss?“

„Aber dann darf Paulchen-Tiger Licht werden so wie Onkel Paul und zu Onkel Paul in die Sterne tanzen, oder?“, strahlte Lotte und ihre hellblauen, großen Augen, blitzten in erwartungsvoller Vorfreude.

„Aber klar, Schätzchen, die zwei werden sicherlich viel Spaß zusammen haben und vielleicht erzählt ihm unser Tiger, was für ein wunderschönes Fest wir für ihn ge-feiert haben. Das wird Paul sicher sehr, sehr freuen.“

Manu ging auf das Grüppchen mit Tizia zu. „Tizia, meine Liebe, was meinst Du, ich glaube alle haben schon etwas gegessen und getrunken, wir fangen jetzt mit dem Tanz an.“

„Klar, Mam, bin ich sehr dafür, sonst wird alles so spät, einige müssen ja doch früh gehen. Wir müssen nur noch den Künstlern und die Musikern Bescheid geben, also vielleicht in 10 Minuten?“

Tizia, ihre hübsche 46-jährige Tochter winkte die Musiker und ihren Mann Joe zu sich. Laetitia, genannt Tizia, und Joe waren ein sehr attraktives und momentan auch glückliches Paar. Joe stammte aus Kiel und war jahrelang als Weltenbummler und Weltensegler unter-wegs gewesen. Nach einem Nah-Tod-Erlebnis auf dem Atlantik hatte er sein Leben drastisch geändert und wurde vom Aussteiger zum Einsteiger. Der Neueinstieg gelang ihm vor zwei Jahren, bei ihrer Tochter Laetitia. Joe erkannte in ihr seine Meisterin, ernannte die rassige und temperamentvolle Schöne zu seiner Göttin und baute zusammen mit ihr einen florierenden Buchverlag für politisch und wissenschaftlich brisante Science-Fiction-Literatur auf. Sein verwegenes, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht mit dem blonden Pferdeschwanz, seine stechend blauen Augen und sein durchdringendes, Whisky gewöhntes Gelächter zogen das weibliche Geschlecht magisch an. Archetyp „Pirat und Seeräuber“ war unsichtbar auf seine Stirn tätowiert.

Tizia war eine südländisch anmutende Schönheit. Mit ihrem vollen dunklen langen Haar, das sie mütterlicherseits geerbt hatte und den grün-gelben Katzenaugen unter dichten dunklen Augenbrauen, ihren vollen sinnlichen Lippen, einem Erbstück Albrechts und ihrer sehr hoch gewachsenen, schlanken Figur wirkte sie auch in ihren Vierzigern noch sehr anziehend. Ihr Temperament ließ ihre Feurigkeit erahnen, die sie jedoch jahrelang unterdrückt hatte. Sie hatte es abgelehnt, ein unstetes und freies Leben wie ihre Mutter zu führen. Tizias größter Traum war die bürgerliche Großfamilie. Diesen sehnlichsten Wunsch hatte sie sich früh erfüllt und nach Italien geheiratet. Mühselige Zeiten des Lernens und Erwachens waren auf sie zugekommen: 21 Jahre jung, hatte sie sich über beide Ohren in den Lebemann Giancarlo di Ciotti aus Mailand verliebt, ihn geheiratet und drei Kinder zur Welt gebracht. Florian, der eigentlich Lucca Florian Giancarlo di Ciotti hieß, wurde als Dritter geboren. Endlich! Der lang ersehnte Sohn. Aber auch der Stammhalter konnte die kaputte Ehe nicht mehr retten. Die Beziehung zwischen dem reichen, adeligen Mailänder, der 20 Jahre älter als Tizia war, war aus der Sicht Amanuees, ohnehin von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.

Aber Manu wusste nur zu gut, dass Eltern ihren Kindern keine Erfahrungen ersparen können. So spielte Manu jahrelang die Rolle der tröstenden Zuhörerin und natürlich der liebenden Mutter. Fast 11 Jahre sollte es dauern, bis Tizia endlich genug davon hatte, belogen, betrogen und gedemütigt zu werden. Und wieder einige Jährchen, bis sie ihre drei Kinder aus den Fängen der italienischen Familienmafia befreit hatte und sich mit den Kindern unter größten Schwierigkeiten nach Hamburg zurückziehen konnte. Inzwischen war sie selbstständig geworden und wusste, was sie von einem Lebensgefährten und Mann wirklich erwartete. Joe und Tizia waren beide zwei zufriedene, eigenständig lebende, glückliche Menschen, die die Gegenwart des Anderen als zusätzliches Geschenk empfanden, den Partner aber nicht für das eigene Glück brauchten oder verantwortlich machten. Und dies war, wie Manu sehr wohl wusste, der Schlüssel zu einer guten Partnerschaft oder Ehe.

Florentine, die Akademieprofessorin, signalisierte, dass die Studenten und die Kameraleute bereitständen. Joe kletterte über eine Leiter auf ein Podest vor dem Tiger, und Tizia schlug zwölf Mal auf einen riesigen chinesischen Gong. Langsam bildeten die Trauergäste einen Kreis um den mächtigen papiernen Freund.

Joe hielt die Predigt:

„Ihr Lieben, wir danken Euch für euer Kommen, natürlich auch im Namen von Paul, der sich den heutigen Tag so gewünscht hat. Paul hat die Seite im Buch des Lebens umgeblättert. Er ist uns – wie immer! – voraus gegangen.

Paul war immer enthusiastisch, was auf Griechisch nichts anderes bedeutet als En Theos – also: in Gott.

Freude war seine Motivation.

Paul hat uns gelehrt, dass wir alle mit unseren Ge-danken unsere Welt und Wirklichkeit erschaffen. Er hat uns vorgelebt und uns daran erinnert, dass Freiheit nicht wahrgenommen werden kann, bis sie tatsächlich gelebt wird. Er hat sich selbst erobert, um sein eigenes Gesetz zu sein. Er hat immer gewusst, dass Schöpfung ein Prozess ist und kein Akt. Er hat seine Paul-Identität mit Leichtigkeit hinter sich gelassen und wird sich nun eine neue Realität erschaffen, die noch lichter und herrlicher sein wird.

Wir danken ihm für alles. Für alles, was er uns in unseren zeitlosen Begegnungen zeigte, für sein Heilen, für sein Mitgefühl und sein Lieben und natürlich für sein Lachen und all die herrlichen, wundervollen, ausgelassenen Feste.

Lasst uns mit ihm singen, tanzen und jubeln. Lasst uns ein Freudenfeuer für ihn anzünden. Wem zum Weinen zumute ist, den soll nichts und niemand daran hindern, wer aber Lust hat zu lachen, der soll es tun.

Paulchen-Tiger, das königliche, balinesische Reittier wird unsere Dankbarkeit, unsere guten Wünsche und Gedanken in Pauls neue alte Heimat transportieren.

Das Universum lacht, es weint nicht, lasst es uns feiern.

Amen.

So sei es! Jetzt.“

Tizia gab den Musikern ein Zeichen und mitreißend klagende Klarinettentöne erklangen, die sich zu jauchzenden Klängen steigerten. Hände fanden zueinander und es formte sich ein tanzender und hüpfender Kreis, der sich rhythmisch im Uhrzeigersinn stampfend um den Tiger herumbewegte. Die Verbundenheit mit der Musik und untereinander wurde immer dichter. Eine Love-Parade, die zu einem ekstatischen, fast tranceähnlichen Rundtanz führte. So mancher Anzugträger musste beschämt zugeben, dass er lange nicht mehr soviel Lebendigkeit in den Knochen gefühlt hatte wie bei dieser außergewöhnlichen Totenfeier.

Nachdem viele Ältere atemlos auf der Strecke geblieben waren und nur noch die Hartnäckigsten wilde, ausgelassene Tänze um den Tiger vollführten, unterstützt von aufgedrehten Kinderscharen, ertönte der Gong wieder zwölf Mal, und die Musik brach ab.

Das Feuer-Ritual begann. Neun Studenten der Akademie, gewandet und geschminkt wie Scifi Götter und Göttinnen, kamen mit angezündeten Fackeln zu der Musik eines Gamelan-Trance-Techno-Mixes feierlich die Terrassentreppe der Villa heruntergeschritten. Sie formierten sich um den Tiger und umrundeten ihn drei Mal. Etwas störend waren die Fotografen und Kameraleute, die das Spektakel für das Akademieprojekt dokumentierten, doch auch sie gingen rasch in der intensive Atmosphäre des Rituals auf. Die Spannung, aufgebaut durch die Musik, steigerte sich. Manu stand mit einem Enkelkind auf dem Arm und einer alten Freundin zur Seite auf der Terrasse und beobachtet von diesem höher gelegenen Logenplatz das Happening. Ein zufriedenes Lächeln lag auf ihren Lippen.

Jetzt – es war so weit, die ersten Flammen fraßen sich durch Reisig und Hölzer und langsam schlugen sie hoch, leckten am Bauch des Tigers und loderten plötzlich mit riesiger Macht am Leib des Tieres hinauf, fraßen sich hinein ins Innere. Es sprühte Funken, es knackte und knisterte, prasselte und explodierte. Das Schauspiel war so gewaltig, dass alle in Ehrfurcht und Staunen erstarrten. Endlich löste sich die Spannung, und mit wildem Geheul wirbelten die Götter um das Tier herum. Riesiger Jubel, Freude und Gelächter brachen aus. Die Musik fing wie-der an zu spielen und steigerte die Stimmung bis jeder, der sich bewegen konnte, tanzend die vier Elemente fei-erte. Feuer, Wasser, Erde und Luft – die Rituale der Kul-turen wurden synergetisch verbunden, ohne Rücksicht auf ethnologische oder philosophische Ansichten. Ge-tanzt wurde aus purer Lebensfreude und Dankbarkeit.

„Das Universum lacht, es weint nicht ... lasst es uns feiern!“

Das waren Pauls Worte, wenn er wieder einmal zu einem seiner beliebten Gartenfeste eingeladen hatte. Amanuee stand immer noch auf der Terrasse und beobachtete das wilde Fest. Sie war glücklich, diese Inszenierung war gelungen, alles war noch imposanter, freier und fröhlicher, als Paul und sie es sich zusammen ausgemalt hatten. Die Flammen schlugen hoch, schwarze Rauchschwaden stiegen gen Himmel, Funken stoben und krachend brachen Teile des Tieres in die aufgestellten Eisenwannen, verbrannten, verglühten und verglommen dort zu weißer Asche.

„Unser gemeinsames Leben löst sich in Energie auf“, dachte Manu. „So haben wir es gelebt, so knisternd und dramatisch, so brennend vor Liebe und Leidenschaft, so hingebungsvoll, wie sich das bunte Papier von den Flammen auffressen und verwandeln lässt. Paul – ich danke uns – diesmal sind wir zusammen ein großes Stück weitergekommen. Wir haben uns von Genießern zu wissenden Kennern gesteigert. Wir haben dem Universum keine Schande gemacht. Wir haben unser Leben mit genussvoller und dankbarer Liebe und Leidenschaft gelebt, zu Ehren der Schöpfung. Auf uns!“

Sie hob ihr Glas mit Rotwein und prostete dem, in sich zusammenfallenden Papiertiger, der mit einem heftigen Knall und Funkenflug antwortete, zu. Manu lächelte. Trotz aller Traurigkeit erfüllten Dankbarkeit und unendliche Liebe ihr Herz. Bis jetzt hatte sie es geschafft die Kälte und Starre des Todes, den Geruch der unlebendigen Leichenhaftigkeit, die grausam kalte Fühllosigkeit aus ihrem Herzen und Garten fernzuhalten. Ihr unerschütterliches Wissen über den wahren Fortgang der Ereignisse und ihr vorausschauender Blick hatten diese phantasievolle Inszenierung zu einem Fest der Sinne, des Lebens, des Todes und der Neugeburt, zu einer ausgelassenen Feier einer großen Liebe werden lassen.

Es dämmerte bereits, als die letzten Tigerreste verglommen. Die Stimmung im Garten hatte sich inzwischen etwas gemäßigt. Manu hatte genug von Händeschütteln und Verabschiedungen. Sie zog sich in ihr Erkerzimmer zurück, um sich auszuruhen. Dieser Tag und diese Nacht kamen ihr streckenweise unwirklich vor. Irgendwie war sie nie alleine gewesen, immer hatte sie Paul neben sich gespürt. Jetzt erst hatte sie dieses Gefühl des Alleinseins, Tod. „Solange ich fühle, bin ich auf der Erde“, schoss es ihr durch den Kopf und tiefer, wehmütiger Frieden erfüllte ihr Sein.

Xzar

„Es reicht!”

Kühl und endgültig durchschnitten diese zwei Worte die verqualmte, schwere Luft.

Eine eisige Kälte breitete sich an dem kleinen Ecktisch aus. Benita lümmelte lässig in der Ecke der roten, langen Kunstlederbank, die sich über die ganze Längsseite der Bar erstreckte. Das knalleng anliegende orange-türkis gestreifte Kleidchen ließ viel Figur und Bein sehen. Aus dem weit ausgeschnittenem Dekolleté wölbten sich zwei wundervolle, kleine Brüste, äußerst vorteilhaft drapiert.

Benita sah wieder einmal umwerfend attraktiv aus. Ihre langen, dunklen und sehr feinen Glieder bewegten sich mit einer eleganten Geschmeidigkeit, wie man sie sonst nur bei Katzen sieht. Große, grün-braun funkelnde Augen unter dichten, langen Wimpern blickten genervt durch den Raum. Ihr langer schwarzer Zopf, mit den dicken Haaren reichte ihr bis zur Taille. Ab und zu zog sie etwas zu heftig an der Zigarette. Damit verriet sie ihre ansonsten gut überspielte Erregung.

Benita war sich ihrer umwerfenden Schönheit bewusst und wusste sie auch zu nutzen. Sie fühlte die begehrlichen Blicke der Jungs an der Bar auf ihrem Körper. Sie genoss das feige Getue und Getuschel ihrer Anbeter. Sie verfing sich mit allen ihren Sinnen im Feuer der Blicke, die auf ihr lagen und sie umschmeichelten. Sie atmete das Begehren ihrer Anhänger förmlich ein und lebte davon.

„Ich finde wirklich es reicht. Wir gehen. Komm jetzt. Ich habe schon bezahlt.”

Florian nahm die Schlüssel vom Tisch, sah sie mit einem verächtlichen Blick an und stand auf.

Auch er sah verdammt gut aus. Zwar war er mit seinen 1.72 m etwas klein, wirkte aber dennoch sehr männlich. Um seine breiten Schultern lag ein dunkelgrüner Kaschmir Pullover, die schmalen Hüften steckten in weiten Hosen. Zum coolen Look gehörten auch die rasiermesserscharf geschnittenen Koteletten, die sich bis zu den markanten Wangenknochen zogen und seinem Gesicht das gewisse Etwas gaben. Florian galt mit seinen knall-blauen Augen, dunklen, fast schwarzen Haaren, der feinen langen Nase und den großen sinnlichen Lippen, als sehr gut aussehender Mann.

Benita machte keinerlei Anstalten aufzustehen.

„Du vögelst zwar ganz gut, aber sonst bist du ein riesen Arschloch”, war ihr geneigter Kommentar. Sie sah ihn an und zuckte cool mit beiden Schultern, was wohl ausdrücken sollte: „Pech, das ist eben leider einmal so, da kann man nichts machen.“

Florian explodierte. Sein Kopf lief erschreckend rot an. Seine Hände zitterten – wäre Benita ein Mann gewesen, hätte es eine klassische Schlägerei gegeben ... so packte er sie nur ziemlich unsanft am Arm und riss sie in die Höhe.

„Du kommst jetzt mit!”, zischte er mit Nachdruck.

„Lass mich looooos!” Benita schrie ihn hemmungslos an. Die Blicke der Gäste im Xzar richteten sich alle auf Flo. Sogar die Musik verstummte. Alles schien den Atem anzuhalten und nur darauf zu warten, Benita, dem dunklen Engel, zur Hilfe zu eilen. Notgedrungen ließ Florian Benitas Arm los.

Sie fiel zurück auf die Bank und steckte sich eine Zigarette an. Florian zitterte seine Gauloises hervor und gab Benita Feuer.

„Du hinterhältige kleine Edelnutte”, zischte er zwischen den Zähnen hervor. „Wer darfs denn heute zum Nach-tisch sein? Konstantin der Große oder Alexander Wendehals? Oder vielleicht taucht ja noch ein Sugar-Daddy auf für mein kleines, unschuldiges Kuschel-mäuschen, ein richtiger Beschützer mit einem dicken Portemonnaie, Alter spielt dabei natürlich keine Rolle.” Sarkastisch grinsend warf er ihr die Sätze an den Kopf.

„Na, Benitalein, oder kommst du doch noch mal mit mir mit, mit Florian dem Arschloch, der ja für manche Dinge noch ganz gut zu gebrauchen ist, Klamotten kaufen zum Beispiel ... schließlich hast du mir ja auch noch das Prädikat ganz gut beim vögeln verliehen. Mal sehen, heute streng ich mich besonders an für dich, dann kann ich mich vielleicht zum „gut” steigern. Willst du es nicht mal ausprobieren? Einmal mehr oder weniger ist für dich doch nicht so wichtig, aber für mich. Kannst du dir das überhaupt vorstellen? Ich meine es nämlich ernst mit dir.”

Wütende Eifersucht loderte aus Florians Blicken.

Die hübsche Dunkelhäutige sah ihn fassungslos an. Sie bekam eine Gänsehaut und sah sich bereits in Ketten, gefesselt an einen Mann in einem Lebensfilm, den sie sich nur als Horrorfilm vorstellen konnte.

Benita hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie weder heiraten wollte noch eine feste Bindung einzugehen gedachte. Die Ehe ihrer Eltern war grauenvoll gewesen, für alle Beteiligten. Benita, als Jüngste der fünf Kinder, hatte sich geschworen, nicht in diese Lebensfalle zu tappen, die ein verlogenes Zusammenbleiben mit sich brachte. Sie konnte Einmischung in Privatsphären auf den Tod nicht leiden und hielt auch überhaupt nichts von der staatlichen Einmischung namens Heirat. Sie wollte ein Leben nach ihrem Geschmack leben: frei und ungebunden, ohne Kinder und mit wechselnden Liebhabern. Und nie hatte sie einem ihrer Männer falsche Versprechungen gemacht.

Benita sah Florian noch einmal prüfend an, ihre Blicke ruhten auf seinem Hals, streiften seine schönen Hände und hielten schließlich mit einem Ausdruck von Ver-achtung und Verletztheit seinen kalten Blicken stand. Flo, wie sie und seine Freunde ihn nannten, hatte ihr schon viele Eifersucht-Szenen hingelegt, diesmal jedoch war es ihr zu viel. So konnte es nicht weiter gehen. Aus dem linken Augenwinkel hatte sie gesehen, dass Peter zur Tür hereingekommen war und am Ende der Bar stand. Benita stand auf und nahm ihre Jacke und ihre Handtasche. Sie beugte sich hinunter zu Flo und sagte ruhig:

„Flo, jetzt reichts mir. Ich will dir auch mal was sagen: Du weißt, wie wichtig mir Offenheit ist. Das mit der hinterhältigen Edelnutte geht einfach zu weit. Ich lasse mich von dir auch nicht als Lügnerin oder Betrügerin beschimpfen. Diesmal hast du den Bogen überspannt. Zieh Leine, such dir ein Hausfrauchen, das treu sein will und nur Hochzeit, Kochtopf und Kinder im Kopf hat. Du hast irgendwann einmal zu meinen Bedingungen ja gesagt, halte dich gefälligst daran. Ciao Baby, mach‘s gut.”

Traurig, aber entschieden drehte sie sich um und ging in Peters Richtung. Sie war enttäuscht. Flo bedeutete ihr viel, aber sie war nicht bereit ihren hart erkämpften Freiraum, ihren Spaß am Leben, für ein – manchmal zugegebenermaßen – sehr nettes Riesen-Arschloch aufzugeben.

Florian verließ wütend die Szene-Bar. Er hatte den Kürzeren gezogen und bereute es bereits, ausfällig geworden zu sein. Für ihn war das Spiel noch nicht beendet.

Wie von Paul bereits vorhergesagt, erreichte Amanuee ein Anruf von einem alten Bekannten und Kollegen Pauls aus New York, der seinen Besuch ankündigte. Die Nach-richt von Pauls Tod traf ihn unerwartet. Trotzdem bat er Amanuee um Einsicht in Pauls Forschungsunterlagen. Amanuee lud ihn gerne ein und versprach ihm behilflich zu sein. Mit keinem Wort erwähnte sie, dass Paul ihn kurz vor seinem Tod avisiert hatte.

Der New Yorker Gast saß an einem sonnigen Montagnachmittag zusammen mit Florian im kleinen Salon des stattlichen Herrenhauses an der Elbe. Amanuee hatte angeregt, dass auch Florian die Bekanntschaft des Forschers Nick Filoff machen sollte. Nicks Buchprojekt schien ihr für Flo in seiner Eigenschaft als Journalist durchaus spannend zu sein. Nicks Buch mit dem Arbeits-Titel „AIDS-Lüge“ stand kurz vor der Veröffentlichung durch ein renommiertes New Yorker Verlagshaus.

Nick hatte sich bereits warm geredet und beantwortete geduldig Florians Fragen.

„Ich habe noch eine sehr grundsätzliche Frage nach der Definition von AIDS und HIV, wie hängen das Virus und AIDS eigentlich zusammen?“ Florian sah wissbegierig zu Nick.

„AIDS steht für ein Syndrom, dass als eine Ansammlung von 25 nicht miteinander verwandten Krankheiten definiert wird, also ein erworbenes Immunschwächesyndrom. Es wird definiert durch einen kritischen Mangel an T-Zellen und, wie gesagt, begleitet von konventionellen, degenerativen und neoplastischen Krankheiten. Die meisten sind dir sicherlich bekannt, Herpes und Lungenentzündung gehören zum Beispiel dazu. Wie jeder weiß, besteht eine Wechselbeziehung von AIDS zu 95% mit Risikofaktoren wie Promiskuität, Drogenmissbrauch etc., das ist den meisten bekannt. Außerdem soll AIDS mit Antikörpern gegen einen Retrovirus zusammenhängen. Dieser ist interessanterweise jedoch in nur etwa 40% aller Fälle bestätigt.

Diese Wechselbeziehung ist die Grundlage für die Hypothese, dass dieses Virus AIDS durch Abtöten von T-Zellen verursacht. Das Virus wurde aus diesem Grunde Immundefizienz-Virus genannt, also HIV, und als ein Bestandteil der Definition von AIDS angenommen.“

Nick klopfte sein Pfeiffchen aus und kramte in seiner gut polierten Pfeifensammlung.

„Richtig spannend wird das Virus, wenn wir es von ei-nem gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Stand-punkt einmal näher betrachten“, fuhr er mit einem verschmitzten Blick zu Flo fort, sich gemütlich ein neues Pfeifchen stopfend.