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Kafkas Aphorismen sind Schlüsseltexte zum Verständnis seines Denkens. Die Aphorismen und Denkbilder, die Kafka während eines etwa acht Monate währenden Aufenthalts in dem böhmischen Dorf Zürau auf mehr als hundert nummerierte Zettel notierte, gehören zu den geheimnisvollsten seiner Texte. Sie umkreisen klassische philosophische Fragen wie das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, geistiger und sinnlicher Welt, und dennoch verzichten sie auf jegliches Fachvokabular und sprechen stattdessen in Bildern. Mit dieser kommentierten Ausgabe der Zürauer Aphorismen zeigt Reiner Stach, dass Kafkas konsequente Bildlogik den Weg zu einem Verständnis dieser scheinbar hermetischen Sätze eröffnet. Jedem Aphorismus ist eine Seite mit Materialien beigegeben: bedeutsame Korrekturvorgänge Kafkas, parallele Aufzeichnungen aus seinen Zürauer Notizheften sowie Erläuterungen des Herausgebers zur vielfältigen thematischen und bildlichen Vernetzung der Aphorismen. Auch überraschende Querverbindungen zu Kafkas Briefen, Tagebüchern und literarischen Werken werden aufgezeigt. Die Entstehungsbedingungen und den biographischen Kontext erläutert Reiner Stach in einem Nachwort.
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Seitenzahl: 189
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Franz Kafka
»Du bist die Aufgabe«
Aphorismen
Herausgegeben, kommentiertund mit einem Nachwort von Reiner Stach
WALLSTEIN VERLAG
Für die Faksimiles der Handschriften:
Copyright © 2019 The Bodleian Library, University of Oxford
Für die digitale Aufbereitung der Ansicht Züraus
danken der Herausgeber und der Verlag Jan Jindra.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2019
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Friedland
unter Verwendung einer Fotografie von Kafka aus Zürau
ISBN (Print) 978-3-8353-3510-3
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4376-4
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4377-1
Aphorismen und Kommentar
Siglen der Handschriften und Werke Franz Kafkas
Quellennachweise
Literatur
Nachwort
1
Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.
Notiert am 19. Oktober 1917. Im Oktavheft beginnt die Niederschrift mit den Worten: »Ich irre ab. Der wahre Weg …« Der Satz »Es scheint mehr bestimmt …« wurde von Kafka erst später im Oktavheft ergänzt und dann auch auf Zettel 1 übernommen. (Zu Kafkas eigenhändigen Abschriften auf Zettel siehe das Nachwort.)
Das Motiv des Seils fand Kafka vermutlich in einer chassidischen Geschichte, die er kurz zuvor gelesen hatte und in der zwei zum Tod Verurteilte ihr Leben retten können, indem sie ein über einen Teich gespanntes Seil überqueren. Nachdem es der erste geschafft hat, sagt er zum zweiten: »Die Hauptsache ist, keinen Augenblick zu vergessen, dass man auf einem Strick geht und dass es sich um das Leben handelt.« Ausdrücklich wird das Seil hier als Metapher für den »Weg … zum wahren Gottesdienste« angeführt. Kafka hingegen verlässt sich auf die Logik des Bildes selbst: Bei ihm ist das Seil buchstäblich ›im Weg‹, so lange, bis man sich entschließt, es zu betreten.
Zum Weg als Metapher siehe auch die Aphorismen 21, 26, 38, 39a und 104.
Weitere thematisch verwandte Eintragungen in den Oktavheften: »Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muss Feuer fangen, wenn Du weiterwillst.« – »Die verschiedenen Formen der Hoffnungslosigkeit auf den verschiedenen Stationen des Wegs.« – »Er hat zuviel Geist, er fährt auf seinem Geist wie auf einem Zauberwagen über die Erde auch dort wo keine Wege sind. Und kann es von sich selbst nicht erfahren dass dort keine Wege sind. Dadurch wird seine demütige Bitte um Nachfolge zur Tyrannei und sein ehrlich[er] Glaube ›auf dem Wege‹ zu sein zum Hochmut.« – »Der Weg zum Nebenmenschen ist für mich sehr lang.«
In einem Brief an Robert Klopstock vom Sommer 1922 entfaltete Kafka die Metapher vom wahren Weg noch weiter: »… da wir doch nur auf einem Weg sind, welcher erst zu einem zweiten führt und dieser zu einem dritten u. s. f. und dann noch lange nicht der richtige kommt und vielleicht gar nicht …« Im selben Jahr schrieb Kafka sein Prosastück EIN KOMMENTAR (besser bekannt unter dem Titel GIBS AUF), in dem es einen Polizisten erheitert, dass ausgerechnet er nach dem Weg gefragt wird – was ohne den metaphorischen Hintersinn des Wortes unverständlich bliebe.
2
Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.
Notiert am 19. Oktober 1917.
Im Oktavheft beginnt die Niederschrift mit den Worten: »Psychologie ist Ungeduld, alle menschlichen Fehler sind Ungeduld …« Die endgültige Aussage, in der von Psychologie nicht mehr die Rede ist, ist demnach das Ergebnis einer von Kafka unsichtbar gemachten Verallgemeinerung.
Veranlasst wurden diese Gedanken offenbar durch einen kurz zuvor erhaltenen Brief von Felix Weltsch, in dem dieser das widersprüchliche Verhalten Kafkas – insbesondere in Bezug auf seine Erkrankung – mit psychologischen Begriffen zu fassen versuchte. Darauf antwortete Kafka, Weltschs Bemerkungen gehörten »zu dem verdammt psychologischen Teorienkreis, den Du liebst oder vielmehr den Du nicht liebst, aber von dem Du besessen bist (und ich wohl auch). Die Naturteorien (?) haben Unrecht so wie ihre psychologischen Schwestern.«
Bereits am Tag nach der Niederschrift des Aphorismus kehrte Kafka zum allgemeineren Thema der Ungeduld noch einmal zurück und verfasste dazu den Aphorismus 3.
Die Zettel 1 und 2 sind die einzigen, die Max Brod bereits 1926 in der Literarischen Welt als Faksimiles veröffentlichte. Sie sind auch die einzigen, die sich nicht in der Bodleian Library in Oxford, sondern im Nachlass Brods in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem befinden.
Den Begriff des »Einpfählens« kannte Kafka vermutlich aus dem Gartenbau; er bedeutet hier das Stabilisieren junger Obstbäume durch (zumeist drei) Pfähle oder auch das Einfrieden einer Wiese mit Zaunpfählen. In Zürau hatte Kafka viel Gelegenheit, diese Arbeiten zu beobachten.
3
Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.
Notiert am 20. Oktober 1917. Bei der Abschrift auf Zettel 3 korrigierte Kafka zweimal von »ausgewiesen« zu »vertrieben«. Danach strich er jedoch den gesamten Text.
Von der Vertreibung aus dem Paradies sprechen auch die Aphorismen 64, 74, 82 und 84. Das Thema beschäftigte Kafka offenbar schon seit längerem; im Jahr zuvor schrieb er an Felice Bauer über zwei idyllische Flecken, die er nahe Prag entdeckt hatte: »Beide Orte still wie das Paradies nach der Vertreibung der Menschen.«
Weitere thematisch verwandte Eintragungen in den Oktavheften: »Das erste Haustier Adams nach der Vertreibung aus dem Paradies war die Schlange.« – »Die Vertreibung aus dem Paradies war in einem Sinne ein Glück, denn wären wir nicht vertrieben worden, hätte das Paradies zerstört werden müssen.« – »Nach Gott sollte die augenblickliche Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis der Tod sein, nach der Schlange (wenigstens konnte man sie dahin verstehn) die göttliche Gleichwerdung. Beides war in ähnlicher Weise unrichtig. Die Menschen starben nicht, sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber erhielten eine unentbehrliche Fähigkeit, um es zu werden. Beides war auch in ähnlicher Weise richtig. Nicht der Mensch starb, aber der paradiesische Mensch, sie wurden nicht Gott aber das göttliche Erkennen.« [alles gestrichen] – »Für den Sündenfall gab es 3 Strafmöglichkeiten: die mildeste war die tatsächliche, die Vertreibung aus dem Paradies / die zweite Zerstörung des Paradieses / drittens – und dies wäre die schrecklichste Strafe gewesen, Absperrung des Baumes des Lebens und unveränderte Belassung alles andern.« – »›Wenn … musst du sterben‹ bedeutet Die Erkenntnis ist gleichzeitig beides: Stufe zum ewigen Leben und Hindernis vor ihm. Wirst Du nach gewonnener Erkenntnis zum ewigen Leben gelangen wollen – und Du wirst nicht anders können als es wollen denn Erkenntnis ist dieser Wille – so wirst Du Dich das Hindernis zerstören müssen, um die Stufen das ist die Zerstörung zu bauen. Die Vertreibung aus dem Paradies war daher keine Tat sondern ein Geschehen.« [mit Ausnahme des letzten Satzes gestrichen]
4
Viele Schatten der Abgeschiedenen beschäftigen sich nur damit die Fluten des Totenflusses zu belecken, weil er von uns herkommt und noch den salzigen Geschmack unserer Meere hat. Vor Ekel sträubt sich dann der Fluss, nimmt eine rückläufige Strömung und schwemmt die Toten ins Leben zurück. Sie aber sind glücklich, singen Danklieder und streicheln den Empörten.
Notiert am 20. Oktober 1917. Der letzte Satz wurde im Oktavheft nachträglich angefügt.
Mit dem Motiv des Totenflusses hatte Kafka schon im Winter zuvor gespielt: in den umfänglichen Fragmenten zum JÄGER GRACCHUS, der zwar verstorben ist, jedoch durch »eine falsche Drehung des Steuers« in die »irdischen Gewässer« zurückkehrt.
5
5
Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Notiert am 20. Oktober 1917. Im Oktavheft ist dieser Satz durch einen Randstrich eigens hervorgehoben.
Wodurch Kafka zu dieser Überlegung veranlasst wurde, ist unbekannt; es ist jedoch offensichtlich, dass sie auf mehrere seiner drängendsten Konflikte anwendbar ist: die endgültige Trennung von Felice Bauer, zu der er sich in Zürau entschloss; die Loslösung vom Vater; aber auch der ersehnte Übergang von einer bürgerlichen Existenz zu einem Leben, dass allein den Gesetzen des ›Schreibens‹ unterworfen ist.
Auffällig ist die Nähe zu Kafkas Lieblingsmetapher des ›Wegs‹. So ist beispielsweise auch das Betreten des Seils im tags zuvor entstandenen Aphorismus 1 ein kritischer Punkt, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Und auch der Protagonist des SCHLOSS-Romans ist bereits zu weit gegangen (im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn), um noch in sein ursprüngliches Leben zurückkehren zu können.
Eine weitere Verwandtschaft zeigt sich zum Begriff der ›Schwelle‹, etwa in Kafkas Tagebucheintrag von 1922: »Nichts Böses; hast Du die Schwelle überschritten, ist alles gut. Eine andere Welt und Du musst nicht reden.«
6
Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.
Notiert am 20. Oktober 1917.
Im Oktavheft beginnt die Aufzeichnung mit den Worten: »Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist, wenn wir unsern Zeitbegriff fallen lassen immerwährend. Die Menschengeschichte ist die Sekunde zwischen zwei Schritten eines Wanderers.«
Diesen zweiten Satz strich Kafka bereits im Oktavheft. Die Formulierung »wenn wir unsern Zeitbegriff fallen lassen« übertrug er zunächst auf Zettel 6, strich sie dann jedoch ebenfalls.
Außerdem benötigte er im Oktavheft drei Anläufe, um das Wort »nichtig« zu finden. Zuerst schrieb er »unrichtig«, dann »falsch«, dann »nichtig«.
Den Grundgedanken dieses Aphorismus variierte Kafka kurz darauf in einem Brief an Max Brod, diesmal jedoch auf das Leben des Einzelnen bezogen: »… wenn es nicht zahllose Möglichkeiten der Befreiung gibt, besonders aber Möglichkeiten in jedem Augenblick unseres Lebens, dann gibt es vielleicht überhaupt keine.«
Dass wir unserem begrenzten Zeitbegriff nicht trauen dürfen, wenn wir über das Schicksal der Menschheit nachdenken, folgt ebenso aus Aphorismus 64.
7
Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen ist die Aufforderung zum Kampf. Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet.
Notiert am 20. Oktober 1917.
Im Oktavheft war die Aufzeichnung zunächst um einen Satz länger: »Eine der wirksamsten Verführungen des Teuflischen ist die Aufforderung zum Kampf. Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet. Die wahren Seitensprünge des Ehemanns, die, richtig verstanden, niemals lustig sind.«
Nach der Niederschrift der korrigierten und gekürzten Version auf Zettel 7 strich Kafka den gesamten Text.
Das Böse ist das am häufigsten wiederkehrende Thema in Kafkas Aphorismen, siehe 19, 28, 29, 39, 51, 54, 55, 85, 86, 95, 100, 105. Zur weiblichen Sexualität als Mittel des Bösen siehe ebenfalls Aphorismus 105, wo der »Blick der Frau« ausdrücklich »das Gute« repräsentiert.
Weitere thematisch verwandte Eintragungen in den Oktavheften: »Böse ist, was ablenkt.« – »Das Böse weiss vom Guten, aber das Gute vom Bösen nicht.« – »Selbsterkenntnis hat nur das Böse.« – »Ein Mittel des Bösen ist das Zwiegespräch.« – »Das Böse ist der Sternhimmel des Guten.« – »Im Paradies wie immer: Das was die Sünde verursacht und das was sie erkennt ist eines. Das gute Gewissen, ist das Böse, das so siegreich ist, dass es nicht einmal mehr jenen Sprung von links nach rechts für nötig hält.« – »Der trostlose Gesichtskreis des Bösen, schon im Erkennen des Guten und Bösen glaubt er die Gottgleichheit zu sehn. Die Verfluchung scheint an seinem Wesen nichts zu verschlimmern: mit dem Bauche wird er die Länge des Weges ausmessen.«
8 / 9
Eine stinkende Hündin, reichliche Kindergebärerin, stellenweise schon faulend, die aber in meiner Kindheit mir alles war, die in Treue unaufhörlich mir folgt, die ich zu schlagen mich nicht überwinden kann, vor der ich aber, selbst ihren Atem scheuend, schrittweise nach rückwärts weiche und die mich doch, wenn ich mich nicht anders entscheide, in den schon sichtbaren Mauerwinkel drängen wird, um dort auf mir und mit mir gänzlich zu verwesen, bis zum Ende – ehrt es mich? – das Eiter- und Wurm-Fleisch ihrer Zunge an meiner Hand.
Notiert am 21. Oktober 1917. Die Aufzeichnung hatte ursprünglich den Titel »Ein Leben«, den Kafka auf Zettel 8 /9 übernahm, dort aber strich.
Der Text im Oktavheft spricht zunächst von einem »Hund«. Erst nach Vollendung des Notats ersetzte Kafka alle männlichen durch weibliche Formen (»Hündin«, »die«, »ihre«) und ergänzte die Worte »reichliche Kindergebärerin«.
Der von Kafka beschriebene Zettel trug zunächst die Nummer 8, die Ziffer 9 ergänzte er später. Möglicherweise hatte er bemerkt, dass er bei der Nummerierung der leeren Zettel die Zahl 9 versehentlich übersprungen hatte. Es ist jedoch auch denkbar, dass es einen von Kafka beschrifteten Zettel 9 gab, den er später vernichtete.
Max Brod fand diese Aufzeichnung so abstoßend, dass er sie wegließ, als er 1931 die nummerierten Aphorismen erstmals publizierte. Um die Auslassung unkenntlich zu machen, nummerierte er die folgenden Aphorismen um.
10
A. ist sehr aufgeblasen, er glaubt im Guten weit vorgeschritten zu sein, da er, offenbar als ein immer verlockenderer Gegenstand immer mehr Versuchungen aus ihm bisher ganz unbekannten Richtungen sich ausgesetzt fühlt. Die richtige Erklärung ist aber die, dass ein grosser Teufel in ihm Platz genommen hat und die Unzahl der kleineren herbeikommt, um dem Grossen zu dienen.
Notiert am 22. Oktober 1917, »Vormittag im Bett«.
Am Tag zuvor hatte Kafka ein Prosastück notiert, welches das Motiv des innewohnenden Teufels in einen erzählerischen Zusammenhang stellt. Es beginnt mit den Worten: »Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, in den Abend- und Nachtstunden, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quichote gab, derart von sich abzulenken …«
Die Vorstellung eines oder mehrerer ›eigener‹ Teufel findet sich auch in zahlreichen Briefen Kafkas. Warum es gewöhnlich viele sind, begründete er 1912 im Tagebuch. Im Sommer 1913 studierte er die zweibändige GESCHICHTE DES TEUFELS von Gustav Roskoff (1869).
Die Vorstellung, gute Menschen seien zwar besonders vielen Versuchungen ausgesetzt, hätten jedoch auch Mittel, den Teufel zu überlisten, fand Kafka in einer chassidischen Geschichte bestätigt, die er 1915 hörte: Ein hoher Rabbiner befiehlt einem Lieblingsschüler, zeitweilig zum Christentum überzutreten, um »den Bösen abzulenken«. Das Böse ist also nicht nur das, »was ablenkt« (einer Definition Kafkas zufolge), es kann auch selbst abgelenkt werden.
»A.« ist hier keine reale Person, sondern ein ›Jemand‹, die abstrakte Verkörperung einer Handlungsoption oder einer menschlichen Eigenschaft. Das zeigt sich unter anderem in der folgenden Eintragung im Oktavheft und in den zugehörigen Korrekturen: »A’s geistige Armut und die Schwerbeweglichkeit dieser Armut ist ein Vorteil, sie erleichtert ihm die Koncentration oder vielmehr sie ist schon Koncentration, wodurch er allerdings den Vorteil verliert, der in der Anwendung der Koncentrationskraft liegt.«
Diese Notiz war zunächst durchgängig in der Ich-Form formuliert (»Meine geistige Armut …«) und wurde von Kafka erst nachträglich durch mehrere Korrekturen in die Er-Form überführt, mit »A.« als Objekt der Aussage. Die unmittelbar folgende Eintragung beginnt mit den Worten: »A. ist in folgender Täuschung begriffen …«
Dieselbe Abkürzung verwendet Kafka in den Aphorismen 49 und 107.
11 / 12
Verschiedenheit der Anschauungen, die man etwa von einem Apfel haben kann: die Anschauung des kleinen Jungen, der den Hals strecken muss, um noch knapp den Apfel auf der Tischplatte zu sehn, und die Anschauung des Hausherrn, der den Apfel nimmt und frei dem Tischgenossen reicht.
Notiert am 22. Oktober 1917.
Der von Kafka beschriftete Zettel trug zunächst die Nummer 11, die Zahl 12 ergänzte er später. Auch hier ist unklar, ob er bei der Nummerierung der leeren Zettel die 12 versehentlich übersprungen hatte oder ob es einen von Kafka beschrifteten Zettel 12 gab, den er später vernichtete.
Das Oktavheft lässt erkennen, dass das Beispiel des Apfels nicht so zufällig gewählt ist, wie es scheint, denn dort endet die Aufzeichnung mit dem Satz: »Zwischen beiden steht Eva.« Kafka war also in Gedanken noch immer beim Paradiesthema (siehe Aphorismus 3, zwei Tage zuvor).
Ein Beispiel für Kafkas bildhaftes Denken: Obwohl davon in der Genesis nicht ausdrücklich die Rede ist, stellt Kafka sich vor, wie Eva zunächst zu den verbotenen Früchten am Baum der Erkenntnis hinaufblickt, ehe sie sie pflückt und ihrem Gefährten reicht. Das heißt, ihre »Anschauung« des Apfels war zunächst jungenhaft, dann hausherrenhaft.
Ähnlich bildhaftes Argumentieren findet sich in einem Brief an Milena Jesenská vier Jahre später. Jesenská hatte offenbar die Unverbindlichkeit außerehelicher Sexualität als bloßes »Spiel mit einem Ball« bezeichnet, und Kafka kommentierte zustimmend: »Es ist so wie wenn Eva den Apfel (manchmal glaube ich, ich verstehe den Sündenfall wie kein Mensch sonst) zwar abgerissen hätte, aber nur um ihn Adam zu zeigen, weil er ihr gefallen hat. Das Hineinbeissen war das Entscheidende, das Mit-ihm-spielen war zwar nicht erlaubt, aber auch nicht verboten.«
13
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: »Diesen sollt Ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.«
Notiert am 25. oder 26. Oktober 1917.
Auffällig ist hier Kafkas Abweichung von der alltagssprachlichen Semantik: Man kann zwar ›glauben‹, dass etwas Bestimmtes geschehen wird, auch ohne dessen Ursache und Bedeutung zu kennen; ein bloß zufälliges Ereignis hingegen wird man eher ›erhoffen‹.
Der Aphorismus erinnert an ein Prosafragment, das Kafka bereits im Jahr zuvor im Tagebuch notiert hatte: Hier klammert sich ein Gefangener an die Hoffnung, der Scharfrichter, der in seine Zelle getreten ist, werde ihn nicht töten, sondern lediglich in eine andere Zelle bringen.
Drei Monate nach Aphorismus 13 notierte Kafka im Oktavheft eine Variation des Gefangenen-Themas: »Der Selbstmörder ist der Gefangene welcher im Gefängnishof einen Galgen aufrichten sieht[,] irrtümlich glaubt[,] er sei der für ihn bestimmte, in der Nacht aus seiner Zelle ausbricht hinunter geht und sich aufhängt.«
In späteren Jahren spitzte Kafka die Metapher immer weiter zu, vertrieb gleichsam jede Hoffnung aus ihr: »Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zuhause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entgieng ihm draussen, selbst verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen war er.« – »Meine Gefängniszelle – meine Festung.« – »Alles ist Phantasie, die Familie, das Bureau, die Freunde, die Strasse, alles Phantasie, fernere oder nähere, die Frau die nächste, Wahrheit aber ist nur dass Du den Kopf gegen die Wand einer fenster- und türlosen Zelle drückst.«
14
Giengest Du über eine Ebene, hättest den guten Willen zu gehn und machtest doch Rückschritte, dann wäre es eine verzweifelte Sache; da Du aber einen steilen Abhang hinaufkletterst, so steil etwa, wie Du selbst von unten gesehen bist, können die Rückschritte auch nur durch die Bodenbeschaffenheit verursacht sein und Du musst nicht verzweifeln.
Notiert am 3., 4. oder 5. November 1917. Nachdem Kafka den Text auf Zettel 14 abgeschrieben hatte, strich er ihn durch.
Den autobiographischen Kontext dieser Aufzeichnung – und damit vielleicht auch den Grund ihrer Streichung – deutet Kafka in der im Oktavheft unmittelbar folgenden Notiz an: »Guten Willen? Konntest Gedanken an Italien nicht verhindern / hast P. Schlemihl vorgelesen.«
Die »Gedanken an Italien« beziehen sich sehr wahrscheinlich auf das Mädchen, in das er sich im Oktober 1913 in Riva verliebte. Kafkas Tagebuch belegt, dass er auch noch im Juli 1916, während eines gemeinsamen Urlaubs mit Felice Bauer, an dieses Mädchen dachte.
Während desselben Aufenthalts in Marienbad las Kafka Felice Bauer auch einiges vor – darunter sehr wahrscheinlich PETER SCHLEMIHLS WUNDERSAME GESCHICHTE von Adelbert von Chamisso, denn diesen Band schickten die Verlobten gemeinsam an Felices Freundin Grete Bloch. Es ist die Geschichte eines Mannes, der dem Teufel den eigenen Schatten verkauft, sich damit jedoch aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließt.
Der selbstkritische Kommentar im Oktavheft ist demnach so zu verstehen, dass Kafka sogar im Moment der intensivsten Annäherung die Liebesbeziehung zu Felice Bauer gleichsam sabotierte: zum einen durch geheime erotische Hintergedanken, zum anderen durch eine strategisch gewählte gemeinsame Lektüre, die ihr die unheilvolle, selbst verschuldete Isolation des Geliebten überdeutlich vor Augen hielt. Angesichts des nunmehr nahe bevorstehenden Endes der Verlobung bezweifelte Kafka daher, stets den »guten Willen« gezeigt zu haben, mit Felice weiterzugehen.
Der Aphorismus selbst bietet eine weitere Variation der von Kafka so geschätzten Weg-Metapher; vgl. den Kommentar zu Aphorismus 1.
15
Wie ein Weg im Herbst: kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Blättern.
Notiert am 6. November 1917.
Erneut eine Variation der Weg-Metapher. Sie zielt vermutlich darauf ab, dass auch der bereits gefundene »wahre Weg« mit der Zeit wieder unkenntlich werden kann. Die sinnliche Erfahrung dessen bot sich Kafka zur Zeit der Niederschrift täglich, während ausgedehnter herbstlicher Spaziergänge in und um Zürau.
16
Ein Käfig ging einen Vogel suchen.
Notiert am 6. November 1917.
Im Oktavheft lautet der Satz: »Ein Käfig ging einen Vogel fangen.« Die Korrektur erfolgte mit der Abschrift auf Zettel 16.
Der Unterschied zwischen den beiden Versionen ist bedeutsam. Zunächst dachte Kafka offenbar an einen Akt der Überwältigung: der Käfig als ›Täter‹, der Vogel als ›Opfer‹. Dann verwischte er die Konturen des Bildes: Zwar wird der Käfig dem Vogel sicherlich die Freiheit nehmen, sobald er ihn gefunden hat; doch gibt es nun keine Andeutung mehr davon, dass er darüber hinaus ihm etwas antun könnte. Käfig und Vogel werden ›zusammenfinden‹. Das entspricht viel genauer Kafkas Auffassung, dass jemand, der in Unfreiheit gerät oder darin verharrt, stets einen eigenen Anteil daran hat und somit auch Verantwortung trägt.
Die zweite, endgültige, scheinbar harmlosere Form des Aphorismus ließe sich auf zahlreiche soziale Verhältnisse projizieren: die Frau, die um einen möglichen Versorger wirbt, die Firma, die einen loyalen Angestellten sucht, etc. An welche Art von Käfig Kafka konkret dachte, lässt sich aus dem Kontext der Niederschrift nicht erschließen.
Ebenso offenbleiben muss die Frage, ob der »Vogel« eine Anspielung auf Kafkas Namen enthält; vgl. den Kommentar zu Aphorismus 32.
17
An diesem Ort war ich noch niemals: anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.
Notiert am 7. oder 8. November 1917.
Der Stern ist bei Kafka eine Metapher nicht nur des weit Entfernten, sondern auch des radikal Anderen, im positiven wie im negativen Sinn. So notierte er bereits wenige Wochen nach Aphorismus 17 im Oktavheft: »Wer glaubt kann keine Wunder erleben. Bei Tag sieht man keine Sterne.« Und weiter: »Das Böse ist der Sternhimmel des Guten.«
Auch zur Charakterisierung Kierkegaards, mit dessen Schriften sich Kafka in Zürau beschäftigte, bediente er sich dieses Bildes. So schrieb er im Frühjahr 1918 an Max Brod: »… aus dem Zimmernachbar ist irgendein Stern geworden, sowohl was meine Bewunderung, als eine gewisse Kälte meines Mitgefühls betrifft.« Und wiederum wenige Wochen später führte er die Bilder von Sonne und fremdem Ort erneut zusammen, vermutlich mit direktem (für den Adressaten Oskar Baum jedoch verborgenen) Bezug auf Aphorismus 17: »Kierkegaard ist ein Stern, aber über einer mir fast unzugänglichen Gegend …«
In dieser Denkfigur ist die ferne Gegend nicht nur ein ›anderer Ort‹, sondern zugleich ein ›anderer Zustand‹. Im Aphorismus 17 wird dies dadurch ausgesprochen, dass der Atem dort »anders geht« als hier, was ja zunächst nicht den Ort selbst charakterisiert, sondern dessen Wirkung auf den Besucher.