Du bist mein Lieblingstraum - Therese Beharrie - E-Book
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Therese Beharrie

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Beschreibung

Ein unerwarteter Kuss, ein fast perfekter Mann und ein Traum, der wahr werden könnte …

Die erfolgreiche Romance-Autorin Gaia Anders hat ein Geheimnis: Alles, was sie nachts träumt, steht auf magische Weise morgens in ihrem neuen Buch. Ihre romantisch-leidenschaftlichen Träume fühlen sich so real an, dass Gaias wirkliches Leben nicht mithalten kann – bis sie einen Kuss mit Jacob Scott, dem Bruder ihres besten Freundes teilt. Prompt wird er zum Helden von Gaias Träumen. Zu gerne würde sie ihm auch in der Realität näher kommen. Aber sie hat mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Und Jacobs Versuch, den Frieden in seiner zerrütteten Familie wiederherzustellen, weckt Gaias tiefste Ängste. Schon bald werden beide mit harten Wahrheiten darüber konfrontiert, wer sie sind und wovor sie davonlaufen. Ist ihre Liebe stark genug für das wahre Leben, oder bleibt sie ein schöner Traum?

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Seitenzahl: 466

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Das Buch

Die erfolgreiche Romance-Autorin Gaia Anders hat ein Geheimnis: Alles, was sie nachts träumt, steht auf magische Weise morgens in ihrem neuen Buch. Ihre romantisch-leidenschaftlichen Träume fühlen sich so real an, dass Gaias wirkliches Leben nicht mithalten kann – bis sie einen Kuss mit Jacob Scott, dem Bruder ihres besten Freundes teilt. Prompt wird er zum Helden invon Gaias Träumen. Zu gerne würde sie ihm auch in der Realität näher kommen. Aber sie hat mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Und Jacobs Versuch, den Frieden in seiner zerrütteten Familie wiederherzustellen, weckt Gaias tiefste Ängste. Schon bald werden beide mit harten Wahrheiten darüber konfrontiert, wer sie sind und wovor sie davonlaufen. Ist ihre Liebe stark genug für das wahre Leben, oder bleibt sie ein schöner Traum?

Die Autorin

Therese Beharrie ist eine südafrikanische Autorin, die bereits mehrere erfolgreiche Romane geschrieben hat. Ihre Spezialität ist es, über diverse Charaktere und unterschiedliche Schauplätze zu schreiben. Ihre Geschichten sind immer voller Herz und Witz. Therese lebt mit ihrem Mann – Inspiration für jeden ihrer Romanhelden – und zwei entzückenden kleinen Jungen in Kapstadt.

Therese Beharrie

DuBISTMEIN

Lieblingstraum

Roman

Aus dem Amerikanischen von Andrea Brandl

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe ANDTHEYLIVEDHAPPILYEVERAFTER erschien erstmals 2021 bei Zebra Books, Kensington Publishing Corp., New York.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 11/2023

Copyright © 2021 by Therese Beharrie

Published by Arrangement with KENSINGTONPUBLISHINGCORP., NEWYORK, NY 10018, USA

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: zero-media.net; Art by Trish Cramblet/lottreps.com

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Redaktion: Catherine Beck

ISBN: 978-3-641-28720-7V001

www.heyne.de

Für meine Babys. Ihr habt mehr Freude und Liebe in mein Leben gebracht, als ich mir jemals vorstellen konnte.

Für meinen Mann, weil ich im Hinblick auf dich niemals Ängste durchstehen musste.

Und für all jene, die unter Angststörungen leiden.

Ich sehe euch.

Anmerkung der Autorin

Dieses Buch mag zwar eine Liebesgeschichte voller Freude und Hoffnung sein, trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass Angststörungen mit schweren Panikattacken thematisiert werden, ebenso wie Adoption und die Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien. Falls eines dieser Themen einen Trigger für Sie darstellen könnte, sollte Ihr psychisches Wohlergehen Priorität haben.

Prolog

Mit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sich Gaia Anders’ Leben geradezu dramatisch verändert. Sie ging nicht mehr auf die Highschool. Und sie lebte nicht mehr bei einer Pflegefamilie.

Sie war frei.

Kaum waren sechzehn Jahre vergangen – sie hatte seit ihrem zweiten Lebensjahr unter staatlicher Vormundschaft gestanden –, wachte sie endlich in ihrem eigenen Bett auf.

Sie wackelte von Kopf bis Fuß, als führe ihr Körper ohne ihr Zutun ein Tänzchen auf, aus purer Freude, weil sie tatsächlich in ihrem ersten eigenen Bett lag. Na gut, es war gebraucht und die Matratze leicht durchgelegen von Aktivitäten, über die sie lieber nicht so genau nachdenken wollte, aber es gehörte ihr. Sie hatte es von ihrem Studienkredit gekauft, der gerade eben die Kosten für die Uni und die Hälfte der Miete für das Apartment deckte, das eine halbe Ewigkeit vom Campus entfernt lag. In ein paar Wochen würde sie ihr Studium aufnehmen.

Das Bett glich aus, dass das Zimmer ansonsten nahezu leer war und es wohl auch noch eine Weile bleiben würde.

Gaia genoss die Stille, die in ihrem bisherigen Leben eher eine Seltenheit gewesen war. Ihre Mitbewohnerin Joss übernachtete bei Seth, ihrem Freund – was hoffen ließ, dass Gaia noch häufiger in den Genuss völliger Ruhe käme. Und der Ausstattung des Haushalts. Joss’ Eltern schien daran gelegen zu sein, dass ihre Tochter unter anderem einen Toaster und einen Wasserkessel zur Verfügung hatte. Wahnsinn!

Zum Glück schien Joss es nicht verdächtig zu finden, dass Gaia ohne derartige Haushaltsartikel eingezogen war, andererseits wohnten sie noch nicht lange zusammen, und Joss war so gut wie nie da. Aber das war erst mal kein Problem, oder?

Gaia pflanzte sich mit Kaffee und Toast auf die Couch, die ebenfalls Joss gehörte, und blickte auf das Notizbuch auf dem Tisch. Gestern Abend war sie zu müde gewesen, es noch in ihr Zimmer mitzunehmen, aber schließlich hielt sich außer ihr niemand in der Wohnung auf.

Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie es liegen gelassen hatte, um nicht an die andere Wendung denken zu müssen, die ihr Leben seit ihrem Geburtstag genommen hatte.

Es lag auf der Hand, dass sie sich innerlich sträubte gegen die … tja, sie wusste nicht genau, wie sie sie bezeichnen sollte. Träume, die praktisch genau dem entsprachen, was sie tagsüber schrieb?

Natürlich könnte man sie als gewöhnliche Träume abtun, andererseits waren sie bisher nie so lebhaft gewesen. Gaia hatte sich praktisch nie an sie erinnern können, sondern lediglich ein vages Druckgefühl in der Brust verspürt, eine Art Restempfindung, die sie nicht weiter hinterfragt hatte. Nun allerdings erinnerte sie sich nicht nur daran – ihre Träume entsprachen genau den Geschichten, die sie in ihrem Notizbuch festhielt, und zwar Wort für Wort. Jede Einzelheit schien zum Leben zu erwachen, sobald sie abends die Augen schloss.

Vergangene Nacht war es ihr aktueller Held gewesen, der Milliardär Carlton Gaines. Sie hatte die Matratze gespürt, als er sie auf das Bett gelegt hatte, um ihre arrangierte Ehe zu vollziehen; sein Gesicht, bildschön und zugleich rätselhaft, eine perfekte Symbiose von allem, was sie attraktiv fand: glattes, dichtes dunkles Haar, grüne Augen, ausgeprägte Wangenknochen, ein markantes Kinn, ein Mund, der mit dem Anflug einer Bewegung eine Gefühlsregung ausdrücken konnte. Und sein Körper, der perfekt definiert war, weil er jede freie Minute trainierte. Hier war möglicherweise ihre Fantasie ein wenig mit ihr durchgegangen. Offenbar hatte sie einen kleinen Glitzerregen romantischer Magie über ihm verstreut.

Bis zu einem gewissen Grad glaubte sie, dass diese romantische Fantasie auch für ihre Träume verantwortlich war. Schließlich konnte es kein Zufall sein, dass sie die Szenen träumte, die sie tagsüber zu Papier gebracht hatte. Nachts verwandelte sich Gaia in ihre Hauptfiguren und durchlebte sämtliche Szenen aus dem Blickwinkel ihrer Heldin, erlebte, wie die anderen Figuren auf sie reagierten, selbst wenn sie sich nicht an die Story hielt, die sie an diesem Tag konzipiert hatte.

Beispielsweise wie Carlton sie in ihrer Hochzeitsnacht beschwatzt hatte. Die Heldin, also Gaia, hätte eigentlich nur schweigend nicken und ihm erlauben sollen, es durchzuziehen. Doch irgendwann hatte Gaia festgestellt, dass zwar Worte wie es durchziehen über ihre Lippen gekommen waren (nur um das S-Wort nicht laut aussprechen zu müssen), sie aber gar nicht bereit dafür war, es durchzuziehen – selbst wenn ihre »Im Grunde bin ich immer noch ein notgeiler Teenager«-Hormone ihr etwas anderes suggerierten.

Also hatte sie sich geweigert, mit Carlton zu schlafen. Und hatte zusehen müssen, wie er in den südlichen Gefilden in sich zusammengefallen war wie ein Kartenhaus.

Verärgert war er davongestapft – etwas, das sie nicht vorher geschrieben hatte, aber offenbar seiner Figur im Traum entsprach.

Gaia wartete eine Weile, um zu sehen, ob sie der Versuchung widerstehen konnte, nachzulesen, ob Carltons neue, veränderte Reaktion in ihrem Notizbuch auftauchte. Vergeblich. Also las sie, was sie am Vortag geschrieben hatte, und fand prompt all die neuen Details ihrer Story vor sich, schwarz auf weiß, in ihrer Handschrift. So wie die anderen Male, als sich die Vorgänge in ihren Träumen verändert hatten.

Vielleicht handelte es sich um einen Fall von schriftstellerischem Schlafwandeln, aber … wieso auf einmal?

Und wieso um alles in der Welt war sie an den Tagen, an denen sie nichts geschrieben hatte, plötzlich wieder die Gaia vor ihrem achtzehnten Geburtstag, die sich auf Teufel komm raus nicht an ihre Träume erinnern konnte?

Also … Magie? Wie sollte das möglich sein?

Kapitel 1

Zwölf Jahre später

»Du tauchst mit einem Buch bei einer Party auf?«, fragte Seth Scott fassungslos.

»Ja«, antwortete Gaia und drückte die Schultern durch. »Der Deal war, dass ich hier sein sollte. Von Small Talk stand nichts im Vertrag.«

»Stimmt«, meinte Seth ernst. »Ich telefoniere einfach alle durch und sage ihnen, sie sollen ihr Lieblingsbuch mitbringen. Dann können wir lesen, statt zu plaudern.«

»Echt?«, fragte sie begeistert, bis sie Seths Blick sah. »Natürlich nicht. Ich wusste, dass das ein Scherz ist. Haha!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, doch in Wahrheit …

Gab es so etwas wie Lesepartys?

»Du sabberst ja schon, Gaia.«

»Kann sein, aber überleg doch mal, wie einfach es Unterhaltungen machen würde, wenn jeder mit seinem Lieblingsbuch käme. Das wäre der perfekte Eisbrecher. ›Was gefällt dir an dem Buch so gut, Lizzy?‹« Sie richtete die Frage an Seths feste Freundin, die den Dialog lächelnd vom Tisch mit den Erfrischungen aus verfolgte. »›Vielleicht, weil es einen interessanten Ansatz über die gesellschaftlichen Unterschiede im modernen Südafrika bietet?‹«

»Und was gefällt dir so gut an Wie es kommt, Gaia?«, äffte Seth ihren Tonfall nach. »›Vielleicht weil es darin um die gemeinsam erlebten körperlichen Vergnügungen geht‹?«

»Wieso musst du so sein?« Gaia schloss die Hand fester um ihren Liebesroman, damit Seth den Titel nicht sehen konnte. Er mochte nicht so explizit sein wie Wie es kommt, trotzdem handelte es sich eindeutig um eine erotische Romanze, deshalb wollte sie ihm nicht noch mehr Munition liefern. Sollte er doch weiter mit Platzpatronen schießen.

Platzpatronen. Sie grinste und nahm sich vor, ihm die Formulierung bei anderer Gelegenheit um die Ohren zu hauen.

»Aber es ist doch so.«

»Stimmt«, räumte sie ein. »In Liebesromanen steht das körperliche Vergnügen beider Partner tatsächlich ganz oben.« Sie sah Lizzy an. »Entschuldige, Liz. Ich versuche seit Jahren, ihn dazu zu bringen, solche Bücher zu lesen. Du verdienst etwas Besseres als einen Liebhaber, der bloß an sich denkt.«

»He!«, protestierte Seth, als Lizzy lachte. »Du weißt genau, dass das nicht stimmt.«

»Woher denn?«, erwiderte Gaia. »Ich gehöre ja zu den wenigen Glücklichen, die noch keine Nacht mit dir verbringen mussten.«

»Ich habe nicht mit dir geredet«, blaffte er, worauf Lizzy neuerlich lachte. »Und du findest das also witzig, ja?« Er sah seine Freundin vernichtend an.

»O nein, ich halte mich da raus.«

»Sehr schlau«, sagte Gaia zu Lizzy, deren wache Augen funkelten.

»Manchmal habe ich es voll drauf.«

»Du hast einen zersetzenden Einfluss auf meine Beziehung«, maulte Seth mit einem bösen Blick auf Gaia.

»Nur meinetwegen kannst du überhaupt eine Beziehung führen«, erwiderte Gaia. »Soll ich dich vielleicht an deine toxischen Lebensgewohnheiten erinnern, bevor wir Freunde wurden?«

»Au ja«, warf Lizzy im selben Augenblick ein, als Seth »Nein« sagte.

Kurz war es still. Gaia lächelte. Das machte Spaß – ihren guten Freund aufzuziehen, über früher zu plaudern. Seth war der einzige Mensch, in dessen Gegenwart sie sich wirklich wohlfühlte, mit Ausnahme der Figuren in ihren Liebesromanen. Würde sie ihm von ihrer Gabe erzählen, wie sie ihre magischen Fähigkeiten mittlerweile insgeheim nannte, würde er bestimmt nicht mehr quengeln, sie solle mehr Zeit mit anderen Leuten verbringen. Und sie wahrscheinlich zum Therapeuten schicken. Deshalb ließ sie es.

Nein, ihr blieb nichts anderes übrig, als in der realen Welt unter Menschen zu gehen, damit er zufrieden war. Sich mit Wildfremden zu unterhalten, die sie nach ihrem Privatleben ausfragten. Allein die Vorstellung beschleunigte ihren Herzschlag … zusätzlich zu dem mulmigen Gefühl, das sie schon die ganze Woche quälte, als ihr bewusst geworden war, dass sie ihr Versprechen würde halten und zu der Party gehen müssen.

»Ganz im Ernst, Gaia«, sagte Seth mit aufrichtiger Besorgnis. »Misch dich unters Volk. Bitte.«

Gaia schluckte. Es klingelte. Keiner rührte sich.

»Mach ich«, versprach sie schließlich.

»Gut.«

Mit einem letzten Blick verschwand er, um die Tür zu öffnen. Lizzy folgte ihm, wenn auch erst nach einem mitfühlenden Lächeln in Gaias Richtung. Gaia sah den beiden kurz hinterher. Dann begann sie, ihre Flucht zu planen.

Auf der rechten Seite von Seths kleinem Wohnzimmer befand sich ein Balkon. Sie könnte über die Feuerleiter abhauen. Doch aus dem Flur drangen bereits Stimmen, und ihre Beine fühlten sich an wie Pudding. Seth hatte ihr vorgeworfen, sie hätte Angst. Sie hatte es abgestritten, doch in Wahrheit hatte sie schlicht vergessen, wie man mit echten Menschen ins Gespräch kam. Mit Menschen, deren Verhalten man nicht vorhersehen konnte. Die Art, wie sich ihr Magen verkrampfte, legte den Schluss nahe, dass Seth recht gehabt hatte. Und dass sie kurz vor einer Panikattacke stand, sprach ebenfalls eindeutig dafür.

Endlich setzten sich ihre Beine in Bewegung. Sie verließ das Wohnzimmer und ging den Korridor entlang in den hinteren Teil von Seths Wohnung, wo es keine Fluchtmöglichkeiten gab. Das Apartment war klein, deshalb hörte sie die Stimmen der anderen trotzdem noch.

Sie betrat Seths Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und holte tief Luft, das Buch fest an ihre Brust gepresst. So war es gut. Es ging ihr gut. Sie würde einfach warten, bis weitere Gäste eintrafen und alle beschäftigt waren. Dann könnte sie sich diskret dazugesellen, mit jemandem plaudern, der ihr keine Angst einjagte, lächeln und so laut lachen, bis alle bemerkten, dass sie anwesend war und sich amüsierte. Und dann würde sie sich verziehen. Eine Stunde. Höchstens. Auf diese Weise könnte sie eine Weile lesen und später Seths Befürchtungen zerstreuen. Alles ganz locker und entspannt.

Aber es gibt eine Welt außerhalb, Gaia. Du kannst nicht immer bloß in deinen Büchern leben.

Gaia biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht ständig ein schlechtes Gewissen deswegen haben. Seth kapierte einfach nicht, wie sicher sie sich damit fühlte.

In dem Moment bemerkte sie eine Bewegung an der Tür zwischen Schlaf- und angrenzendem Badezimmer und erstarrte.

Was hatte ein halb nackter Mann in Seths Zimmer zu suchen?

»Gaia?«

Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie blinzelte. Erkannte das Gesicht.

»Jacob?«

Eine Bestätigung brauchte sie nicht, denn sie wusste auch so, wen sie vor sich hatte, nur dass er nicht wie der aussah, den sie vor zwölf Jahren kennengelernt hatte. Und dem sie zuletzt vor acht Jahren beim Begräbnis von Seths und Jacobs Mutter begegnet war. Alles Linkische, Schlaksige war verschwunden. Genauso wie die Zahnspange. Stattdessen bildete sein Oberkörper ein V, das sich verjüngte über seinem …

Sie wirbelte herum. »Jacob! Du bist ein kleiner Junge! Zieh dir gefälligst etwas an!«

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Gaia.« Sie hörte das Lachen in seiner Stimme. Selbst das hatte sich verändert. Nichts erinnerte an die Unsicherheit von damals. Stattdessen klang seine Stimme weich, fast wie flüssige Schokolade. Sie stellte sich vor, in eine ganze Wanne davon zu gleiten, wie sie ihren Körper umhüllte, ehe seine Zunge …

»Willst du dir endlich etwas anziehen?«, fragte sie scharf. Verärgert. Hauptsächlich war sie sauer auf ihn, weil seine Stimme genauso sexy war wie sein nackter Oberkörper, ihr jedoch jeder Gedanke daran – sowohl an das eine als auch an das andere – mehr als ungelegen kam.

Sie hörte ein Rascheln, das nahelegte, dass er in eine Hose oder zumindest Unterhose schlüpfte. Was sich unter seinem Handtuch befunden hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Na gut, sie konnte es sich vorstellen, was natürlich nicht ging, weil Seth ihr bester Freund und Jacob sein kleiner Bruder war, was ihn quasi zu ihrem eigenen kleinen Bruder machte. »Also nach fast zehn Jahren hätte ich mir eine etwas freundlichere Begrüßung gewünscht«, meinte er.

»Du hast nur mit einem Handtuch um die Hüften vor mir gestanden. Hätte ich dich freundlicher begrüßt, hätte mir das eine Anzeige wegen Unzucht mit Minderjährigen eingebracht«, konterte sie.

Er stieß ein Lachen aus, das durch das kleine Zimmer vibrierte und sich verführerisch an ihre Haut schmiegte. Es war … merkwürdig, obwohl sie unzählige Male darüber geschrieben, es selbst in ihren Träumen durchlebt hatte. Trotzdem hätte sie sich nie vorstellen können, dass sie das Lachen eines Mannes im wahren Leben tatsächlich antörnen könnte.

»Ich bin zwei Jahre jünger als du. Wenn ich mich nicht verrechne, was ich nicht tue, bin ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr minderjährig.«

»Achtundzwanzig?« Reflexartig drehte sie sich um. Inzwischen hatte er eine Jeans übergezogen, doch sein Oberkörper war immer noch nackt. Und immer noch verführerisch. Sie zwang sich, den Blick davon zu lösen. »Wann um alles in der Welt bis du achtundzwanzig geworden?«

Er grinste. Ein Grübchen erschien auf seiner linken Wange. Mit sechzehn war es schon hinreißend gewesen. Mit zwanzig war es ihr nicht aufgefallen. Aber jetzt? War es attraktiv. Unfassbar attraktiv.

Sie hatte ihr Buch vorübergehend vergessen, doch nun presste sie es so fest an sich, dass es beinahe mit ihrem Körper verschmolz.

»Wahrscheinlich um die Zeit, als du dreißig geworden bist«, erwiderte er lässig. »Du siehst übrigens gut aus. Hast du im Jungbrunnen gebadet?«

»Nur weil ich dreißig bin, muss ich wie eine Dörrpflaume aussehen? Witzig«, entgegnete sie trocken.

»Danke. Aber das wollte ich nicht damit sagen.« Es entstand eine Pause. »Du siehst gut aus«, fügte er aufrichtig hinzu.

Sie strich sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr, die sie schon den ganzen Abend nervte, aber immerhin waren ihre Hände dadurch beschäftigt. Außerdem kaschierte ihr Haar die Röte auf ihren Wangen, wenn sie den Kopf senkte.

»Danke. Du …« Ihre Wangen wurden noch heißer. »Du siehst auch gut aus.« Kurz herrschte verlegene Stille. »Dank der Spange sind deine Zähne wirklich schön geworden«, fügte Gaia hinzu.

Dank der Spange sind deine Zähne wirklich schön geworden?

Und sie schrieb Liebesromane? Mit kessen, coolen Heldinnen und superlässigen Helden? Verfasst von einer Autorin, die sich über die Funktionalität von Zahnspangen ausließ?

»Danke. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich stolz auf sie.«

Mit einem angedeuteten Lächeln zog er sich ein T-Shirt über den Kopf, wobei sein dunkles, leicht gewelltes Haar platt gedrückt wurde, was ihn wieder wie einen Teenager aussehen ließ. Wobei … nein, das stimmte nicht. Er sah aus wie ein erwachsener Mann, ein wunderbar harmloser Kerl, obwohl auch das nicht stimmte. Denn kein Mann, dem der Charme aus sämtlichen Poren drang und der sich durch nichts, was sie sagte, aus der Ruhe bringen ließ, konnte harmlos sein.

Deshalb bevorzugte sie linkische Typen. Nicht dass sie über große Erfahrung mit Männern im Allgemeinen verfügte, zumindest nicht mit solchen aus dem wahren Leben. Sie ging nur davon aus, dass linkische Männer zögerlicher und vorsichtiger waren. Weniger charmant. Weniger gefährlich. Oder dass sich ihr Charme eher aus ihrer ungelenken Unbeholfenheit ergab.

Zumindest hatte sie sie in ihren Büchern so dargestellt. Und sie hatte es an einigen realen Exemplaren beobachtet, wenn sie sich einmal überwunden hatte, das Haus zu verlassen. Viele Menschen, die tagsüber vom Café aus arbeiteten, waren schüchtern und blieben für sich, weil sie wussten, dass die Welt da draußen für Menschen mit Kontaktschwierigkeiten gefährlich sein konnte. Oder lag es nur an ihr? Jedenfalls konnten diese Männer beim Bestellen nur stammeln und mieden Blickkontakt. Also eher so wie sie.

Männer wie Jacob hingegen … Schon jetzt war klar, dass er sich nicht aus dem Konzept bringen ließ. Er ließ sich nicht von dämlichen Bemerkungen – wie über seine Zähne – abschrecken und quittierte ihre Aufforderung, sich etwas überzuziehen, bloß mit einem Lächeln. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie ihn erwischt hatte, als er gerade aus der Dusche kam. Und dass sie ihn als Kind bezeichnete, obwohl er achtundzwanzig war, ließ ihn völlig kalt.

Nein, Männern, die sich so mühelos in der Gesellschaft anderer bewegten, konnte man nicht über den Weg trauen. Ihr Bauch sagte es ihr ganz deutlich.

»Ist das ein Buch?«

Sie blinzelte erschrocken. Blickte auf das Buch und wieder hoch. »Ja.«

»Du hast ein Buch zu einer Party mitgebracht?«

Sie seufzte. »Willst du mir deswegen ein schlechtes Gewissen machen? Brauchst du nicht«, erklärte sie, bevor er antworten konnte. »Das hat Seth schon zur Genüge getan.«

»Würde ich nie tun.« Wieder lag dieser aufrichtige Ausdruck in seinen Augen. So nett. »Ich wollte dich eigentlich fragen, was du da liest.«

»Oh.« Sie überlegte kurz, ob sie es ihm sagen sollte. »Einen Liebesroman.«

»So wie die, die du selbst schreibst?«

»Du weißt, dass ich Liebesromane schreibe?«

»Seth hat es ungefähr eine Million Mal erwähnt«, antwortete er lächelnd. »Er ist sehr stolz auf dich.«

»Tja, also …« Ihr fiel keine passende Erwiderung ein, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie mit Seths Stolz umgehen sollte. Er war der einzige Mensch, der so empfand, deshalb hatte sie Angst, dieser Stolz könnte sich verflüchtigen, wenn sie sich darin sonnte. »Ich habe ihm mein erstes Buch gewidmet«, sagte sie schließlich. »Deshalb muss er stolz sein.«

»Ich bin nicht sicher, ob es daran liegt.« Er setzte sich auf die Bettkante und zog sich Socken und Sneakers an. »Willst du mir von deinem Buch erzählen?«

»Oh.« Sie schluckte. »Es handelt von einer Frau. Und einer anderen Frau. Sie lernen sich kennen und sind sich sympathisch, aber es steht einiges zwischen ihnen, deshalb glauben sie nicht, dass sie zusammen sein können.«

»Aber sie können es doch.«

»Natürlich.« Gaia trat näher. »Das ist ja das Wunderbare an Liebesromanen. Man selbst denkt, dass sie es nicht können. Sie denken es auch. Aber dann passiert plötzlich etwas, ein Unfall, ein unvorhergesehenes Ereignis, eine Unterhaltung oder einfach nur, dass sie voneinander getrennt sind, aber feststellen, dass sie gern zusammen wären, und plötzlich wird ihnen klar, dass sie es verdient haben, den anderen um sich zu haben.«

Gaia wurde rot, als sie merkte, dass Jacob sie ansah. Und lächelte. Wieder ließ sie ihr Haar übers Gesicht fallen.

»Tut mir leid. Ich habe mich … mitreißen lassen.«

Würde es jedes Mal so ablaufen, wenn sie mit einem attraktiven Mann außerhalb ihrer Träume redete? O Gott.

»Wieso entschuldigst du dich?«, fragte er.

Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.

»Ich … na ja …« Sie zog die Nase kraus. »Ich weiß es nicht.«

Sie überlegte. Sofort kam ihr die erste Sexszene mit Carlton in den Sinn. Auch da hatte sie sich entschuldigen wollen, weil sie ihn zuerst heißgemacht und sich dann geweigert hatte, mit ihm zu schlafen. Sie hatte jedes Recht der Welt, ihre Meinung zu ändern, trotzdem hatte der Mann, den sie selbst erschaffen hatte, es weder verstanden noch respektiert.

Unter anderem hatte ihr diese Situation die Augen geöffnet, trotzdem hatte sie im wahren Leben immer noch ständig das Bedürfnis, sich entschuldigen zu wollen. Es zeigte ihr, dass dieser Instinkt sich auf bestimmte Gruppen von Menschen beschränkte, und auch wenn sie versuchte, ihr Verhalten zu ändern, ließen sich über die Jahre zementierte Gewohnheiten nicht so ohne Weiteres ablegen.

Beim Schreiben war es anders. Dort tat sie es. Dort sorgte sie dafür, dass ihre Heldinnen sich nur entschuldigten, wenn es auch notwendig war.

»Es muss etwas damit zu tun haben, wie die Welt ringsum in Frauen das Gefühl weckt, sich entschuldigen zu müssen, weil sie Raum beanspruchen.«

Er sah sie verblüfft an. »Ja«, bestätigte er langsam. »Das könnte etwas damit zu tun haben.«

Ein angedeutetes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich versuche, so oft wie möglich gesellschaftliche Probleme aufzugreifen. Nicht dass es mir immer gelingen würde, aber ich … versuche es.«

»Warum?«

Sie musterte ihn, las aufrichtige Neugier in seinen Zügen. Sie sollte ihm erzählen, warum. Als Wiedergutmachung ihres Ausrutschers wegen der Zahnspange und nicht etwa, um sich selbst zu beweisen, dass sie sehr wohl in der Lage war, eine richtige Unterhaltung mit einem echten Mann zu führen. Überhaupt nicht.

»Meine Romanzen sollen die wahre Welt widerspiegeln. Oder vielleicht nicht nur das, sondern sie sollen … sie besser machen. Das bedeutet, ich muss genau wissen, wo Verbesserungsbedarf besteht. Selbst wenn es bei mir selbst ist. Da vor allen Dingen.«

Lange Zeit herrschte Stille. Gaia spürte, wie sich ihre Lunge zusammenzog, ganz langsam und qualvoll, ehe sie zu brennen begann. Erst jetzt merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie atmete aus, in der Hoffnung, dass es beiläufig wirkte, ehe sie neuerlich den Atem einsog und beschloss, dass das Schweigen lange genug gedauert hatte.

»Ich sollte gehen«, sagte sie. Und mir ein anderes Versteck suchen. »Es war schön, dich wieder mal zu sehen. Bei Seths Geburtstagen verpassen wir uns irgendwie immer.«

»Viel Arbeit«, meinte er.

»Ja, schon klar. Du bist ja jetzt ein wichtiger Geschäftsmann.« Sie räusperte sich. »Ich sollte …«

»Nein, warte.« Er trat einen Schritt vor, blieb jedoch abrupt stehen, als sie zurückwich. »Nicht du solltest gehen, sondern ich. Ich bin direkt von der Arbeit gekommen und musste dringend duschen. Ich habe versprochen, dass ich mich beeile.« Er grinste. »Seth fragt sich wahrscheinlich schon, wo ich abgeblieben bin.«

»Okay.«

»Okay.« Er nickte, rührte sich jedoch nicht vom Fleck, sondern trat lediglich von einem Fuß auf den anderen.

»Gehst du nun?«, fragte sie nach einigen Minuten.

»Ja. Klar.«

Auch jetzt machte er keine Anstalten. Ihre Anspannung wich Belustigung.

»Jacob?«

»Nur die Ruhe, Mädchen. Ich gehe ja schon.«

»Was du offensichtlich nicht tust, und wenn du doch einmal ›Mädchen‹ zu mir sagst, verpasse ich dir einen Tritt in die Weichteile.«

Er zuckte zusammen. »Wahrscheinlich ist es sicherer, wenn ich die Kurve kratze.«

»Richtig.« Sie seufzte, als er sich auch jetzt nicht rührte. »Also, was hält dich hier noch, Jacob?«

»Ich wollte etwas sagen.«

Sie musterte ihn erwartungsvoll.

»Wahrscheinlich sollte ich es einfach ausspucken.«

Sie legte den Kopf schief, in der Hoffnung, dass er es als Aufforderung verstand.

»Du bist echt beeindruckend«, platzte es aus ihm heraus, so abrupt, als hätte jemand Wasser in ein Glas gegossen und die Flasche zu spät zurückgerissen. Oder gar nicht, denn es sprudelte immer noch weiter. »Was du vorhin gesagt hast, dass du an dir arbeitest, um besser zu werden … das war Wahnsinn. Nicht jeder denkt so. Ich jedenfalls arbeite mit verdammt vielen Leuten zusammen, die es nicht tun, was wirklich anstrengend sein kann.« Er runzelte die Stirn. Die Furche zwischen seinen Brauen war hinreißend. Leider. »Manche halten mich vielleicht für engstirnig. Puh.«

»Und das ist dir jetzt gerade eingefallen?«

Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Ja.«

Ein irritierender Gedanke. Dass sein eigenes Gespür für gesellschaftliche Probleme vielleicht doch nicht so ausgeprägt war, wie er gehofft hatte.

»Was ist?«, fragte er und ließ die Hand sinken.

»Was ist was?«

»Du runzelst die Stirn.«

»Nein, ich …« Sie hielt inne, als sie merkte, dass er recht hatte.

»Ich habe dich verärgert.«

»Nein.«

»Aber du runzelst die Stirn.«

»Ich denke nach.«

»Worüber?«

»Über vieles.« Er hakte nicht weiter nach, doch sie sah ihm an, dass er eine Antwort erwartete. Geduldig. Und es funktionierte. »Meine Befürchtung von vorhin war vielleicht albern. Als ich all diese Sachen gesagt habe. Ich dachte, du machst dich über mich lustig.«

Es mochte ein peinliches Geständnis sein, aber immer noch die am wenigsten peinliche Alternative, schließlich konnte sie ihm schlecht auf die Nase binden, dass seine Antwort sie total angetörnt hatte.

»Wieso denn?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich unterhalte mich nicht oft mit anderen Leuten, deshalb habe ich ständig Angst, etwas Peinliches oder Blödes zu sagen.«

»Über ihre Zähne, zum Beispiel?«

Ihre Lippen zuckten belustigt. »Vielleicht.«

Er lächelte. »Versteckst du dich deshalb hier drin? Weil du nicht mit den anderen reden willst?«

»So ungefähr.« Sie ließ die Arme sinken. »Du brauchst nicht meinetwegen hierzubleiben. Ich habe ja mein Unterhaltungsprogramm dabei.« Sie hob das Buch kurz an.

»Ich würde lieber hierbleiben, als mich unters Volk zu mischen.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Du versteckst dich also auch.«

»Nein.«

»Jacob.«

»Na gut.« Er setzte sich aufs Bett. »Ich bin nur gekommen, weil Seth findet, dass ich zu viel arbeite. Was wohl stimmt, wenn man bedenkt, was du vorhin über seine Geburtstage gesagt hast.« War ihm bewusst, dass er sein Arbeitspensum viel zu vehement abstritt? »Ich dachte, wenn ich bei einer seiner Partys auftauche, liegt er mir nicht mehr ständig in den Ohren damit. Aber dieses Schlupfloch hatte ich nicht bedacht, denn streng genommen bin ich ja hier und nehme teil.« Er runzelte die Stirn. »Wieso grinst du so?«

»Weil ich nur hier bin, damit Seth sich nicht ständig beschwert, weil ich so viel arbeite.«

»Tatsächlich? Tja, willkommen im Club.«

»Danke«, sagte sie mit einer ironischen Verbeugung. »Unser erstes Aufeinandertreffen nach all der Zeit läuft perfekt, was?«

»Allerdings.«

Er lächelte. Sie lächelte. Eine gute Minute lang lächelten beide. Wie Idioten. Doch dann veränderte sich die Atmosphäre kaum merklich, als ihr Blick über sein Grübchen und seine ebenmäßigen Zähne schweifte.

Über sein freundliches Gesicht.

Denn genau diese Worte würde man eher vom Prototyp des perfekten Mannes erwarten statt aus dem Mund eines echten, realen Kerls.

Sie wich zurück. Jacob hatte das Zeug zum Helden. Ein guter, anständiger Typ. Die Sorte, die sie nach Carlton in ihren Büchern beschrieben hatte, nur war ihr noch nie so ein Exemplar in der echten Welt begegnet. Aber hier stand er, Jacob, in Jeans und T-Shirt, mit einem Lächeln im Gesicht. Kein Wunder, dass eine Woge der Begierde in ihr aufstieg.

Nein, Moment – Begierde? Echte Begierde? Interesse und Hitze in Teilen ihres Körpers, die weder angestachelt noch heiß gewesen waren, seit … seit …

Sie konnte sich nicht erinnern.

Zeit für eine Runde Zuspruch.

Also, Gaia. Dir ist klar, was hier gerade passiert. Das nennt man Anziehungskraft. Du hast Jacob zufällig ohne Hemd gesehen, und er ist heiß und in seine breiten, aber mageren Schultern von früher hineingewachsen. Klar, diese Schultern sind muskelbepackt, aber dein Bizeps ist auch ein Muskel, und du weißt, dass das einen Scheißdreck bedeutet.

Ihre inneren Monologe präsentierten sich häufig vulgärer, als sie im wahren Leben redete, doch da er Wirkung zeigte, nahm sie es hin.

Klar, seine Grübchen sind verdammt niedlich. Sogar diese dunklen, dichten Augenbrauen. Gefährlich in Verbindung mit seinen tiefdunklen Augen und dem selbstironischen Grinsen? Sogar tödlich gefährlich. Aber das muss nichts bedeuten. Natürlich bedeutet es nichts. Du bist eine erwachsene Frau, die ihre Impulse im Griff hat. Und neben Jacob zu stehen, ist so sicher …

Sie erstarrte.

Wie kam sie auf die Idee, Jacob sei ungefährlich? Niemand war ungefährlich. Nicht in der realen Welt. Ungefährlich waren nur die Figuren in ihren Büchern. Sie konnte sie gestalten, konnte festlegen, wie sie sich verhielten, kannte sie in- und auswendig. Weil sie sie erschuf.

Keiner von ihnen konnte dafür sorgen, dass ihr die Luft wegblieb, indem sie ihr ohne Vorwarnung wehtaten. Sie verließen, sie enttäuschten. Selbst Jacob mit seinem süßen Lächeln und dem Wahnsinnskörper war in der realen Welt nur ein Mensch. Und sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass man ihnen nicht trauen konnte.

Kapitel 2

Die beste Freundin seines älteren Bruders törnte ihn an.

Selbst wenn sie eine Wildfremde wäre, würde er seine Gedanken an sie als unangemessen bezeichnen. Wie sollte man es sonst nennen, dass er sich ausmalte, wie es wäre, wenn er der Lust nachgäbe, die durch seinen Körper pulsierte? Er ballte die Fäuste, lockerte sie jedoch sofort wieder, aus Angst, wie ein Psycho kurz vor einem Gewaltausbruch zu wirken. Er zwang sich, tief durchzuatmen.

»Seth erzählt dir also, dass ich zu viel arbeite, ja?«, fragte er gespielt beiläufig. »Dass ich seine Geburtstage verpasse, macht ihm doch mehr aus, als er zugibt.«

Natürlich ging es nicht nur um die Geburtstage. Jacob arbeitete an den meisten Tagen, an denen es etwas zu feiern gab. Verdammt noch mal, eigentlich arbeitete er so gut wie jeden Abend, weil er dafür sorgen musste, dass in der Firma alles rundlief: Scott Brand Solutions, die Agentur, die seinen Familiennamen trug. Doch er machte es immer wieder gut. Ein gemeinsames Abendessen nach dem eigentlichen Geburtstag, regelmäßig etwas trinken gehen. Seltsam, dass Seth Jacobs Abwesenheit bei wichtigen Ereignissen so zusetzte, schließlich hatte Jacob das Familienunternehmen wegen seines Bruders übernommen.

»Nein, wenn ich ehrlich sein soll, spricht er eigentlich gar nicht so oft von dir«, sagte Gaia. »Wahrscheinlich, weil er so damit beschäftigt ist, mir wegen meiner Arbeitszeiten auf die Pelle zu rücken, falls dich das beruhigt«, fügte sie hinzu, als er die Stirn runzelte.

Jacob lächelte. »Er kapiert nicht, dass du andere Leute nicht magst?«

»Es ist nicht so, dass ich andere Leute nicht mögen würde«, erwiderte sie, hielt inne, zog die Nase kraus. »Doch, ist es.«

Er lachte. Sie war witzig. Nicht im Stand-up-Comedian-Sinne, sondern geistreich. Auf den Punkt.

»Für jemanden, der keine anderen Menschen mag, ist eine Party ja ziemlich abenteuerlich«, bemerkte er. »Konntest du ihm als Alternative keinen Brunch oder so was anbieten?«

»Ist das noch eine Anspielung auf mein Alter?«

Er sah sie fragend an.

»Dass Dreißigjährige auf so ödes Zeug wie Brunchen stehen?«

»Wieso soll ein Brunch öde sein?«, fragte er. »Ich liebe Brunch.«

Sie atmete auf. »Oh, prima. Ich nämlich auch.«

Er unterdrückte ein Lachen.

»Was deine Frage angeht«, fuhr sie fort. »Man stellt sich seinem Entführer nicht in den Weg, wenn er von einem verlangt, sich hinzusetzen, damit er einen für die Lösegeldforderung mit der Tageszeitung fotografiert.«

»Du bezeichnest Seth als Entführer?«

Sie schürzte die Lippen. »Er wollte unbedingt, dass ich zu der Party komme. Einen Brunch als Alternative hat er nicht vorgeschlagen.«

»Und er ist quasi derjenige, der von dir verlangt, dich mit der Zeitung in der Hand hinzusetzen.«

»Genau.« Ihr Augen wurden schmal. »Na gut, das war vielleicht nicht der treffendste Vergleich.«

»Moment.« Er streckte die Hand aus. »Vielleicht müssen wir das klären. Hält mein Bruder dich gegen deinen Willen hier fest? Ich meine, im wahrsten Sinne des Wortes?«, fragte er, als sie zu einer Antwort ansetzte. »Hat er dich in diesem Zimmer eingeschlossen?«

»Du weißt genau, dass er das nicht getan hat.«

»Weiß ich das? Ich habe nicht nachgesehen, ob die Tür abgeschlossen ist.«

»Jetzt bist du mit Absicht schikanös.« Sie reckte das Kinn.

»Schönen Dank auch.«

Sie starrte ihn finster an. Und sah hinreißend dabei aus. Obwohl er niemanden kannte, der Worte wie »schikanös« benutzte, gefiel ihm, dass sie ihn so bezeichnete. Wie sexy es aus ihrem Mund klang. Und dieser finstere Blick, obwohl ihre Lippen belustigt zuckten und ihre Augen funkelten.

»Dass du heute Abend hier bist, sollte bedeuten, dass du dich befreit hast. Aus den Fängen des Entführers.«

»Nicht ganz«, erwiderte sie. »Ich denke, es ist das Äquivalent dazu, dass ich das Foto mache, aber ›bezahlt bloß nicht‹ in die Kamera schreie.«

»Und wie genau sollte das funktionieren?«

Ihre Miene wurde ausdruckslos, dann stieß sie ein Schnauben aus. »Wieso rede ich überhaupt noch mit dir?«

»Das frage ich mich auch.«

Kurz herrschte Stille, dann hoben sich ihre Mundwinkel, gemeinsam mit ihren Wangen. Er hätte es als Lächeln bezeichnen können, aber das war es nicht, denn es fühlte sich eher an wie die Sonne, die nach einem langen Winter das erste Mal sein Gesicht liebkoste. Seine Haut prickelte unter der Wärme, die durch seinen Körper strömte, geradewegs zu seinem Herzen. Wo es das Eis schmelzen ließ, dessen Existenz ihm noch nicht einmal bewusst gewesen war. Mit einem Mal fühlte er sich wie ein Sterbender, der aus einer kühlen Quelle trank. Und all das nur, weil sie ihn anlächelte.

»Eigentlich ist es sogar ganz nett, mit dir zu reden«, räumte sie ein, als sie sich auf die Bettkante setzte – so weit von ihm entfernt, wie sie nur konnte, was er sehr wohl bemerkte, ihr aber nicht übel nahm.

Bis jetzt hatte sie sich schlicht geweigert, sich hinzusetzen, und nach allem, was sie ihm anvertraut hatte, war ihm klar, dass sie es nicht getan hätte, wenn sie sich in seiner Gegenwart nicht wohlfühlen würde. Außerdem hatte sie ihm gerade so etwas wie ein Kompliment gemacht und sogar das Buch beiseitegelegt, das sie wie einen Schutzschild vor ihre Brust gepresst hatte.

Er konnte sich nicht erinnern, dass sie schon früher so zugeknöpft gewesen war, andererseits war er damals noch ein Junge und sie so unerreichbar gewesen wie die Supermodels, von denen er heimlich schwärmte. Trotzdem war sie immer nett zu ihm gewesen, und zwar nicht, um seinem Bruder einen Gefallen zu tun, sondern weil es ihre Art war; es war ebenso ein Teil von ihr wie dieser gehetzte Blick, der hier und da in ihren Augen aufflackerte. Und die Unsicherheit, die ihr selbst jetzt aus sämtlichen Poren drang.

Trotzdem saß sie gegenüber von ihm auf dem Bett – keineswegs eine Selbstverständlichkeit.

»Ich bin gerührt, dass du so denkst.«

Eigentlich hatte er sie nur aufziehen wollen, doch die Worte klangen beinahe ernst.

»Da solltest du auch.« Ein ironisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du bist einer von zwei Menschen, von denen ich das sagen kann.«

Ein Feuerwerk explodierte in seiner Brust, erfasste seinen ganzen Körper und sein Gehirn, als sie unvermittelt fragte: »Spielst du eigentlich noch Rugby?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis er antworten konnte. Hauptsächlich, weil ihr Eingeständnis immer noch in ihm nachhallte.

»Ob ich …« Endlich konnte er wieder klar denken. Er schnaubte. »Wann denn?«

»Ich erinnere mich noch an die Zeit, als du keine andere Beschäftigung hattest.«

Er lachte. »Damals war vieles noch anders.«

»Weiß ich.« Sie lächelte flüchtig. »Das mit deiner Mom tut mir leid.«

»Danke.« Auch jetzt noch versetzte es ihm jedes Mal einen Stich, wenn jemand ihn daran erinnerte, wenn auch nicht mehr so sehr wie zu Beginn. »Es ist schade, dass du nicht zum Begräbnis kommen konntest.«

»Ich war dort.«

»Wirklich?«

»Ich konnte Seth das doch nicht allein durchstehen lassen.«

Sie klang gekränkt. Trotz des traurigen Themas musste er lächeln.

»Ich habe dich bloß nicht gesehen, das ist alles.«

»Ich habe ganz hinten gesessen. Um niemandem im Weg herumzugehen.« Mit dem Finger zeichnete sie ein Muster auf Seths Bettdecke. »Kurz bevor du gekommen bist, habe ich mit deinem Dad gesprochen. Natürlich hätte ich auch dir kondolieren sollen, aber du kamst ziemlich spät.«

»Ich hatte noch etwas zu klären«, sagte er. »Ich glaube, mit der Cateringfirma. Meine Erinnerung an den Tag ist ein bisschen verschwommen.«

»Du hast ziemlich mitgenommen ausgesehen.«

»Danke«, erwiderte er trocken.

»Das ist doch verständlich.«

»Klar. Trotzdem muss man es vielleicht nicht noch hervorheben.«

»Oh.« Sie nickte. »Natürlich.«

»Schon gut, Gaia. Ich bin dir nicht böse.«

»Wenn das stimmen würde, hättest du nichts gesagt.«

»Stimmt.« Er hielt inne. »Ich hätte nichts sagen sollen, wenn ich nicht wollte, dass du dir deswegen Gedanken machst. Es tut mir leid.«

Einen Moment lang sah sie ihn verwirrt an. »Danke.«

Wieder war es still. Er wartete, dass sie noch etwas sagte.

»Weißt du noch, als du eine Gehirnerschütterung hattest?«, fragte sie schließlich.

»Da ich eine Gehirnerschütterung hatte, wohl eher nicht.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja.« Er musste über ihre leichte Verärgerung lächeln. »Natürlich erinnere ich mich daran. Es war das letzte Spiel der Saison.«

»Und mein Lieblingsspiel.«

»Es war …«

»Oh!«, rief sie erschrocken. »Nicht, weil du verletzt wurdest, sondern weil du so verpeilt ausgesehen hast. Und du hast ständig auf Dinge hingewiesen, die ohnehin jeder sehen konnte. ›Oh, seht mal, da ist ein Auto‹ und ›Oh, wir gehen ja.‹« Sie redete mit tiefer Stimme und in schleppendem Ton, um ihn zu imitieren. Oder um sich über ihn lustig zu machen?

»Daran erinnere ich mich nicht mehr.«

»Na ja, du hattest ja auch eine Gehirnerschütterung«, erwiderte sie hinterhältig – ein klares Zeichen, dass sie ihn wegen seiner Bemerkung vorhin aufzog.

»Bestimmt würde ich mich daran erinnern, dass ich neben der Spur war«, meinte er.

»Sicher?«, fragte sie zweifelnd. »Weißt du noch, dass du meine Hand gehalten und mir gesagt hast, ich sei wunderschön und ob ich mit dir zum Schulball kommen wolle? Falls ja, dann liege ich wohl falsch.«

Sie würde über ihn schreiben. Sie wusste es in der Sekunde, als dieser verpeilte Ausdruck auf seinem Gesicht erschien, den sie gerade beschrieben hatte. Der Anblick war in vielerlei Hinsicht liebenswert, vor allem aber, weil der Traumprinz nicht ahnte, dass er etwas anderes als traumhaft sein konnte.

»Du lügst.«

»Wow!« Sie presste sich die Hand auf die Brust, um zu demonstrieren, wie sehr sie sein Vorwurf traf. »So gehst du mit einer Frau um, die für dich die schönste auf der ganzen Welt war?«

»So etwas habe ich nie im Leben gesagt.«

»Weil du nicht so empfunden hast?«

Sie hatte einen scherzhaften Ton angeschlagen, doch tief im Herzen hatte sie Angst, es könnte tatsächlich so sein. Aber es spielt keine Rolle, ermahnte sie sich streng. Sie brauchte keinen Mann, der ihr gutes Aussehen hervorhob … aber auch keinen, der es ihr absprach. Sie verdrängte die Erinnerung an die Pflegefamilien, in denen beides vorgekommen war.

»Nein. Natürlich nicht!«, stammelte Jacob.

»Nein, natürlich nicht.« Sie biss sich auf die Lippe. »Natürlich bin ich nicht wunderschön. Wer käme denn auf die Idee?«

»Aber das ist nicht … Du bist wunderschön … Ich wollte nur … Ich meinte …« Er brach ab, holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und durchs Haar. Mit dem Ergebnis, dass es wirr abstand. »Ich wollte nicht sagen, dass du nicht schön wärst.«

»Weiß ich.«

»Du wolltest mich aufziehen!«

Sie lachte – ein entzücktes Lachen, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass es in ihr schlummerte. »Stimmt. Aber nicht damit, was du nach deiner Gehirnerschütterung gesagt hast. Dieser Teil stimmte.« Sie sah ihn kurz an. »Du erinnerst dich tatsächlich nicht mehr.«

»Nein.«

Er kreuzte die Arme und lehnte sich gegen das Kopfteil des Betts, sorgsam darauf bedacht, dass seine Schuhe das weiße Bettzeug nicht berührten. Weiße Bettwäsche. Sie nahm sich vor, Lizzy zu fragen – sofern sie sich jemals nahe genug standen –, wie sie während ihrer Periode damit zurechtkam.

»Du hast mir also das Herz gebrochen?«

»Wie bitte?«

»Ich erinnere mich nicht, dass du mit mir zum Schulball gegangen wärst. Und weil ich die Gehirnerschütterung da längst hinter mir hatte, kannst du es nicht darauf schieben.«

»Ich wollte dich ja begleiten, aber … ich war leider einen Kopf größer als du«, neckte sie ihn. »Wie hätte das denn auf den Fotos ausgesehen?«

Er lächelte. Wieder erschien das Grübchen. Es lud sie ein, forderte sie förmlich auf, sich vorzubeugen und es zu küssen, weil es sie beide glücklich machen würde.

»Im Jahr darauf hatte ich meinen Wachstumsschub.«

Ihr Lachen übertönte den verlockenden Ruf des Grübchens. »Ich habe dich nur aufgezogen, Jacob. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.«

»Ich habe aber das Gefühl, als müsste ich es«, erwiderte er verdrossen. »Ich habe keinen guten Eindruck gemacht.«

»Ich bitte dich. Du warst ein Junge. Und ich eine Freundin deines Bruders. Du hattest keinerlei Grund, Eindruck zu schinden. Außerdem irrst du dich.« Als er sie ansah, zuckte sie die Achseln. »Ich mochte dich. Du hast für Dinge gebrannt, die dir wichtig waren. Und du hattest Charme … auf eine verpeilte Art.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ich finde verpeilt gut«, lachte sie. »Verpeilt ist harmlos. Jemand, der verpeilt ist … drückt dich nicht an die Wand und küsst dich, bis dir Hören und Sehen vergeht.«

Das war die erstbeste Erklärung, die ihr einfiel, was an ihrem Buch lag: Die weibliche Hauptfigur hatte die andere weibliche Hauptfigur nach einem Streit gegen eine Wand gedrückt und leidenschaftlich geküsst. Gaia war dahingeschmolzen. Sie fand es großartig, wenn ein Partner die Führung übernahm. Sie hatte so oft darüber geschrieben, es durchlebt, dass sie wusste, welche Wirkung so etwas auf sie hatte. Allein beim Gedanken daran wurde ihr heiß.

Oder lag es daran, wie Jacob sie ansah? Jeglicher Anflug von Frotzelei war einer Intensität gewichen, die sie in ihren Bann schlug. Es war, als stünde sie in einem Feuerring – der sich jedoch nicht enger um sie schloss, deshalb war sie sicher, dass sie einen Weg herausfände, wenn sie danach suchen würde.

Doch sie tat es nicht. Weil sie viel zu fasziniert war. Von Jacob und der Tatsache, dass sich Verpeiltheit und Charme bei ihm verbanden – eine Kombination, die ihre vorherige Einschätzung Lügen strafte. Dieser Mann war keineswegs harmlos. Sondern brandgefährlich.

Aber das war ihr egal.

»Ich bin nicht sicher, ob es ein Kompliment ist, mir zu sagen, ich sei verpeilt, Gaia.«

Wieder schien die Samtigkeit seiner Stimme sie zu umhüllen.

»Natürlich ist es eines«, erwiderte sie etwas steif. »Schließlich weißt du nicht, ob ich gern an die Wand gedrückt und geküsst werden will, bis mir Hören und Sehen vergeht.« Sie schluckte, als sein Blick zu ihrem Mund schweifte. »Ehrlich gesagt, ziehe ich es vor, überhaupt nicht geküsst zu werden.«

»Ist das so?«

Er stand auf, trat zu ihr und setzte sich neben sie, ohne sie zu berühren.

Sie bewegte sich nicht.

»Also«, krächzte sie und räusperte sich, ehe sie sich vollends hineinritt, »wenn die Gelegenheit erwächst, würde ich mich nicht dagegen wehren, geküsst zu werden, aber ich lege es nicht darauf an.«

»Wohl nicht«, murmelte er. »Und ist die Gelegenheit schon erwachsen, was meinst du?«

Sie öffnete den Mund, aus dem zu ihrer Verblüffung ein leises Lachen drang. »Ist das eine Anspielung auf eine Erektion?« Sie lachte erneut, als sich seine Augen weiteten, und legte genüsslich nach. »Solltest du nicht derjenige sein, der die Frage beantworten müsste?«

»Was ist denn mit dir los?«, fragte er, wenn auch lächelnd.

»Nur zur Sicherheit: Du hast also nicht auf eine Erektion angespielt?«

»Nicht explizit«, antwortete er und lachte ebenfalls. »Aber funktionieren tut es.«

»Tatsächlich?«

»Wenn ich jetzt Ja sage, läuft das dann schon unter Verbalerotik?«

»Wieso fragst du mich das?«

»Zwischen dem Betreiber einer Design- und Marketingagentur und einer Romanautorin bringt die Autorin wohl die geeignetere Qualifikation mit, oder?«

»Ich bitte dich, als hättest du nicht schon genug Gelegenheit für Schlüpfrigkeiten gehabt.« 

»Wieso bist du dir da so sicher?«

»Sieh mal in den Spiegel!« Sie machte eine Geste. »So wie du aussiehst und solche Sachen sagst. Dir müssen doch reihenweise die Mädels zu Füßen liegen und nach einer Andeutung lechzen, dass du eine Erektion hast.«

Er schloss die Augen, während sie gegen ihr Lachen ankämpfte. So hatte sie sich den Abend definitiv nicht vorgestellt – bei Weitem nicht so gut. Diese Mischung aus Neckerei und Verführung verlieh ihr ein Gefühl von Freiheit, wie sie es noch nie erlebt hatte. Nicht mal mit Seth. Natürlich unternahm Seth – glücklicherweise – keine Verführungsversuche, aber mit ihm gab es eine Menge zu lachen. Auch wenn Seth sie manchmal weniger zum Lachen brachte, um sicherzugehen, dass sie glücklich war, sondern um herauszufinden, ob es ihr gut ging.

Mit dem Glück war es eine seltsame Sache. Niemand konnte es für einen definieren, sondern man konnte es nur für sich selbst finden. An den meisten Tagen war sie nicht sicher, ob sie die Voraussetzungen dafür erfüllte, sondern war heilfroh, dass es eines gab, was sie glücklich machte: Nicht die Welt, in der ihre Eltern gestorben waren und niemand aus ihrer Verwandtschaft sich bereit erklärt hatte, sie bei sich aufzunehmen. Nein, ihr Glück lag in den Büchern. Die sie las, weil sie ihr Trost spendeten und Freude schenkten; die sie selbst schrieb und von denen sie nachts träumte.

Dort war sie glücklich. Und fühlte sich sicher.

Genauso wie jetzt gerade, obwohl sie hellwach war.

Dieser charmante, verpeilte, attraktive Mann wollte sie verführen. Dass er Seths jüngerer Bruder war, schien mit einem Mal keine Rolle mehr zu spielen. Fest stand, dass sie ihn nicht mehr als Familienmitglied betrachtete. Stattdessen konnte sie nur daran denken, dass er Gefühle in ihr auslöste wie ihre Helden in ihren Heldinnen. Wie sie sich fühlte, wenn sie einschlief und sich in sie verwandelte.

Dieser – einfache, herzerwärmende – Gedanke half ihr bei der Entscheidung:

Sie würde Jacob Scott erlauben, sie zu verführen.

Kapitel 3

»Mir geht gerade so einiges im Kopf herum«, sagte Jacob langsam. »Erstens hast du in den letzten Minuten häufiger ›Erektion‹ gesagt, als ich es in meinem gesamten Erwachsenenleben gehört habe.«

Am liebsten hätte er sich ihr Grinsen eingerahmt, irgendwo an die Wand gehängt und Eintritt dafür genommen. Letztlich beließ er es dabei, es ein zweites Mal auf ihr Gesicht zu zaubern.

»Zweitens … danke. Deine Vermutung, dass andere meine Erektion sehen wollen, war ein Kompliment, nehme ich an.«

Sie zuckte zusammen. »Du liebe Zeit, so ausgedrückt, klingt es schrecklich.«

»Gar nicht.«

»Nicht?«

»Na ja, toll vielleicht nicht«, räumte er ein. »Aber die Absicht dahinter war gut.«

»Hinter der Erektion oder dem Kompliment?«

Er lachte. »Bist du jetzt mit Absicht schikanös?«

Ihre Augen leuchteten. »Genau!«

Anfangs hatte er gedacht, er vermassle es. Trotz ihrer Andeutungen machte er keine Anstalten, sie zu verführen, weil es Zeit beanspruchen würde, die er nicht hatte. Und kostbare Energie, die er für seine Arbeit nutzen sollte. Seine mangelnde Erfahrung machte ihn linkisch, vor allem, weil er sich wünschte, sie zu küssen. Sie zu berühren. Sehnlichst.

Trotzdem quittierte sie seine Annäherungsversuche mit einem Lächeln, und ihre braunen Augen funkelten auch jetzt gerade – eine Kostbarkeit. Es fühlte sich an, als wären sie in einer anderen Welt, in einer Art Kokon, wo Fröhlichkeit, Glück und Romantik die Norm waren. Was das betraf, war Seths Besorgnis wegen seiner Arbeitsbelastung berechtigt, denn dort bliebe ihm so etwas verwehrt.

Er würde die Gelegenheit verpassen, in diese tiefbraunen Augen zu blicken, in ihnen zu versinken, ebenso wie den hinreißenden Schwung ihrer Lippen in sein Gedächtnis zu bannen, wenn sie lächelte.

Sein Alltag in der Agentur sah nicht vor, dass er eine seidenweiche, vor Verlegenheit leicht gerötete Wange streichelte, die Hand um ihr Ohr legte, um eine widerspenstige Haarsträhne wegzustreichen.

»Mein Gehirnerschütterungs-Ich hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte er leise. »Du bist atemberaubend.«

Die zarte Röte auf ihren Wangen vertiefte sich, verschmolz mit dem hellen Braun ihrer Haut. Ihre Zunge schnellte über ihre Unterlippe. Er wünschte, er wüsste, wie sie schmeckte. Süß? Oder nach Zitrone? Nach Pfefferminze? Weder noch? Nach beidem? Oder nach etwas ganz anderem?

»Verpeilt ist nicht harmlos, oder?«, flüsterte sie, wobei ihre Augen zu seinem Mund schweiften.

Er rutschte näher. »Findest du mich immer noch verpeilt?« Ihr Blick ließ ihn auflachen. »Na gut.« Er wurde ernst. »Ich könnte dir ja beweisen, dass du dich irrst?«

Verwirrung flackerte in ihren Augen auf, und er sah ihr Zögern, wartete, obwohl er wie elektrisiert war, so als stünde er am Rand einer Klippe, bereit zum Absprung mit dem Bungeeseil um den Knöchel. Im wahren Leben würde er so etwas Leichtsinniges niemals machen, aber im Kokon aus Licht, Romantik und Glück? Würde er sogar ohne Seil springen. Und genau das war es, was er hier mit Gaia tat.

Abgesehen von einigen Erinnerungen an früher kannte er sie praktisch nicht. Er wusste nicht, ob sie ihn verurteilen würde, weil er so viel arbeitete. Weil er sich um seinen Vater kümmerte. Verantwortung für seine und Seths Familie übernahm. Er wusste nur, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, dass sie klug und nett war und zögerte. Und dass er sie küssen wollte. Wäre Küssen überhaupt genug? Er wusste es nicht.

Doch es stellte sich heraus, dass er es auch nicht zu wissen brauchte – die Art, wie sie den Kopf neigte und ihm zu verstehen gab, dass auch sie es wollte, war Antwort genug. Er beugte sich vor.

Er zwang sich, es nicht zu überstürzen, um sie nicht zu erschrecken oder ihr Angst zu machen, weil sie ja fast Fremde waren und alles so schnell ging. Gleichzeitig war ihre Zögerlichkeit, die er gerade noch gespürt hatte, mittlerweile Neugier gewichen – die Erkenntnis löste ein eigentümliches Gefühl in ihm aus, das seinen Stolz, sein Ego herausforderte. Sie wollte also wissen, ob er sie dazu bringen konnte, ihre Meinung über ihn zu ändern.

Also tat er es.

Er ging vor ihr auf die Knie und strich über ihre Schenkel, spürte, wie sie unter der Berührung erbebte, ein Impuls, der von seinen Händen durch seinen Körper bis hinab zu seiner Erektion schoss, die sich gegen seine Jeans presste. Er ignorierte es, ließ stattdessen die Hände über ihren Körper bis zu ihrem Hinterteil wandern.

»Ist das okay?«, fragte er, als sie Luft holte.

»Ja«, antwortete sie, ohne zu zögern. Er sah, wie sie schluckte; wenn er sich anstrengte, könnte er sogar das Geräusch hören. »Klar. Mir geht’s gut. Alles bestens.«

Er zog die Brauen hoch. »Sicher? Du klingst …«

»Nervös? Ja. Bin ich auch. Nicht dass ich dir das sagen müsste, weil ich dich unterbrochen habe und pausenlos quassle, denn als du mich berührt hast, war es, als hätte jemand Säure über mir ausgeschüttet. Alles brannte und prickelte, dabei hast du mich bloß angefasst.« Sie holte zittrig Luft. »Aber mir geht’s gut.«

»Säure klingt aber nicht besonders schön.«

»Nein, diese Art ist gut.« Ihre Aufrichtigkeit berührte sein Herz. »Eine ganz neue Art von Säure. Oh!« Sie setzte sich gerade hin. »Säure ist vielleicht keine gute Beschreibung. Vielleicht empfinden Männer es so, wenn sie diese Tabletten nehmen …«

»Tabletten«, wiederholte er langsam.

»Die, die helfen, um …«

»Du musst es nicht aussprechen«, sagte er leise lachend. »Ich verstehe schon.«

»Brauchst du so was auch?«

»Wie bitte?«

Sie lachte entzückt auf, rutschte auf der Matratze nach vorn und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Tut mir leid, tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen. Nicht dass es falsch wäre, diese Dinger zu nehmen, um den Sex besser genießen zu können. Und wir brauchen das ja auch nicht. Ich wollte nur … Du bist so cool, weißt du das eigentlich?« Ihr Ton wurde wieder ernst. »So versiert mit diesem Verführungsding … mit deinem ganzen Charme und wie du vor mir kniest und so.«

Er musste lächeln. »Ich dachte, ich sei verpeilt.«

»Bist du auch, was hinreißend ist, aber irgendwie auch nicht, was mich ganz durcheinanderbringt.«

Er beugte sich wieder vor und legte ihr die Arme über die Schultern. Wenn er jetzt den Blick senkte, könnte er geradewegs in ihren Ausschnitt sehen, doch er widerstand dem Drang, weil er wollte, dass sie die Aufrichtigkeit in seinen Augen sah. Sie sollte sehen, dass sie ihm vertrauen konnte.

»Ich glaube, es liegt an diesem Phänomen, das man als Menschlichkeit bezeichnet«, sagte er leise. »Schon mal gehört?«

Ihre Lippen zuckten. »Ich glaube nicht. Bitte, erzähl mir mehr darüber.«

»Na ja«, meinte er, während seine Hände von ihrer Taille zu ihren Hüften wanderten. »Das ist eine Theorie, nach der diese Spezies namens Mensch komplexe Wesen sind, die durchaus Widersprüche in sich tragen können.«

Sie schnappte nach Luft. »In einer Person?«

»Genau.«

»Wow. Menschen nennt man die, sagtest du?«

»Richtig.«

Sie fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. Er schloss die Augen und ergab sich der Liebkosung.

»Und gehörst du auch dieser Spezies an?«

Er schlug die Augen wieder auf. »Ja.«

»Hm.«

Ihre Hand glitt über seinen Nacken und seine Brust, ehe sie in der Gegend seines Herzens verharrte. Es hätte ihm Angst machen müssen, dass sie seinen raschen, holprigen Schlag spüren würde, doch sein einziger Gedanke war, dass sie die Kunst der Verführung genauso beherrschte, wie sie es von ihm behauptete.

Er hätte es auf ihre Erfahrung als Autorin zurückführen können, doch eigentlich glaubte er nicht, dass es daran lag. Er hatte keines ihrer Bücher gelesen, ging jedoch davon aus, dass die Verführung darin reibungsloser vonstattenging, wohingegen ihr Reiz darin lag, dass sie alles andere als versiert war. Sie war neugierig, nervös, amüsant – eine Mischung so anziehend wie der Schwung ihrer Taille.

»Ich habe noch nie so einen Menschen geküsst«, flüsterte sie, ließ die Beine auseinanderfallen und rutschte nach vorn, bis er sich zwischen ihren Knien befand. Nur Zentimeter trennten ihre Gesichter voneinander. »Als jemand, der das Verhalten sämtlicher Lebensformen erforscht, habe ich den Eindruck, dass das hier ein wesentliches Untersuchungsfeld ist.«

Grinsend legte er die Arme um sie. »Du bist so ein schräger Vogel, Gaia.«

»Und trotzdem willst du mich immer noch küssen.«

»Allerdings.«

Was er auch tat.

Er küsste sie. Nein, sie küsste ihn. Sie küssten sich. Das war der einzige Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, bevor alle anderen von einer Gefühlsexplosion fortgerissen wurden.

Zuerst berührten seine Lippen ganz sanft ihren Mund, als bitte er sie um Erlaubnis. Sie hatte noch nicht viele Männer geküsst, zumindest nicht im wahren Leben, und wenn, dann war es alles andere als berauschend gewesen. Deshalb musste sie beim Schreiben der Liebesszenen all ihre Kreativität zusammennehmen, was sie tat, indem sie sich an die Überzeugung klammerte, dass die Küsse wie in ihren Romanzen auch in der realen Welt existierten.

Und dieser breitschultrige Mann mit seinen weichen, vollen Lippen bewies es.

Seine Zunge glitt in ihren Mund. Ein Stromschlag durchzuckte ihren Körper, den ganzen Weg bis hinunter zwischen ihre Beine. Er machte keine Anstalten, den »Waschturbo« zu machen, wie sie es von fast jedem Küsser kannte, mit dem sie in Zungenkontakt gekommen war. Falls man das, was Jacob mit seiner Zunge anstellte, mit einem Haushaltsgerät vergleichen sollte, war es jedenfalls keines, das zum Saubermachen diente …

Sie wusste genau, wo solche Gerätschaften zum Einsatz kamen. Nur gut, dass sie sich bereits in einem Schlafzimmer befanden.