Du musst die Wahrheit sagen - Mats Wahl - E-Book

Du musst die Wahrheit sagen E-Book

Mats Wahl

5,0

Beschreibung

In Toms Familie geht jeder seiner eigenen Wege. Die Mutter hält es nie lange an einem Ort, und die beiden Halbgeschwister Morgan und Annie sind für Tom beinahe Fremde. Ob der Umzug ins Haus der Großmutter endlich etwas Geborgenheit bringt? Toms Hoffnungen werden bitter enttäuscht. Immer noch muss er ständig mit den Gemeinheiten und tätlichen Angriffen seines Halbbruders Morgan rechnen. Außerdem unternimmt der neue Freund von Toms Mutter schmierige Annäherungsversuche bei Annie. Zur Sprache kommen die Probleme nicht - bis die Situation eskaliert. Das neue Jugendbuch des großen Autors aus Schweden wirft einen schonungslosen Blick auf das Erwachsenwerden in einer ichbezogenen Gesellschaft.

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Mats Wahl

Du musst

die Wahrheit

sagen

Aus dem Schwedischen von

Angelika Kutsch

Carl Hanser Verlag

eBook

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

När det kommer en Älskare

bei Bokförlaget Opal AB in Stockholm.

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht

den Regeln der neuen Rechtschreibung.

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

eBook ISBN 978-3-446-23711-7

© Mats Wahl 2008

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2011

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Das Vergangene, die Vergangenheit ist nicht tot,

… ist nicht einmal vergangen.

                                               William Faulkner

1

Am gegenüberliegenden Seeufer verkehren die Pendelzüge nach Stockholm. Wenn der Wind von drüben kommt, kann man sie hören. In der hohen Hecke ist eine kleine Pforte, die fast völlig überwuchert ist, und zehn Meter davon entfernt ein größeres Tor mit zwei eisernen Flügeln, deren gelbe Farbe abgeblättert ist.

Annie stieg aus und öffnete die große Pforte, Mama fuhr hindurch und parkte auf dem Schotterplatz unter der riesigen Eiche. Der Rasen war lange nicht gemäht worden und sah aus wie ein Kornfeld, in dem der Hafer durch den letzten Regenguss platt gedrückt worden war. Die Apfelbäume trugen schon Früchte, und am See standen die Erlen mit ihren glänzenden Blättern. Man sah den Steg und das an Land gezogene Ruderboot, das an eine der Erlen gekettet war. Alles sah ungefähr so aus, wie ich es in Erinnerung hatte.

»Sie sind noch nicht da«, stellte Mama fest und stieg ebenfalls aus. Sie knallte die Autotür zu und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Annie war schon unten auf dem Steg. Morgan öffnete den Kofferraum und nahm den Ball heraus. Als Mama und ich auf die Haustür zugingen, hatte Morgan schon mit dem Gekicke angefangen. Er hielt den Ball abwechselnd mit dem linken und rechten Fuß in der Luft, schoss ihn nach oben, fing ihn mit dem Rücken auf, ließ ihn zwischen den Schulterblättern zum Kopf rollen und über den Rücken zurückwandern.

Mama hatte Schwierigkeiten mit dem Türschloss.

Während sie daran herumfummelte, kam eine Katze über den Schotter spaziert. Sie war groß und grau gestreift und rieb sich an meinen Beinen.

In dem Augenblick, als es Mama gelang, die Tür zu öffnen, schoss Morgan und traf mich in den Rücken. Es war ein harter Treffer, und mir blieb die Luft weg, ich sagte jedoch nichts. Die Katze verschwand, als wäre sie getroffen worden.

»Schlaf nicht im Stehen ein!«, rief Morgan. »So wird nie ein Spieler aus dir.«

Im März waren wir zur Beerdigung hier gewesen. Da waren noch alle Räume, außer der Küche, mit Linoleum ausgelegt gewesen. In der Küche hatte Großmutter es entfernen und die Holzdielen abschleifen lassen. Jetzt waren die Böden in allen Zimmern mit Öl eingelassen. Die dunklen Tapeten waren abgerissen, der Vorraum war schon neu tapeziert, weiß mit dünnen grauen Streifen. Die Decke war weiß gestrichen, und die Ausdünstungen von Tapetenkleister und Farben mischten sich mit dem Öl zu einem betäubenden Geruch.

»Montag sind die Böden eingelassen worden«, sagte Mama.

Wir betraten das, was unser neues Zuhause werden sollte. Vom Bootssteg rief Annie: »Ich geh schwimmen!« Und dann das dumpfe Aufprallen des Balles, den Morgan gegen die Hauswand donnerte.

Das Wohnzimmer wirkte ohne Großmutters durchgesessene rostfarbene Sitzmöbel unendlich groß. Das Wandgemälde mit den nackten Frauen wirkte ohne die braune Tapete rundherum ganz anders. Mama ging zur Verandatür, öffnete sie, und ein leichter Wind strich über den Fußboden, vorsichtig, als fürchtete er, Spuren auf dem frischen Öl zu hinterlassen.

»Das wird richtig gut«, murmelte Mama mehr zu sich selbst als zu mir. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob sie mit der Küche fertig geworden sind.«

Und sie ging mit quietschenden Gummisohlen Richtung Küche.

Hinter mir riss Morgan die Haustür auf und stürmte die Treppe zum Obergeschoss hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Oben dotzte der Ball auf dem Boden auf, und dann hörte ich, wie er das Fenster öffnete.

Da schrie Annie.

Es war ein lauter, schriller Schrei, so, wie Annie von Zeit zu Zeit schrie. Gleichzeitig klang er aber anders. Etwas musste passiert sein, und ich stürzte hinaus auf die Veranda und durch das hohe Gras zum Bootssteg, wo Annie nur in Unterhosen stand. Von ihren Haaren tropfte das Wasser. Den Rock, das Unterhemd und die Schuhe hielt sie eng an die Brust gepresst. Neben dem Steg dümpelten zweitausend Seerosen auf dem Wasser.

»Eine Schlange!«, heulte sie.

Mama rauschte an mir vorbei, pflügte sich durch das hohe Gras und nahm Annie in die Arme.

»Hat sie dich gebissen?«

»Es war eine graue mit Zickzackmuster. Ich bin draufgetreten, aber sie hat mich nicht gebissen!«

Morgan lehnte sich aus seinem Fenster. Einen Moment sah es aus, als würde er hinausfallen, aber leider hielt er sich mit seinen riesigen Affenpranken fest.

»Soll ich sie erschlagen?«, rief er.

Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten.

Als Annie sich auf die Veranda gesetzt hatte, hockte Mama sich neben ihre Füße und tastete sie ab. Morgan beugte sich aus dem Fenster über den beiden und behauptete, es müsse eine Ringelnatter gewesen sein, da Annie nicht gebissen worden sei.

Eine Weile später kam der Umzugswagen, die Katze tauchte wieder auf und rieb sich an meinem Bein.

Die Möbelpacker waren riesig. Der eine hatte eine Tiger-Tätowierung im Nacken und auf beiden Armen Ornamente, die orientalisch aussahen. Er roch nach Schweiß und Tabak. Annie und ich waren überzeugt, dass er Mamas Typ war, die Art Mann, auf die sie abfuhr. Genau die Sorte, von der wir allzu viele in unseren verschiedenen Wohnungen kennengelernt hatten, seit wir klein waren.

Aber der Tätowierte schien nicht auf Mama abzufahren. Er blödelte nur mit Annie herum und fragte sie, wo ihr Bett stehen solle.

Morgan hatte gleich nach der Beerdigung ein Zimmer in Beschlag genommen, das größte im Obergeschoss, dessen Fenster nach Süden gingen. Meins daneben war nur halb so groß. Schräg gegenüber lag Annies Zimmer auf der rechten Seite der Diele. Es ging nach Norden, aber ein Fenster im Dach ließ viel Sonne herein. Annie schien sehr zufrieden zu sein. Neben Annie wollte Mama sich ein Arbeitszimmer einrichten. Ihr Schlafzimmer war im Erdgeschoss neben der Küche.

Die Umzugsleute waren erst gegen Abend fertig, und wir fuhren zur anderen Seeseite, wo es eine Pizzeria gab. Ich wählte eine Vesuvio, und Annie und Mama aßen eine vegetarische Pizza. Morgan nahm Capricciosa, am liebsten hätte er zwei gehabt, aber die kriegte er nicht.

Es waren ziemlich viele Leute im Lokal, einige tranken Bier und machten Armdrücken. Mama tippte mir mit ihrem rosafarbenen Mittelfingernagel gegen die Brust.

»Dein Papa war gut im Armdrücken«, sagte sie lächelnd, als würde sie mir etwas mitteilen, das mich froh und stolz stimmen und Hoffnung auf eine erfolgreiche Sportlerzukunft wecken sollte.

Annie beobachtete mich. Morgan schnaubte. Er schob den Teller von sich weg und rülpste.

»Du kleiner Fliegenschiss wirst höchstens ein Fliegengewicht.«

»Warum bist du immer so fies?«, fragte Annie.

»It’s in my nature«, antwortete Morgan.

»Das ist doch nicht normal«, sagte Annie, »so was von gemein, wie du bist. Tom ist immerhin dein Bruder.«

»Halbbruder«, sagte Morgan. »Wer will schon mit so einem Dreck verwandt sein? Das will nicht mal sein Vater.«

Und dann zog er einen Comic aus der Gesäßtasche, lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und rülpste wieder.

Mama seufzte und bat um die Rechnung.

2

Am nächsten Tag wurde ich gegen zehn wach. Die Sonne war gerade um die Hausecke gekommen. Durch die Wand hörte ich Morgan schnarchen. Die Wand ist hauchdünn.

Mama saß mit einem Stapel Kaufhauskatalogen und einer Tasse Kaffee auf der Veranda. Wir hatten fast alle Möbel in Sundsvall gelassen und mussten neue Sofas, Tische und Sessel für das Wohnzimmer anschaffen, bevor Mama wieder zu arbeiten anfing.

Es war schon warm, nicht ein Windhauch rührte sich in den Erlen unten am See. Auf der anderen Seite der Hecke, die unser Grundstück von dem des Nachbarn trennte, hörte ich eine Männerstimme, die eine Ente nachahmte. »Gack-gack-gack«, machte er.

Mama sah von einem Katalog auf.

»Wie findest du das hier?«

Sie hielt mir eine Seite unter die Nase. Das Sofa auf dem Bild sah aus wie alle anderen Sofas.

»Ist doch egal, Hauptsache kein Leder«, sagte ich.

Sie nickte.

»Wie findest du hellgraues Leinen?«

»Weiß nicht.«

»Ist hellgrau besser als schwarz?«

»Weiß ich auch nicht.«

Sie legte den Kopf schief und schaute mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen.

»Im Keller hängt eine Sense. Was meinst du, kannst du damit umgehen?«

»Klar kann ich das«, behauptete ich, obwohl ich noch nie im Leben eine Sense in der Hand gehalten hatte.

»Ich bezahle dich pro Stunde, wenn du das Gras mähst und hinterher zusammenharkst.«

»Das ganze Grundstück?«

»Alles«, sagte sie. »Such dir ein Paar Handschuhe. Aber den Rainfarn und die jungen Espen in der Ecke lass stehen!«

»Rainfarn?«

»Das hohe gelbe Kraut. Lass es stehen. Und die Espen möchte ich wegen ihres Geraschels behalten.«

Die Sense sah neu aus. Ich trug sie nach oben und probierte sie vor der südlichen Veranda aus. Das Gras fiel weich über das Blatt.

»Zieh Stiefel an«, sagte Mama. »Falls dir die Schlange begegnet.«

»Wenn ich die Schlange sehe, mache ich Hackfleisch aus ihr«, versprach ich. Vorsichtshalber ging ich trotzdem in mein Zimmer und suchte eine Weile in den Umzugskartons herum. Aus den Stiefeln war ich herausgewachsen, aber ohne Strümpfe gelang es mir schließlich, meine Füße hineinzuzwängen.

Zuerst mähte ich das Gras vor der Veranda, auf der Mama saß. Ich mähte bis zu den Erlen hinunter und auf der anderen Seite der Bäume wieder hinauf. Ich mähte sogar die Büschel ab, die direkt am Wasser wuchsen.

Mama rief mir zu, ich solle das Gras auch zusammenharken, also holte ich eine Harke und einen Rechen aus dem Keller. Der Rechen war besser als die Harke, also benutzte ich ihn, ein altmodisches Ding mit hölzernen Zinken, das sehr leicht zu handhaben war. Die zusammengeharkten Grashaufen deponierte ich unter der Erle neben dem Boot.

Dann mähte ich bis zur Eiche hinauf und zwischen den knorrigen Apfelbäumen, die sich unter ihrer Last bogen, hin und wieder trat ich im Gras auf einen Apfel. An jedem Baum war mit Stahldraht ein kleines Holzschild befestigt, auf das jemand vor langer Zeit »Ingrid Marie«, »Gravensteiner« und die anderen Namen der verschiedenen Apfelsorten geschrieben hatte. Die blaue Schrift war verblasst und kaum noch zu lesen.

Als ich das Gras um die Eiche und die beiden ersten Apfelbäume zusammengeharkt hatte, merkte ich, dass ich unbedingt Handschuhe brauchte. Mama war einkaufen gefahren, ich suchte im Keller und fand ein Paar Arbeitshandschuhe mit roten Farbflecken. Bevor ich weitermachte, ging ich in die Küche und nahm ein Weinglas aus einem Karton. Es war in Zeitungspapier eingewickelt, und während ich zwei Gläser Wasser trank, las ich einen Artikel über eine Einbruchserie in Bredsand.

Dann ging ich wieder nach draußen und mähte weiter zwischen den Apfelbäumen. Von Zeit zu Zeit harkte ich das Gras zusammen und trug es zu den Haufen unter der Erle. Nachdem ich fast die ganze Fläche um die Apfelbäume gemäht hatte, war die Haut an beiden Händen zwischen Daumen und Zeigefinger aufgescheuert.

Mama kam vom Einkaufen zurück und briet uns Knoblauchwürste, die ich mit weißen Bohnen aß. Die rote Soße tunkte ich mit einem Stück Weißbrot auf, danach trank ich einen halben Liter Milch und aß eine Portion Eis mit Himbeeren. Ich esse ziemlich viel, aber obwohl ich eins achtzig groß bin, wiege ich nicht mehr als sechzig Kilo. Mama aß eine halbe Wurst und einen Löffel voll Bohnen. Sie macht eine Diät nach der anderen, und wenn sie sich gerade nicht in die Hüfte kneift und behauptet, sie sei zu fett, macht sie sich Sorgen, sie könnte zu mager sein. Als ich mit dem Essen fertig war, kam Annie nach unten. Sie trug nur eine Unterhose und ein T-Shirt, und die Haare hingen ihr ins Gesicht. Sie ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und blieb davor stehen, während sie sich am Ellenbogen kratzte.

»Was möchtest du haben?«, fragte Mama.

»Gibt’s keine Dickmilch?«

»Nur Joghurt.«

»Gibt’s denn keine Dickmilch?«

»Ich hab Joghurt gekauft.«

»Und was soll ich nun essen?«

»Joghurt.«

»Du weißt, dass ich Dickmilch will!«

Annie knallte die Kühlschranktür zu und warf Mama einen vernichtenden Blick zu. Ich stand auf und räumte die Teller in die Geschirrspülmaschine.

»Die ist noch nicht angeschlossen«, sagte Mama.

Annie sah aus, als wollte sie jeden Moment anfangen zu weinen.

»Ich habe nur einen einzigen Wunsch zum Frühstück. Wieso kriege ich nicht, was ich möchte?«

»Ich hole heute Nachmittag Dickmilch.«

Annie wurde lauter.

»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt essen?«

»Tom hat ein paar Kabanossi gegessen. Es gibt …«

»Ich esse keine Schweineohren und Schweineschwänze!«

Annie stürmte hinaus. Sie lief wieder nach oben und donnerte ihre Zimmertür hinter sich zu.

Als ich das ganze Grundstück mit der Sense gemäht und das Gras zusammengeharkt hatte, war die Sonne hinter zwei riesigen Birken auf dem Nachbargrundstück verschwunden. Ich brachte die Sense in den Keller und schleppte den Rasenmäher nach oben.

Dreimal musste ich am Seilstarter reißen, dann sprang der Motor an, und ich begann, das Gras entlang der Hecke zum Nachbargrundstück zu mähen. Die Hecke warf einen Schatten, und die Hängebirken schützten mich vor der Sonne. Ich hatte gerade drei Bahnen geschafft, da fing der Motor an zu stottern und blieb stehen.

Im Keller fand ich einen Fünf-Liter-Benzinkanister mit einem Zettel, auf den jemand »Rasenmäher« geschrieben hatte. Die Schrift war verblasst, sodass sie kaum noch zu entziffern war. Ich brachte den Kanister nach oben und schraubte den Verschluss ab. Da hörte ich von der anderen Seite der Hecke eine Männerstimme.

»Hallo!«

Ich richtete mich mit dem Kanister in der Hand auf.

»Hallo!«, antwortete ich.

»Ich heiße Karl Berger«, ertönte es von der anderen Seite der hohen Hecke. Die Stimme klang wie die eines sehr alten Mannes.

»Tom Eriksson«, antwortete ich.

»Ich höre, dass du den Rasen mähst.«

»Ich habe erst mit der Sense gemäht. Jetzt muss ich noch mit dem Rasenmäher drübergehen.«

»Bist du der Gärtner?«

»Ich wohne hier.«

»Aha! Ellen habe ich gut gekannt. Wir waren viele Jahre lang Nachbarn. Ich habe auch Harry gekannt.«

»Wir sind gestern hier eingezogen.«

»Du bist also kein Gärtner?«

»Ich gehe noch zur Schule. Ich komme in die Achte.«

»Aha!«, tönte es wieder herüber. »Könntest du dir vorstellen, auch meinen Rasen zu mähen? Ich bezahle, sag mir, was du dafür haben möchtest.«

»Klar, gern, aber heute geht es nicht.«

»Das verstehe ich«, ertönte es auf der anderen Seite der Hecke. »Willst du nicht einen Moment zu mir rüberkommen, damit wir uns unterhalten können, ohne dass die Hecke zwischen uns ist?«

»Gut, ich komme.« Ich stellte den Benzinkanister ab, zog die Handschuhe aus und hängte sie über den Griff des Rasenmähers.

Dann ging ich durch die kleine Pforte und zwanzig Meter weiter an der Straße entlang. Die Hecke des Nachbarn war genauso hoch wie unsere.

Oben an der schwarz lackierten schmiedeeisernen Pforte war zwischen zwei S-förmigen Eisenstäben ein tellergroßes Medaillon angebracht. Darauf war ein nackter Mann abgebildet, der Harfe spielte. Er trug einen Kranz auf dem Kopf.

Ich öffnete die Pforte und betrat den von Unkraut überwucherten Schotterweg, der im Augenblick im Schatten der Hängebirken lag.

Das Grundstück schien genauso groß zu sein wie unseres, und das Haus glich unserem bis auf die Farbe. Es war gelb statt rot. Die Eckpfosten waren weiß gestrichen wie bei uns, und der Eingang war nach Westen hin ausgerichtet und nicht nach Osten wie bei unserem Haus.

Der Alte, es war wirklich ein alter kleiner Mann, kam um die Ecke gewatschelt. Er trug ein blau kariertes Flanellhemd und eine Baumwollhose, die vielleicht einmal weiß gewesen war. Jetzt war sie nur noch einigermaßen sauber und wurde von blauen Hosenträgern gehalten. Der Mann hatte diese braunen Flecken im Gesicht, die manche Leute im Alter bekommen. Er benutzte einen Bambusstock. Seine nackten Füße steckten in verschlissenen Stoffschuhen. Er wirkte gebrechlich, war runzlig und gebeugt und streckte mir seine Rechte hin.

»Karl Berger«, sagte er. Sein Handschlag war pulvertrocken und die Stimme ein Flüstern, als hätte er seit Tagen mit niemandem geredet.

»Tom.«

Der Alte trug eine Brille mit großen eckigen Gläsern, die die Augen dahinter unnatürlich vergrößerten und seine ganze Erscheinung seltsam prägten.

»Früher hat die Gemeinde für das Rasenmähen gesorgt, aber jetzt haben sie diese Form von Hilfe eingestellt, und ich muss jemanden finden, der mir die Arbeit abnimmt.«

Er hob den Stock und zeigte auf sechs Apfelbäume, die genauso knorrig und mit Früchten überladen waren wie unsere, an der Pforte standen die beiden Hängebirken, und unten am See neigten sich drei Weiden über das Wasser. Er folgte meinem Blick.

»Ihr habt Erlen.« Seine Stimme klang fast verärgert. »Zecken lieben Erlen, ich will die nicht haben. Zecken mögen auch hohes Gras. Gras und Erlen soll man kurz halten.«

Der Alte ereiferte sich über alle Erlen, Prärien, Steppen und Savannen der Welt.

»Hier muss man wohl erst mal mit einer Sense ran«, sagte ich. Das klang, als wäre ich Experte für verwilderte Gärten. »Das Gras ist zu hoch für den Rasenmäher.«

Der Alte nickte.

»Ich lass dir freie Hand. Mäh das Gras. Mehr will ich nicht von dir.«

»Ich kann es morgen machen.«

Er sah so zufrieden aus, als hätte ich versprochen, den Rasen mit der Nagelschere zu bearbeiten.

»Vortrefflich.«

Er musterte mich.

»Du wohnst doch wohl nicht allein in Ellens Haus?«

»Nein, zusammen mit meiner Mutter, meiner Schwester und einem Bruder.«

Karl Berger nickte.

»Meiner Halbschwester und meinem Halbbruder«, verdeutlichte ich, weil er mich so anstarrte.

Er nickte wieder.

»Ich hatte auch eine Schwester und einen Bruder. Die sind aber schon tot. So ist der Lauf der Welt. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Ich hab Eistee im Kühlschrank.«

»Danke, gern.«

Er drehte sich langsam um, trottete in Zeitlupentempo davon und verschwand im Haus. Ich setzte mich auf die heiße Treppe. In den Apfelbäumen hingen Nistkästen, einer in jedem Baum, auch in den Birken. Im Gras vor der Treppe stand ein konisches, rot gestrichenes Blechgebilde mit Dach, groß wie ein Wassereimer. Es war an einer Betonröhre befestigt. Ein Futterautomat für kleine Vögel. Karl Berger war ein Freund der Spatzen, Meisen und Finken, das war offensichtlich.

Er klapperte in der Küche, und es klang, als hätte er ein Glas in die Spüle fallen lassen. Nach einer Weile kam er mit einem tellergroßen Silbertablett in der einen Hand und dem Stock in der anderen aus dem Haus. Es sah gefährlich aus, als er sich anschickte, die drei Treppenstufen hinunterzusteigen. Er setzte den linken Fuß vor und hielt das Tablett mit der rechten Hand vor sich wie ein Seiltänzer seine Stange, während er sich gleichzeitig mit der Linken auf den Stock stützte. Jeden Moment drohte er zu stürzen.

Neben der Treppe standen ein kleiner runder Gartentisch und ein Stuhl aus Metall. Der Alte stellte das Tablett ab und ließ sich auf den Stuhl sinken.

»Uff«, seufzte er. »Das war Schwerstarbeit.«

Er faltete beide Hände über dem Stock, beugte sich vor und atmete durch den offenen Mund. Nachdem er sich etwas erholt hatte, warf er mir einen Blick zu.

»Bitte sehr.«

Ich stand auf und nahm ein Glas. Es enthielt eine braune kalte Flüssigkeit, die sehr gut Tee sein konnte. Mitten auf dem kleinen Tablett war ein Ritter abgebildet, der seine Lanze in einen Drachen bohrte.

»Mmph!«, schnaubte er und starrte mich unverwandt an. Seine Stimme war sanft wie lauwarme Milch. Seine Zähne waren gelb und klein.

»Bist du so nett und holst mir meine Medizin? Sie liegt auf dem Klapptisch im Zimmer gleich rechts, wenn du ins Haus kommst. Dort steht ein Haufen Döschen. Ich brauche das Nitromex. Würdest du das für mich tun?«

Ich nickte, stand auf und ging ins Haus.

Der Vorraum war klein, ganz anders als bei uns drüben. Es gab drei Türen. Die eine stand offen und führte nach links in die Küche. Die Küchenschränke sahen aus, als hätte sie schon lange keinen Maler mehr gesehen. Die Tür gegenüber der Haustür war geschlossen. Rechts führte eine ebenfalls offene Tür in ein Wohnzimmer, das mit dicken Teppichen ausgelegt war, die Wände waren mit Bücherregalen bedeckt. Die drei Sprossenfenster gaben den Blick frei auf den See. Die Möbel in dem Zimmer waren schwer und dunkel, ähnlich denen, die Großmutter gehabt hatte.

Auf dem kleinen Tisch neben der Tür zum Vorraum sah ich die Medizindöschen, mindestens ein halbes Dutzend. Dort lagen auch mehrere geöffnete Kuverts und einige Rezepte, die mit einer streichholzschachtelgroßen Büste beschwert waren. Sie stellte eine Frau mit einer auffallend hohen Kopfbedeckung dar.

Über dem Tisch hingen zwei schwarz-weiße verglaste Fotografien. Auf dem obersten Foto war eine Propellermaschine, die durch einen weißen Wolkenhimmel flog. Sie sah aus wie eine Kampfmaschine. Das Schwarz-weiß-Bild darunter zeigte drei Personen, alle so um die zwanzig, die sich die Arme um die Schultern gelegt hatten. Der Mann ganz rechts trug einen doppelreihigen Anzug, der linke Mann eine Uniform. Sie schauten ernst drein, während die Frau in der Mitte lachte. Sie standen in einem Garten unter blühenden Obstbäumen.

Ich nahm das Döschen mit der Aufschrift »Nitromex« und ging wieder nach draußen. Karl Berger saß über seinen Stock gebeugt, und ich stellte die Dose vor ihn hin. Er murmelte ein fast unhörbares Danke, griff nach der Dose und schraubte den Deckel mit zitternden Händen auf.

»Bitte.« Mit der einen Hand zeigte er auf das Tablett, während er sich mit der anderen eine Tablette in den Mund schob.

Ich probierte das Getränk. Es war kalt und schmeckte ein wenig bitter.

»Schmeckt’s?«

»Danke, gut.«

Er schwieg eine Weile. Dann spähte er zum Dachfirst hinauf, nachdem er den Kopf etwas gedreht hatte.

»Die Schwalben sind weg. Ich möchte wissen, wie es ihnen jetzt geht. Die können doch wohl noch nicht angekommen sein im Süden?«

Er schwieg eine Weile, bevor er weiterredete.

»Meiner Schwester wurde Afrika zum Verhängnis. Sie war auch eine Art Schwalbe.«

Ich leerte mein Glas und stand auf.

»Das war gut.«

»Manche bleiben am Nil. Andere ziehen weiter nach Süden. Im nächsten Jahr kehren sie zurück. Niemand weiß, wie die Schwalben das mit der Orientierung schaffen.«

»Dann komme ich also morgen zum Rasenmähen.«

Der Alte nickte.

»Ich wache immer früh auf, du brauchst nicht zu warten, bis ich aufgestanden bin.«

»Soll ich das Tablett ins Haus tragen?«

Er musterte mich, als könnte er dadurch mehr über mich erfahren.

»Mach das, aber lass mir die Medizin hier.«

Ich brachte das kleine silberne Tablett zusammen mit meinem Glas in die Küche. Es roch nach Abfall, der schon lange nicht mehr entsorgt worden war, und am Fenster surrte eine dicke flaschengrüne Fliege.

Ich stellte das Tablett auf die Arbeitsplatte und ging wieder hinaus zu dem Alten.

»Bis morgen also«, sagte er, als ich die Treppe herunterkam. »Wenn du am Briefkasten vorbeikommst, würdest du bitte nachschauen, ob Post drin ist?«

Neben der Pforte hing ein roter Briefkasten tief in der Hecke. In kleinen weißen Buchstaben stand »K. Berger« darauf. Er war leer.

Ich dachte, dass Karl Berger vielleicht schwerhörig war, also ging ich noch einmal zurück über den knirschenden Schotter. Er saß unverändert da, aber jetzt ruhte sein Kinn auf den Händen, die er über der Krücke gefaltet hielt.

»Keine Post im Kasten«, sagte ich.

»Hab ich mir schon gedacht«, brummelte der Alte fast unhörbar.

Da sah ich, dass an seiner linken Hand der Ringfinger und der kleine Finger fehlten. Nicht einmal Stummel waren übrig geblieben.

Als ich ihm den Rücken zukehrte und zur Pforte ging, hörte ich, wie auf unserem Grundstück der Rasenmäher angeworfen wurde.

Morgan trug knielange Shorts aus einem glänzenden Material, das eine Hosenbein war weiß, das andere blau. Er schubste den Rasenmäher vor sich her. Ich stellte mich ihm in den Weg.

»Was machst du da?«

Er grinste und zeigte mir seine Biberzähne. Sein Gesicht sah aus wie das eines felllosen Kaninchens, nur seine Ohren waren kleiner und der Ausdruck in seinen Augen dümmer.

»Wonach sieht es denn aus?«

»Ich mähe den Rasen!«, brüllte ich, um das Motorengeräusch zu übertönen.

»Wir machen es zusammen!«

»Ich mähe den Rasen!«

»Du hättest mich fragen müssen, ob wir es uns teilen wollen!«

»Mama hat mich darum gebeten.«

»Bilde dir bloß nicht ein, dass du das Geld für dich behalten kannst! Ich kriege die andere Hälfte.«

»Warum?«

»Weil wir es uns teilen.«

»Ich hab den ganzen Tag geschuftet. Mit dem Rasenmäher brauchst du weniger als eine Stunde. Du kriegst nicht mehr als zehn Prozent.«

Er stieß den Rasenmäher in meine Richtung. Ich stellte meinen rechten Fuß darauf. Der Fuß vibrierte.

Er ließ den Handgriff los und kam auf meine Seite. Der Motor heulte auf.

Wir waren eingehüllt in eine übel riechende unsichtbare Wolke aus Abgasen.

»Schwulenschwein!«, schrie Morgan.

Ich verzog mich hinter den Rasenmäher, aber Morgan machte einen Satz darüber hinweg und stand wieder neben mir.

Dann täuschte er mit der Linken einen Schlag in den Magen vor, während er mir gleichzeitig mit der Rechten auf die Nase schlug. Ich ging in die Knie. Er fuhr mit dem Rasenmäher davon. An der Hecke zur Straße kehrte er um und kam wieder auf mich zu. Ich hatte Nasenbluten.

»Ich schneide dir die Finger ab!«, brüllte er.

Ich schloss die Augen und blieb sitzen und hörte, wie er den Rasenmäher dicht an meiner Hand vorbei zum See schob. Als er bei den Erlen wendete, blieb der Motor stehen.

»Bring mir den Kanister!«, befahl Morgan.

Ich stand auf und ging zur anderen Seite des Hauses. Vielleicht hatte der Alte seine Finger beim Rasenmähen verloren? Oder sein Bruder hatte sie ihm bei einer Prügelei abgebissen, als er sieben Jahre alt war?

3

Mamas Auto war nicht da, die Haustür war angelehnt, und Annie saß in der Küche. Sie aß einen Joghurt, während sie in einer Modezeitschrift blätterte. Sie schaute auf.

»Wie siehst du denn aus!«

Sie trug weiße Shorts und ein rosafarbenes Top. Die langen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Sie stand auf und kam auf mich zu.

»Du bist ja voller Blut!«

Ich ging zur Spüle und ließ kaltes Wasser laufen.

»War das Morgan?«

»Wer denn sonst?«

»Du solltest dich hinlegen, bis es aufhört zu bluten.«

Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser und streckte mich auf dem Küchenfußboden aus. Nach einer Weile brachte Annie mir einen Beutel Watte. Sie zupfte ein Stück ab, reichte es mir, und ich steckte es in das linke Nasenloch.

»Warum hat er das getan?«

»It’s in his nature.«

Sie schüttelte den Kopf, dann ging sie nach draußen, und ich hörte sie Morgan eine Frage nach der Fahrradpumpe zurufen. Sie bekam aber keine Antwort. Draußen war es ganz still.

Als ich gerade aufstehen wollte, kam die gestreifte Katze in die Küche. Ich ging zum Kühlschrank und nahm Milch heraus. Es war fetthaltige Milch, also verdünnte ich sie mit etwas Wasser und stellte das Schälchen vor die Katze. Sie streckte ihre rosafarbene Zunge aus und leckte vorsichtig am Rand der Schale. Dann begann sie richtig zu schlecken, und ich ging in mein Zimmer.

Aus Sundsvall hatte ich überwiegend Klamotten mitgenommen. Die meisten Bücher hatte ich verschenkt und nur ein paar Lieblingsbücher und drei Filme behalten. Ich hatte sogar meine CDs aussortiert. Dabei war nur ein Bruchteil meiner alten Musik übrig geblieben.

Es war Zeit, ein neues Leben anzufangen. Ich erwog, mir den Schädel kahl zu rasieren, meine Unterlippe zu piercen und vielleicht auch noch ein Ohr abzuschneiden.

Das Bett aus meinem Zimmer in Sundsvall hatte ich auch behalten. Es war ein gutes Bett, und deshalb gab es keinen Grund, es gegen ein anderes auszutauschen. Die Umzugsleute hatten es an die Längswand gestellt, die mein Zimmer von Morgans trennt, und dort konnte es stehen.

Zuoberst in einer der drei Umzugskisten lag eine Reproduktion von einem van-Gogh-Bild. Das ist der, der sich das rechte Ohr abgeschnitten hat und total verrückt war. Ich pinnte das Bild mit vier Heftzwecken an die Schmalwand neben der Tür, sodass ich es vom Bett aus sehen konnte.

Dem Bett gegenüber ist eine Dachschräge. Die Wand darunter, in der es eine tapezierte Tür gibt, ist nicht mehr als etwa eineinhalb Meter hoch, man muss also den Kopf einziehen, wenn man durch die Tür gehen will.

Dahinter befindet sich der unausgebaute Dachstuhl, unter dem es sehr heiß werden kann, denn das Dach ist mit schwarzem Blech gedeckt.

Ich öffnete die Tür zu der Abseite, die so lang wie mein Zimmer ist, also mindestens vier Meter lang. Direkt neben der Tür stand eine Kommode, die wahrscheinlich vergessen wurde, als Mama die Möbel ihrer Mutter verkauft hat. Die Kommode war lang und schmal, hatte drei Schubläden und krumme Beine. Im Schloss der obersten Schublade steckte ein Schlüssel. Ich öffnete sie, sie war mit Zeitungspapier ausgeschlagen. Ich nahm die vergilbte Zeitung heraus, die von 1954 war. Auf der ersten Seite waren zwei Polizisten mit Maschinenpistolen abgebildet. Darunter stand ein Artikel über Tumba-Tarzan, der in Waldhöhlen gelebt und Einbrüche in Sommerhäuser verübt hatte.

Außerdem lagen in der Schublade ein Fotoalbum voller Schwarz-weiß-Fotos sowie eine Rolle weißes Garn, eine Häkelnadel und eine zwanzig Zentimeter lange gehäkelte Spitze, durch die die Nadel gesteckt war, als wäre die Handarbeit nur mal eben unterbrochen worden, weil das Telefon geklingelt hatte.

Ich schob die oberste Schublade zu und zog die anderen heraus. Sie waren nicht mit vergilbten Zeitungen ausgelegt und enthielten auch keine Fotoalben, Spitzen oder Häkelnadeln.

Die oberen beiden Schubladen füllte ich mit Unterwäsche, Strümpfen, Hemden und T-Shirts, und unter die Kommode stellte ich meine drei Paar Schuhe. Die Winterjacke und ein paar andere Sachen legte ich auf die Kommode. Dann ging ich in die Küche, wo die noch nicht ausgepackten Umzugskartons standen. Zwischen der Tannenbaumbeleuchtung fand ich Kerzenhalter. Der eine war aus Messing. Ich suchte mir eine Kerze und eine Streichholzschachtel und nahm den Schemel aus der Küche mit in mein Zimmer. Den Schemel stellte ich neben das Bett und darauf den Kerzenhalter.

Dann trug ich die Kartons in den Keller, und als ich wieder nach oben kam, fuhr Mama gerade auf den Hof. Das Auto war kaum zum Stehen gekommen, da stieg sie schon aus.

»Ich bin bestohlen worden!«

Sie zitterte vor Aufregung.

»Jemand hat mein Portemonnaie geklaut!«

Sie öffnete die hintere Autotür und hob drei Plastiktüten vom Rücksitz.

»Ich hatte es auf den Tresen gelegt. Hinter mir hat ein kleiner Junge gestanden, der muss es genommen haben. Er war bestimmt nicht älter als zwölf. Er hat sich an mir vorbeigedrängelt, als es Schwierigkeiten mit der Geheimzahl gab. Ich musste sie mehrere Male eingeben.«

»Ist alles weg?«

»Er hat das ganze Portemonnaie mitgehen lassen außer der Karte, mit der ich gerade bezahlt habe. Meinen Führerschein hatte ich auch herausgenommen. Drei Kreditkarten, tausend Kronen, Quittungen, Fotos, alles, was ich im Portemonnaie hatte. Ich bin bei der Polizei gewesen und hab den Diebstahl angezeigt. Mensch, bin ich sauer!«

Mama rannte mit den drei Tüten über den Schotterplatz, und ich folgte ihr in die Küche. Sie ging zum Kühlschrank und holte eine angebrochene Flasche Wein heraus. Dann nahm sie das Weinglas, aus dem ich getrunken hatte, und ließ sich auf einen Stuhl am Tisch sinken. Sie füllte das Glas bis zum Rand und nahm einen großen Schluck.

Sie sprach nicht mit mir. Sie sprach mit einer anderen Person, vielleicht mit jemandem, der sich in der Besenkammer versteckt hatte. Ich hatte wie üblich das Gefühl, als würde es mich gar nicht geben.

»Das hat mir gerade noch gefehlt, dass so was passiert! Wieso dürfen solche Bürschchen überhaupt frei herumlaufen? Ich fasse es nicht! Wenn man so gerissen ist, dass man die Leute im Supermarkt beobachtet, dann hat man das nicht zum ersten Mal gemacht. Warum sperren sie diese Bengel nicht ein? Wieso dürfen die rumlaufen und anständigen Leuten das Leben vermiesen?«

Sie hob das Glas und trank.

Ich setzte mich ihr gegenüber und versuchte, mir einen Stiefel auszuziehen. Sie beobachtete mich.

»Bist du mit dem Mähen fertig?«

»Hast du es nicht gesehen?«

»Was?«

»Dass ich noch nicht fertig bin. Kannst du mir mal helfen, die Stiefel auszuziehen?«

Ich streckte ein Bein aus, sie stand auf und ging vor mir in die Knie.

»Man sollte ihnen die Ohren abschneiden. Dann würden anständige Leute sie auf den ersten Blick erkennen und könnten sich vor ihnen in Acht nehmen«, knurrte sie.

Mama packte den Stiefel und zog, aber er saß fest.

»Fass ihn an der Ferse an«, schlug ich vor.

»Wir versuchen es erst mit dem anderen. Der rechte Fuß ist meistens kleiner.«

»Ist es nicht der linke?«

»Nein, der rechte. Los!«

Ich streckte ihr den rechten hin, und sie zog. Der Stiefel saß jedoch so fest, als wäre er am frühen Morgen mit Sekundenkleber gefüllt worden, und jetzt war der Fuß für immer mit dem Gummi im Stiefel verpappt.

»Vielleicht geht es mit einem Klacks Butter?«, schlug ich vor.

Mama sah mich misstrauisch an.

»Oder mit etwas Öl«, korrigierte ich mich.

Mama schüttelte den Kopf und versuchte, mir den linken Stiefel vom Fuß zu ziehen. Sie rutschte ab, fiel nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen die Tür von der Besenkammer. In dem Augenblick kam Morgan herein.

»Was macht ihr denn da?«

Er stank nach Benzin und hatte einen dunklen Fleck auf dem weißen Shortsbein.

»Du bist doch so stark«, sagte Mama. »Kannst du Tom die Stiefel ausziehen?«

Morgan lachte.

»Schaffst du es nicht allein, dir die Stiefel auszuziehen?«

»Zieh sie ihm aus«, befahl Mama, die, noch gegen die Tür gelehnt, auf dem Fußboden saß.

»So was Idiotisches!«, sagte Morgan. »Ein klarer Beweis, dass er nichts als Rotz im Hirn hat. Zieht sich zu kleine Stiefel an. Ganz schön beknackt.«

Morgan starrte mich mit seinen Kaninchenaugen an und rührte sich nicht von der Stelle.

»Zieh ihm jetzt die Stiefel aus«, wiederholte Mama.

Morgan ging zur Spüle, ließ Wasser laufen und hielt den Mund unter den Hahn. Er trank. Lange. Mama stand auf und ließ sich auf den Stuhl vor dem Weinglas fallen.