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Kann eine Liebe Bestand haben, die nie ans Licht kommen darf?
Trotz allem, was ihnen widerfahren ist, haben Jura und Wolodja beschlossen, ihrer Liebe eine Chance zu geben und gemeinsam in Charkiw zu leben. Doch der Druck, ihre Beziehung im Verborgenen leben zu müssen, lastet immer schwerer auf Jura. Der Musiker gerät in eine Schaffenskrise, die er in Alkohol ertränkt. Wolodja versucht alles, um Juras Depression zu lindern. Er merkt aber bald, dass dieser nur dann wieder zu sich finden kann, wenn er in das liberalere Deutschland zurückkehrt. Das Aus für ihre Beziehung? Oder ist Wolodja bereit, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und ebenfalls einen Neuanfang zu wagen?
»Der Umgang mit dem Buch erzählt viel darüber, wie stark die Hetze gegen queere Menschen in den vergangenen Jahren zugenommen hat und wie sie idiologisch genutzt wird, um sich vom Feindbild Westen abzugrenzen.« Der SPIEGEL über »Du und ich und der Sommer«
Die »Jura und Wolodja«-Reihe:
Du und ich und der Sommer
Du und ich und die Schwalben
Du und ich und für immer
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2024
Buch
Trotz allem, was ihnen widerfahren ist, haben Jura und Wolodja beschlossen, ihrer Liebe eine Chance zu geben und gemeinsam in Charkiw zu leben. Doch der Druck, ihre Beziehung im Verborgenen leben zu müssen, lastet immer schwerer auf Jura. Der Musiker gerät in eine Schaffenskrise, die er in Alkohol ertränkt. Wolodja versucht alles, um Juras Depression zu lindern. Er merkt aber bald, dass dieser nur dann wieder zu sich finden kann, wenn er in das liberalere Deutschland zurückkehrt. Das Aus für ihre Beziehung? Oder ist Wolodja bereit, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und ebenfalls einen Neuanfang zu wagen?
Autorinnen
Elena Malisowa wurde 1988 in einer sowjetischen Provinzstadt geboren. Bereits als Kind verfasste sie erste Gedichte, später kamen Kurzgeschichten und Romane dazu.
Katerina Silwanowa wurde 1992 in Charkiw, Ukraine, geboren. Nach ihrem Studium zog sie in die russische Stadt Nowgorod, wo sie in ihrer Freizeit zu schreiben begann.
2016 lernten sich die beiden Autorinnen kennen und beschlossen, gemeinsam Bücher zu schreiben. Die Veröffentlichung von »Du und ich und der Sommer«, der Auftakt einer Romance-Trilogie, in dem es über die erste Liebe zweier junger Männer geht, die sich in einem sowjetischen Sommerlager kennenlernen, löste eine Welle der Begeisterung bei den Leser*innen sowie auf TikTok aus und eroberte Platz 1 der russischen Bestsellerliste. Aufgrund der Thematik wurde die Reihe in Russland als »LGBTQ-Propaganda« eingestuft und verboten, die Autorinnen wurden daraufhin des Landes verwiesen. Elena Malisowa lebt mittlerweile in Deutschland, Katerina Silwanowa musste in die Ukraine zurückkehren.
Von Elena Malisowa und Katerina Silwanowa bereits erschienen
Du und ich und der Sommer · Du und ich und die Schwalben
Elena MalisowaKaterina Silwanowa
Roman
Deutsch von Jennie Seitz
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Simfoniya tishiny (Симфониятишины)«, independently published, Russland.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Copyright der Originalausgabe © 2024 by Elena Malisowa and Katerina Silwanowa
The publication of the book was negotiated through MEOWLITERARYAGENCY.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Susann Rehlein
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einem Originalentwurf
Umschlagillustration: © Adams Carvalho, 2024
DK · Herstellung: cs
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-31572-6V001
www.blanvalet.de
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet sich hier eine editorische Notiz.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Elena Malisowa, Katerina Silwanowa und der Blanvalet Verlag
Kapitel 1
Melodie einer erfüllten Hoffnung
Januar 2007
»Was machen die Liebenden im Roman nach dem Happy End?«, fragte Jura Wolodja, der gerade aus dem Schlafzimmer kam.
»Sie führen ein langweiliges Familienleben«, erwiderte er. »Die Liebe hat gesiegt, von nun an meistern sie alle Herausforderungen und Schicksalsschläge mit links. Warum fragst du?«
Jura zuckte mit den Schultern. »Ich soll den Soundtrack für eine Serie schreiben und bin auf der Suche nach Inspiration, aber ich kann mich nicht konzentrieren …«
In den letzten Tagen war Jura mit seinen Gedanken woanders. Da war eine Melodie, die ihn nicht losließ: Mal war sie hell und flirrend wie Vogelgezwitscher, mal düster und zäh wie Pech.
Jura legte seine Finger auf die Tasten. Eine harzige Melodie kroch über die weißen Wohnzimmerwände und vermischte sich mit dem goldenen Schimmer der Morgensonne. Die Zeit schien jetzt langsamer zu vergehen, doch am liebsten hätte Jura sie für einen Moment ganz angehalten.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Wolodja, der vor dem Flurspiegel seinen Gürtel durch die Hosenschlaufen zog, die Stirn runzelte.
»Das kommt mir bekannt vor …«, sagte er und drehte sich zu Jura um. »Hast du daran nicht in Oranienburg gearbeitet, als wir aus Dachau zurückgekommen sind?«
Wolodja hatte recht, zum ersten Mal war ihm die Melodie in jener Nacht gekommen. Jura schloss die Augen und sah die nüchternen Archivdokumente vor sich, er hörte die grausam laute Stille, die die kalten Wände der Gaskammer zurückgeworfen hatten. Die Schrecken der Vergangenheit, die ihn dort heimgesucht hatten, hielten ihn immer noch gefangen. Sie waren in sein Innerstes gekrochen und eiskalt durch seine Adern geströmt, ein schwarzes Spinnennetz hatte sich über sein Gesicht gelegt und ihm das Atmen schwer gemacht. Die Melodie war wie eine Medizin gegen die Todesangst gewesen.
Seit einem Monat hörte Jura sie immer wieder, wie eine kaputte Schallplatte, die nach kurzer Zeit wieder zum Anfang sprang. Es gelang ihm nicht, sie zu greifen und eine Fortsetzung zu schreiben.
»Es gibt noch ein anderes Stück, das dazugehört, heller und lyrischer. Ich weiß nur nicht, wie ich beide zusammenbringe. Willst du es hören?«
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr nickte Wolodja. Die Musik erklang, flirrte im Sonnenlicht und wiegte sich im Schatten der buschigen Zweige der Kiefer, die vor dem Fenster wuchs.
Wolodjas Blick wurde ernst, zwischen seinen Brauen entstand die Kerbe, die Jura so liebte. Wenn er mit den Fingerspitzen unsichtbare Muster auf Wolodjas Stirn zeichnete, entspannte sich dessen Gesicht, und die geliebten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Schon am Morgen, wenn Wolodja verschlafen blinzelnd nach dem Wecker tastete, bewunderte Jura die Kerbe. Auch tagsüber immer wieder, wenn Wolodja über seinen Laptop gebeugt dasaß und sich in Rechnungen und Kostenpläne vertiefte – die ganze Woche, seit Jura da war, hatte Wolodja von zu Hause gearbeitet. Aber am meisten liebte Jura diese kleine Kerbe nachts, wenn sein Atem im warmen honigfarbenen Licht der Nachttischlampe mit Wolodjas verschmolz.
»Das ist unglaublich schön. Aber es wirkt wirklich, als würde es zu einem anderen Stück gehören«, sagte Wolodja, als die Musik verstummte. Er verschwand wieder im Badezimmer und rief: »Spielst du es mir später noch mal vor? Ich muss dringend ins Büro!«
Jura klappte den Klavierdeckel zu und folgte ihm ins Bad. Die Frage blieb in der Luft hängen, das Bild war zu verlockend: Mit dem Telefon in der Hand stand Wolodja vor dem Spiegel, das weiße Hemd noch offen. Jura trat näher, fing seine Hand ab, die an den Knöpfen herumnestelte, und grinste: »Musst du wirklich schon los? Nur ein halbes Stündchen …«
Wolodja streckte sich nach einem Kuss, aber im letzten Moment bremste er sich, schob Juras Hände weg und sagte: »Ich kann nicht … Die blöde Arbeit ruft.«
»Ist das mein schlechter Einfluss, oder hast du sie wirklich satt?«, fragte Jura, während er eine dunkelblaue Krawatte von der Schranktür fischte, sie sich umwarf und sie über seinem T-Shirt zu binden begann.
»Ich glaube Zweiteres. Morgen geht ein neues Projekt los, aber im Grunde ist es immer dasselbe.«
Jura schwang die fertig gebundene Krawatte über seinen Kopf und warf sie Wolodja um den Hals. »Hab ich dich«, grinste er und fügte fröhlich hinzu: »Dann schlag doch eine andere Richtung ein.«
»Und welche? Die Stadt braucht nun mal das, was mir keinen Spaß macht: Wohnkomplexe und Shoppingmalls.«
»Was ist mit weiteren Schwalbennestern?«
»Für Siedlungen werden nur Waldgrundstücke verkauft. Aber ich habe kein Interesse daran, Wald abzuholzen.«
»Du besitzt doch schon Land. Hier.« Er zeigte auf die Ruinen des Pionierlagers, die man aus dem Fenster sah. »Du könntest alles abreißen.«
Sie gingen in den Flur. Gerda kam angerannt, um ihr Herrchen zu verabschieden, und scharwenzelte aufgeregt um dessen Beine. Wolodja seufzte. Jetzt war seine schwarze Anzughose mit hellbraunen Hundehaaren bedeckt.
»Die Schwalbe abreißen? Kommt nicht infrage!«, sagte er empört. »Ich will die Vergangenheit nicht zerstören.«
»Was willst du dann tun?« Jura holte die Kleiderbürste aus der Schublade, ging in die Hocke und blickte zu Wolodja hoch.
»Noch ein bisschen bei dir bleiben«, sagte Wolodja ernst. »Und die Arbeit … Am liebsten würde ich der Vergangenheit neues Leben einhauchen.«
»Du kannst doch der Schwalbe neues Leben einhauchen.«
»Und mich in den Ruin treiben? Niemand braucht heute noch Pionierlager.«
Wolodja zog sein Sakko an, dann den Mantel und war mit seinem ernsten, fast finsteren Blick mit einem Mal nicht mehr der freundliche, häusliche Wolodja, sondern Wladimir Lwowitsch – der strenge und sehr attraktive Geschäftsführer.
Jura begleitete ihn zum Auto – in T-Shirt, Shorts und Pantoffeln.
»Rein mit dir, du holst dir noch den Tod«, kommandierte Wolodja und schloss das Auto auf.
»Und mein Abschiedskuss?«, empörte sich Jura und zog Wolodja am Ellbogen hinter den drei Meter hohen Zaun.
Erst nach einem Kuss auf die Wange und einem auf den Mund lächelte er zufrieden. »Sie dürfen gehen, Direktor.«
Jura winkte dem Wagen nach, der über die winterliche Straße um die Ecke bog, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche seiner Shorts und steckte sich eine an. Gerda kläffte tadelnd. Obwohl Jura fror, beeilte er sich nicht, zurück ins Haus zu gehen. Er blickte nachdenklich in die Ferne, wo eine weiße Schneedecke die brachliegende Schwalbe bedeckte. Am strahlend blauen Himmel war kein Wölkchen zu sehen, die Sonne blendete in den Augen, und die mit einer dünnen Eisschicht überzogenen Schneehügel glitzerten in allen Farben des Regenbogens. Doch die Ruhe dort draußen spiegelte nicht seinen inneren Zustand wider. In ihm tobte ein Sturm aus wirbelnden, nicht nicht zusammenpassen wollenden Melodien.
Jura schüttelte den Kopf. An die Arbeit, der Soundtrack schreibt sich nicht von allein, ermahnte er sich und ging rein.
Er setzte sich ans Klavier und seufzte. Das verstimmte Instrument klang dermaßen schief, dass er sich reichlich anstrengen musste, um die Töne in seiner Vorstellung zu korrigieren.
Wie klingt also das Leben von Liebenden nach dem Happy End?
Nachdem er eine geschlagene Stunde später immer noch keine Antwort gefunden hatte, gab er auf und widmete sich einem kleineren Auftrag für eine Werbung. Der Auftraggeber hatte ihm ein Musikbeispiel geschickt, das wie aus einem Erotikfilm klang, und dazu die Bitte: »Etwas in der Art, aber mit mehr Pep.«
»Einen Porno mit Pep also?«, fragte Jura seinen Laptop. »Im Ernst?«
Er versuchte, sich auf den Auftrag zu konzentrieren, aber wieder schweiften seine Gedanken ab.
Jura merkte gar nicht, wie wie seine Finger, die gerade noch verschiedene Jingles ausprobiert hatten, plötzlich wieder die Melodie aus Dachau spielten.
So ging es bis zum Abend; Jura sprang zwischen dem Werbeauftrag und dem eigenen Stück hin und her und kam bei beiden nicht weiter. Bis ihn Wladimir Lwowitsch, der gerade von der Arbeit zurückkehrte, missmutig über die Tasten gebeugt vorfand.
Nachdem er Sakko und Krawatte abgelegt und sich in den häuslichen Wolodja zurückverwandelt hatte, rief er Jura zum Kochen in die Küche.
»Ich soll einen peppigen Porno liefern«, verkündete Jura beim Salatschnippeln.
»Porno ist hoffentlich dem Schlafzimmer vorbehalten. Spielst du mir was vor?«
»Ich sollte noch etwas arbeiten, ich habe den ganzen Tag nichts zustande gebracht. Wobei … Zehn Minuten machen den Braten auch nicht fett.«
Jura trat ans Klavier, aber kaum hatten sich seine Finger auf die Tasten gelegt, spürte er Wolodjas Umarmung und hörte ihn flüstern: »Hast du schon entschieden, wie lange du bei mir bleibst?«
Sein warmer Atem kitzelte im Nacken, seine sanfte Stimme durchfuhr den ganzen Körper.
»Meine Aufträge …«, erwiderte er unschlüssig. »Den einen muss ich übermorgen abgeben, danach steht der andere an, der noch viel aufwendiger wird. Und ehrlich gesagt ist es einfacher, einem Kamel das Singen beizubringen, als auf deinem verstimmten Klavier zu spielen.«
»Was denn für ein Kamel?«, lachte Wolodja.
»Hast du etwa noch nie ein Kamel heulen gehört?«
»Schon gut, schon gut. Ich werde es stimmen lassen. Wenn du willst, richten wir ein Arbeitszimmer für dich ein. Was brauchst du, damit du gut komponieren kannst?«
»Tja, so einiges … Du kennst doch mein Arbeitszimmer in Oranienburg«, murmelte Jura abwesend, während er die zweite Oktave durchging. »Equipment ist kostspielig, und ich werde ja nicht ewig in Charkiw bleiben …«
»Wie lange ist denn nicht ewig?«, fragte Wolodja noch einmal.
Seine Umarmung wärmte und erdrückte Jura zugleich: Sie war voller Fürsorge und Zärtlichkeit, aber gleichzeitig forderte sie so viel. »Mal sehen. Ich mach mir morgen Gedanken, okay?«
Er wusste selbst nicht, wie lange das mit ihnen so weitergehen sollte. Es fühlte sich an, als würde er zwischen zwei Polen festhängen, die in zwei verschiedene Richtungen an ihm zerrten. Die eine Hälfte seines Herzens wollte für immer bleiben und nie wieder weg von Wolodja. Die andere wollte zurück nach Hause und sich zwischen den heimischen vier Wänden in der Musik verlieren. Doch er konnte ja schlecht an zwei Orten gleichzeitig sein – in Charkiw bei seinem Geliebten und in Oranienburg bei seiner Musik.
Jura konnte nicht entscheiden, wann es Zeit war, zu fahren. Eine unklare Vorahnung, ein undefinierbarer Gedanke, ließ ihm keine Ruhe und bereitete ihm fast körperliche Qualen.
Beim Einschlafen hörte er eine Stimme, zu der ihm das Gesicht schon lange abhandengekommen war: Und, Jura, gefällt es dir? Sie gehörte seiner Großmutter.
Er sah Klaviertasten vor seinem inneren Auge flimmern: weiß, schwarz, weiß, schwarz.
Du wirst ein berühmter Pianist, genau wie dein Großvater. Mit einer schwungvollen Handbewegung stellte seine Großmutter ein Notenblatt vor ihm hin, aus dem Augenwinkel nahm Jura den Stoff ihres Kleides wahr: violett mit grauen Streifen. Und fand sich sogleich in einem anderen Winkel seiner Erinnerung wieder: sie beide an einem großen Küchentisch sitzend, Jura etwa vier Jahre alt, die Großmutter jetzt jünger.
Ich mache Musik an, sagte sie herrisch, unddu malst auf, was du hörst.
In der Küche ertönte das Jammern von Geigen, ein Kontrabass wummerte los. Als Jura die Vibrationen am ganzen Körper spürte, nahm er den Stift zur Hand.
Am Ende streckte er ihr das fertige Bild entgegen.
Aber die Großmutter fragte erbost: Was ist denn das für ein Quatsch? Du hast einfach mein Kleid gemalt.
Das Violett ist der Kontrabass, dunkel und tief. Und die Geigen klingen traurig und grau. Sie sind viele, wie kleine Striche, und …
Jura schreckte aus dem Schlaf hoch und starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke. Sein Herz pochte wild, aber er erinnerte sich nicht, was ihm so große Angst eingejagt hatte. Er blickte um sich: Die Morgensonne, die durch die Vorhänge drang, zeichnete die Umrisse der Möbel nach, neben ihm schlief friedlich Wolodja. Jura schmiegte sich an ihn, sog den vertrauten Duft ein, driftete weg und sah wieder die grauen Streifen auf violettem Hintergrund.
Erst gegen zehn stand er auf. Als er nach unten in die Küche kam, schlug ihm eine Vielzahl an Geräuschen entgegen. In der Pfanne brutzelte Speck, der Kaffeeautomat spie duftende Dampfwolken, unter dem Messer knackten frische Gurken.
Wortlos ging er zum Klavier.
»Willst du nicht erst eine Kleinigkeit essen?«, rief Wolodja gegen das laufende Wasser an.
»Ich hatte im Traum eine Idee, die will ich erst aufschreiben.«
»Du solltest nicht mit leerem Magen arbeiten.«
»Das sagt der Richtige«, gab Jura zurück, während er wieder und wieder dieselben vier Akkorde spielte. »Du rennst doch selbst jeden Morgen hungrig los …«
»Heute war ich nicht joggen. Wir haben doch Faulenztag.«
»Ach ja.«
Der fünfte Akkord war endgültig verloren, der vierte entglitt ihm nun auch. Jura kritzelte den kümmerlichen Rest schnell in sein Notizheft und ging in die Küche.
Sie hatten sich vorgenommen, diesen Samstag einfach nichts zu tun. In Wolodjas Tagesplaner stand: lange im Bett bleiben, ausgiebig brunchen und den ganzen Nachmittag Filme schauen, und vor allem – nicht arbeiten. Der letzte Punkt war dick unterstrichen.
Zu Speck und frischem Salat gesellten sich auf dem Frühstückstisch Obst, Käse, Brötchen und Schälchen mit Marmelade.
Jura legte eine Jazzplatte auf, und sie frühstückten.
»Hast du dir Gedanken gemacht, wie lange du bleiben willst?«, fragte Wolodja, der immer einen Plan haben musste.
»Wie wäre es, wenn ich bis zum Frühjahr bleibe, sagen wir, April?«
Wolodjas Augen blitzten funkelten fröhlich, er streichelte zärtlich Juras Hand. »Aber kannst du hier denn arbeiten? Du hast doch so viel zu tun …«
Das stimmte, Jura kam jetzt schon kaum hinterher, Laptop und Klavier reichten vielleicht für Werbefilmchen, simple Kompositionen, aber für komplexe Soundtracks …
»Wahrscheinlich sollte ich mir etwas mieten«, überlegte Jura laut und biss in sein Brötchen. »Kennst du Aufnahmestudios oder Proberäume in Charkiw? Ich könnte einen Teil von dort machen und einen Teil von hier.«
»Warum denn so kompliziert …« Wolodja holte Stift und Notizblock, richtete seine Brille und fragte: »Also, was brauchst du alles, damit du dich hier wie zu Hause fühlst? Das sind doch bloß Dinge, die kann man kaufen.«
»Können wir das nicht später machen?« Jura wollte diese süßen Stunden des Müßiggangs genießen.
»Natürlich. Aber wir sollten nicht zu lange warten.«
Wolodjas Geduld reichte für vierzig Minuten. »Also, würdest du lieber im Wohnzimmer arbeiten, oder sollen wir dir ein Arbeitszimmer einrichten?«
»Ein Arbeitszimmer?«, fragte Jura überrascht.
»Ja, warum nicht, ein Studio zum Komponieren. Komm, wir sehen uns oben um.«
Sie gingen die Treppe hoch und machten einen Rundgang durch die zwei kleineren und das größere Zimmer mit Balkon. Wolodja erklärte: »Hier waren ursprünglich mein Schlafzimmer und zwei Gästezimmer geplant. Aber jetzt schlafe ich unten, und selbst Gerda verirrt sich selten hier hoch. Du kannst die ganze Etage für dich haben.«
Sie blieben im Balkonzimmer stehen. Jura blickte hinaus auf den schneebedeckten Hof und fasste Wolodja um die Taille: »Ich habe langsam den Verdacht, du willst mich mit Wohnraum bestechen.«
»Wir werden die Wahrheit nie erfahren.« Wolodja grinste. »Oder gefällt dir das Wohnzimmer besser?«
»Nein, nein. Ist sehr okay hier …«
Im Wohnzimmer lenkte ihn dauernd etwas ab. Dinge, die zu schön waren, um sich ihnen zu entziehen. Heute waren es die verlockenden Gerüche aus der Küche, am Vortag Gerdas Bedürfnis nach Streicheleinheiten, davor Wolodja, der in einer verführerischen Pose auf dem Sofa döste. Wie sollte man sich bei all diesen unwiderstehlichen Reizen noch auf Akkorde konzentrieren?
»Aber es wird wirklich nicht leicht, einen guten Arbeitsplatz einzurichten«, zweifelte er noch immer.
»Vergiss nicht, dass es mein Job ist, Räume zu schaffen. Außerdem … Wir sind doch jetzt zusammen. Ich kann weder für immer zu dir ziehen noch du zu mir. Aber mit einem Arbeitszimmer würde das Pendeln zumindest nicht mehr von deinen Aufträgen abhängen.«
»Das ist ein Argument«, flüsterte Jura, nahm Wolodjas Hand und zog ihn zum riesigen Fenster. Mit Blick nach draußen seufzte er: »Aber hier ist alles so ungemütlich.«
»Ich habe es noch nicht geschafft, dieses Haus mit Behaglichkeit zu füllen. Aber vielleicht schaffst du das ja?«
Da war etwas dran. Als Jura das Haus zum ersten Mal gesehen hatte, war er beeindruckt gewesen, wie hell und geräumig es war. Bei all der Wiedersehensfreude war ihm nicht aufgefallen, wie leer es wirkte. Minimalismus und Strenge bestimmten jedes Detail, alles war in Anthrazit und Weiß gehalten, hier und dort durchbrochen von dunklem Holz. Nichts stand herum. Die Fotodrucke an den Wänden zeigten karge Landschaften: kahle Wälder, trostloses Meer, einen steinigen Bergpfad.
Bei Jura herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Sein Haus war nicht nur eine Ansammlung von altbekannten und geliebten Gegenständen und Erinnerungen, sondern seine Festung, sein Kraftort. Der Ort, an dem er sich sicher fühlen und seinen Sorgen entkommen konnte; mit dem er über die Jahre zu einer Einheit verwachsen war. Selbst das allerschönste Arbeitszimmer im Haus seines Geliebten konnte ihm nicht sein eigenes ersetzen. Aber Wolodja hatte recht – das waren bloß Dinge.
»Na gut, versuchen wir es«, willigte er ein, ohne zu ahnen, dass er den Faulenztag damit vergessen konnte. Wolodja fing sofort an, Pläne zu schmieden und die nächste Woche mit Aufgaben vollzuladen.
»Du brauchst Möbel«, überlegte er laut und rannte plötzlich in den Flur. »Komm, ich will dir was zeigen!«
Jura trottete hinterher.
»Hier.« Wolodja deutete in eine Ecke, in der sich Kartons stapelten. »Da finden sich bestimmt ein Tisch, Stühle und ein paar Regale. Sind alles Sachen, die ich ursprünglich in die Zimmer oben stellen wollte. Such dir was aus und sag mir, was wir noch bestellen müssen.«
Den Rest des Tages verbrachten sie damit, Einkaufslisten zu schreiben. Am nächsten Morgen konnte er Wolodja gerade noch davon abhalten, auf Shoppingtour zu gehen. Aber einen Klavierstimmer, der bereit war, an einem Sonntag vorbeizukommen, organisierte er.
»Wozu? Wenn es nach oben kommt, muss es sowieso noch mal gestimmt werden«, jammerte Jura.
»Dann holen wir ihn eben noch mal. Deine Arbeit kann doch nicht warten, bis wir oben fertig sind.«
Die Einrichtung des Arbeitszimmers würde laut Wolodja etwa zwei Wochen beanspruchen. Um die Zeit zu überbrücken, fing Jura an, in den Gelben Seiten von Charkiw zu blättern.
Er schrieb Adressen von Tonstudios heraus, Wolodja suchte sie auf der Karte.
»Ich sollte mir die morgen mal ansehen … Kannst du mich in der Stadt absetzen?«
»Natürlich. Wenn du willst, fahren wir zusammen hin.«
»Musst du nicht arbeiten?«
»Ich habe nur einen wichtigen Termin um zwölf. Wenn du so lange wartest, können wir danach zusammen essen und ein paar Möbelläden abklappern.«
»Du bist super!« Begeistert gab Jura Wolodja einen Kuss. »Womit habe ich dich bloß verdient …«
»Glaub mir, du verdienst noch viel mehr«, erwiderte Wolodja und zog Jura zu sich heran.
***
Alles ging schneller und einfacher als gedacht: Schon das zweite Studio entsprach Juras Vorstellungen und Ansprüchen. Der Eigentümer war ein wortkarger langhaariger Typ in Lederjacke und Cowboystiefeln, das Studio-Equipment war erstklassig.
Als Wolodja auf dem Firmenparkplatz hielt, sagte Jura vorsichtshalber: »Deine Mitarbeiter sollten mich wahrscheinlich lieber nicht sehen. Ich warte gerne im Auto.«
»Ich habe nicht vor, dich zu verstecken«, sagte Wolodja bestimmt. »Meine Angestellten geht es nichts an, wen ich ins Büro mitbringe. Vielleicht bist du ja unser neuer Partner.«
»Partner gefällt mir«, grinste Jura und öffnete die Beifahrertür.
In der Lobby begrüßte sie eine zierliche Frau mit Kurzhaarschnitt und trendigem knallrotem Hosenanzug.
Ihre kühle Stimme kam Jura entfernt bekannt vor – wahrscheinlich war sie vergangenen September am Telefon gewesen, als er Wolodja gesucht hatte.
»Das ist Lera, meine Assistentin«, stellte Wolodja vor. »Und das ist mein Freund, ein sehr talentierter Komponist.«
»Jura genügt.« Er gab Lera die Hand. »Wladimir Lwowitsch will mich wohl beauftragen, einen Schlagbohrwalzer für die Firma zu schreiben.«
»Ich glaube, ich habe mal so eine Werbung im Fernsehen gesehen.« Lera lächelte höflich und wandte sich an Wolodja: »Dmitri Wiktorowitsch verspätet sich mal wieder. Ich habe ihn an die Besprechung erinnert, er hat versprochen, sich zu beeilen. Die anderen sind schon im Konferenzraum, sie wirken sehr angetan, dass sich die Führungsetage für ihre Zukunftsvisionen interessiert.«
Wolodja zeigte Jura sein Büro, sagte, er solle sich wie zu Hause fühlen, und ging wieder raus, während er verärgert in sein Handy brummte: »Dima, wie sollen wir ohne den stellvertretenden Direktor die Zukunft des Unternehmens besprechen?«
Jura schaute sich interessiert um. Er erkannte das Bücherregal vom Skypen mit Wolodja. An den Wänden hingen gerahmte Urkunden, Bauskizzen und Fotos. An einem Bild blieb sein Blick hängen: Es zeigte ein Haus wie Wolodjas, aber als Bungalow – gemütlich und perfekt eingebettet in einen Nadelwald. Ein wunderschönes Wochenendhaus.
Es klopfte an der Tür, und Leras Kopf erschien. »Kann ich Ihnen etwas bringen? Tee, Kaffee?«, fragte sie.
»Nein, ich brauche nichts, danke.«
»Wladimir Lwowitsch lässt ausrichten, dass es etwas länger dauert.«
»So viele, die ihre Vision der nebelumwobenen Zukunft präsentieren möchten?«
»Sie sagen es«, lächelte Lera. »Fehlt nur noch die Kristallkugel.«
Und plötzlich kam Jura eine Idee, wie sich Zukunft und Vergangenheit zusammenbringen ließen. »Lera, Sie haben bestimmt ein Portfolio mit Projekten, das Sie mir zeigen könnten …«
»Selbstverständlich, mit Vergnügen«, erwiderte sie.
Fünf Minuten später saßen sie auf der Couch und blätterten in einer großen Mappe. Die Assistentin erläuterte voller Elan die Vorteile von Streifen- und Pfeilerfundamenten, erzählte dann etwas von finnischen oder kanadischen Baugerüsten. Jura hörte aufmerksam zu, aber verstand trotzdem nur Bahnhof. Als Lera gerade begeistert erklärte, warum sie ausschließlich Balken aus Kammertrocknung verwendeten, kam Wolodja herein. Er warf einen misstrauischen Blick auf Lera, dann auf Jura, der etwas überfordert dreinschaute, und grinste: »Ich sehe, ihr habt euch schon kennengelernt …«
***
Um vierzehn Uhr saßen sie in einem chinesischen Restaurant in der Nähe des Botanischen Gartens. Kaum hatten sie bestellt, schlug Wolodja seinen Terminplaner auf. »Ich finde, wir sollten bei den großen Möbeln anfangen …«
Jura sagte: »Lass uns erst über deine Arbeit sprechen. Warum willst du die Schwalbe nicht instand setzen? Du sagst, niemand braucht Pionierlager. Aber was ist mit einem Feriendorf? Du sagst, du müsstest Wald abholzen. Aber diese Pfeilerfundamente kann man selbst im Dschungel aufstellen. Lera hat mir alles genau erklärt.«
»Da hat sie wohl etwas übertrieben, Jura. So einfach ist das nicht …«
»Außerdem«, gab er nicht auf, fest entschlossen, bis zum Sieg zu kämpfen, »habe ich eure Projekte gesehen, sie sind zum Verlieben. Es gibt mindestens fünf Varianten, die sich perfekt für so ein Feriendorf eignen und sich in die Natur einfügen.«
»Jura, ich weiß, dass es dumm und verschroben klingt«, sagte Wolodja leise, »aber die Schwalbe ist mir wichtig, so wie sie ist. Ich will nicht, dass sie verschwindet.«
»Aber sie verschwindet doch schon, sie rottet vor sich hin und versinkt in der Erde. Jetzt, vor deinen Augen. Und nun auch vor meinen – ich kann sie aus dem Fenster meines Arbeitszimmers sehen.«
»Dann soll die Zeit sie zerstören. Aber nicht ich.«
»Dann lass uns das machen. Zusammen. Über das langsame Sterben der Schwalbe scheinst du das Leben zu vergessen. Aber noch ist es nicht vorbei. Lass uns versuchen, dort wieder etwas entstehen zu lassen.«
Wolodja sagte nichts. Er aß schweigend auf und fragte, als sie das Restaurant verließen: »Was genau schlägst du vor, anstatt Möbel shoppen zu gehen?«
»Wir könnten in die Schwalbe fahren und uns vorstellen, wie eure Häuser dort aussehen würden.« Jura holte einen Zettel mit den Modellnamen aus der Hosentasche und zählte auf: »FK-40, FK-60 …«
Zu seiner Überraschung war Wolodja einverstanden.
***
Der Wald war kalt und nass. Eine dünne Schneeschicht bedeckte die Erde, hier und dort bildeten sich bereits dunkle Flecken. Jura und Wolodja liefen die Allee der Pionierhelden entlang und versanken immer wieder knöcheltief im Schlamm.
»Stell dir zum Beispiel anstelle dieser Bruchbude ein modernes Restaurant vor«, sagte Jura und deutete auf die alte Kantine.
»Stell du dir lieber vor, dass man hier alles bis auf die Grundmauern abreißen müsste. Selbst der Fliederbusch, an dem du mich zum ersten Mal geküsst hast, würde ausgegraben und auf den Müll geworfen.«
Wolodja klang so wehmütig, dass sich Juras Herz zusammenzog.
»Lass uns nachsehen, was aus dem Busch geworden ist«, schlug er vor und nahm Wolodjas Hand.
Als sie endlich beim Trafohäuschen ankamen, fanden sie anstelle des einst üppigen Buschs totes Gestrüpp vor.
»Siehst du, die Natur hat dir die Entscheidung abgenommen«, seufzte Jura. »Macht nichts. Dann gibt es eben einen neuen Fliederbusch, neue Häuser und neue Wege. Alles wird neu sein, nur wir bleiben die Alten. Stell dir vor, hier« – er zeigte auf die Überreste der Krankenstation – »könnte ein zweistöckiges Haus mit deinen geliebten Panoramafenstern stehen. Und hier, anstelle des Sportplatzes, ein kleineres, dafür mit Sauna. Vielleicht bekommen auch alle Häuser eine Sauna.«
Anstatt zu antworten, lief Wolodja auf die frühere Baracke von Gruppe fünf zu. Als sie beim alten Karussell Fußabdrücke im Schnee entdeckten, machte Jura ein überraschtes Gesicht.
»Hier treiben sich manchmal Jugendliche herum«, erklärte Wolodja. »Die hiesigen Einwohner pochen schon lange darauf, dass ich das Gelände einzäune.«
»Noch ein Grund, hier für Ordnung zu sorgen. Dieses Gelände ist nichts als eine Ansammlung von Schrott und alten Erinnerungen. Mit deinem stillschweigenden Einverständnis sind hier sowieso schon besoffene Jugendliche. Die haben wohl auch das Klavier in seine Einzelteile zerlegt und das Portnowa-Denkmal mit Graffiti besprüht. Wenn Olga Leonidowna wüsste, was hier mit Staatseigentum passiert, würde sie dich einen Kopf kürzer machen!«
»Wie kommst du denn auf die?!«, lachte Wolodja.
»Du zwingst mich förmlich, die Autorität dieser Hexe heraufzubeschwören.«
»Sind wir etwa schon bei Drohungen?« Wolodja zog eine belustigte Grimasse. »Gut, da muss ich wirklich was unternehmen. Aber du fährst bald weg und lässt mich alleine mit meiner Baustelle …«
Sein Atem blieb als Wölkchen in der Luft hängen. Jura schmiegte sich an ihn und sagte nichts.
»Und das kostet Geld, viel Geld«, fuhr Wolodja fort. »Alles abreißen, wegschaffen, eine neue Straße verlegen … Ich muss einen Investor finden.«
Als würde er im Kopf schon Kostenpläne aufstellen, runzelte Wolodja die Stirn, und die Kerbe zwischen seinen Augenbrauen kam wieder zum Vorschein. Jura berührte das geliebte Gesicht und flüsterte: »Dann finde einen.«
»Ich werde gleich morgen jemanden zum Vermessen kommen lassen. Dann ist es hier vorbei mit der Ruhe.«
Jura nickte und lächelte: »Wir sollten die letzten ruhigen Stunden gut nutzen.«
»Was schlägst du vor?«
»Auf der Stelle das Versäumte nachholen. Ich will dich in jeder Ecke dieses verdammten Lagers umarmen und küssen, überall, wo ich mich früher beherrschen musste. Endlich kann ich tun und lassen, was ich will, und niemand wird mich davon abhalten. Nicht einmal du!«
Und sie küssten sich. Erst auf dem Löwenzahnfeld, auf dem sie gerade standen. Dann am Trafohäuschen, an dem sie sich zum ersten Mal umarmt hatten. Jura flüsterte: »Wehe, du stößt mich wieder weg!«
»Niemals …«
Dann standen sie auf dem schneeverwehten Appellplatz, am Portnowa-Denkmal.
»Hier!«, kommandierte Jura vor dem Fahnenmast und flüsterte in Wolodjas Lippen: »Schließ die Augen und denk an damals. Die Ferien sind vorbei, der Bus ist weg, und ich mit ihm. Du kommst her, lässt die Fahne herunter, um sie in die Wäscherei zu bringen … Und als du dich umdrehst, stehe ich plötzlich vor dir. Ich bin zurückgekommen und falle über dich her.«
»Und hinter uns steht die Leonidowna und bekommt einen Herzinfarkt?«
»Genau!«
Die Stufen am Theatersaal knarzten, als sie hinaufgingen, die Tür, die nur an einem Scharnier hing, fiel mit einem Krachen endgültig ab. Jura schubste Wolodja sanft in einen Zuschauersitz und hockte sich auf seinen Schoß. Ihre Küsse wurden leidenschaftlicher. Als Jura Wolodjas kühle Hände unter seinem Pullover spürte, flüsterte er: »Nostalgie hin oder her, aber wir sind doch keine achtzehn mehr … Wir holen uns noch einen Hexenschuss …«
Wolodja ließ lachend von ihm ab und sagte: »Gut, dann nichts wie nach Hause.«
Sie ließen das alte Theater, die Allee der Pionierhelden hinter sich, liefen durchs Tor und stiegen ins Auto.
Im Flur streiften sie ihre Jacken ab, wankten eng umschlungen ins Schlafzimmer, Jura stieß Wolodja aufs Bett und beugte sich über ihn. Für die nächsten Stunden war der Umbau der Schwalbe vergessen. Erst nach Mitternacht, als Jura erschöpft und glücklich einen Arm vom Bett baumeln ließ und Gerdas Nacken kraulte, nahm Wolodja seinen Planer wieder in die Hand und setzte sich hin.
»Zweifelst du immer noch?«, fragte Jura leise.
»Ja …«, erwiderte Wolodja, den Blick zum Fenster gerichtet. Die Dunkelheit verschluckte alles, was dahinter lag: den Garten, die Trauerweide, das Ferienlager.
»Hören wir auf, in der Vergangenheit zu leben. Lass los. Ich bin nicht dort, Liebster, ich bin hier. Und du bist auch hier, bei mir.«
Wolodja wandte sich ihm zu und lächelte sanft. Dann streckte er sich aus, schmiegte den Kopf an Juras Brust, der seinen Arm um ihn legte. Mit dem anderen schaltete er das Licht aus und döste bereits weg, als er Wolodja leise flüstern hörte: »Ich lasse los.«
***
Die nächsten zwei Wochen verbrachte Jura im Spagat zwischen der Einrichtung des Büros und seinen Kompositionen. Morgens fuhr er ins Studio, suchte nachmittags Möbel und Tapeten aus und delegierte dann zu Hause die Möbelpacker. Sobald er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, setzte er sich wieder an den Laptop oder ans Klavier und arbeitete, bis Wolodja aus dem Büro kam.
So durchgetaktet war Juras Leben lange nicht mehr gewesen. Er fühlte sich ausgelaugt, aber gab alles, um die Deadlines zu schaffen. Sobald ein Auftrag abgegeben war, wartete bereits der nächste.
Auch an diesem Abend kochte sich Jura einen starken Kaffee und vertiefte sich so in die Arbeit, dass er nicht bemerkte, wie Wolodja nach Hause kam.
»Ist es nicht etwas zu spät für Kaffee?«, fragte der und streifte sein Sakko ab.
»Glaub mir, ich bin so erledigt, da helfen auch zehn Liter nicht.«
»Du Ärmster …« Wolodja tätschelte ihm mitfühlend den Kopf. »Bald ist es geschafft. Wie ich sehe, ist das Klavier nach oben gewandert?«
»Ja. Die Tapeten sind getrocknet, und die letzten Möbel wurden heute geliefert. Jetzt steht alles voller Kisten, man kann sich kaum bewegen.«
»Morgen ist Samstag, dann bauen wir auf. Tut mir leid, dass du alles alleine machen musst. Ich versuche immer, früher Feierabend zu machen, aber es kommt ständig was dazwischen.«
»Schon okay, das verstehe ich. Gibt es Neuigkeiten von der Schwalbe?«
»Alles unverändert. Und bei dir? Benehmen sich die Arbeiter?«
»Ja. Nur dass sie mich wie ein exotisches Tier beäugen.«
»Warum denn das?«
»Wahrscheinlich irritiert sie mein Akzent. Hab ich einen? So lange, wie ich in Deutschland lebe, würde es mich nicht wundern.« Jura zuckte mit den Schultern und winkte ab. »Lass uns Pizza bestellen und einen Film schauen.«
»Ich könnte auch was kochen …«
»Wolodja, dein Brathähnchen ist grandios, ehrlich, aber ich brauche Käse.«
»Ist ja gut, du bekommst deine Pizza.«
»Und ein Gläschen Rum?«
»Und ein Gläschen Rum«, nickte Wolodja.
»Wundervoll! Gib mir noch eine halbe Stunde mit meinem Gedudel, dann gehöre ich ganz dir.«
Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie mit Pizza auf der Couch und verfolgten, wie die anfänglich so knisternde Beziehung der beiden Helden von Minute zu Minute den Bach hinunterging. Der Film gefiel ihnen beiden nicht. Am Anfang war Jura einfach nur genervt, doch gegen Ende machte sich eine unbestimmte Unruhe in ihm breit.
Wolodja machte den Fernseher aus und brummte: »Das soll ein Psychothriller sein? Wohl eher eine Tragödie. Was will uns der Autor damit sagen? Dass es keine Hoffnung gibt und nichts für die Ewigkeit ist? Warum dreht man solche Filme? Damit die Leute depressiv werden?«
Jura lächelte missmutig und sagte: »Manchmal denke ich, dass alles Gute in meinem Leben nur dazu da ist, damit ich es irgendwann wieder verliere. Besser gesagt zerstöre. Einfach so, aus Versehen.«
»Da siehst du, was dieser Film anrichtet. Willst du darüber reden?«
»Na ja, meine letzte richtige Beziehung ist so lange her, dass ich vergessen habe, wie das ist, nicht alleine zu sein. Dafür weiß ich aber umso genauer, wie viel Kraft und Energie ich hineinstecken musste. Und welche Leere die Trennung in mir hinterlassen hat.«
»Hast du Angst, ich könnte dich verletzen?«
Angst hatte Jura vor etwas anderem: vor dem Moment, wenn die Gefühle abklingen und an ihre Stelle dumpfe Gleichgültigkeit tritt. Aber er antwortete: »Ich glaube, ich habe nie gelernt, wie man eine Beziehung richtig angeht.«
»Das weiß ich garantiert noch weniger als du. Die Geschichte mit Sweta und den Fehlgriff mit Igor kann man wohl kaum als Beziehung bezeichnen. Vielleicht müssen wir es zusammen lernen.«
»Müssen wir wohl.« Jura lächelte. »Und morgen suche ich den Film aus.«
Doch am nächsten Tag war vor lauter Kistenauspacken und Möbelaufbauen nicht an Entspannung zu denken. Bis sie sämtliche Geräte angeschlossen hatten, war es schon Mitternacht, und nach einem schnellen Abendessen konnte Jura nur noch todmüde ins Bett fallen.
Am nächsten Morgen stürmte er gleich nach dem Aufwachen nach oben, um die Früchte ihrer Arbeit zu bestaunen.
Wolodja kam mit zwei Tassen Kaffee hinterher. »Na, glücklich?«
»Ja.« Jura nahm einen Schluck. »Ganz anders als bei mir zu Hause, aber sehr schön.«
Das war nicht gelogen, auch wenn er so viel Platz nicht gewohnt war.
»Jetzt kann ich endlich im Zimmer auf und ab gehen wie ein verrücktes Genie, das sein nächstes Meisterwerk ausbrütet. Wir bringen noch ein bisschen Farbe rein – eine bunte Decke fürs Sofa, ein Bild über dem Schreibtisch …«
»Wollen wir gleich einkaufen fahren?«
»Bitte nicht heute. Ich würde am liebsten den ganzen Tag im Bett verbringen, aber leider muss ich komponieren.«
»Und heute Abend stoßen wir auf dein neues Arbeitszimmer an? Ich wollte dich eigentlich zum Essen einladen, aber wenn du lieber zu Hause bleibst, könnte ich was zum Grillen besorgen. Und eine Flasche Rum.«
Jura gab ihm freudestrahlend einen Kuss auf die Wange. »Du bist der Beste!«
Zwei Stunden später stand Jura vom Klavier auf und ging auf den Balkon. Der Werbejingle für die Luxusschokolade wollte und wollte nicht gelingen, der Auftrag kostete ihn den letzten Nerv. In das beschwingte Motiv drängte sich immer wieder die Melodie aus Dachau. Die schwere, düstere Musik ließ ihn einfach nicht los. Sobald seine Konzentration nachließ, wurde sie lauter und schien ihn zu verhöhnen: Du verschwendest deine Energie für Nichtigkeiten, während etwas Großes auf dich wartet.
»Ich weiß doch, quäl mich nicht«, flehte Jura den unsichtbaren Mahner an. »Lass mir etwas Zeit, bis ich die Arbeit erledigt habe …«
Er zündete sich eine Zigarette an und beobachtete das Treiben im Garten. Wolodja stand am Grill und fächelte die Holzkohle an, während Gerda sich mit unschuldigem Blick an die Schüssel mit dem Fleisch heranpirschte.
»Achtung, Dieb auf drei Uhr!«, rief Jura grinsend.
»Gerda, aus!«, kommandierte Wolodja, dann blickte er hoch und rief: »Immer das Gleiche mit ihr … Jura, zieh dir was an, du holst dir noch den Tod!«
»Ich geh ja schon rein«, log der.
Während er die letzten Züge inhalierte, blieb sein Blick an dem nackten Fahnenmast in der Ferne hängen. Das Feuer im Grill spie einen Funkenregen in die Luft und brachte Erinnerungen an ein anderes Feuer zurück – ein großes Lagerfeuer, dessen Flammenzungen den Sternenhimmel leckten. Dann dachte er an die Nacht danach, an die zwei Jungs, die einander unter Tränen das Versprechen geben, sich irgendwann wiederzusehen.
Er blickte wieder zu Wolodja hinunter, der sich hatte erweichen lassen: Gerda nagte zufrieden an einem Knochen. Jura lächelte. Hätten sich diese zwei Jungs unter der Trauerweide jemals vorstellen können, dass sie nach zwanzig Jahren wieder zusammen sein würden, hier an diesem Ort? Älter und vom Leben gezeichnet, aber in Liebe vereint.
Das pure Glück ließ Juras Herz höher springen, er merkte selbst nicht, wie er wieder ans Klavier gelangt war. Seine Finger spielten eine zarte Melodie, klar wie ein wolkenloser Himmel. Sie passte nicht zu dem Motiv aus Dachau und schon gar nicht zu seinem Werbetrack, aber dafür war sie wie geschaffen für die Querflötenstimme, die Jura kürzlich in den Sinn gekommen war. Er notierte die Noten in sein Heft und überlegte, worum es in dieser Melodie ging. War es die erfüllte Hoffnung? Und während er das flüchtige und doch so lebendige Stück wieder und wieder spielte, wurde ihm plötzlich klar, dass er keine Minute länger arbeiten wollte.
Er beschloss, dass die Werbung bis morgen warten konnte, zog sich eilig an und ging in den Garten, wo er Wolodja von hinten umarmte und seine Nase in dessen Haar vergrub.
»Schon fertig?«, fragte Wolodja überrascht.
»Nein, ich komme irgendwie nicht weiter. Aber egal, ich will die Zeit lieber mit dir verbringen. Der Abschied kommt noch schnell genug.«
Wolodja drehte sich um und nahm Juras Gesicht in seine Hände. »Kopf hoch, wir haben noch ganze sechs Wochen. Und wenn du dich an die neue Umgebung gewöhnt hast, läuft die Arbeit wie von selbst.«
»Ja. Wenn ich mich nicht dauernd ablenken lassen würde … Apropos, es duftet herrlich.«
»Hunger?«
»Und wie.« Er reckte sich nach einem Kuss, aber da bellte Gerda mit hungrigem Blick das brutzelnde Fleisch an.
»Der Timer hat geklingelt. Ich muss mal kurz das Fleisch umdrehen.« Wolodja küsste Jura auf die Stirn, wandte sich dem Grill zu und sagte über die Schulter: »Ich habe immer davon geträumt, hinter diesem hohen Zaun mit jemandem zu leben, den ich wirklich liebe. Aber selbst in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht vorstellen können, dass dieser Jemand du sein würdest.«
»Musst du dich immer noch verstecken?«
»Ich mag mich verändert haben, aber diese Notwendigkeit wird leider immer bestehen. Jenseits des Zauns ist die Wirklichkeit, und die ist gefährlich.«
»Du hast recht, aber verglichen mit der Wirklichkeit vor zwanzig Jahren … Langsam, aber stetig verändert sich doch was.«
Als er die Flasche entkorkte, musste er plötzlich an Jonas denken. Ein banger Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Irgendwann war ich mir wie jetzt ganz sicher, dass unsere Beziehung ewig hält. Und wie hat alles geendet?
Sie stießen an, Wolodja sprach einen Toast: »Auch wenn du nicht für immer hierbleiben kannst, möchte ich, dass du dich nicht als Gast, sondern als vollwertiges Mitglied dieser Familie fühlst, Jura. Du sollst wissen: Dieses Haus ist auch dein Haus.«
Kapitel 2
Der neonfarbene Strudel Berlins
Mai 1993
Als Jura die bleischweren Lider aufschlug, sah er einen Regenbogen. Er brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass er nicht im Himmel war, sondern auf einen LGBT-Banner schaute und das Weiche keine Wolke war, sondern ein sehr gemütliches Bett. Nur nicht sein eigenes.
Auf die Frage: »Wo bin ich?« antwortete sein Kopf mit einem verkaterten Dröhnen. Jura drehte sich auf die Seite und blickte auf einen blonden Nacken, und als er den Blick tiefer wandern ließ, sah er einen muttermalübersäten Rücken und eine nackte Pobacke, die unter der Bettdecke hervorlugte. Der feinherbe Geruch von Rasierwasser drang in seine Nase, und Erinnerungen an den gestrigen Abend drängten sich bruchstückhaft in seinen Kopf.
Eine Bar in der Motzstraße, die Jura im festen Vorhaben aufsuchte, sich zu betrinken. Nachdem zwei große Biere nicht ausgereicht hatten, um die Kränkung und den Schmerz in seiner Brust zu besänftigen, bestellte er Shots. Beim dritten Tequila tauchte plötzlich aus dem Nichts Jonas auf, der LGBT-Aktivist, mit dem er vor einigen Monaten ein Aufgebot beim Standesamt bestellt hatte – nicht weil sie wirklich wirklich heiraten wollten, sondern um die Berliner Beamten auf die Palme zu bringen. Damals war ihm nichts Anziehendes an Jonas aufgefallen, aber in der Kneipe, unter dem Einfluss des Alkohols, blieb Juras Blick an dessen kantigem Profil hängen, das ihm merkwürdig vertraut vorkam; die grauen Augen betrachteten ihn im Gegenzug interessiert, die Lippen bildeten eine schmale Linie, als würden sie etwas zurückhalten.
Jura dagegen war längst egal, was er preisgab. Er stürzte den vierten Tequila herunter. »Ich dachte, wir lieben uns, verstehst du? Ich habe bis zuletzt auf ein Lebenszeichen von ihm gehofft … Heute habe ich von einem Nachbarn erfahren, dass Wolodja wirklich in Charkiw war, aber nur um seine Briefe abzuholen. Er hat keine Adresse hinterlassen, also will er wohl nicht, dass ich ihm schreibe. Er hat sich gegen mich entschieden und beschlossen, zu vergessen, was zwischen uns war …«
Nicht nur, dass Jura sich kaum auf den Beinen halten konnte, er trug seinen Monolog auch in gebrochenem Deutsch vor, mit russischen und ukrainischen Einsprengseln. Vermutlich verstand Jonas nur die Hälfte, trotzdem nickte er mitfühlend, und am Ende tätschelte er ihm sogar tröstend den Kopf und bestellte noch zwei Shots.
Je höher der Promilleanteil im Blut war, desto unzusammenhängender wurden die Ereignisse. Die neonfarbenen Lichter der Motzstraße verschwammen zu einer einzigen bunten Girlande, als Jonas ihn an der Hand hinter sich herzog. Plötzlich waren sie umringt von einer Traube laut lachender junger Menschen, und Jonas sagte: »Darf ich vorstellen, das ist Jura, mein Ehemann!«
Jura trank von seinem Bier – wo kam das auf einmal her? – und spielte mit: »Die Flitterwochen verbringen wir in Australien, bei den Schnabeltieren!«
Im nächsten Moment sah Jura sich vor einem Späti stehen und Jonas dabei zuschauen, wie er fluchend eine Weinflasche mithilfe eines Taschenmessers zu entkorken versuchte. Dann zogen sie weiter durch Straßen voller Graffiti.
Jonas schien die Geschichte jeden Gebäudes zu kennen. Immer wieder blieb er stehen, um eine historische Anekdote zu erzählen, aber Jura erinnerte sich nur an den Namen Eldorado, irgendetwas von den Goldenen Zwanzigern und lockeren Sitten. Der Rest des Abends zerfiel in einzelne Fragmente: der Sternenhimmel, der durch die Baumkronen eines Parks schimmerte, das Plätschern von Wasser gegen Beton, eine wärmende Umarmung, das Klirren der leeren Weinflasche, die über den Asphalt kullerte, der Duft von feinherbem Rasierwasser und ein zurückhaltender Kuss, den Jura selbst provoziert hatte.
Und jetzt lag er im Bett dieses halb nackten Unbekannten. Durch das Dröhnen in seinem Kopf drängte sich plötzlich ein Gedanke, der ihm mit einem heißen schamvollen Schauer durch Mark und Bein ging: Ich habe Wolodja verraten! Aber dann fiel ihm wieder ein, was Schurik geschrieben hatte: »… hat keine Adresse hinterlassen, nur seine Post abgeholt.«
Nein, niemand hatte irgendjemanden verraten, das Band zwischen ihm und dem Menschen, den er von ganzem Herzen liebte, war gerissen. Er hatte jedes Recht, hier zu sein.
Plötzlich hörte er ein ohrenbetäubendes metallisches Scheppern, als würde jemand eine E-Gitarre aufheulen lassen, dann folgte ein grollendes Klopfen. Direkt vor dem Fenster raste ein Zug vorbei. Der Mann neben Jura streckte sich gähnend, drehte sich zu ihm und grinste, als er Juras erschrockenes Gesicht sah. Er streckte seine Hand aus und berührte die Falte zwischen Juras Augenbrauen, als würde er sie glatt streichen wollen.
»Na, leicht verkatert?« Er schob eine Strähne von Juras schulterlangem Haar hinter dessen Ohr. »Gut geschlafen?«
»Keine Ahnung«, brummte Jura. Dann lief er rot an und fragte: »Hatten wir … Hatten wir was heute Nacht?«
Jonas lachte: »Du hast es nicht gebracht. Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so schnell eingeschlafen ist.«
»Verstehe.« Jura atmete erleichtert aus.
Jonas rückte näher an Jura heran, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Sag Bescheid, wenn du eine Fortsetzung willst. Wir sehen uns doch wieder, oder?«
Jura konnte es kaum glauben. Mussten sie nicht erst lange nach den richtigen Worten suchen und sich zu beweisen versuchen, dass die Anziehung zwischen ihnen nicht pervers, keine Krankheit war? Brauchte es keine fünf Jahre voller verschlüsselter, als platonisch getarnter Briefe, nur um ein einziges Wiedersehen zu erbetteln?
»Dürfen wir das denn?«, fragte er.
»Wer soll es uns verbieten?«
So entdeckte Jura Berlin für sich.
In den fast zwei Jahren, die er mit seinen Eltern in Oranienburg lebte, war er immer nur für die Vorlesungen in die Hauptstadt gefahren. Jetzt blieb er nach der Uni oft länger, traf sich mit Jonas in der Motzstraße, lernte nach und nach dessen großen Freundeskreis kennen. Manchmal holte Jonas ihn am Konservatorium ab, und sie gingen spazieren. Im Sommer schlenderten sie lange ziellos durch die Straßen, im Winter fuhren sie mit der S-Bahn und schauten sich die Stadt aus dem Fenster an. Jonas zeigte Jura ein Berlin abseits der üblichen Touristenpfade. Sie streiften zwischen DDR-Plattenbauten umher, tranken Wein aus der Flasche am steinernen Ufer der Spree und in dunklen Parks am Rande der Stadt. Jonas nahm mitten auf der Straße Juras Hand, küsste ihn ungeniert auf den Mund, ob unter dem Brandenburger Tor, vor dem Reichstagsgebäude, auf Plätzen oder in Museen. Er bestand auf seinem Recht zu lieben, wen er wollte, und stritt sich mit denen, die es wagten, das in Frage zu stellen. Jura, der mit jedem Tag ein Stückchen mehr von dieser Freiheit in sich aufsaugte, vergaß allmählich die Welt der Verbote, in der er vor Kurzem noch gelebt hatte. Und damit den Menschen, den er in jener Welt zurückgelassen hatte.
Jura übernachtete oft bei Jonas, schlief unter dem Dröhnen der Züge ein und wachte dazu auf. Die winzige Wohnung war vollgestopft mit Büchern: von Klassikern bis hin zu neuester Literatur, von philosophischen Abhandlungen bis hin zu Zeitschriften über Genderforschung. An den Wänden hingen aktivistische Plakate, Flaggen und außerdem Fotos von Städten in Deutschland. Stundenlang lagen sie auf dem großen weichen Sofa, das das ganze Wohnzimmer in Beschlag nahm, und redeten über Geschichte und Politik, die LGBT-Community, über Freiheit und Gleichberechtigung. Meist redete Jonas, während Jura nur hin und wieder einen Kommentar einstreute. Aber einmal, an einem Winterabend, als ein Schneesturm durch Berlin fegte, nahm er seinen Mut zusammen und äußerte Kritik: »Ich habe das Gefühl, dass die Community nur ein paarmal die Woche wirklich vereint ist, wenn wir uns auf ein Bier in der Bar treffen. Ja, in der Motzstraße muss man sich für nichts schämen, aber wo bleibt unsere Offenheit am nächsten Morgen? Wir zerstreuen uns in alle Himmelsrichtungen und verlieren uns in der grauen Masse. Wir lösen uns auf hinter Supermarktkassen, in Großraumbüros und Fabriken. Verstehst du, was ich meine?«
»Klar, aber nur weil man etwas nicht sieht, heißt es nicht, dass es nicht da ist. Die meisten von uns sind Mitglieder in verschiedenen Organisationen und tragen ihren Teil zum Kampf gegen die Diskriminierung bei.«
»Aber sie ist immer noch da. Genau wie Paragraf 175.«
»Echte Gleichberechtigung kann man nur erreichen, wenn man in die Politik geht …«
»Dann musst du in die Politik!«
»Ich? Traust du mir das zu?«
»Wem, wenn nicht dir? Immerhin machst du nächstes Jahr deinen Abschluss in Jura.«
Jonas rückte näher an Jura heran und legte den Kopf auf seine Schulter. »Ich habe mich nicht getäuscht bei der Partnerwahl. Du glaubst an mich.«
»Und ich dachte, du hast dich für mich entschieden, weil du mich liebst …« Jura machte einen Schmollmund.
»Natürlich liebe ich dich.« Jonas stupste seine Nase an Juras Ohr. »Sag mal, willst du nicht bei mir einziehen? Es ist so schön mit dir, ich hätte dich gerne öfter bei mir als zweimal die Woche …«
Jura seufzte. »Das ist sehr verlockend, aber ich muss üben, und für ein Klavier ist hier kein Platz. Meine Mutter würde sowieso nicht zulassen, dass ich es mitnehme, sie hängt so an unseren alten Sachen. Ich spare für ein Keyboard, aber die guten sind teuer.«
»Dann zieh zu mir, sobald du kannst, versprich es mir …«
»Versprochen.« Jura tätschelte Jonas den Kopf.
Aber das Keyboard war nicht der Grund, Jura hatte das Geld schon fast zusammen. Seine Zweifel gingen tiefer. Jonas schien ihn wirklich zu lieben, aber was ihn selbst anging, hatte er das Gefühl, dass er sich von einem Strom hatte mitreißen lassen und zufällig bei Jonas hängen geblieben war. Und jetzt trieben sie eben zusammen weiter. Ja, sie hatten Spaß miteinander, auch im Bett. Doch nach den gemeinsamen Nächten ging Jura nach Hause, schloss sich in seinem Zimmerchen im Obergeschoss ein, setzte sich ans Klavier und dachte an einen anderen Mann.
Jura hatte schon in Charkiw eigene Musik geschrieben und knüpfte jetzt daran an. Bisher kamen nur einzelne, unzusammenhängende Fragmente dabei heraus, aber er brachte sie trotzdem zu Papier und versteckte die Noten ganz weit hinten in der Schreibtischschublade, damit seine Mutter sie nicht fand.
Als er ihr einmal etwas vorgespielt hatte, war Jura auf Unverständnis gestoßen. Seine Mutter hielt das Komponieren für verschwendete Zeit, die er lieber ins Lernen und Klavierüben investieren sollte, am besten fünf Stunden am Tag.
Auf Juras Wunsch, ein Keyboard zu kaufen, reagierte sie empört. »Du willst ein echtes Musikinstrument durch ein elektronisches Spielzeug ersetzen?«
Und als Jura seiner Mutter eröffnete, dass er lieber Komposition studieren wollte, war das in ihren Augen Hochverrat.
»Dazu hast du kein Recht«, schimpfte sie. »Du hast es deiner Großmutter versprochen. Dein Talent ist Großvaters Vermächtnis, du bist verpflichtet, Pianist zu werden.«
Aber mit jedem Tag zehrte das Studium mehr an ihm. Jura leugnete keineswegs die Größe der Komponisten, deren Werke er spielte, und konnte vollkommen darin aufgehen. Aber er wollte nicht nur wiederkäuen, er wollte erschaffen.
Vielleicht tat sich seine Mutter auch einfach schwer damit, dass Jura jetzt erwachsen war, ein vierundzwanzigjähriger junger Mann. Schließlich einigten sie sich auf einen Kompromiss: Er belegte Dirigieren im Nebenfach. Dem Komponieren widmete sich Jura von nun an heimlich im Selbststudium.
Die Fachliteratur definierte Komposition als Vermittlung von Gefühlen mittels Musik; die Fähigkeit, den Zuhörenden darin eintauchen zu lassen. Das klang einfach und verständlich, doch in der Praxis war alles viel komplizierter. Denn bevor man seine Gefühle durch Musik ausdrücken konnte, musste man sie erst selbst verstehen. Und genau da lag das Problem: Die Gefühle, die Jura inspirierten, waren genau die, die er sich verbot.
Dabei musste er nur die Augen schließen und an den Sommer 1986 denken, und schon flogen seine Finger über die Tasten. Es war, als würde er Wolodja zum ersten Mal sehen, sich zum ersten Mal bewusst werden, dass er mehr will, als nur mit ihm befreundet sein. Wenn er ihn in seinen Tagträumen küsste, roch er den Duft von Äpfeln und Flieder, wenn er ihn umarmte, hörte er das Flusswasser plätschern und die Zweige ihrer Trauerweide rascheln. Im Geiste schrieb er wieder Briefe, erhoffte sich ein Wiedersehen.
Die Musik schien nicht aus dem Instrument, sondern direkt aus seinem Herzen zu fließen; er hörte nicht nur das Klavier, sondern golden schimmernde Glöckchenklänge, flirrende Flötenläufe. Jura kam manchmal gar nicht hinterher mit dem Aufschreiben, und wenn er das Notierte später noch mal spielte, war er zufrieden mit sich. Die Kompositionen klangen nicht schlecht, auch wenn es ihnen an Kunstfertigkeit fehlte. Schade nur, dass sie alle von Wolodja handelten. Jedes Mal, wenn Jura versuchte, sich von Jonas inspirieren zu lassen, klang es falsch und oberflächlich.
Das machte ihn wütend; am liebsten wollte er die Erinnerungen aus seinem Kopf verbannen und lernen, Jonas mit der gleichen Inbrunst zu lieben wie einst Wolodja. Außerdem setzten ihm die Konflikte mit seiner Mutter so sehr zu, dass er schließlich beschloss, endlich nach Berlin zu ziehen.
Seinen Eltern log er vor, er würde sich die Wohnung mit einem Kommilitonen teilen.
»Du bist doch gar nicht in der Lage, ein selbstständiges Leben zu führen«, musste er sich von seiner Mutter anhören. »In ein paar Monaten stehst du sowieso wieder vor der Tür. Ilja, sag du doch auch mal was«, forderte sie Juras Vater auf.
Aber der zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und sagte, ohne die Zeitung wegzulegen: »Lass den Jungen in Ruhe. Er soll machen, was er will.«
Zur Feier von Juras Einzug veranstaltete Jonas ein romantisches Dinner bei Kerzenschein: Es gab Pasta mit Meeresfrüchten und teuren Weißwein aus zwei nigelnagelneuen verschnörkelten Weingläsern.
»Auf viele glückliche Abende in seliger Zweisamkeit!«, prostete er Jura zu.
»Ich fühle mich wie eine Braut«, scherzte Jura. »Wo ist mein Schleier?«
Aber Jonas reagierte überraschend ernst: »Die Gesetze werden immer liberaler, du weißt, dass sie endlich den Paragrafen 175 abgeschafft haben. Die Jungs aus der Community sind da sehr aktiv. Ich möchte mit ihnen zusammen dafür kämpfen, dass wir irgendwann wirklich heiraten könnten.«
Trotz der Vorbehalte seiner Mutter fand Jura schnell Gefallen an der neu erworbenen Selbstständigkeit. Er schrieb Einkaufslisten und ging mit Jonas auf den Markt, plante die nächste Woche und organisierte den gemeinsamen Alltag. Jonas war ein leidenschaftlicher Koch, aber wenn Jura die deutsche Kost satthatte, stellte er sich selbst an den Herd. Er kochte Borschtsch, bastelte Teigtaschen und versuchte sich sogar an ukrainischen Kohlrouladen, aber das Aufräumen dauerte am Ende länger als das Kochen selbst.
Am schönsten waren die Sonntage: Sie frühstückten bis zum Mittag und redeten dabei über Gott und die Welt. Danach unternahmen sie lange Spaziergänge oder gingen mit Freunden feiern. Außerdem lernte Jura Jonas’ Minibar zu schätzen: Abends mixten sie sich Drinks und versackten beim Filmschauen. In den Nächten ging es leidenschaftlich zu; Jura lernte viel von Jonas. Eines Tages, als er wieder einmal glücklich und erschöpft in dessen Armen einschlief, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er Jonas allmählich wirklich zu lieben begann.
Nur einen einzigen Makel hatte die Idylle: In der winzigen Wohnung wurde das Musizieren zur Qual. Das Keyboard, das sich Jura endlich gekauft hatte, stand in die Schlafzimmerecke gequetscht, direkt vor dem Fenster, hinter dem die Bahn vorbeidröhnte. Außerdem kamen sie fast immer gleichzeitig nach Hause, Jonas von der Uni und Jura aus dem Konservatorium. Jura konnte nie wirklich ungestört spielen; ständig kam Jonas herein und wollte etwas wissen, und manchmal legte er sich sogar aufs Bett und schaute zu. Wie sollte man sich da konzentrieren?
Ich werde mich schon daran gewöhnen, beruhigte sich Jura. Und in ein paar Jahren habe ich sowieso meinen Abschluss …
Nach dem Studium würde er Geld verdienen und ein eigenes Studio mieten. Und bis dahin übte er eben nach den Vorlesungen an der Uni und fuhr samstags zu seinen Eltern nach Oranienburg, wo in seinem alten Zimmer das Klavier stand.
Der Spagat war anstrengend, er fühlte sich zerrissen zwischen seiner Musik und Jonas. Aber für das Gefühl, geliebt zu werden und selbst zu lieben, war er bereit, Kompromisse einzugehen.
Kapitel 3
Der düstere Klang der Vergangenheit
Februar 2007
Beim Abendessen, das sie wie immer gemeinsam zubereiteten, berichtete Wolodja: »Ich habe heute einen potenziellen Investor getroffen, aber es passt leider nicht. Er ist auf Shoppingmalls spezialisiert, eine Vorstadtsiedlung ist nichts für ihn. Aber er fand unsere Idee gut und sagte, er kennt eventuell jemanden, der so ein Projekt finanzieren könnte. Mal sehen, was draus wird. Und du, woran hast du gearbeitet?«
»An der Serie. Es nervt. Die Produktionsfirma drängt, obwohl der Erscheinungstermin noch ewig weit weg ist. Der Regisseur hält wohl ziemlich viel von sich, aber der Plot ist gelinde gesagt alles andere als ein Geniestreich. Typische Hausfrauenunterhaltung. Und der Soundtrack soll genauso werden: sentimentales Gejaule.«
»Immerhin spannender als ein Werbeclip, oder?«
Jura verzog das Gesicht. »Ach, es ist alles dasselbe. Belangloses Zeug. Lenkt nur von dem wirklich Wichtigen ab. Im Moment treiben mich zwei wunderschöne Melodien um, aber ich kann mich ihnen nicht voll und ganz widmen.«
»Warum nicht? Wirf alles hin und konzentriere dich auf dein Werk. Mein Geld reicht für uns beide.«
»Das Problem ist weniger das Geld, sondern vielmehr die Reputation. Ein Werk muss den Weg zu seinen Hörern finden, aber wie stellt man das an, wenn man als Komponist völlig unbekannt ist?«
»Jetzt übertreibst du. Du warst doch sogar auf Tournee?«
Jura winkte ab. »Das war nur Jürgens Beziehungen zu verdanken. Die Musik stammte auch größtenteils von ihm. Wir haben übrigens heute telefoniert, Jürgen kennt einen Regisseur, der einen Komponisten für eine Theaterproduktion sucht. Bulgakows Der Meister und Margarita in moderner Interpretation, es soll auch eine große Deutschlandtournee geben. Er will, dass ich mich bewerbe.«