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"Weil auch in diesen Zeiten irgendwer das Richtige tun muss, einfach, weil es richtig ist." April, 1945. Alle spüren, dass der Krieg und die fürchterliche Ideologie der Nationalsozialisten kurz vor dem Ende stehen. Doch in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945, drei Tage vor Hitlers Selbstmord, ereignet sich das dunkelste Kapitel der damals noch jungen Stadt Penzberg in Bayern. Denn während der einst von den Nazis abgesetzte Bürgermeister zurück ins Rathaus zieht, erlässt die Wehrmacht den Befehl, alle Widerständler sofort hinzurichten. Und zwischen allen Fronten stehen die Jugendlichen Marie, Schorch und Gustl.
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Eine bayerische Kleinstadt, wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs:
»Sebastian Reithofer fragt nicht, warum der Clemens das tut, der Clemens fragt sich auch nicht. Weil es richtig ist. Weil auch in diesen Zeiten irgendwer das Richtige tun muss, einfach weil es richtig ist.«
»Solange uns diese Taten im Gedächtnis bleiben, solange wir nicht vergessen, was alles an Unvorstellbarem möglich ist, sehen wir mit einem anderen Blick auch auf das, was heute geschieht, und treffen Entscheidungen vor diesem Hintergrund anders, vorsichtiger, vielleicht sogar menschlicher.«
KIRSTEN BOIE
Sagen wir, es ist Vollmond? Aprilmond, fast schon Maimond, langsam schiebt sich eine Wolke vor das beinahe perfekte Rund. Ja, lasst uns den Vollmond wählen, in der folgenden Nacht können wir ihn brauchen. Auch Mord braucht Licht.
Jetzt aber, in dieser Nacht, sehen wir nur zwei im Mondschatten des Rathauses, einen Schritt auseinander, immer noch, obwohl sie doch schon länger so stehen.
»Sie sagen, die Amerikaner sind vielleicht morgen schon da!«, sagt das Mädchen. So wie sie ihn ansieht, würde sie vielleicht lieber die Frage stellen, die in der Luft hängt, seit die beiden hier eben fast aufeinandergeprallt wären. Magst du mich? Aber das fragt man nicht. Ein anständiges deutsches Mädel schon gar nicht. Die Bluse der BDM-Uniform ist ihr ein bisschen zu eng, seit dem vierzehnten Geburtstag vor ein paar Wochen kann sie nicht mehr verstecken, was darunter geschieht. »Sind ja schon ganz nah! Mein Vater sagt, am besten, wir legen schon Betttücher bereit.«
»Betttücher?«, fragt der Junge verwirrt. Auch er würde lieber über anderes sprechen, das sieht man.
Jetzt beugt das Mädchen sich doch weiter zu ihm hin. »Weiße Fahnen!«, flüstert sie. Ach, nur darum kommt sie ihm jetzt so nah. Sie will nicht, dass irgendwer mithört, was sie sagt. Wehrkraftzersetzung, Feindpropaganda, darauf steht der Tod. »Mein Vater sagt, ist ja nicht nötig, dass die Amerikaner uns noch alle niederknallen!«
Kapitulation?, will der Junge rufen. Deutschland ergibt sich niemals! Auch Penzberg nicht! Aber er sieht ihr Gesicht so dicht vor seinem Gesicht, er möchte jubeln, weil sie ihm so vertraut, mit ihrem Leben, wenn man es recht bedenkt. Darum sagt er nichts von Kapitulation und von Deutschland, er packt plötzlich ihr Gesicht mit beiden Händen. Vielleicht ein bisschen grob, er hat es vorher noch nie geübt.
Dann presst er seine Lippen auf ihre Lippen, wie er es im Kino gesehen hat, so hat Carl Raddatz es doch gemacht bei Kristina Söderbaum, ist noch gar nicht so lange her, der Film, »Opfergang«. Genau so muss man es also machen, jetzt müsste sie ihre Lippen öffnen, sie müsste …
Aber das Mädchen reißt sich los, macht einen Satz zurück, starrt ihn erschrocken an. »Schorsch!«
Der Mond ist längst hinter der Wolke verschwunden, der Junge kann nicht sehen, wie ihr das Blut ins Gesicht schießt, sie sieht es nicht bei ihm.
Sie läuft ein paar Schritte, dann bleibt sie stehen.
Ich habe dich in der Hand, Marie!, denkt er trotzig. Feindpropaganda! Darauf steht der Tod. Standrechtliche Erschießung, dann würde sie ja sehen, ob sie so mit ihm umgehen kann. Vor ihm weglaufen, mitten im Kuss!
Und der Junge schämt sich, wie er sich niemals geschämt hat. Wie soll er ihr morgen wiederbegegnen, was soll er tun, wenn er sie mit ihren Freundinnen tuscheln sieht, er hat sich zum Hanswurst gemacht, als er sie geküsst hat, nicht nur vor ihr. Auch sich selbst kommt er plötzlich vor wie ein dummes Kind, sie hat ihn zurückgestoßen, etwas Demütigenderes kann einem fünfzehnjährigen Mann nicht passieren.
»Schorsch!« Sie steht noch immer, wo sie eben stehen geblieben ist. »Ich muss jetzt gehen!«, flüstert sie. Dann streckt sie ihm plötzlich ihre Hand entgegen, zieht sie sofort erschrocken wieder zurück. »Sie machen sich sonst Sorgen daheim!« Dann fängt sie an zu laufen.
Er sieht ihr nach. Er versteht nicht. Vor dem Laden nebenan dreht sie sich um, hebt die Hand, winkt ihm noch einmal zu, bevor sie im Haus verschwindet.
Der Mond schiebt sich hinter seiner Wolke hervor, fast schon Maimond. Der Junge weiß nicht, wie er nach Hause gekommen ist, Schorsch. Er hat nicht geahnt, dass man so glücklich sein kann.
Da scheint die Welt ihm für einen langen Augenblick heil.
Dabei: Heil ist die Welt ja schon seit Jahren nicht mehr. Fast sechs Jahre ist es jetzt her, da sind die deutschen Truppen in Polen einmarschiert, haben es in wenigen Tagen überrannt, haben auch halb Frankreich besetzt, die Niederlande, Dänemark – ach, fast ganz Europa. Sogar Nordafrika war eine Weile ihrs gewesen!
Deutschland! Der Führer hatte es ja gesagt, Heil Hitler!, der Führer hatte Deutschland zum Herrscher über alle anderen gemacht, sie zitterten vor ihm, die demokratischen Schlappschwänze überall. Und hatte dann auch noch begonnen, Land im Osten zu erobern, Land für den arischen deutschen Bauern, der dort siedeln sollte; gegen die Untermenschen in Russland würde der Sieg leichtfallen.
Aber leichtgefallen war er nicht, der Sieg, gefallen waren stattdessen viele Tausend Soldaten. Die Kälte des russischen Winters, Hunger, obwohl sie doch geplündert und gebrandschatzt hatten, wo immer sie hinkamen; die Zähigkeit der Menschen in den russischen Weiten, die Untermenschen waren nicht zu besiegen gewesen.
Und weil die ganze Welt sich gegen Deutschland verschworen hatte – vom jüdischen Großkapital bezahlt und gelenkt! –, waren zum Schluss auch noch die Amerikaner im Reich eingefallen, gemeinsam mit den Engländern waren sie im vergangenen Sommer in der Normandie gelandet, und seitdem nahmen sie Deutschland in die Zange: von Osten die Russen, von Westen Amerikaner und Tommys. Längst war heilige deutsche Erde in ihrer Hand. Aber das deutsche Volk würde nicht aufgeben, Kampf bis zum letzten Mann, das hatte der Führer befohlen; auch wenn der letzte Mann inzwischen häufig nicht älter als fünfzehn und nicht jünger als siebzig war. Aber sie alle verteidigten die heilige deutsche Erde, und am Ende würde der Sieg ihrer sein. Sieg Heil! Hieß es nicht, der Führer hätte eine Geheimwaffe?
Was spielt es da für eine Rolle, dass die Amerikaner schon so nah sind, dass man manchmal das Geschützfeuer hören kann. Der Junge hat keine Angst. Der Junge will an den Endsieg glauben.
Und im Augenblick, natürlich, denkt er ohnehin an ganz etwas anderes.
Und der zweite Junge: Gustl. Liegt auf seinem Feldbett, kann nicht schlafen. Um ihn herum Husten, Seufzen, Schnarchen. Alte Männer schnarchen fürchterlich, sie alle schnarchen so laut, dass Schlaf unmöglich ist. Manche sind älter als sechzig, der Alois neben ihm behauptet, er hat schon seinen Siebzigsten gefeiert.
Aber die Gemeinschaft! Sie alle zusammen, sie sind der Werwolf! Soll der Feind doch kommen. Noch hinter den Linien werden sie ihn angreifen, wo immer sie ihn treffen, keine Sekunde soll er Ruhe haben, sie erobern die Heimat zurück. Sie sind die Letzten, auf die der Führer noch zählen kann. Kämpfen im Untergrund! Sabotage! Und wo es nötig ist, stoppen sie auch die Welle des Verrats durch deutsche Volksgenossen. Da werden Tode sich nicht vermeiden lassen.
»Hass ist unser Gebet, und Rache ist unser Feldgeschrei!«, das hat ihnen Reichsminister Goebbels höchstpersönlich als Losung mit auf den Weg gegeben. Gustl wird sich ihrer würdig erweisen.
»Junge!«, hat die Mutter gefleht. »Du gehst nicht! Nicht dahin, nicht zu diesen Werwölfen, nicht …«
Aber er hat sein Bündel gepackt, sie nicht einmal angesehen hat er, sie wird ihn nicht aufhalten können. Eine Schande ist sie, eine Schande war auch sein Vater, der jetzt irgendwo bei Stalingrad vermisst ist. Vermisst!, nicht einmal den Heldentod sterben konnte er.
Immer hat Gustl mit der Schande des Vaters gelebt. War in Auch-Da gewesen, im KZ Dachau, sein Vater, war ein Roter gewesen, das sühnt man auch nicht als Soldat. Und Gustl hat Scham gespürt, immer schon, seit er ein Pimpf geworden war und die Uniform der Hitlerjugend tragen durfte, das braune Hemd, die schwarze Hose, Koppel und Armbinde. Wollte beweisen, dass er nicht war wie der Vater, war darum im Jungvolk einer der Zähesten, war HJ-Führer geworden, hat getan, was er konnte, um die Schande der Eltern vergessen zu machen. Für sich selbst – den anderen war es ja gleich. Waren so viele Rote in Penzberg, Rote und Sozen, und so viele Verräter-Kinder wie er. Aber er selbst, er selbst … Die Schande muss ausgelöscht werden.
Gustl glaubt an den Führer. Gustl glaubt an das Deutsche Reich, die arische Rasse. An den Endsieg glaubt er auch, oder vielleicht nicht mehr so ganz, aber das macht nichts, weil es jetzt sie ja gibt: das Freikorps Adolf Hitler, die Werwölfe, zusammengeschlossen, um auch hinter den Linien des Feindes Sabotage zu verüben, im eroberten Gebiet im Geheimen zu kämpfen für den Führer, auch wenn alles schon verloren scheint. Dann wird es strahlend wiederauferstehen, das Reich, und er wird sein Teil dazu beigetragen haben, die Schuld und Schande der Eltern gesühnt.
Darum hat er sich gemeldet, sofort, zur Gruppe Hans. Hundert Mann sind sie jetzt, er vielleicht einer der Jüngsten, jünger als fünfzehn ist keiner. Und die Ältesten sechzig oder siebzig, alles dazwischen ist ja an der Front oder gefallen. Manche sind auch beim Volkssturm jetzt. Aber sie hier, sie sind der Werwolf, sie sind die Gruppe Hans, sie werden auch dann noch kämpfen, wenn die anderen alles verloren glauben. Er gehört dazu. Sein Leben für den Führer. Sein Leben für den Sieg.