Dunkelsteig - B.C. Schiller - E-Book
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Dunkelsteig E-Book

B. C. Schiller

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Beschreibung

„Ich wollte nie mehr nach Dunkelsteig zurückkehren, aber der Teufelsspalt hat mich gerufen ...“ Die Journalistin Felicitas Laudon kehrt zum Begräbnis ihres Vaters in ihren Heimatort Dunkelsteig zurück. Kurz nach dem Abitur verschwand dort ihre beste Freundin Manuela nach einer ausgelassenen Feier in dem mysteriösen Teufelsspalt im Gebirge, ein tiefer Abgrund, der dem Aberglauben nach alle zwanzig Jahre ein Opfer fordert. Felicitas und ihre Freunde Adrian und Johannes haben sich damals geschworen, nie mehr über dieses Drama zu reden. Als merkwürdige Dinge passieren, möchte Felicitas so schnell wie möglich zurück nach Berlin, doch mitten in der Nacht erhält sie ein Päckchen mit verstörendem Inhalt. Darin ist das Freundschaftsarmband, das Manuela in der unheilvollen Nacht trug. Hat der unbekannte Absender etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Für Felicitas ist jetzt die Zeit gekommen, endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen. Doch sie ahnt nicht, dass es eine Reise in ihre eigene finstere Vergangenheit wird, und wieder sind zwanzig Jahre vergangen …

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INHALT

Impressum

Anmerkung

Über die Autoren B.C. Schiller

Bücher von B.C. Schiller

Bücher von B.C. Schiller

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Johannes - zwanzig Jahre früher

Kapitel 7

Kapitel 8

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Manuela - zwanzig Jahre früher

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Manuela - zwanzig Jahre früher

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Kapitel 19

Kapitel 20

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Kapitel 25

Kapitel 26

Adrian - zwanzig Jahre früher

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Manuela - zwanzig Jahre früher

Kapitel 35

Kapitel 36

Dora - zwanzig Jahre früher

Kapitel 37

Kapitel 38

Leo Grafinger - zwanzig Jahre früher

Kapitel 39

Kapitel 40

Johannes - zwanzig Jahre früher

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Leo Grafinger - zwanzig Jahre früher

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Johannes - zwanzig Jahre früher

Kapitel 51

Kapitel 52

Manuela - zwanzig Jahre früher

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Ragnis - zwanzig Jahre früher

Kapitel 58

Kapitel 59

Eine Woche später

Danksagung

Bücher von B.C. Schiller

Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Blue Velvet Management GmbH urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Copyright Blue Velvet Management GmbH,

Linz, Dezember 2020.

Lektorat& Korrektorat: Sabine Dreyer, Tat-Worte.de

Titelgestaltung: www.afp.at

Foto credits:

Panoramic view from church in village Puergg over valley Ennstal to sunset over mountain Gumpeneck in Styria, Austria: 1325554058, Rene Walter, copyright shutterstock

Storm clouds forming: z_SXPzTMKkc, ko-ckpuR81A, by Johny Goerend on Unsplash

Meadows of Rit, La Val - Ladinia, Italy: by eberhard grossgasteiger on Unsplash

Swiss Farming: n2sYTeYZlZk, by Joel & Jasmin Førestbird on Unsplash

Wir haben uns erlaubt, einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als Leser werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.

ÜBER DIE AUTOREN B.C. SCHILLER

Barbara und Christian Schiller leben und arbeiten in Wien und auf Mallorca mit ihren beiden Ridgebacks Calisto & Emilio. Gemeinsam waren sie über 20 Jahren in der Marketing- und Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für packende Thriller.

B.C. Schiller gehören zu den erfolgreichsten Spannungs-Autoren im deutschsprachigen Raum. Bisher haben sie mit ihren Thrillern über 2.000.000 Leser begeistert.

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BÜCHER VON B.C. SCHILLER

»DUNKELSTEIG« ist der erste Band der Dunkelsteig-Reihe der Dunkelsteig-Reihe mit der Journalistin Felicitas Laudon und spielt in dem mysteriösen Ort Dunkelsteig.

»DUNKELSTEIG – SCHULD« ist der zweite Band der Dunkelsteig-Reihe.

Weitere Psychothriller:

DIE FOTOGRAFIN

DIE SCHWESTER

MALLORCA-CRIME-THRILLER:

MÄDCHENSCHULD – ist der erste Band der neuen spannenden Mallorca-Crime-Reihe mit der Inspectora Ana Ortega und dem Europol-Ermittler Lars Brückner. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

SCHÖNE TOTE – der zweite Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.

FAMILIENBLUT – der dritte Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.

BÜCHER VON B.C. SCHILLER

Die Tony-Braun-Thriller:

TOTES SOMMERMÄDCHEN – der erste Tony-Braun–Thriller – »Wie alles begann«

TÖTEN IST GANZ EINFACH – der zweite Tony-Braun-Thriller

FREUNDE MÜSSEN TÖTEN – der dritte Tony-Braun-Thriller

ALLE MÜSSEN STERBEN – der vierte Tony-Braun-Thriller

DER STILLE DUFT DES TODES – der fünfte Tony-Braun-Thriller

RATTENKINDER – der sechste Tony-Braun-Thriller

RABENSCHWESTER – der siebte Tony-Braun-Thriller

STILLER BEOBACHTER – der achte Tony-Braun-Thriller

STRANDMÄDCHENTOD – der neunte Tony-Braun-Thriller

STILLES GRABESKIND – der zehnte Tony-Braun-Thriller

Alle Tony-Braun-Thriller waren monatelang Bestseller in den Charts. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Tauchen Sie ein in die B.C. Schiller Thriller-Welt.

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DUNKELSTEIG

Psychothriller

B.C. SCHILLER

KAPITELEINS

»In einer alten Sage über den Ort Dunkelsteig steht in der Chronik geschrieben, dass alle zwanzig Jahre im Gebirge am Teufelsspalt ein Mensch verschwindet. Das war die letzten Jahrhunderte so, und bald ist es wieder so weit …«

KAPITELZWEI

Meine Geburt in Dunkelsteig stand unter keinem guten Stern. Vor dem Krankenzimmer des Gemeindearztes wartete mein Vater und stürzte dann an das Bett, wo ihm Mutter stolz das Neugeborene präsentierte. Zunächst nahm mich Vater sanft in die Arme, legte mich jedoch kurz darauf enttäuscht wieder zurück ins Bettchen: »Es ist kein Junge!«

Diese Geschichte erzählte mir meine Großmutter viele Jahre später, und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. So wurde ich vor achtunddreißig Jahren nicht Felix, sondern Felicitas getauft.

Das waren die Erinnerungen, die mich auf dieser langen Fahrt heimsuchten. Ich saß in einem Zug, der mich nach mehrmaligem Umsteigen von Berlin in die österreichischen Alpen beförderte. Niemals wollte ich zurückkommen, das hatte ich mir vor zwanzig Jahren geschworen. Aber jetzt war mein Vater tot und ich auf dem Weg in den verhassten Ort.

›Eigenartig‹, dachte ich, als die Berge immer näher rückten und ich heftig aus- und einatmete. ›In Berlin bin ich eine selbstbewusste Frau, die ihren Job als Journalistin liebt und mit beiden Beinen im Leben steht. Doch je näher ich meiner Heimat komme, desto einsamer und verlorener fühle ich mich.‹ Ich musste mir eingestehen, dass die Reise ein Fehler war. Aber jetzt war es zu spät.

Seufzend verdrängte ich diese Gedanken, betrachtete stattdessen mein müdes Gesicht im Fenster des Zugabteils. Die brünetten Haare schmiegten sich um meine Wangen, und in der Spiegelung verloren die kleinen Fältchen um meinen Mund ihren Schrecken. Meine dunklen Augen wirkten durch die starken Augenringe unnatürlich groß. Ich hatte seit zwanzig Jahren Probleme mit dem Durchschlafen, und das sah man mittlerweile meinem Gesicht an. Während ich an die anstrengenden Nächte dachte, in denen ich mich ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte, verlangsamte der Zug sein Tempo. Wir erreichten den Bahnhof von Schwarzach. Hier musste ich das letzte Mal umsteigen. Als ich den Waggon verließ, atmete ich zunächst die frische Luft tief ein und sah mich um. Die Berge waren wieder ein ganzes Stück näher gerückt. Aber in Schwarzach konnte man noch atmen, und das Sonnenlicht drang an diesem trüben Oktobertag bis auf den Talboden vor.

Ich warf einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass mir nur wenig Zeit blieb, die Lokalbahn nach Dunkelsteig zu erwischen. Hastig warf ich mir den Riemen der Reisetasche über die Schulter und sprintete durch die Unterführung, die zu dem Bahnsteig für die Regionalzüge führte. Eine defekte Neonröhre flackerte und warf Blitze durch den Betontunnel, dessen Wände mit Graffitis vollgesprayt waren. Plötzlich erblickte ich das Gesicht eines Mädchens mit blonden Haaren, das jemand auf den Beton gemalt hatte. Abrupt blieb ich stehen und starrte auf das Bild. Die feinen Züge und das blonde Haar hatte der Sprayer perfekt getroffen, die Ähnlichkeit war verblüffend. Woher wusste der Künstler, wie sie ausgesehen hatte? All das war doch schon zwanzig Jahre her.

»So ein Zufall!«, murmelte ich laut. »Aber das bildest du dir bloß ein!« Es lag wahrscheinlich an dem flackernden Licht, von dem mir die Augen schmerzten. Dummerweise hatte ich meine Gleitsichtbrille in Berlin vergessen. »Blödsinn, du machst dich ganz verrückt!«, sagte ich eine Spur zu laut, und die Worte hallten von den grauen Betonwänden wider, klangen jetzt so, als würden sie mich verspotten.

Ich drehte den Kopf zur Seite und lief weiter, ließ das Graffiti hinter mir, und mit einem Mal war der Spuk vorüber. Auf der Treppe blieb ich noch einmal kurz stehen und warf einen schnellen Blick zurück auf das gesprayte Gesicht. Es war nur eine optische Täuschung gewesen. Aus diesem Blickwinkel wirkte es ganz anders. Ich hatte in Berlin manchmal Probleme mit flackernden Lichtern. Mein Augenarzt diagnostizierte eine überempfindliche Netzhaut, die auf Helligkeitsnuancen reagierte, und verschrieb mir Tropfen und eine getönte Gleitsichtbrille. Diese lag jetzt in einem schönen Etui auf meinem Schreibtisch in meiner Wohnung.

Mit zusammengekniffenen Augen fixierte ich ein Reklameschild, das in einiger Entfernung aufgestellt war. Problemlos konnte ich den Text lesen, denn die Beleuchtung war ohne Reflexe. Das entspannte mich, während ich neben den Gleisen auf und ab ging.

Als die Lokalbahn wie eine silbrige Schlange beinahe lautlos in den Bahnhof rauschte, war ich im ersten Moment verwirrt. Kein Vergleich zu dem altertümlichen Zug, mit dem ich Dunkelsteig vor zwanzig Jahren verlassen hatte. ›Was hast du denn erwartet? Dass hier die Zeit stehengeblieben ist?‹, dachte ich. Entschlossen öffnete ich die Tür zu dem großen Abteil und suchte mir einen Platz am Fenster. Ein schriller Pfiff ertönte, und langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Die Bahn machte eine elegante Schleife und fuhr in das finstere Tal hinein. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Drang, die Notbremse zu ziehen, aus dem Waggon zu springen und nach Berlin zurückzukehren.

Der Zug raste an düsteren Bauernhäusern vorüber, die von grauen Nebelschwaden erstickt wurden. Obwohl es erst Nachmittag war, verlor das Tageslicht bereits den Kampf gegen die Dämmerung. Auf der Schnellstraße, die neben der Bahntrasse in das Tal führte, flammte die Beleuchtung auf. Gelbe Lichter spiegelten sich auf dem vom Nebel feuchten Asphalt. Felswände schoben sich unerbittlich auf uns zu, und je näher wir Dunkelsteig kamen, desto düsterer wurde die Gegend. Der Himmel verschwand vollkommen, und die Berge versperrten den Blick in die Ferne. Ich stand auf, drückte meine Wange an die Fensterscheibe und versuchte, wenigstens noch ein Stück von den grauen Wolken zu erhaschen, um nicht vollkommen in dem trostlosen Dämmerlicht zu versinken. Aber alles, was ich erkennen konnte, war grauer Fels, an dem mein Blick zerschellte.

Wie aus dem Nichts tauchte mit einem Mal das Ortsschild Dunkelsteig auf. »Endstation«, tönte es aus dem Lautsprecher. Dunkelsteig war wirklich eine Endstation. Es war der letzte Ort in dem Tal, denn dahinter türmte sich das Gebirge bis in den Himmel auf. Eingekesselt von schroffen Felsen gab es nur die Bahntrasse und eine Schnellstraße, die hinaus ins Leben führten. Seit damals wollte ich nie wieder in dieses dunkle Dorf zurückkehren. Aber jetzt war mein Vater gestorben, und die Vergangenheit hatte mich eingeholt.

KAPITELDREI

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Das Mädchen stand vor dem Spiegel und bürstete ihr brünettes Haar. In wenigen Wochen würde es das Abitur machen und dann mit ein wenig Glück aus Dunkelsteig verschwinden. Sie hatte sich um ein Stipendium für ein Journalisten-College in Berlin beworben. Die deutsche Hauptstadt war ihre erste Wahl gewesen; wenn schon weg aus dem Dorf, dann gleich in eine richtige Großstadt.

Natürlich tat es ihr um einige Freunde leid, mit denen sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Aber sie wusste, dass sie nicht zögern durfte, falls sie die Zusage für das Stipendium erhielt. Sonst würde es ihr genauso ergehen wie einigen anderen Einwohnern mit hochfliegenden Zielen, die ihr Dasein weiter in Dunkelsteig fristeten. Deshalb konnte sich Felicitas nicht vorstellen, noch länger hierzubleiben. Sie wollte nicht, dass ihre Wünsche und Hoffnungen an den schroffen Hängen zerschellten. Morgens blickte Felicitas aus dem Fenster, und sofort knallte ihr eine graue Felswand entgegen. Im Winter erreichte kaum ein Sonnenstrahl den Ort, und der Nebel lichtete sich oft tagelang nicht. Dann fühlte sie sich wie in einem wattierten Gefängnis.

Felicitas warf einen schnellen Blick auf ihren Schreibtisch, der mit Büchern und Papieren überhäuft war. Ganz hinten in der Schublade, versteckt unter allerlei Krimskrams, befand sich das Ansuchen an die Journalistenschule, das ihr Leben verändern würde.

Nach langen Monaten der Düsternis war endlich der Frühsommer eingekehrt. Selbst in Dunkelsteig konnte man ein Stück des blauen Himmels ausmachen, wenn man den Kopf in den Nacken legte und nach oben blickte. Die ganze Woche über hatte Felicitas diesem Freitag entgegengefiebert. Es war der Tag, an dem das Dorffest eröffnet wurde. Einmal im Jahr kam Leben in den verschlafenen Ort. Auf dem Dorfplatz wurden Marktstände aufgebaut, und im Gemeindesaal gab es für die Dorfjugend ein Tanzevent mit einem DJ aus der Hauptstadt Wien. An diesem Wochenende zauberten Alkohol und eine ausgelassene Stimmung ein Lächeln in die grauen Gesichter der Einwohner.

Felicitas griff nach dem silbernen Haarreif und schob ihn über ihre brünette Mähne. Wohlgefällig drehte sie sich vor dem Spiegel im Kreis. ›Wie schön du mich machst‹, dachte sie. ›Es hat sich wirklich gelohnt, dass ich in der Bäckerei ausgeholfen habe. Ohne das Extrageld hätte ich mir diesen Haarreif nie leisten können.‹ Sie litt darunter, dass ihre Haare dünn und fein waren, aber mit dem tollen Accessoire wirkten sie üppig und sexy. Da sie ab und zu Sport machte, hatte sie eine gute Figur, die in dem bauchfreien Top und den engen Jeans gut zur Geltung kam.

Felicitas war so glücklich und voller Energie, dass sie zu dem Hit Oops! I did it again von Britney Spears tanzte, obwohl sie den Song nur in ihrem Kopf hörte. Aber das war egal. Mit Manuela hatte sie das Lied immer wieder auf ihrem Walkman gehört, bis sie den Text auswendig mitsingen konnten. Ihre Freundin war auf der gleichen Wellenlänge wie Felicitas, auch sie wollte so schnell wie möglich aus Dunkelsteig verschwinden, um in Berlin eine Ausbildung zur Akrobatin machen.

Plötzlich stoppte ein leises Geräusch jäh die Musik in Felicitas’ Kopf. Kleine Kieselsteine schlugen an die Scheibe. Sie öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Unten auf der steilen Zufahrt stand Manuela und winkte nach oben. Ihre hellblonden Haare wehten im Wind und hoben sich scharf von den dunklen Felsen auf der anderen Talseite ab.

»Bist du fertig, Feli?«, rief sie nach oben. Auch sie trug ein bauchfreies Top und enge Jeans. Die beiden kannten sich schon seit dem Kindergarten. Sie waren gemeinsam in der Volksschule gewesen und besuchten jetzt das Gymnasium in Schwarzach. In der Schule wurden sie als die siamesischen Zwillinge bezeichnet, da sie unzertrennlich waren.

»Ich komme gleich, Manu!«, antwortete Felicitas und schickte ihr eine Kusshand zu. Sie schloss das Fenster und drehte sich noch einmal vor dem Spiegel. Heute sah sie wirklich sexy aus und würde Manuela in nichts nachstehen.

Als Felicitas in ihre Stiefeletten schlüpfte, wurde die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. »Du trampelst wie ein Elefant herum. Unten im Wohnzimmer zittert der Luster.« Ihr Vater stand kopfschüttelnd im Zimmer.

»Kannst du nicht anklopfen?« Felicitas hasste es, wenn er einfach so in ihr Zimmer platzte. Das war ihre Privatsphäre.

»Ich habe angeklopft. Aber durch das Gehopse hast du es wahrscheinlich überhört«, erwiderte ihr Vater und musterte sie von oben bis unten. »Das Tanzen solltest du lieber bleiben lassen. Du hast überhaupt kein Rhythmusgefühl. Außerdem bist du viel zu schwer.« Er trat ans Fenster und blickte nach unten.

Manuela lehnte an ihrem Mountainbike und rauchte eine Zigarette. Als sie Felicitas’ Vater bemerkte, schüttelte sie ihre Mähne und winkte nach oben.

»Sie ist schon etwas ganz Besonderes«, meinte der Vater anerkennend und hob grüßend die Hand. Dann drehte er sich wieder zu seiner Tochter. Sein Blick war geringschätzig, fast verächtlich. Das spürte Felicitas, und ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest.

»Ja, sie ist einzigartig«, pflichtete sie ihrem Vater bei. Obwohl sie am liebsten gefragt hätte: Und was ist mit mir? Bin ich – deine Tochter – nichts Besonderes? Aber sie sagte nichts, sondern schaute ihn nur stumm an.

»Was glotzt du denn so dumm?«, fragte ihr Vater genervt. »Geht ihr auf das Dorffest?«

»Dafür haben wir uns rausgeputzt.«

»Na ja. Eine Schönheit bist du nicht gerade. Nimm dir ein Beispiel ein Manuela. Sie ist wirklich außergewöhnlich.« Nach diesen Worten drehte er sich abrupt um und stapfte aus dem Zimmer.

Felicitas blieb alleine zurück und starrte in den Spiegel. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die mit dem Kajal wie schwarze Fäden über die Wangen liefen.

KAPITELVIER

Gewisse Empfindungen sind in das Gedächtnis eingebrannt, werden zu unauslöschlichen Erinnerungen. Erlebt man sie nach einem langen Zeitraum wieder, so stellt man fest, dass sich die Wahrnehmung nicht geändert hat.

Daran musste ich denken, als ich den steilen Weg zu meinem Elternhaus hochging. Es lag auf einem Hang am Ende des Dorfes, und wenn das Wetter schön war, hatte man einen Weitblick und konnte bis zur Kirche sehen. Ich blieb kurz stehen und ließ mein früheres Zuhause auf mich wirken. Es war ein zweistöckiges Holzgebäude mit einem Balkon im ersten Stockwerk. Die bemoosten Steine auf den Dachschindeln wirkten wie Warzen, und die kleinen Fenster erinnerten an tückische Augen. Geduckt wie eine fette Kröte war das Haus in den abschüssigen Hang hineingebaut. Vollkommen ohne Design, nur auf Zweckmäßigkeit geplant, hatte es mein Großvater errichtet. Kein Wunder, denn die Großeltern benutzten es nur zum Schlafen, tagsüber waren sie bei der Arbeit. Im Sommer auf der Alm mit ihren Kühen, und im Winter arbeitete Großmutter in einem Wintersportort. Wozu brauchte man da ein schönes Heim? Darum war es eines der hässlichsten Gebäude im Dorf, und das war wie eine Auszeichnung in diesem an unschönen Bauten nicht armen Ort. Vor vielen Jahren hatte mein Vater den alten Stall abgerissen und begonnen, an das Wohnhaus eine Garage anzubauen. Dieses Projekt war aber nie zu Ende geführt worden. Noch immer ragten die unverputzten Ziegel seitlich aus der Hausmauer, und das improvisierte Dach bestand seit zwanzig Jahren aus Wellblechplatten. Daneben stand die Holzkonstruktion, die Vater über einen ehemaligen Vorratskeller gebaut hatte, wo wir Kohle und Holz für den Winter lagerten.

»Irgendetwas hat sich doch verändert«, murmelte ich, als ich die Fassade hochblickte. Ich überlegte kurz, kam aber im Moment nicht dahinter.

Noch einmal atmete ich tief durch, dann zog ich die rostige Kette, und die Glocke neben dem Eingang bimmelte blechern. Sofort wurde die Tür aufgerissen, und meine Mutter trat heraus. Ihre schwarzen Haare waren grau geworden, und die harten Falten um ihre Mundwinkel hatten sich vertieft. Trotzdem wirkte sie nicht viel älter als vor zwanzig Jahren. Sie trug ein schwarzes Dirndl, den Trachtenumhang hatte sie über den Arm gelegt.

»Du bist wie immer spät dran, Felicitas!«

›Kein Wort der Begrüßung nach so vielen Jahren. Es hat sich nichts geändert‹, dachte ich resigniert.

»Grüß Gott, Mutter. Wir haben uns lange nicht gesehen.« Ich trat auf sie zu, um sie zu umarmen, doch Mutter wich zurück.

»Wir können später reden, aber jetzt müssen wir zum Friedhof.«

»Sicher, ich stelle nur schnell meine Tasche ab.« Ich war gekränkt, ließ es mir aber nicht anmerken. Am liebsten wäre ich auf der Stelle wieder umgedreht und zurück nach Berlin gefahren.

»Willst du in dieser Kleidung zur Kirche?« Mutter deutete missbilligend auf meinen Trenchcoat und die ausgelatschten Sneakers.

»Natürlich nicht, ich ziehe mich schnell um.« Ich trat in den Flur, und sofort war die Ausdünstung des Hauses wieder gegenwärtig. Dieser eigentümliche Geruch nach Bodenwachs, Holz und aufgewärmten Eintopf. »Eintopf«, murmelte ich, als ich die knarrende Treppe nach oben in mein ehemaliges Zimmer huschte. Jeden Freitag hatte es dieses Gericht gegeben, da wurden alle Reste zusammengemischt, die in der Woche übrig geblieben waren. »Eintopf passt hierher«, sagte ich halblaut. »Auch dieses Haus wurde aus Resten gebaut.«

»Hast du was gesagt?«, rief mir Mutter hinterher.

»Nein, ich habe nur laut gedacht.«

»Beeil dich!«

Als ich die Tür zu meinem alten Zimmer öffnete, prallte ich überrascht zurück. Der Raum wirkte wie eine billige Absteige. Ein Doppelbett mit geblümter Bettwäsche nahm einen Großteil des Zimmers ein, links und rechts davon standen pseudoländliche Nachtkästchen mit geschnitzten Lampen. An der Wand gegenüber versperrte ein Bauernschrank die Sicht. Es gab keinen einzigen persönlichen Gegenstand, der noch an mich erinnerte. Wieder spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, doch ich wollte Mutter diesen Triumph nicht gönnen und schluckte meine Enttäuschung tapfer hinunter.

Ich warf die Koffertasche auf das Bett, öffnete sie und zog schwarze Jeans und einen Blazer hervor. In großer Eile zog ich mich um, schlüpfte in schwarze Sneakers und war froh, diesen seelenlosen Raum verlassen zu können.

Als ich aus dem Haus trat, blickte ich hinunter auf den Ort, und mit einem Mal wusste ich, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit verändert hatte.

»Wo ist die Silbertanne?«, fragte ich Mutter, die hinter mir stand. »Sie war doch hier vor dem Eingang.«

»Vater hat sie gefällt!«

»Aber das war mein Baum! Großmutter hat ihn für mich gepflanzt«, erwiderte ich. Eine lange unterdrückte Wut begann in mir hochzukochen. »Das hätte er nicht tun dürfen!« So rücksichtslos war Vater immer gewesen. Er wollte mich komplett aus seinem Leben verbannen.

»Du bist damals nicht mehr in unserer Familie gewesen. Deshalb hat Vater ihn weggemacht.«

»Das verzeihe ich ihm nie!«

»Willst du deinem Vater am Tag seines Begräbnisses noch Vorwürfe machen?«, fragte Mutter anklagend.

»Nein, natürlich nicht«, lenkte ich ein. »Es ist nur so bezeichnend für sein ganzes Verhältnis zu mir.«

»Geht das jetzt schon wieder los? Wir sind spät dran. Komm, wir müssen uns beeilen.«

Mutter packte mich am Arm, und beide marschierten wir den abschüssigen Weg hinunter. Als ich mich umdrehte, um noch einmal einen Blick auf das Haus zu werfen, sah ich weiter oben eine Gestalt aus dem Nebel auftauchen. Ich blieb stehen, kniff die Augen zusammen, um die Person genauer zu erkennen. Es war ohne Zweifel eine junge Frau, denn sie hatte langes blondes Haar, das in Wellen bis weit über ihre Schultern fiel.

»Wer ist das dort oben? Wohnt jemand in dem alten Stadel?«, fragte ich Mutter und wies mit dem Arm in die Richtung.

»Wen meinst du?«

»Na die blonde Frau. Sie sieht ein bisschen wie Manu aus.«

»Was redest du da?« Resolut packte mich Mutter am Arm und zog mich weiter. »Da oben wohnt niemand. Der Stadel ist völlig verfallen.«

»Aber ich habe jemand gesehen«, beharrte ich. Wie ein störrisches Pferd blieb ich stehen und blickte zurück. Doch da war niemand mehr. Nur vereinzelte Nebelschwaden zogen wie verschleierte Geister über die geschwärzten Wände des Stadels.

Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht. Ich dachte an das Graffiti in Schwarzach. Aktivierte Dunkelsteig mein Unterbewusstsein so sehr, dass ich jetzt schon Gespenster sah?

»Du kannst die Vergangenheit nicht vergessen?«, hörte ich Mutters Stimme an meinem Ohr. »Aber kein Wunder, nach allem, was damals passiert ist.«

KAPITELFÜNF

In der kleinen Kirche waren alle Plätze besetzt. Dicht an dicht saßen die Bewohner von Dunkelsteig auf den Bänken und flüsterten miteinander. Verwundert stellte ich fest, dass mein Vater ziemlich beliebt gewesen war. Das hätte ich nie gedacht. Für mich war er der unsympathischste Mann der Welt gewesen.

Bis zu seiner Pensionierung hatte er als Lehrer in Dunkelsteig gearbeitet. In Wien hatte er Philosophie studiert, sich aber nie um eine Stelle an einem Gymnasium bemüht. So wurde er über die Jahrzehnte zu einem überqualifizierten Volksschullehrer, der den Dorfkindern Lesen und Schreiben beibrachte. Als ich ihn als Teenager in meiner kindlichen Wut einmal provozierend auf sein verpfuschtes Leben anredete, konterte er kühl: »Auch Wittgenstein war ein einfacher Lehrer. Aber davon hast du natürlich keine Ahnung, mein hässliches Entlein.«

Diese Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, als ich die Kirche betrat. Ich starrte gefühllos auf den schlichten Holzsarg, in dem er jetzt lag.

»Felicitas, möchten Sie sich von Ihrem Vater verabschieden?«, fragte der Pfarrer salbungsvoll, als er mich entdeckte.

»Nein danke, kein Bedarf.«

»Benimm dich!«, zischte Mutter und stieß mir den Ellbogen in die Seite, und an den Pfarrer gewandt sagte sie: »Felicitas ist zu traurig, sie würde den Anblick ihres geliebten Vaters nicht ertragen.«

»Was redest du da?« Ich hatte große Lust, ihr zu widersprechen, riss mich aber dann zusammen. Es schien mir nicht der richtige Ort für einen Streit.

Unauffällig blickte ich umher. Die meisten der Anwesenden kannte ich vom Sehen. Dutzende Augenpaare betrachteten mich, und Getuschel pflanzte sich wie eine Welle von Reihe zu Reihe fort. Ich bildete mir ein, Sätze wie »Nach so vielen Jahren lässt die sich wieder hier blicken« oder »Was will die hier?« zu hören.

Dann wurde die Kirchentür mit einem Ruck aufgerissen, und er trat ein. Wie immer zu spät, wie immer mit zerzausten Haaren, die schon von grauen Strähnen durchzogen waren. Wie immer mit diesem unvergleichlichen Lächeln, das er jetzt anknipste, als er mich bemerkte.

»Adrian ist auch extra angereist?«, flüsterte ich zu Mutter und nickte zurück.

»Nein. Er hat es doch nicht weit von seinem Haus.«

»Er wohnt noch immer in Dunkelsteig?«, erwiderte ich verwundert. ›Addi, was ist nur aus deinen hochfliegenden Plänen geworden?‹, dachte ich.

»Er weiß eben, wo seine Wurzeln sind. Anders als du.«

»Wie nett von dir.«

»Ist doch wahr.« Mutter drehte sich zur Seite und blickte nach vorne.

Der Pfarrer begann den Lebenslauf meines Vaters von einem Manuskript abzulesen, während ich unauffällig umherschaute. Dann entdeckte ich auch Johannes, der auf einer Bank am Rand saß und angestrengt in sein Handy tippte. Mit ihm hatten die Jahre es nicht so gut gemeint. Er war in die Breite gegangen und wirkte mit seinem Bürstenhaarschnitt und dem grauen Anzug saturiert.

Als die Ansprachen vom Schuldirektor und dem Obmann des Schützenvereins beendet waren, hoben vier Männer in schwarzen Anzügen den Sarg in die Höhe und trugen ihn zu dramatischer Musikbegleitung durch den Mittelgang nach draußen. Wir folgten mit langsamen Schritten, und ich bemühte mich, eine traurige Miene aufzusetzen. Während der Zeremonie drückte ich viele Hände, nahm die Beileidsbekundungen zur Kenntnis und warf eine Handvoll Erde auf den Sarg.

Nach der Beisetzung atmete ich tief durch und hatte den unwiderstehlichen Drang, den Friedhof so schnell wie möglich zu verlassen.

»Feli. Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkehrst.« Adrian stand plötzlich vor mir und musterte mich mit seinen dunklen Augen.

»Es ist keine Rückkehr, sondern nur ein kurzer Besuch für das Begräbnis. Das gehört sich eben«, antwortete ich spröde. Irgendwie hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass ich mit ihm über die Vergangenheit sprechen sollte, denn so vieles war damals ungesagt geblieben. Aber wir hatten uns geschworen, nie wieder darüber zu reden.

»Du hast dich kein bisschen verändert, siehst noch genauso hübsch aus wie früher.«

»Ach wirklich?« Ich spürte, wie ich rot wurde, und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. ›Was für ein wohltuendes Kompliment‹, dachte ich und fühlte mich geschmeichelt.

»Na ihr beiden.« Johannes trat zu uns und legte gönnerhaft seine Arme um die Schultern von Adrian und mir. »Feli, ich habe gehört, du hast als Journalistin Karriere in Berlin gemacht? Schreibst für die BAZ, die Berliner Allgemeine Zeitung.«

»Woher weißt du das?«

»Ach, die Buschtrommeln tragen mir so einiges zu«, entgegnete er verschwörerisch.

»Und was treibst du so?«, fragte ich der Form halber, obwohl es mich nicht sonderlich interessierte.

»Ich bin Rechtsanwalt in Salzburg.« Ein gewisser Stolz lag in seiner Stimme.

»Wow, dann hast du es also geschafft«, meinte ich anerkennend.

»Joe hat sich mit dem System arrangiert und sein Rückgrat an der Garderobe abgegeben«, fuhr Adrian sarkastisch dazwischen.

»Und was ist mit deiner Schauspielkarriere geschehen?«, entgegnete Johannes spöttisch. »Erzähl es uns, oder hat es dir wieder die Stimme verschlagen.«

»Halte dich zurück, Johannes!«, zischte Adrian.

»Hört auf!«, fuhr ich genervt dazwischen. Nichts wollte ich weniger, als dass hier am Grab meines Vaters ein Streit vom Zaun gebrochen wurde.

»Du hast recht. Nichts für ungut.« Johannes klopfte Adrian auf die Schulter.

»Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit wieder nach Dunkelsteig zurückzukehren?«, fragte er mich dann. »Hast du deine Heimat ein bisschen vermisst?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete ich spontan.

»Das war ein Scherz.« Johannes grinste über das ganze Gesicht. »Ich bin auch nur noch manchmal an den Wochenenden hier.« Er blickte umher und sagte dann so leise, als würde er uns ein großes Geheimnis verraten: »Jetzt ist ja fast die ganze Clique wieder versammelt. Gehen wir noch zu Manus Heim, dann sind wir alle wieder vereint.« Er deutete über die Gräberreihen.

»Wie geschmacklos von dir«, fuhr ihn Adrian an. »Manu liegt in einem Grab – und du sprichst von Heim?«

»Nun, es ist ihre letzte Ruhestätte«, gab Johannes zur Antwort.

»Man hat sie nie gefunden. Außerdem habe ich jetzt keine Zeit.« Adrian blickte zerstreut auf seine Uhr. »Ich muss mich um meine Familie kümmern. War schön, dich mal wieder zu sehen, Feli.« Er drehte sich um und stapfte zwischen den Gräberreihen auf den Ausgang zu.

›Dann bist du also verheiratet und hast vielleicht auch Kinder? Ob du hier glücklich geworden bist?‹ Aber ich vermied es, Johannes nach Adrians Familie zu fragen.

»Tja, dann gehen eben wir beide zu Manu«, riss mich dessen Stimme aus meinen Gedanken. »Sie war schon sehr speziell, findest du nicht auch?«, fragte er, während wir auf das Grab zusteuerten.

»Ja, sie war etwas Besonderes. Ich denke oft an damals«, entgegnete ich. »Es ist alles so weit weg und doch so nah. Wie geht es dir damit?«

»Ich möchte nicht mehr an den Vorfall erinnert werden«, blockte Johannes sofort ab. Nervös blickte er umher. »Ich glaube, es ist doch keine so gute Idee, ihre letzte Ruhestätte aufzusuchen.«

»Wie du meinst.« Ich blieb stehen und zog die Schultern hoch. Insgeheim war ich über seine Äußerung froh. Auch ich war noch nicht bereit, an Manus Grab zu stehen.

»Vergiss nicht, was wir uns vor zwanzig Jahren geschworen haben.« Johannes drehte sich abrupt um und steuerte auf den Ausgang zu.

»Ich weiß, aber irgendwann müssen wir uns der Vergangenheit stellen«, rief ich ihm hinterher. »Wir können die Ereignisse von damals nicht unser ganzes Leben lang ausblenden.«

KAPITELSECHS

Johannes - zwanzig Jahre früher

Der Parkplatz lag in einem Waldstück und war von der Hauptstraße aus nicht einsehbar. Nur ein silbergrauer Mercedes stand neben dem verrammelten Kiosk, ansonsten war der Platz so spät am Abend menschenleer.

Johannes saß angespannt hinter dem Lenkrad des Wagens. Der Mercedes gehörte seinem Vater. Nervös strich er mit der Hand über den Briefumschlag, der auf dem Beifahrersitz lag. Er hatte erst vor Kurzem den Führerschein gemacht und noch immer gehörigen Respekt vor den vielen PS der Limousine. Wie Raubtiere lauerten sie unter der Motorhaube des Wagens und warteten nur darauf, ihre ganze Kraft zu entfalten.

Als ein zweites Auto auf den Parkplatz fuhr, ließ Johannes die Scheinwerfer kurz aufblinken. Auch bei dem anderen Wagen wurden die Lichter aufgeblendet. Minutenlang standen sich die beiden Fahrzeuge gegenüber und nichts geschah. Schließlich öffnete der Fahrer des anderen Autos die Tür und stieg aus. Unter den Arm hatte er einen Schnellhefter mit Papieren geklemmt. Johannes wartete noch einige Sekunden, dann griff er nach dem Umschlag und stieg ebenfalls aus dem Mercedes.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er und winkte mit dem Kuvert in seiner Hand. »Ich habe alles wie vereinbart dabei. Sie hoffentlich auch.«

»Ich halte mein Wort. Eine Notlage zwingt mich dazu, das hier zu tun. Dafür verachte ich mich«, entgegnete der Mann mit leiser Stimme. Er wirkte eingefallen und zitterte in seiner abgewetzten Lederjacke.

»Machen Sie sich keine Gedanken. Nichts dringt nach draußen. Sie bleiben auch weiterhin eine integre Person. Darauf hat mein Vater sein Wort gegeben.«

»Warum hat er mir dann den Kredit nicht genehmigt?«, fragte der Mann.

»Darüber bin ich nicht informiert. Aber soweit ich weiß, gibt es Richtlinien, die im Bankwesen eingehalten werden müssen.«

Johannes’ Vater war Direktor der Kreissparkasse und hatte gute Chancen, in den überregionalen Vorstand zu wechseln. Dort hatte man wohlwollend beobachtet, dass es bei ihm keine Kreditvergaben ohne die nötigen Sicherheiten gab. So jedenfalls wurde es in den internen Protokollen an den Vorstand übermittelt. Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus, denn er beteiligte sich öfter über einen Strohmann an den Firmen, die bei seiner Bank in der Kreide standen.

»Das ist doch alles bloß eine faule Ausrede. Ihr Vater setzt mich bewusst unter Druck. Damit ich Ihnen einen Gefallen tue.«

»Worüber regen Sie sich auf? Wir haben beide etwas von diesem Geschäft. Es ist eine Win-Win-Situation«, antwortete Johannes altklug. Den businessmäßigen Ton hatte er von seinem Vater übernommen, und mit seinen neunzehn Jahren kam er sich damit clever vor. »Sie brauchen keinen Kredit aufzunehmen, ich mache meinem Vater keine Schande.«

»Okay. Dann bringen wir die Sache schnell hinter uns.« Der Mann streckte Johannes den Schnellhefter entgegen. »Hier sind die Unterlagen, und jetzt geben Sie mir das Geld.«

»Immer langsam.« Johannes griff nach den Papieren und blätterte sie schnell durch. Er sah eine Menge Zahlen und Berechnungen, die für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln waren. Aber ganz unten war immer die Lösung rot unterstrichen hinzugefügt, das war das Wichtigste. Auf einem anderen Blatt standen jede Menge Deklinationen in Latein, auch davon verstand Johannes nur die Hälfte, wenn überhaupt. »Sind das alle Prüfungsaufgaben?«, fragte er sicherheitshalber.

»Ja, das sind die schriftlichen Prüfungsfragen für Mathematik und Latein«, antwortete der Mann und strich sich durch die dünnen Haare. »Lassen Sie sich beim Schummeln bloß nicht erwischen, das kann mich meinen Job kosten.«

»Keine Sorge, ich bin doch nicht blöd.« Mit einem verächtlichen Blick musterte Johannes seinen Professor. Der Mann wirkte wie der geborene Loser. Lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung in einem Wohnblock in Schwarzach. Sein Haus in Dunkelsteig hatte er verkaufen müssen, um die teure Therapie für seine Frau in Deutschland zu bezahlen. Sie litt an Leukämie. Das war tragisch, und Johannes tat sein Lehrer auch leid, aber er musste in erster Linie an sich denken. Denn beim Abitur würde er mit Sicherheit durchrasseln, und das wäre eine Katastrophe für die ganze Familie. Diese Erniedrigung konnte sein Vater auf keinen Fall auf sich sitzen lassen, deshalb hatte dieser die Sache in die Hand genommen.

»Was für eine Schande, wenn du schon wieder versagst«, hatte sein Vater gesagt und mit den Fingern auf die Schreibtischplatte geklopft. »Du hast bereits eine Klasse wiederholt und jetzt diese ungenügenden Leistungen. So schaffst du nie das Abitur!«

»Ich bin eben mehr der musische Typ«, hatte Johannes schüchtern eingewandt.

»Hör sofort auf mit dem Unsinn!«, donnerte der Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du studierst Jura. Aus und basta! Für dein Abitur lasse ich mir etwas einfallen.«

Dann hatte der Zufall seinem Vater in die Hände gespielt, als Berger, der Professor mit dem Kreditwunsch, in der Bank auftauchte. Er hatte das Ansuchen rundweg abgelehnt, dem Lehrer aber einen Vorschlag gemacht. Nach einer kurzen Bedenkzeit hatte Berger schließlich eingewilligt. Jetzt standen sich Professor und Schüler wie zwei Drogendealer auf dem nebligen Parkplatz gegenüber und tauschten Geld gegen Prüfungsfragen.

Innerlich befand sich Johannes im Zwiespalt, denn er war im Grunde ein ehrlicher Typ. Dass er es in der Schule immer nur mit Ach und Weh schaffte, lag an seiner Konzentrationsschwäche. Ständig verdrängten andere Gedanken in seinem Kopf das aufmerksame Lernen.

»Ich mache das bloß, weil ich einen Lebensplan habe und es mir deshalb nicht leisten kann, zu versagen«, sagte er zu seinem Professor, um sich zu rechtfertigen. »Ich möchte Rechtsanwalt werden.« Dann streckte er Berger den Umschlag entgegen, und dieser griff schnell danach.

»Ich zähle lieber nach«, entgegnete der Professor und öffnete das Kuvert.

»Die Summe stimmt – wie vereinbart. Sie können mir vertrauen«, sagte Johannes gekränkt, während er Berger beim Zählen zusah.

»Natürlich vertraue ich dir, aber nicht deinen rechnerischen Fähigkeiten.« Berger blickte ihn kurz an, und Johannes bemerkte die Verachtung in den Augen seines Professors, der ihn für einen ausgemachten Dummkopf hielt. Sein Mitleid für das Schicksal des Mannes löste sich in nichts auf, und er drehte sich auf dem Absatz um. »Das wäre dann alles«, meinte er kurz angebunden und stieg in den Mercedes. Er startete den Motor und trat wütend auf das Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und schoss direkt auf Berger zu. Der Professor stieß einen überraschten Schrei aus und hechtete zur Seite, um nicht niedergefahren zu werden. Im letzten Augenblick bekam Johannes den Mercedes unter Kontrolle. Er atmete erleichtert aus und fuhr im Schneckentempo hinaus auf die Straße. Im Rückspiegel sah er noch, wie Berger in seinen Kleinwagen stieg. Dann wurde der Lehrer von der Nacht absorbiert. Auf dem Weg nach Hause schwor Johannes, sich an jedem zu rächen, der ihn für einen Dummkopf hielt.

KAPITELSIEBEN

Begräbnisse sind immer deprimierend. Seit ein paar Minuten ruhte mein Vater in seinem Sarg unter einem Haufen Erde. Darauf hatte man Blumen drapiert, die bereits die Köpfe hängen ließen. Auf dem schmucklosen Holzkreuz klebte sein Porträtfoto, dessen Ecken sich schon langsam aufrollten.

›Auch der Friedhof ist eine Endstation‹, ging es mir durch den Kopf.

»Es dauert eine Weile, bis der richtige Grabstein aus Granit fertiggestellt ist«, erklärte Mutter, die meinen Blick bemerkt hatte. »Und der ist nicht billig, aber ich habe dafür Geld auf die Seite gelegt.«

»Ja, das Grab wird sicher schön.«

»Felicitas, kommst du?« Mutter deutete auf den Kleinbus, in den die Trauergäste stiegen, um zurück nach Dunkelsteig zu fahren.

»Nein, ich gehe zu Fuß«, lehnte ich ab.

»Ich verstehe dich, mein Kind.« Mutter wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Du willst in aller Stille um deinen geliebten Vater trauern.«

»Genauso ist es.« Wozu sollte ich ihr noch mehr Kummer bereiten und dagegen argumentieren?

Das Läuten der Kirchenglocken verfolgte mich, als ich die Straße zurück nach Dunkelsteig marschierte. ›Ich hätte niemals zurückkehren dürfen‹, dachte ich. ›In Berlin habe ich alles vergessen, verdrängt, ein unbeschwertes Leben geführt.‹ Doch das stimmte so nicht, da machte ich mir etwas vor. Mein Leben in der deutschen Hauptstadt war alles andere als unbeschwert.

Während ich in Gedanken versunken die Straße entlangging, spürte ich erste Tropfen vermischt mit Schnee auf meinem Gesicht. Der Schneeregen wurde stärker, und eine feuchte Kälte drang durch meinen Blazer. Verdrossen verdoppelte ich meine Geschwindigkeit und eilte die Straße entlang. Schon immer hatte ich diese Übergangszeit gehasst, in der nicht mehr Herbst und noch nicht Winter ist.

Mit klappernden Zähnen hastete ich Weg zum Haus meiner Mutter hinauf. Der Schneeregen wurde immer stärker, legte sich wie ein schmutziges Tuch über das Anwesen und die halb fertige Garage.

Alles, was ich jetzt brauchte, war ein heißes Bad und anschließend Ruhe. Das kurze Gespräch mit Johannes hatte Erinnerungen in mir aufgewühlt. Doch noch immer schwirrten nur lose Teile in meinem Kopf herum, und ich konnte den dunklen Abend vor zwanzig Jahren nicht rekonstruieren, an dem sich mein Leben so dramatisch verändert hatte.

Als ich die Eingangstür öffnete, hörte ich Stimmengewirr aus dem Wohnzimmer, und siedend heiß fiel mir ein, dass Mutter ja die Trauergäste zu einem Umtrunk eingeladen hatte. Ich war gerade im Begriff, die Treppe hinauf in mein Zimmer zu schleichen, da hatte sie mich bereits entdeckt.

»Felicitas, wie siehst du denn aus?«

»Ich bin in den Schneeregen geraten.«

»Du hättest auf mich hören und mit uns fahren sollen«, meinte Mutter belehrend. »Geh nach oben und trockne dich ab. Zieh dir frische Kleidung über, aber bitte etwas Ordentliches.« Sie drehte sich um und trippelte wieder ins Wohnzimmer. »Beeil dich!«, rief sie mir noch zu, ehe sie verschwand.

In dem seelenlosen Zimmer, das früher mein Zuhause gewesen war, schloss ich das Fenster. Der Regen peitschte gegen die Scheibe, und ich atmete tief durch. ›Es war ein Fehler‹, dachte ich. ›Ich hätte nie herkommen sollen.‹ Jetzt war es zu spät, und ich musste mich den Tatsachen stellen, ob ich wollte oder nicht. Seufzend ging ich ins Bad und zog mich um. Im Spiegel betrachtete ich mein Gesicht. Die dunklen Ringe unter den Augen waren stärker geworden, und ich verspürte unendliche Müdigkeit. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich mich einfach ins Bett legen sollte, doch dann riss ich mich zusammen und ging nach unten.

Zum Glück nahm niemand von mir Notiz, als ich das Wohnzimmer betrat. Die meisten der Anwesenden waren in Gespräche vertieft, die sich um meinen Vater Franz drehten. Anekdoten aus seinem Leben wurden zum Besten gegeben, dazu wurde viel getrunken und gegessen. Ich stellte mich an einen Tisch, auf dem Bier und Weinkaraffen standen, und blickte mich um.

»Feli, schön dich zu sehen.« Es dauerte eine Weile, bis ich die Frau erkannte, die vor mir stand. Wieder ärgerte ich mich, dass ich die Brille in Berlin vergessen hatte.

»Dora, bist du das? Wow, du hast dich ja total verändert.« Ich erinnerte mich noch daran, dass Dora gerne an meiner oder Manus Schulter lehnte, wenn wir um ein Lagerfeuer saßen. Aber sie gehörte nie richtig zu unserer Clique, war immer nur ein Anhängsel gewesen.

»Findest du? Seit ich verheiratet bin, habe ich ziemlich abgenommen und mir einen neuen Look verpasst.« Dora lächelte geschmeichelt und strich sich durch die extrem kurzen, platinblonden Haare. »Du siehst noch immer verdammt gut aus. Ich liebe diesen Großstadtlook«, raunte sie mir zu und zog mich in eine Ecke des Wohnzimmers. »Wenn es mein Job zulässt, dann müssen wir uns unbedingt treffen. Du musst mir von deinem Leben erzählen.«

»Da gibt es nicht viel zu berichten«, wich ich aus. »Ich arbeite als Journalistin in Berlin.«

»Du hast es als Einzige geschafft, diesem Ort zu entfliehen.« Dora nickte anerkennend.

»Na ja, Joe ist immerhin Rechtsanwalt in Salzburg geworden«, warf ich ein.

»Das stimmt. Aber mit seinen Gedanken ist er immer noch in der Heimat. Außerdem ist er vor Kurzem wieder ins Haus seiner Eltern gezogen«, widersprach Dora.

»Was machst du eigentlich?«, wechselte ich schnell das Thema.

»Ich bin die Bürgermeisterin von Dunkelsteig.«

»Das ist ja bemerkenswert für diesen konservativen Ort.«

»Haha! Niemand außer mir wollte diesen undankbaren Job«, lachte Dora. »Nein, im Ernst, meine Frau hat mich sehr dabei unterstützt, zu kandidieren.«

»Deine Frau?«

»Warum schaust du so überrascht? Ich habe eine Frau geheiratet. Das ist heutzutage sogar in Dunkelsteig kein Problem mehr.«

»Gratuliere.« Spontan drückte ich Dora einen Kuss auf die Wange. »Ich freue mich für dich.«

»Und wie steht es mit dir? Hast du einen Partner, vielleicht sogar Kinder?«

»Nein. Keine Kids, und meine Ehe liegt gerade auf Eis.« Ich dachte an meinen Mann Tim und die hässlichen Szenen, die wir uns gegenseitig geliefert hatten, wenn ich ihn auf seine Passivität anredete. Das tägliche Leben hatte unsere einstmals so flammende Liebe zum Erlöschen gebracht.

»Ach, das wird schon wieder. Es gibt in einer Beziehung immer ein Auf und Ab«, munterte mich Dora auf. »Sei bloß froh, dass du damals von hier weg bist. Sonst wärst du vielleicht ähnlich versackt wie Adrian.«

»Ach ja, Addi. Ich habe ihn in der Kirche getroffen. Er hatte so hochfliegende Pläne und wollte unbedingt Schauspieler werden.«

»Das stimmt. Aber nach wenigen Wochen in Wien hatte er einen Nervenzusammenbruch und verlor seine Stimme. Er hat sich davon nicht wieder erholt«, meinte Dora düster.

»Wie schrecklich. Das habe ich nicht gewusst.« Jetzt konnte ich auch die ätzenden Worte von Johannes am Grab meines Vaters deuten. Es war eine gemeine Anspielung auf Adrians Krise gewesen.

»Ihr seid von heute auf morgen verschwunden. Es war ein Schock für uns alle, als das mit Manu passiert ist.«

»Ja, das war eine Tragödie«, presste ich hervor. Ich spürte, wie mein Magen zu rumoren begann. Es war, als würden die Puzzleteile in meinem Kopf verrücktspielen und mit aller Gewalt nach draußen drängen. Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, den Dingen auf den Grund zu gehen. »Hat sich danach noch etwas Neues ergeben?«

»Nein, die Ermittlungen wurden eingestellt. Vor einigen Jahren wurde Manu offiziell für tot erklärt und dann pro forma beigesetzt.«

»Ich habe es noch nicht über mich gebracht, ihr Grab zu besuchen. Warst du dort?«

»Nur beim Begräbnis. Bastelst du noch immer diese Armbänder?«, fragte Dora mit einem Mal und griff nach meinem linken Handgelenk. Aus Gewohnheit trug ich immer mehrere geflochtene Freundschaftsbänder gleichzeitig. Ich fabrizierte sie aus Lederbändern, wenn ich nicht schlafen konnte. Und das war oft der Fall.

»Ja, es ist beruhigend, wenn ich etwas mit den Händen herstelle, dabei kann ich gut denken«, erwiderte ich.

»Du bist ja in der Zwischenzeit ein richtiger Profi geworden«, meinte Dora anerkennend. »Das Band für Manu mit dem blauen Faden und ihren Buchstaben dazwischen war noch nicht so schön.«

»Tja, man lernt das Knüpfen eben erst mit den Jahren.« Ich dachte kurz nach, ehe ich weiterredete. »Gibt es eigentlich noch Akten über den Fall?«

»Wieso interessiert dich das?« Dora rückte unbewusst ein Stück von mir ab. »Das ist alles schon so lange her, und es gab damals ein großes Medienecho. So etwas wollen wir in Dunkelsteig nicht wieder erleben. Halte dich besser mit deinen Fragen zurück.«

»Klar doch.« Ich hob abwehrend beide Hände. »Ich will keine alten Wunden aufreißen. Ich würde nur gerne die damaligen Unterlagen einsehen. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich den Vorfall nochmals gedanklich aufarbeiten. Vielleicht komme ich dann etwas zur Ruhe und meine Albträume hören auf.«

»Die Sache verfolgt dich noch immer?«

»Ja, was denkst denn du? Das war die Katastrophe meines Lebens. Also was ist, kann ich die Unterlagen einsehen?«

»Nein, das ist ganz und gar unmöglich. Rechtlich sowieso, und außerdem bist du Journalistin und schreibst am Ende noch einen Artikel über damals. Das bietet sich doch an.«

»Ich habe nicht vor, darüber zu berichten. Aber vielleicht treffen wir uns im Café, dann können wir noch einmal über den Fall sprechen.«

»Vielleicht bietet sich eine Gelegenheit. Ich bin nur zurzeit mit einem großen Projekt ziemlich beschäftigt.« Dora nahm die Karaffe vom Tisch und schenkte sich ein Glas Wein ein. Dann gesellte sie sich wieder zu den Gästen, die sich um das Buffet drängten. »Ach, was ich dich noch fragen wollte«, meinte sie plötzlich und blieb auf halbem Weg stehen. »Tut es dir eigentlich leid, dass dein Vater gestorben ist?«

Ich zögerte kurz mit der Antwort, doch dann entschloss ich mich, bei der Wahrheit zu bleiben, und sagte: »Nein.«

KAPITELACHT

Felicitas - zwanzig Jahre früher

Im Sommer strahlt die Sonne in Dunkelsteig nur für wenige Stunden in die düsteren Gassen.

---ENDE DER LESEPROBE---