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„Ich wollte endlich wissen, warum so viele Menschen im Teufelsspalt verschwunden sind. Deshalb bin ich in Dunkelsteig geblieben …“ In dem mysteriösen Ort Dunkelsteig findet die Journalistin Felicitas Laudon im Haus ihrer Mutter ein Bündel Briefe. Sie stammen von ihrer Freundin Manuela, die vor zwanzig Jahren im Teufelsspalt verschwand. Manuela hatte sie damals einem älteren Mann geschrieben, in den sie heftig verliebt war. Hat vielleicht dieser geheimnisvolle Geliebte etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Felicitas beginnt nachzuforschen und stößt auf eine heiße Spur, die sie auch in das verlassene Berghotel am Teufelsspalt führt. Doch plötzlich erhalten Felicitas und ihre Freunde Adrian und Johannes verstörende Botschaften, die mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit zusammenhängen. Ein böses Psychospiel nimmt seinen Lauf, und noch ahnt niemand, welche Schuld die jungen Leute vor zwanzig Jahren auf sich geladen haben.
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Impressum
Anmerkung
Über die Autoren B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Damals – Manuela
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Damals – Felicitas
Kapitel 8
Kapitel 9
Damals – Liesl
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Damals – Manuela
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Damals – Grafinger
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Damals – Markus
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Damals – Manuela
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Damals – Felicitas
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Damals – Manuela
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Damals – Klara
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Damals – Klara
Kapitel 43
Kapitel 44
Damals – Erika
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Damals – Johannes
Kapitel 49
Kapitel 50
Damals – Manuela
Kapitel 51
Kapitel 52
Damals – Klara
Kapitel 53
Kapitel 54
Damals – Klara
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Danksagung
Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Blue Velvet Management GmbH urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
Copyright Blue Velvet Management e.U.,
Linz, März, 2022
Lektorat: Tat-Worte.de
Korrektorat: bueropia.de
Titelgestaltung: www.afp.at
Foto credits:
Haus: white house near body of water, RgiQiBKlyuQ, Photo by Valentin Wallet on Unsplash
Wald mit Nebel: green leafed pine trees, SrASYZZpyjw, Photo by Kyle Glenn on Unsplash
Felsen: Swiss Farming, n2sYTeYZlZk,Photo by Joel & Jasmin Førestbird on Unsplash
Wir haben uns erlaubt, einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als Leser werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.
Barbara und Christian Schiller leben und arbeiten in Wien und auf Mallorca mit ihren beiden Ridgebacks Calisto & Emilio. Gemeinsam waren sie über 20 Jahren in der Marketing- und Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für packende Thriller.
B.C. Schiller gehören zu den erfolgreichsten Spannungs-Autoren im deutschsprachigen Raum. Bisher haben sie mit ihren Thrillern über 2.000.000 Leser begeistert.
DUNKELSTEIG - Psychothriller:
DUNKELSTEIG –der erste Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – SCHULD –der zweite Band mit Felicitas Laudon
Weitere Psychothriller:
DIE FOTOGRAFIN
DIE SCHWESTER
MALLORCA-CRIME-THRILLER:
MÄDCHENSCHULD –ist der erste Band mit der Inspectora Ana Ortega und dem Europol-Ermittler Lars Brückner. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
SCHÖNE TOTE – der zweite Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
FAMILIENBLUT – der dritte Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
Die Tony-Braun-Thriller:
TOTES SOMMERMÄDCHEN – der erste Tony-Braun–Thriller –
»Wie alles begann«
TÖTEN IST GANZ EINFACH – der zweite Tony-Braun-Thriller
FREUNDE MÜSSEN TÖTEN – der dritte Tony-Braun-Thriller
ALLE MÜSSEN STERBEN – der vierte Tony-Braun-Thriller
DER STILLE DUFT DES TODES – der fünfte Tony-Braun-Thriller
RATTENKINDER – der sechste Tony-Braun-Thriller
RABENSCHWESTER – der siebte Tony-Braun-Thriller
STILLER BEOBACHTER – der achte Tony-Braun-Thriller
STRANDMÄDCHENTOD – der neunte Tony-Braun-Thriller
STILLES GRABESKIND – der zehnte Tony-Braun-Thriller
Alle Tony-Braun-Thriller waren monatelang Bestseller in den Charts. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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In einer alten Sage über den Ort Dunkelsteig steht in der Chronik geschrieben, dass die Magd Cäcilia aus Furcht vor den Dorfbewohnern mit ihrem Säugling in den Teufelsspalt sprang. Seit jener Zeit sind die Dunkelsteiger verflucht …
Der Teufelsspalt hat mich zurückgerufen, deshalb bin ich in Dunkelsteig geblieben.
Im November wirkte der lichtlose Ort in den Salzburger Alpen noch düsterer als gewöhnlich. Nebel zog durch die engen Gassen, und der Wind zerrte an den schwarzen Fahnen, die von den Bewohnern aus den Fenstern gehängt worden waren. Die eng aneinandergepressten Häuser mit ihren gemauerten Erdgeschossen und Holzaufbauten wirkten unter dem grauen Himmel noch niedriger, noch trostloser. Auf dem kleinen Platz vor der Kirche hatte sich bereits eine größere Menschenmenge eingefunden und wartete auf den Beginn der Prozession, die jedes Jahr stattfand. Viele der Frauen und Männer hielten Bilderrahmen mit Fotos oder Zeichnungen von vermissten Ahnen und Familienmitgliedern in den Händen, um sie später auf die hölzerne Bahre zu stellen, die dann feierlich durch den Ort getragen wurde.
Als ich auf den Dorfplatz trat, warf die steil aufragende Felswand hinter der Kirche ihren düsteren Schatten über die Menschen, drückte sie zu Boden und lastete schwer auf ihren Schultern. Mit einem Mal hatte ich den Eindruck, als würden die Dunkelsteiger unter der Bürde dieses Felsens nur noch gebeugt umherwandern.
»Felicitas, es überrascht mich, dich hier zu sehen«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Es war Renate, die Frau aus dem Gemischtwarenladen, wo ich ab und zu einkaufte. Sie hielt eine altertümliche Fotografie in einem schwarzen Rahmen in den Händen. »Wolltest du nicht schon längst abreisen?«
»Der Teufelsspalt lässt mich nicht los«, murmelte ich. Es stimmte, ich hatte vorgehabt, Dunkelsteig zu verlassen, aber eine Eingebung hatte mich bewogen, meinen Aufenthalt zu verlängern. Die Augenzeugin Ragnis hatte ihre Aussage über das Drama beim Teufelsspalt überraschend widerrufen und war dann nach Spanien gezogen. Deshalb war für mich Manuelas Verschwinden noch immer nicht geklärt. »Der Teufelsspalt lässt mich nicht los«, wiederholte ich leise.
»Bring nicht noch mehr Unruhe in unseren Ort«, flüsterte Renate mir warnend zu und entfernte sich schnell. Ich wollte ihr noch hinterherrufen, dass die Suche nach der Wahrheit niemals Unruhe erzeuge, doch in diesem Moment wurden die mächtigen Tore der Kirche geöffnet, und Pfarrer Thomas trat über die Schwelle. In seinem mit goldenen Stickereien verzierten Festornat wirkte er beeindruckend. Die Dorfbewohner senkten ehrerbietend die Köpfe, und einige Frauen in schwarzen Trauerkleidern fielen betend auf die Knie. Der Geistliche blieb auf dem obersten Treppenabsatz stehen und ließ den Blick über die versammelte Menge schweifen. Dann hob der Pfarrer seine Arme in die Höhe und wartete einen Moment. Plötzlich stoppte das Gemurmel, und es herrschte eine unheimliche Stille. Als der Diener Gottes endlich die ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt hatte, donnerten seine Worte über die Köpfe der Zuhörer.
»Wie jedes Jahr gedenken wir der Dorfbewohner, die der Teufelsspalt zu sich geholt hat. Bis heute haben die Dämonen der Berge keines ihrer Opfer jemals wieder freigegeben, und wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. Deshalb beten wir für diese armen Seelen und bitten unsere geliebte Cäcilia inständig, ihren Fluch zu widerrufen.« Der Geistliche reckte die gefalteten Hände erneut in den bleiernen Himmel und starrte in das diffuse Licht, so als würde er auf ein Zeichen Gottes warten. Doch nichts geschah, nur die Falken kreisten tiefer als gewöhnlich um den Kirchturm. Nach einer Minute des Schweigens trat der Pfarrer zur Seite, und vier Männer erschienen in dem Portal. Sie trugen eine mächtige Bahre aus dunklem Holz an eisernen Griffen über die Schwelle der Kirche. Untermalt von den düsteren Klängen einer Blaskapelle schritten sie gemessen die Stufen nach unten und wurden auf dem Platz sofort von den Dunkelsteigern umringt. Männer und Frauen platzierten ihre Fotos, Bilder, Zeichnungen und kleine Gemälde auf der Holzfläche, die bald so gefüllt war, dass einige der Abbildungen herunterfielen und auf den Boden flatterten.
Am Tag des Fluches holte man die Verschwundenen ins Leben zurück. Die Magd Cäcilia stammte aus einfachen Verhältnissen, konnte aber lesen und schreiben. Deswegen kamen die Bauern auch zu ihr, um Dokumente aufzusetzen. Doch als sie heimlich ein Kind gebar, hieß es, der Vater sei der Teufel gewesen. Sie wurde als Hexe angeklagt und von den Dorfbewohnern verfolgt. In ihrer Verzweiflung flüchtete Cäcilia mit ihrem Säugling zum Teufelsspalt in das Gebirge. Als ihre Häscher auftauchten, bettelte sie um Gnade für ihr Neugeborenes. Doch die Dorfbewohner waren unerbittlich und forderten den Tod der beiden. Als Cäcilia keinen Ausweg mehr sah, verfluchte sie ganz Dunkelsteig und sprang mit ihrem Kind in den Spalt. Das geschah vor dreihundert Jahren, und seit dieser Zeit verschwanden immer wieder Menschen im Teufelsspalt. Um den Fluch zu bannen, wurde Cäcilia in Dunkelsteig wie eine Heilige verehrt, und ihr zu Ehren gab es den Cäcilia-Tag. Doch das nützte nichts, denn der Fluch bestand weiter.
›Ich dachte, nur alle zwanzig Jahre verschwindet ein Mensch im Teufelsspalt‹, ging es mir durch den Kopf. So jedenfalls stand es in der alten Dunkelsteiger Chronik. ›Aber es müssen viel mehr Menschen sein, die bereits im Spalt verschwunden sind‹, überlegte ich verwirrt. Bis heute hatte man noch keine einzige Leiche gefunden.
Langsam zog ich die Fotos von Manuela und Tim aus der Tasche meines Trenchcoats und legte sie zu den anderen Fotos. Auch von diesen beiden gab es keine Spur.
Unter Gebeten trat der Pfarrer zur Bahre, versprengte Weihwasser und segnete all die Andenken an die Verschwundenen. Zwei Ministranten in gestärkten Rüschenhemden zündeten währenddessen Kerzen an und befestigten sie an der Tragbahre. Als die Segnung zu Ende war, hoben die Männer die Bahre hoch und setzten sich langsam in Bewegung. Die Blaskapelle intonierte einen Trauermarsch, und die Dorfbewohner formierten sich dahinter zu einer Prozession. Viele von ihnen hatten die Hände gefaltet und bewegten die Lippen in stummen Gebeten.
Ich schob mich an der Schlange schwarz gekleideter Frauen und Männer vorbei und schritt eine Weile neben der Bahre her. Automatisch griff ich nach meinem Handy, um ein Foto zu machen. Doch im letzten Moment hielt ich mich zurück; ich war nicht als Journalistin hier, sondern weil ich meiner besten Freundin gedenken wollte. Manuela Köstlinger war vor zwanzig Jahren nach einer Maturafeier unserer Clique im Teufelsspalt verschwunden. Es gab damals einen mächtigen Medienauflauf, in dessen Mittelpunkt ich und meine Freunde Adrian und Johannes gestanden hatten. Doch wie bei all den anderen Opfern, so hatte man auch von Manuela nie eine Spur gefunden. Nach diesem Drama hatte ich Dunkelsteig verlassen und war zwanzig Jahre lang weggeblieben. Erst vor ein paar Wochen, zum Begräbnis meines Vaters, war ich aus Berlin zurückgekehrt. Und wieder war ein mir nahestehender Mensch vom Teufelsspalt verschluckt worden: mein Ex-Mann Tim. ›Lastet ein Fluch auf mir?‹ Das fragte ich mich natürlich. ›Und werden noch mehr Menschen verschwinden, die mir nahestehen?‹ Darauf wusste ich keine Antwort. Die letzten Wochen nach Tims Unfall war ich mit einer Menge Formalitäten beschäftigt gewesen. Zum Glück konnte ich die Angelegenheiten online erledigen und musste nicht nach Berlin reisen. Zuletzt hatte ich meine Wohnung auf einem Immobilien-Portal untervermietet.
Unter den schwermütigen Klängen der Blasmusik liefen wir die Hauptstraße entlang, passierten Polizeistation und Bürgermeisteramt. In der Zwischenzeit war Nebel aufgekommen, und die schwankende Bahre mit den Bildern und Kerzen wirkte wie ein Totenschiff in grauer See. In einem schmalen Durchlass zwischen zwei alten Häusern erblickte ich eine Gestalt mit dunklen Locken. Es war mein alter Freund Adrian Brandner, der, mit den Händen in den Taschen seiner Lederjacke, die Prozession aus sicherer Entfernung beobachtete. Ich hob grüßend die Hand, und er bahnte sich sofort einen Weg durch die Menge.
»Hallo Addi«, sagte ich und küsste ihn auf beide Wangen.
»Hast du nicht den Zug nach Salzburg bestiegen?«, wunderte sich Adrian. »Und jetzt bist du wieder in Dunkelsteig?«
»Ich habe noch etwas zu erledigen«, erwiderte ich ausweichend.
»Lass mich raten«, hörte ich eine vertraute Stimme hinter meinem Rücken. Überrascht drehte ich mich um und blickte Johannes Rohringer ins Gesicht. »Das Geheimnis um Manus Verschwinden lässt dich nicht los, stimmts? Da trifft es sich ja gut, dass wir morgen eine Art Exorzismus geplant haben.«
»Einen Exorzismus, Joe?«, fragte ich irritiert.
»Quatsch. Wir treffen uns morgen Abend auf Addis Hof und löschen die bösen Geister der Erinnerung für immer. Du musst natürlich bei dieser Zeremonie auch dabei sein.«
»Ich weiß nicht so recht.«
»Du erinnerst dich doch daran, was wir uns damals versprochen haben, falls einer von uns früher gehen muss? Lass dich einfach überraschen!«
»Unsere Versprechen. Das ist ja wie damals Also gut, ich versuche zu kommen«, meinte ich und dachte an unsere Clique, die unzertrennlich gewesen war. Wir, das waren Manuela, Johannes, Adrian und ich.
»Dann sehen wir uns morgen«, verabschiedeten sich die beiden und tauchten in der Menge unter.
Vor dem Dorfwirtshaus Hirschen Wirt kam die Prozession, eingehüllt in die schleppende Musik der Blaskapelle, zum Stillstand. In der alten Wirtsstube hatten wir uns so manchen Rausch angetrunken und zu Robbie Williams ausgelassen getanzt. Damals waren wir so jung gewesen und hatten geglaubt, die Welt läge uns zu Füßen. Doch es war ganz anders gekommen.
Die Träger stellten die Bahre auf den Boden und schoben sie vorsichtig an die Hausmauer. In der einbrechenden Dunkelheit leuchteten die flackernden Kerzen auf Fotos und Andenken, verscheuchten die Schatten der Trauer, verbreiteten Hoffnung.
Ich ließ den Blick über die mit Lüftlmalerei geschmückte Mauer des Wirtshauses schweifen, und mit einem Mal begann alles vor meinen Augen zu flimmern. ›Verflixt‹, dachte ich, ›geht das schon wieder los!‹ Diese Sehstörungen traten immer dann auf, wenn ich Stress hatte oder mich unwohl fühlte. Das Flimmern wurde stärker, und plötzlich sah ich ganz deutlich das blonde Mädchen zwischen all den Kerzen und Andenken auf der Bahre hocken und mir zuwinken.
»Das ist nur eine Halluzination«, flüsterte ich und starrte in den dunklen Himmel. Langsam hörte das Flimmern auf und meine Augen beruhigten sich. Doch als ich den Blick senkte, setzte das Flimmern mit unverminderter Stärke erneut ein. Auch das blonde Mädchen war noch immer gegenwärtig und zeigte mit der Hand auf Manuelas Foto.
Flackernder Kerzenschein tanzte über die Fotos und Zeichnungen der verschwundenen Dorfbewohner und erweckte sie zu einem trügerischen Leben. Für einen kurzen Augenblick waren diese Menschen wieder präsent, und die Angehörigen tauschten leise ihre Erinnerungen aus. Es war ein stilles Verharren in tiefer Trauer, das plötzlich von lautem Rufen durchbrochen wurde.
»Die Resi ist verschwunden!« Ein Schrei gellte durch die Dunkelheit, und kurz darauf sah ich einen Mann auf das Wirtshaus zulaufen. Innerhalb von Sekunden war er von den Dorfbewohnern umringt.
»Was ist passiert?«, riefen alle durcheinander.
»Resi wollte das Vieh von der oberen Weide abtreiben. Sie hatte ihre kleine Tochter dabei. Eine Kuh hat sich in Richtung Teufelsspalt verirrt. Resi wollte das Vieh suchen. Anton, der Sohn des Bauern, hat vergeblich versucht, sie davon abzuhalten. Dann musste er sich aber um das Vieh kümmern. Die Kühe sind panisch nach unten getrampelt und haben das Gatter umgerissen. Als er wieder zum Teufelsspalt geschaut hat, waren Resi und ihre Tochter wie vom Erdboden verschluckt. Jetzt befürchtet Anton das Schlimmste.«
»Wir müssen die Resi und ihr Kind suchen!«, rief eine Stimme aus der Menge. »Lasst uns sofort aufbrechen. Der Teufelsspalt darf kein neues Opfer fordern. Nicht heute am Cäcilia-Tag. Das bringt uns noch mehr Unglück.«
Hektik kam auf. Fackeln wurden beschafft und entzündet. Keiner dachte mehr daran, ins Wirtshaus speisen zu gehen. Jemand drückte mir eine Fackel in die Hand, und ich schloss mich einer Gruppe an. Wir schritten die Dorfstraße entlang, bis wir den Waldrand erreichten. Soeben noch waren die Verschwundenen eine ferne Erinnerung gewesen, und plötzlich brach die Wirklichkeit über uns herein.
»Bildet eine Kette und geht langsam durch den Waldweg nach oben. Vielleicht wollten die beiden zurück ins Dorf und haben sich verirrt«, instruierte uns der Feuerwehrhauptmann, der noch immer seine Ausgehuniform trug.
»Das ist vergebliche Liebesmüh. Der Teufelsspalt hat sie geholt«, unkte ein Mann.
»Genau, die Mutter und das Kind sind im Teufelsspalt verschwunden, und von dort kommt keiner mehr zurück«, stimmte ihm eine ältere Frau zu. »Das war schon immer so.«
»Vergesst jetzt den Aberglauben. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, versuchte der Hauptmann positiv zu klingen. »Also los, bildet eine lang gezogene Kette.«
Ich reihte mich in eine Gruppe ein und wir stapften los. Vereinzelt waren noch Schneereste zu erkennen, aber ein Föhneinbruch vor ein paar Tagen hatte viel von der weißen Pracht weggeschmolzen, und das apere Gelände war schwarz und matschig. Immer wieder stolperte ich über Wurzeln und Äste, konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich blickte zu meinem Nachbarn, doch die Menschenkette war so weit auseinandergezogen, dass ich ihn nur noch als Schattenriss wahrnahm. Wieder war ein Knacken zu vernehmen. Ich blieb kurz stehen und leuchtete mit dem Fackellicht nach unten. Der Boden war über und über mit schwarzen Blättern bedeckt, und es roch modrig. Ein Jammern setzte ein, die Blätter raschelten. Vorsichtig bückte ich mich, um nachzusehen, was sich im Unterholz bewegte. Als ich die Fackel noch tiefer hielt, sprang mit einem Mal ein Tier mit einem wütenden Fauchen direkt auf mich zu. Instinktiv schlug ich mit der Flamme danach, und mit einem großen Satz verschwand es in der Dunkelheit.
»Das war ein Fuchs«, hörte ich hinter mir die Stimme des Feuerwehrhauptmanns. »Kannst von Glück reden, dass es kein Wolf war. Man merkt eben, dass du lange Zeit in der Stadt gelebt hast.«
Ich wollte erwidern, dass es auch in Berlin Füchse gab, aber der Hauptmann war schon wieder in der Dunkelheit verschwunden.
Die Suche war vergebens, und als wir uns sammelten, wirkten die meisten der Bewohner niedergeschlagen und mutlos.
»Der Teufelsspalt hat sich wieder neue Opfer geholt«, flüsterte eine Frau und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen.
Ein Mann drängte sich durch die Menge der Dorfbewohner und kam auf mich zu. Er war groß, breitschultrig, und im Schein der Fackel sah ich, dass er dunkelblond war und einen Vollbart hatte. Es war Markus, der Förster. Im Wirtshaus wurde erzählt, dass er bald vom Gemeinderat zum neuen Bürgermeister von Dunkelsteig gewählt werden würde. Wie immer trug er einen grauen Walkjanker.
»Ich dachte, du bist schon wieder in Berlin, Felicitas?«
»Dunkelsteig lässt mich einfach nicht los«, erwiderte ich mit einem halbherzigen Lächeln.
»Kommt dir die Situation hier nicht auch bekannt vor?«, fragte Markus.
»Wie meinst du das?«
»Diese Frustration der Suchmannschaft, weil man wieder nichts gefunden hat. Das erinnert mich frappant an die Nacht, in der Manuela verschwunden ist. Ihr habt es damals ziemlich krachen lassen bei euren Feiern.«
»Und du hast uns dabei immer beobachtet.«
»Ich habe mir nur Sorgen um Manu gemacht.«
»Manu durften sie nur ihre engen Freunde nennen«, korrigierte ich Markus. »Soweit ich mich erinnere, gehörtest du nicht zu unserer Clique.«
»Ich muss jetzt wieder die Suche mitkoordinieren.« Markus ignorierte meine Bemerkung, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. ›Markus Hinteregger‹, dachte ich, ›jetzt bist du hier der Förster, ehrenamtlich bei der Bergrettung, und spitzelst auf den Bürgermeisterposten.‹ Er war damals unserer Clique bei vielen Unternehmungen immer hinterhergeschlichen und hatte uns mit dem Feldstecher beobachtet. Er wusste über vieles Bescheid, was wir so unternahmen.
»Ist nicht erst vor Kurzem ein Freund von dir im Teufelsspalt verschwunden?«, fragte mich plötzlich eine Frau. Einige der Dorfbewohner drehten sich um und betrachteten mich argwöhnisch. Langsam kamen sie näher, bildeten einen Kreis um mich.
»Das war ein Unfall«, antwortete ich.
»Ach – genauso wie vor zwanzig Jahren«, hörte ich eine höhnische Stimme. Mit finsteren Mienen rückten die Dorfbewohner immer enger an mich heran. Ihre ausgemergelten Gesichtszüge erinnerten an alte Holzschnitte. Im Wind züngelnde Fackeln verströmten eine Hitze wie auf einem Scheiterhaufen, und genauso fühlte ich mich in diesem Moment.
»Du ziehst das Unglück an. Vielleicht bist du verflucht, Felicitas.«
»Ihr und euer Aberglaube. Das ist mir jetzt aber wirklich zu dumm.« Ich streckte meine Hand mit der Fackel aus und bahnte mir einen Weg durch den Menschenring. Nur sehr unwillig gaben sie den Weg frei, und ich spürte, wie sich mein Herzschlag beruhigte. Ich lehnte mich an einen Stein und atmete tief durch. Plötzlich erblickte ich drei Personen zwischen den Felsen auf uns zulaufen.
»Da kommt jemand!«, rief ich aufgeregt. Ich erkannte Resi, ihre kleine Tochter und einen unbekannten Mann. Als der Fremde näher trat, blieb mir die Luft weg und mein Herzschlag setzte aus. Im ersten Augenblick dachte ich, mein verschwundener Ex-Mann Tim wäre wieder aus dem Teufelsspalt emporgestiegen. Doch als der Mann in den Schein der Fackel trat, erkannte ich, dass seine Gesichtszüge und Augen gänzlich anders wirkten.
»Ich habe Mutter und Kind oben beim Teufelsspalt gefunden. Sie haben sich verirrt«, erklärte der Fremde und fixierte mich mit eisblauen Augen.
Es war Tradition in den Schulen der Bergtäler, dass die Maturaklassen in der Woche vor den schriftlichen Prüfungen einen Ausflug ins Gebirge unternahmen. Auch das Gymnasium in Schwarzach machte dabei keine Ausnahme. Doch diesmal hatte sich der Klassenlehrer etwas Besonderes ausgedacht. Er wollte mit seinen Schülern zu dem berüchtigten Teufelsspalt wandern, um direkt vor Ort von der Sage zu berichten. Um dieser Klassenfahrt den richtigen Rahmen zu bieten, hatte er den Pfarrer von Dunkelsteig gebeten, daran teilzunehmen und aus der Chronik zu zitieren. Die Jungen und Mädchen kannten die alte Sage natürlich, denn sie wurde von Generation zu Generation weitergegeben und war fixer Bestandteil der dörflichen Gemeinschaft. An den langen Winterabenden erzählte man sich mit düsteren Mienen die Geschichten über spurlos verschwundene Männer und Frauen. Mit leisen Stimmen wurden die Erzählungen ausgeschmückt, erweitert und mit Horrorelementen angereichert.
»Wagt euch niemals bei Vollmond nachts zum Teufelsspalt hinauf«, warnten auch die Väter ihre übermütigen Jugendlichen, die einen nächtlichen Ausflug dorthin als Mutprobe ansahen.
Doch an jenem strahlenden Frühlingstag war das Gebirge nicht unheimlich. Lachend schlenderten die beiden Mädchen den Waldweg entlang und machten sich lustig über ihre ängstlichen Eltern. Hinter Manuela und Felicitas ging Thomas, der neue Pfarrer von Dunkelsteig. Immer wieder blickten die Mädchen zu ihm nach hinten, und jedes Mal schenkte er ihnen ein freundliches Lächeln. Der Geistliche hatte blaue Augen, schöne weiße Zähne, und in seinen engen Jeans wirkte er sportlich sexy. Unter dem Arm trug er ein dickes Buch. Es war die Chronik von Dunkelsteig, die in der Kirche aufbewahrt wurde.
»Wie findest du unseren neuen Pfarrer?«, flüsterte Manuela ihrer Freundin zu, nachdem sie sich zum wiederholten Mal umgedreht hatte.
»Scheint ein cooler Typ zu sein«, antwortete Felicitas.
»Finde ich auch. Endlich jemand, der gut aussieht und intelligent ist. Schade, dass er ein Pfarrer ist.« Manuela seufzte und stieß ihre Freundin mit dem Ellbogen an. »Weißt du, was ich nicht verstehe?«
»Was denn?«
»Wie kann man sich nur freiwillig nach Dunkelsteig versetzen lassen.«
»Vielleicht denkt er, dass wir ein heidnisches Bergvolk sind, das er unbedingt bekehren muss«, meinte Felicitas mit todernster Miene.
»Ja, ein wilder Bergstamm mit wüsten Fruchtbarkeitsritualen«, ergänzte Manuela, und beide kicherten verhalten. »Wir laden ihn mal zu einer Party ein und testen dann, wie ernst er das Zölibat nimmt. Was meinst du, Feli?«
»Du willst doch nicht den Pfarrer verführen?« Felicitas verzog skeptisch das Gesicht. »Das bringt bloß Unglück.«
»Was ist heute los mit dir? Glaubst du, der Teufelsspalt holt mich, bloß weil ich mit dem Pfarrer flirte?« Manuela hielt sich theatralisch die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.
Mittlerweile hatte die Klasse den Aufstieg ins Gebirge geschafft und stand jetzt vor einer tiefen Spalte, die wie eine klaffende Wunde den Fels teilte, in dem immer wieder Menschen spurlos verschwanden. Das war der Teufelsspalt.
»Ich bitte um Ruhe!« Der Klassenlehrer warf einen mahnenden Blick auf die beiden Mädchen und zog die Augenbrauen zusammen. »Wir sind hierhergekommen, um mehr über die alte Sage über den Teufelsspalt zu erfahren.«
Plötzlich verwandelte sich der Himmel. Soeben noch blau, wurde er von schwarzen Wolken erobert, die sich vor die Sonne schoben und die Landschaft verdunkelten. Ein kalter Wind kam auf, heulte unheimlich zwischen den Felsen. Der Klassenlehrer blickte nervös umher, während der Pfarrer aus der Chronik zitierte.
»In den alten Büchern steht geschrieben, dass alle zwanzig Jahre ein Mensch im Teufelsspalt verschwindet«, las der Geistliche aus dem dicken Buch vor. Er hatte Mühe, im Wind die Seiten festzuhalten. Auf Manuela machte es den Eindruck, als würden die geheimen Mächte, die im Teufelsspalt hausten, verhindern wollen, dass man darüber redete.
»Der Teufelsspalt mag es nicht, wenn man über seine Opfer erzählt«, flüsterte Manuela ihrer Freundin ins Ohr.
Felicitas hatte sich eine Jacke über die Schultern geworfen und wirkte ziemlich verfroren. Sie schlenderte jetzt zu Adrian und sprach leise mit ihm. Obwohl es schon am Morgen nicht sonderlich heiß gewesen war, hatte sie sich ein bauchfreies Top angezogen und ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten war sie geschminkt und hatte knallroten Lippenstift aufgetragen, der ihrem breiten Mund einen sinnlichen Glanz verlieh. ›Auf diese Weise willst du wohl Adrian bezirzen‹, dachte Manuela. Sie spürte ein Gefühl von Eifersucht, als sie Felicitas so im trauten Gespräch mit Adrian beobachtete.
»Immer wieder verschwinden Menschen spurlos im Gebirge. Oft führt die letzte Spur direkt zum Teufelsspalt«, drang jetzt wieder die Stimme des Pfarrers in ihr Bewusstsein. Er war von seinem Vortrag so hingerissen, dass er die Wetterverhältnisse völlig vergessen hatte.
Während Manuelas Mitschüler aufmerksam dem Vortrag lauschten, langweilte sie sich. Unbemerkt streunte sie zwischen den Felsen umher, bis sie den Rand der Felsspalte erreichte und nach unten blickte. Ein paar kümmerliche Büsche wuchsen an den steilen Wänden, und der Wind röhrte wie ein lauerndes Ungeheuer aus der Tiefe herauf. Manuela wollte schon wieder zurückgehen, doch dann hatte sie eine Idee:
»Susi, kannst du mich hören?«, rief sie mit tiefer Stimme in den schwarzen Abgrund hinein. »Susi, wenn du dort unten dein Unwesen treibst, dann hat dein letztes Stündlein geschlagen, denn jetzt wird dich der Pfarrer exorzieren.«
Irritiert blickte der Geistliche von seinem Buch auf. Die Mitschüler kicherten, und der Klassenlehrer rief: »Manuela, lass diesen Unsinn!«
»Mädchen, versündige dich nicht.« Der Geistliche klappte sein Buch zu und blickte sie ungehalten an. »Man soll die Geister in der Zwischenwelt nicht reizen.«
»Das ist doch alles nur Quatsch«, erwiderte Manuela patzig. »Ich glaube nicht an übersinnliche Phänomene. Damit können Sie vielleicht die alten Weiber im Dorf beeindrucken, uns aber nicht.«
»Manuela, hör mit diesen albernen Provokationen auf«, ermahnte sie der Klassenlehrer. »Es ist nichts lächerlich daran, wenn Menschen spurlos verschwinden.«
Natürlich war daran nichts Komisches, das wusste auch Manuela. Aber sie glaubte einfach nicht an diese Sage, die in der Kirchenchronik von Dunkelsteig niedergeschrieben war. Eine der Verschwundenen hieß Susanne. Sie war abgestürzt und nicht vom Teufelsspalt geholt worden, da war sich Manuela sicher. Ihre Mutter hatte Susi als junges Mädchen gemalt, daran erinnerte sie sich genau. Es war das Bild eines elfenhaften Wesens, das mit wehenden Haaren in einem langen weißen Kleid über die Geröllhalden sprang. Manuela hatte das Bild immer gehasst, weil sie Liesl verdächtigte, sich eine Tochter wie Susi zu wünschen.
»Ehe wir zurückgehen, berichte ich euch noch kurz von einem Bauern aus Dunkelsteig«, übernahm jetzt der Klassenlehrer. Mit einschläfernder Stimme erzählte er von einem Opfer, das vor vierzig Jahren im Teufelsspalt verschwunden war.
»Rudolf Sternberg war auf der Suche nach einer verirrten Ziege in die Berge gestiegen. Dort an der Kante wurde sein Rucksack gefunden. Er selbst ist spurlos verschwunden.«
Wieder konnte sich Manuela nicht zurückhalten und formte ihre Hände zu einem Trichter: »Rudi!«, rief sie, so tief sie konnte.
Sofort wurde das Echo schaurig von den Felswänden zurückgeworfen. Gerade als der Klassenlehrer ihr erneut eine Rüge erteilen wollte, ertönte plötzlich von der gegenüberliegenden Seite des Abgrunds eine Grabesstimme. »Auf dem Grund des Teufelsspalts lodert meine arme Seele in ewiger Verdammnis!«
Manuela stieß einen erstickten Schrei aus, und auch ihre Mitschüler blickten ängstlich umher. Felicitas klammerte sich angstvoll an Adrians Arm, und Johannes wich ganz nach hinten zurück, bereit, sofort loszurennen. Der Pfarrer bekreuzigte sich, nur der Klassenlehrer ging mit finsterer Miene direkt auf den Spalt zu. »Wer treibt hier Schabernack?«, fragte er verärgert.
»Um Gottes willen, passen Sie bitte auf, dass Sie nicht abrutschen!«, warnte ihn der Geistliche. »Vielleicht war es nur der Wind und wir haben uns das eingebildet.« Doch kaum hatte der Pfarrer geendet, ertönte ein schauriges »Manu! Manu!« – lauter als zuvor. Und es kam direkt aus dem Teufelsspalt. Erschrocken drehten sich die Schüler zu Manuela und wichen vor ihr zurück, als wäre sie eine Aussätzige.
»Ich habe keine Ahnung, wer da meinen Namen ruft«, erwiderte sie und wurde ganz blass im Gesicht.
»Manu, ich komme dich jetzt holen!«, röhrte die Stimme bedrohlich. Manuela riss die Augen auf, und es kam ihr vor, als würde dichter, schwarzer Rauch aus dem Spalt emporsteigen.
Panisch wich sie zurück und stieß einen leisen Schrei aus. Plötzlich tauchte auf der anderen Seite des Teufelsspalts eine Gestalt in einem grauen Walkjanker auf. Die Person breitete die Arme aus und stieß ein gellendes Gelächter aus, das von den Felsen widerhallte. Manuela blieb wie angewurzelt stehen. Mit einem Mal fiel ihr ein, wem diese Stimme gehörte.
»Du verdammter Idiot!«, rief sie wütend und turnte wieder über die Geröllhalde hoch. »Das findest du wohl witzig!« Sie strich sich die langen blonden Haare zurück und wäre am liebsten im Boden versunken. Man hatte sie vorgeführt und zum Narren vor ihrer Klasse gehalten. Morgen würde es die ganze Schule wissen. Sie war die Lachnummer des Tages.
»Wer ist das, Manu?«, fragte Felicitas und konnte sich vor Neugierde kaum noch zurückhalten, als die Freundin wieder neben ihr stand.
»Das ist Markus, der Sohn vom Förster«, schnaubte Manuela. »Ich habe ihn schon öfter abblitzen lassen, aber der Typ schleicht mir trotzdem seit Wochen hinterher. Markus wollte mir wohl einen Streich spielen, aber das werde ich ihm noch heimzahlen.«
Ein kalter Luftzug fegte durch das Zimmer, und rhythmisches Trommeln riss mich aus dem Schlaf. Verwirrt blickte ich umher und sah, dass sich ein Fensterflügel geöffnet hatte und ständig gegen die Brüstung schlug. Mit klappernden Zähnen hüpfte ich aus dem Bett, fixierte den Balken und ging ins Bad. Nach der gestrigen Suche war ich erst weit nach Mitternacht nach Hause zurückgekehrt und sofort todmüde ins Bett gefallen. Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte ich in meine Kleidung und stieg die Treppe nach unten.
»Mutter, bist du da?«, rief ich in die Küchenstube hinein. Als ich eintrat, blubberte die Kaffeemaschine, und auf dem Tisch lag ein Zettel.
»Bin zur jährlichen Morgenjause im Hirschen Wirt aufgebrochen, Mama«, las ich.
»Mama«, murmelte ich laut. Das Wort klang fremd, denn so hatte ich Erika nie genannt. Für mich gab es nur Mutter, und als ich älter war, nannte ich sie Erika. Um meine Lebensgeister zu beleben, trank ich eine Tasse schwarzen Kaffee und zog dann meinen Trenchcoat über.
›Überall haben sie für heute sonniges Wetter gemeldet, nur nicht hier‹, dachte ich sehnsüchtig, als ich aus dem Haus trat. Der Himmel war tiefblau, aber in Dunkelsteig war es wie immer düster. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich hier das letzte Mal einen wärmenden Sonnenstrahl auf meinem Gesicht verspürt hatte. Vielleicht damals im Hochsommer, als ich mit Manuela die Sonnenstrahlen im Ort einfing. Es war ein Spiel, das uns immer großen Spaß bereitet hatte.
Langsam schlenderte ich den steilen Hang hinunter und drehte mich an der Straße noch einmal um. So konnte ich mein Elternhaus in seiner ganzen Hässlichkeit betrachten. Mein Großvater hatte es ohne jeden Sinn für Ästhetik einfach in den Hang hinein gebaut und alles der Zweckmäßigkeit untergeordnet. Es war ein zweistöckiges Holzgebäude mit einem Balkon im ersten Stockwerk, wie viele der Häuser im Ort. Die Dachschindeln waren mit Steinen beschwert und wirkten wie der warzige Rücken einer Kröte. Die Vorderfront mit den schmalen vergitterten Fenstern im Erdgeschoss erinnerte mich immer an ein Gefängnis. Die Zimmer im Haus waren klein und niedrig, dadurch konnte man sie im Winter besser heizen. Dort, wo früher der Stall war, gab es noch die halb fertige Garage, die niemals zu Ende gebaut werden würde, da war ich mir sicher. Daneben stand eine fragile Holzkonstruktion, die mein Vater als Schuppen über einen ehemaligen Vorratskeller gebaut hatte, wo wir Kohle und Holz für den Winter lagerten und die überraschenderweise seit über zwanzig Jahren jedem Sturm trotzte.
Nach diesem Blick zurück begab ich mich auf den Weg ins Dorf.
Aus der Ferne erblickte ich bereits die Kirche, hinter der sich die steile Felswand emporreckte, deren Schatten weit über den Dorfplatz reichte. Daneben befand sich der Hirschen Wirt. Das Wirtshaus war schon über zweihundert Jahre alt, das gemauerte Erdgeschoss mit Lüftlmalerei verziert, die winzigen Fenster wie bei uns vergittert. Die hölzernen Wände im Obergeschoss wirkten verwittert, und auf dem lang gestreckten Holzbalkon hingen leere Blumenkästen. An die Außenfassade waren Dutzende Geweihe von Hirschen genagelt, die über Jahrhunderte von den Besitzern erlegt worden waren und denen das Wirtshaus seinen Namen verdankte. Der Hirschen Wirt befand sich bereits in vierter Generation im Besitz der Familie Eibler und wurde zur Zeit von Traudi und ihrem Bruder Christoph geführt. Die Geschwister gaben dem Wirtshaus vor einigen Monaten erstmals einen Namen. Da es keine andere Gaststätte zum Speisen gab, war der Hirschen Wirt der einzige Treffpunkt in Dunkelsteig. Doch in den niedrigen Wirtsstuben wurde nicht nur gegessen, sondern auch so manches Familiengeheimnis ausgeplaudert und Geschäfte per Handschlag fixiert.
Mit diesen Gedanken im Kopf stieß ich die Wirtshaustür auf und betrat das zugige Gewölbe. Links hörte ich das geschäftige Klappern aus der Küche und rechts brandete das Gemurmel aus der Gaststube zu mir.
Noch einmal atmete ich tief durch, dann öffnete ich die Tür zur Stube. Traudi hatte den Innenraum wie eine Jagdhütte dekoriert. Auch hier hingen überall an den Wänden Büchsen und Hirschgeweihe. An der rückwärtigen Wand hatte man den mächtigen Zwölfender samt Kopf platziert, den Traudis Vater einst erlegt hatte. Die Wirtin stand hinter der Schank und zapfte gerade frisches Bier in die Gläser. Sie trug ein Dirndl und hatte ihre blonden Haare zu einem Knoten gedreht. Als sie mich erblickte, stutzte sie und machte mir mit der Hand Zeichen, die ich zunächst nicht deuten konnte.
Jetzt hatten mich auch einige der Gäste bemerkt und betrachteten mich unverhohlen feindselig. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen aufgeregt zu tuscheln.
»Grüß Gott«, sagte ich freundlich und hob die Hand. Schlagartig verstummte das Gemurmel, und eine bedrückende Stille breitete sich aus, schwappte wie eine Welle des Schweigens über mich und nahm mir die Luft zum Atmen. Um mich zu beruhigen, fixierte ich den ausgestopften Hirschkopf an der rückwärtigen Wand. Doch mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als würden die Glasaugen des Tiers mich fordernd anglotzen, und auch sein Maul bewegte sich in genüsslichen Kaubewegungen.
»Das ist alles nicht real«, flüsterte ich und konzentrierte mich auf den Stammtisch, an dem ich meine Mutter entdeckte. Erika hatte mich noch nicht bemerkt, denn sie war in ein Gespräch mit dem Pfarrer und Karl, dem Gemeindearzt, vertieft. Dabei blickte Karl Erika sehnsüchtig in die Augen, und jeder am Tisch konnte erkennen, wie verliebt der Arzt in meine Mutter war. Seit Vaters Tod musste er seine Gefühle nicht mehr unterdrücken, und sein jahrelanges Versteckspiel hatte ein Ende. ›Ob ich wohl auch noch einmal im Leben so einen Mann finden werde, der mich grenzenlos liebt?‹ Bisher hatte ich wie ein Magnet immer die Falschen angezogen, und ich überlegte ernsthaft, den Rest meines Lebens als Single zu verbringen. Doch jetzt schob ich diese einsamen Gedanken in mein Herz zurück und schritt zu dem Tisch. Bevor ich mich zu meiner Mutter setzen konnte, stellte sich Traudi in den Weg und streckte mir ihr ausuferndes Dekolleté entgegen.
»Der Tisch ist voll, Felicitas. Tut mir leid.«
»Aber Erika sitzt doch am Stammtisch. Neben ihr ist sicher noch ein Platz frei.« Ich deutete zu meiner Mutter, die sich jetzt umdrehte und mich mit einem hilflosen Blick bedachte.
»Das mag schon sein, aber du bist hier im Moment nicht erwünscht«, ließ sich Traudi nicht umstimmen. Sie beugte sich zu mir und flüsterte: »Komm ein andermal wieder. Am Tag nach der Prozession sind die Leute immer voller Erinnerungen und ganz aufgewühlt. Sie wissen ja, dass du Journalistin bist, und haben Angst, dass du über die Verschwundenen vom Teufelsspalt schreibst. Jetzt, wo Markus den Tourismus ankurbeln will.«
»Ich bin als Privatperson hier«, verteidigte ich mich. »Und ich lasse mich nicht einschüchtern. Schließlich bin ich in Dunkelsteig geboren.«
Eine ältere Frau mit Kopftuch, die am Ende der Bank saß, erhob sich und trat direkt vor mich. Mit wässrigen Augen betrachtete sie mich von oben bis unten. »Du gehörst nicht mehr zu uns, Felicitas.«
Traudi atmete heftig aus, stemmte die Fäuste in die Hüften und drehte sich zu der Frau. »Vergraul mir nicht die Gäste. Setz dich wieder hin, Maresi.«
Doch die Alte ignorierte die Wirtin und wandte sich an die anderen Gäste, die uns neugierig anstarrten. »Was meint ihr? Ist Felicitas in unserem Ort willkommen? Sie ist auch schuld am Tod ihres Mannes. Wie ihr wisst, ist er im Teufelsspalt verschwunden. Auf ihr lastet ein Fluch. Sie bringt nur Unheil über unseren Ort.«
»So ein Blödsinn«, widersprach ich. »Das mit meinem Ex-Mann war ein Unfall.«
»Das glaubt dir hier niemand.«
»Ihr habt bloß Angst, dass die Wahrheit über Manuelas Verschwinden ans Licht kommt.«
Die Dunkelsteiger am Tisch wandten sich ab, blickten betreten in ihre Gläser, vermieden jeden Blickkontakt und schwiegen. Plötzlich erhob sich meine Mutter und schritt bedächtig auf mich zu. Sekundenlang blieben wir voreinander stehen, dann umarmte sich mich. »Felicitas, mein Kind, heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um einen Streit vom Zaun zu brechen.«
»Hör auf deine Mutter«, meinte die Alte triumphierend in das Schweigen hinein. »Keiner will, dass du über uns schreibst. Am besten fährst du auf der Stelle mit dem Zug wieder zurück in die Großstadt.«
»Meine Tochter bleibt, so lange sie möchte«, stellte sich Erika auf meine Seite.
»Lass gut sein, Mutter«, erwiderte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Wisst ihr was«, platzte es mit einem Mal aus mir heraus. »Ich hatte überhaupt nicht vor, über Dunkelsteig zu schreiben, aber jetzt finde ich die Idee gar nicht so schlecht. Ob es euch passt oder nicht, ich bleibe, bis diese ganzen Ungereimtheiten über den Teufelsspalt gelöst sind.«
Jetzt waren die Fronten geklärt. Ich presste die Lippen aufeinander, blinzelte hektisch, riss mich aber zusammen. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und ging hoch erhobenen Hauptes auf den Eingang zu. Mit einem kräftigen Ruck riss ich die Tür auf und trat hinaus in das Gewölbe. Doch draußen verließ mich meine Selbstbeherrschung. Ich begann unkontrolliert zu zittern und musste mich an die Wand lehnen. In dem halb blinden Spiegel gegenüber wirkte meine verzerrte Gestalt in dem langen Trenchcoat wie eine Vogelscheuche.
»Warum sind die Dunkelsteiger so verbohrt?«, murmelte ich verzweifelt und starrte in mein Spiegelbild. »Warum will niemand der Wahrheit auf den Grund gehen?«
›Ja, warum?‹ Das konnte ich mir einfach nicht erklären. Lag es daran, dass ich noch immer Nachforschungen anstellte, was mit Manuela tatsächlich passiert war? Das passte einigen Leuten in Dunkelsteig vielleicht nicht, denn sie wollten, das Gras über die alte Geschichte wuchs und der zukünftige Tourismus nicht beeinträchtigt wurde. Seit Tims Verschwinden im Teufelsspalt hatte sich zum Glück nur eine Zeitung wieder mit der alten Chronik von Dunkelsteig und dem angeblichen Fluch, der über dem Ort kreiste, beschäftigt. Natürlich fürchteten die Dunkelsteiger, dass ich das Medieninteresse wieder ankurbeln würde, denn schließlich hatte ich zwei mir nahestehende Menschen im Teufelsspalt verloren.
›Ist wirklich etwas Wahres daran, dass die Magd Cäcilia den Ort verflucht hat? Oder will die Dorfgemeinschaft jemanden beschützen, der sich vielleicht schuldig gemacht hat?‹ Diese dunklen Gedanken schossen mir plötzlich in den Kopf, und eine neue Energie durchströmte meinen Körper. Die Zeit war gekommen, um die Wahrheit aufzudecken, wie schmerzlich es auch werden könnte. Ich würde mich von meinem Vorhaben nicht abhalten lassen, das wusste ich in diesem Moment. Plötzlich erinnerte ich mich an Manuelas Lachen und ihren positiven Lebenswillen, wenn etwas im Moment unmöglich erschien. Dann rief sie mir zu: »Feli, wir schaffen, was wir wollen. Niemand kann uns aufhalten!«
»Ja, Manu. Wir schaffen alles«, sagte ich laut und streckte die Daumen zur Decke. Dann eilte ich auf die Toilette und schloss die Tür hinter mir. In diesem Moment sperrte jemand von außen zu, das Licht erlosch, und rings um mich wurde alles schwarz.
Blind tappte ich durch den kleinen Raum. Stieß gegen die Kacheln, erwischte endlich die Klinke und drückte sie nach unten. Nichts rührte sich, ich war tatsächlich eingesperrt. Ich rüttelte an der Tür, doch sie blieb verschlossen. Mit der Hand tastete ich an der Wand entlang bis zum Lichtschalter, legte ihn um, doch es blieb dunkel.
»Hilfe, ich bin hier eingeschlossen!«, rief ich in die Finsternis und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Wieder drückte ich die Klinke und rüttelte vergeblich daran. Mein Puls beschleunigte sich und mein Herz raste wie verrückt.