Dunkle Momente - Elisa Hoven - E-Book

Dunkle Momente E-Book

Elisa Hoven

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Beschreibung

»Jede Tat hat eine Geschichte« Eva Herbergen ist Strafverteidigerin mit ganzer Seele. Ihre Aufgabe ist es, Menschen vor Strafe zu bewahren: die berühmte Schriftstellerin, den gebrechlichen Millionär, die überforderte Stiefmutter. Sie weiß, es braucht nicht viel, dass aus einem Menschen ein Verbrecher wird, vielleicht sogar ein Mörder. Es genügt ein dunkler Moment, der die Wendung markiert – zum Opfer oder zum Täter. Auch Eva kämpft mit diesen Grenzen, die sie selbst schon überschritten hat, mit den blinden Flecken unserer moralischen Verurteilung. Mit jedem Fall, den Eva erzählt, in dem die Grenze zwischen Gerechtigkeit und Recht verschwimmt, lösen sich ihre Gewissheiten auf. Bis sie sich fragt, welche Konsequenzen sie ziehen muss. »Dunkle Momente« ist ein packender Roman über die ethischen und moralischen Dilemmata jedes Einzelnen, darüber, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer das Gleiche sind. Mit unbestechlichem Blick stellt Elisa Hoven die Eindeutigkeit infrage und zeigt, dass ein Mensch immer mehr ist als seine Tat. 

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Elisa Hoven

Dunkle Momente

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Jede Tat hat eine Geschichte

Eva Herbergen ist Strafverteidigerin mit ganzer Seele. Ihre Aufgabe ist es, Menschen vor Strafe zu bewahren: die berühmte Schriftstellerin, den gebrechlichen Millionär, die überforderte Stiefmutter. Sie weiß, es genügt ein dunkler Moment, der ein Leben für immer verändern kann, der die Wendung markiert – zum Opfer oder zum Täter. Eva kämpft mit den blinden Flecken unserer moralischen Verurteilung und mit den Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit. Mit jedem Fall, den Eva erlebt, lösen sich ihre Gewissheiten weiter auf. Bis sie sich fragt, welche Konsequenzen sie ziehen muss.

»Dunkle Momente« ist ein Roman voller Unruhe, der uns bis zum Schluss in Atem hält. Mit unbestechlichem Blick stellt Elisa Hoven die Eindeutigkeit infrage und zeigt, dass ein Mensch immer mehr ist als seine Tat. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Elisa Hoven, 1982 in Berlin geboren, ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig und Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof. Sie hat in Cambridge, Harvard, Berkeley, Los Angeles, Phnom Penh, Basel und Sydney geforscht. Ihre Leidenschaft ist das Strafrecht, sie beschäftigt sich mit der Genese und den Folgen von Verbrechen. Neben belletristischer Literatur schreibt sie Sachbücher (Strafsachen, 2023) und Kolumnen in Zeit Verbrechen. Sie hat mit Juli Zeh ein Kinderbuch zum Strafrecht verfasst (Der war’s, 2023). Elisa Hoven lebt in Berlin und hat zwei Kinder.

Inhalt

Prolog

Erster Fall: Notwehr

Zeitungen

Notwehr

Nachforschungen

Der Journalist

Bogdan

Zu spät

Wendung

Zweiter Fall: Leben lassen

Geschwister

Lieber sterben

Geheimnisse

Leben lassen

Verschwinden lassen

Das Grab

Premiere

Pokern

Vergangenes

Gerechtigkeit

Ende

Dritter Fall: Kindersoldaten

Pflicht

Zeuge

Vermutungen

Kür

Einfall

Foto

Frieden

Ende

Vierter Fall: Salz

Ein anderes Leben

Pudding

Gute und schlechte Nachrichten

Prozessbeginn

Entschuldigen

Abendessen

Vernehmungen

Das Urteil

Weg

Fünfter Fall: Der Kannibale

Das Video

Begegnung

Nachbarn

Vorverurteilung

Die Anklage

Entdeckung

Alles anders

Auf freiem Fuß

Sechster Fall: Nachlass

Frau im Schnee

Erinnerungen

Wiedersehen

Rückkehr

Das perfekte Verbrechen

Siebter Fall: Vergewaltigung

Beobachtungen

Die Tat

Probleme

Krankenhaus

Ermittlungen

Fotos

Sorgen

Die Täter

Dilemma

Vor Gericht

Ende

Achter Fall: Das Geständnis

Mörder

Kennenlernen

Zweifel

Gespräche

Hannelore Schneider

Annelie Friedrichsen

Tricks

Lina Breuer

Vor Gericht

Freispruch

Auflösung

Neunter Fall: Stefan Heinrich

Mit allen Mitteln

Scheingeschäfte

Ängste

Hochzeit

Erster Verhandlungstag

Zweiter Verhandlungstag

Untreue

Das Urteil

Mitnehmen

Montag

Alles gut

Danksagung

Prolog

Der Brief wog nur ein paar Gramm, aber er lag schwer in meiner Hand. Von außen unterschied er sich nicht von all den Rechnungen, Anträgen oder Glückwunschschreiben, die ich im Laufe der Jahre abgeschickt hatte. Doch dieser Brief war anders. Mit ihm sollte einer der wichtigsten Abschnitte meines Lebens zu Ende gehen.

Der September war ungewöhnlich warm. Ich stand in meinem Arbeitszimmer, durch das Fenster konnte ich in den Garten sehen. Die Sonnenblumen, die ich im Frühjahr gepflanzt hatte, waren verblüht, die schweren Köpfe zum Boden geneigt, und die Blätter hatten ihre Farbe verloren, ein blasses Gelb. Morgen würde ich die alten Pflanzen aus der Erde ziehen und auf den Kompost bringen.

Ich sah Peter im Schatten der Magnolie sitzen und ein Buch lesen. Mit den Fingerspitzen berührte ich die Scheibe. Wenn er sich in der nächsten Minute zu mir drehte, dann würde ich den Brief zerreißen, wenn nicht, würde ich mich auf den Weg machen. Er schaute nicht auf. Ich wartete noch eine Minute, dann drehte ich mich weg.

Die Nachmittagssonne fiel durch das Fenster auf meinen Schreibtisch und den weißen Umschlag. Ich prüfte den Brief ein weiteres Mal, er war ausreichend frankiert, die Adresse der Rechtsanwaltskammer gut zu erkennen. In wenigen Tagen würde ihn ein Sachbearbeiter öffnen und lesen, dass Eva Herbergen, Strafverteidigerin, nach mehr als dreißig Jahren ihre Anwaltszulassung zurückgab. Er würde vielleicht die Stirn runzeln, dann das Schreiben zu den Akten nehmen und meinen Fall abschließen.

Mein Blick wanderte durch das Arbeitszimmer. Die Aktenordner stapelten sich in den Regalen. Was wie zufällig aussah, folgte einer festen Ordnung, mit verbundenen Augen hätte ich jede gesuchte Akte aus dem Fach ziehen können. Ein Ordner war zu Boden gefallen, ich stellte ihn zurück in das Regal. Mit den Fingern fuhr ich über den Einband. Zwischen den zwei dünnen Deckeln lagen die Geschichten von Menschen, ihre dunkelsten Stunden. Einige von ihnen waren schuldig, andere unschuldig, die meisten beides.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und schaltete den Computer aus. An diesem Samstagmorgen im September hatte ich etwas wiedergutgemacht, einen schweren Fehler korrigiert. Nun war es Zeit, die vielen dunklen Momente der letzten Jahre hinter mir zu lassen. In einer Stunde würde der Postbote kommen und den Briefkasten leeren. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden, im Arbeitszimmer wurde es dunkel.

Erster Fall: Notwehr

Oktober 2021

Adrian schwitzt. Er reibt die feuchten Hände an der Jeans ab und versucht, seine Atmung zu kontrollieren. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden die Luft anhalten, dann acht Sekunden ausatmen, so hat Bogdan es ihm erklärt. Sein Bruder ist fünf Jahre älter, er hat Adrian aus Rumänien nach Deutschland geholt und ihm beigebracht, was man wissen muss. In Videle, wo die Eltern leben, gibt es für die Brüder keine Arbeit und keine Zukunft. Da ist es hier besser, auch wenn er sich mit Bogdan ein Zimmer in einer Sozialwohnung teilen muss. Im Sommer hilft er auf den Feldern, aber jetzt ist die Erntesaison vorbei, und es beginnt eine andere Zeit.

Seit einer guten Stunde wartet Adrian in seinem Versteck, es ist schon fast dunkel draußen. Die Villa ist riesig, Säulen am Eingang, ein Pool im Garten. Und das bei dem schlechten Wetter in Deutschland, Adrian schüttelt den Kopf. Wenn er so viel Geld hätte, er würde es in Autos investieren, mindestens vier, und auf jeden Fall wäre ein Lamborghini dabei. Er schaut auf die Uhr, der alte Mann sollte längst zurück sein. Adrian macht das nicht zum ersten Mal, trotzdem wird er das Schwitzen nicht los. Einmal haben sie ihn erwischt, die Polizei hat seine Personalien aufgenommen und ihn wieder gehen lassen. Adrian muss rechnen, das ist fast ein halbes Jahr her, noch ist vom Gericht nichts gekommen.

Jetzt hört er etwas, das Geräusch von Reifen auf Kies, ein Auto fährt die Einfahrt hoch. Ein letzter Griff in die Jackentasche, zur Sicherheit, das Messer ist da, wo es sein soll. Ein älterer Mann steigt aus dem Fahrzeug, mühsam, er holt einen Gehstock und eine Aktentasche von der Rückbank. Bogdan hat ihm nicht gesagt, dass der Mann so gebrechlich ist, da hätte er sich das Messer auch sparen können. Der Alte schlägt die Wagentür zu und klemmt sich die Aktentasche unter den Arm. Adrian folgt jeder seiner Bewegungen und zieht sich die Skimaske über den Kopf. Der Mann ist an der Haustür angekommen und steckt den Schlüssel ins Schloss. Noch nicht, Adrian muss sich gedulden. Die Tür geht auf, der Alte macht einen Schritt in den Flur. Jetzt ist es so weit, Adrian tritt aus der Hecke, in wenigen Sekunden ist er bei dem Mann, stößt ihn ins Haus und schließt die Tür.

Der Alte liegt auf dem Boden. Er hält die Tasche schützend vor den Körper, das Telefon ist ihm aus der Jacke gefallen, Adrian kickt es mit dem Fuß unter ein Regal. Er kennt die Angst in den Augen der Menschen, die er überfällt, daran hat er sich gewöhnt, das gehört dazu, und es geht ja schnell, er beeilt sich jedes Mal. Aber in dem Blick des Mannes liegt noch etwas anderes, etwas, das ihm nicht gefällt. Es ist Verachtung.

 

Adrian zieht das Messer aus seiner Jacke und hält es dem Alten vor das Gesicht. Jetzt ist da nur noch Angst. Was wagt dieser Mann auch über ihn zu urteilen, er weiß nichts über ihn, nichts über sein Leben in Videle, wo die Menschen nicht in Villen mit Pool wohnen. Wer die Villa hat und wer das Messer, das hat der Zufall entschieden oder das Schicksal, wie man will, aber nicht Adrian.

»Gib mir den Tresorschlüssel. Sofort.« Er spricht die geübten Sätze fehlerfrei. Seinen Akzent kann er nicht verbergen, aber das macht nichts, keiner der Deutschen kann ihn zuordnen. Die wenigsten wissen, dass Rumänisch wie Italienisch klingt.

Das Messer hat seine Wirkung nicht verfehlt, der Mann nickt und sagt etwas, das Adrian nicht versteht.

»Los, schnell!« Er hilft dem Alten auf die Beine, der zeigt auf einen Schlüsselkasten am Eingang. Adrian zieht ihn dorthin, der Mann ist langsam, Adrian muss ihn hart am Arm fassen, damit er sich überhaupt bewegt. Die Hände des Mannes zittern, er deutet auf einen kleinen Schlüssel, ganz hinten in der Ecke. Adrian schlägt ihm in die Magengrube, der alte Mann geht zu Boden, rührt sich nicht. Dort soll er bleiben, bis Adrian fertig ist.

»Ein Mucks von dir, und du bist tot.« Den Gehstock wirft Adrian die Kellertreppe hinunter.

 

Der Tresor soll oben im Schlafzimmer sein. Mirela hat ihm alles genau beschrieben. Sie ist Bogdans Freundin, sie putzt bei dem Alten, schwarz natürlich und nicht einmal Mindestlohn. Sie hat sich ein wenig umgesehen, viel alter Krempel, Vasen, Bilder, aber dann hat sie in einem Kleiderschrank den Tresor entdeckt. Zwanzig Prozent ist ihr Anteil, wenn alles gutgeht. Das ist nur fair, immerhin hat Adrian die ganze Arbeit. Er steigt die Treppen hoch in den ersten Stock, das Schlafzimmer ist mit rotem Teppich ausgelegt, über dem Bett ein Spiegel. Schwer vorstellbar, dass in diesem Bett noch etwas passiert, aber für Geld bekommt man alles. Adrian öffnet den Kleiderschrank, schiebt die Anzüge zur Seite, alles ist so, wie Mirela es erklärt hat. War da ein Geräusch? Adrian hält kurz inne und lauscht. Er muss sich geirrt haben, da ist nichts. Er steckt den Schlüssel in das Schloss des Tresors und versucht ihn zu drehen. Er passt nicht. Der Alte hat ihn reingelegt. Mit schnellen Schritten läuft Adrian die Treppe hinunter, der nächste Schlüssel wird der richtige sein, dafür wird er sorgen. Doch der Flur ist leer. Adrian schaut sich um, weit kann der Krüppel nicht gekommen sein. Da tritt der Mann aus der Wohnzimmertür, er ist wacklig auf den Beinen, aber Adrian sieht sofort, was er in den Händen hält. Es ist ein Gewehr, lang und schmal, wie man es zur Jagd nimmt, und der Alte richtet es direkt auf ihn. Adrian hebt die Hände und geht langsam rückwärts Richtung Haustür.

»Stehen bleiben!«, ruft der Mann, seine Stimme zittert vor Wut. Adrian spürt die Türklinke in seinem Rücken. »Ich gehe jetzt.« Der Alte soll bloß nicht durchdrehen. Vorsichtig nimmt Adrian eine Hand herunter und greift nach der Klinke. Er behält den Mann im Blick, der vor ihm steht, das Gewehr im Anschlag. Langsam öffnet er die Tür, Schritt für Schritt bewegt er sich nach draußen. Geschafft, er dreht sich herum und will rennen, da hört er einen Knall. Dann ein stechender Schmerz im Rücken, mehr ist es nicht. Adrian versucht zu laufen, aber seine Beine gehorchen ihm nicht mehr, und er stürzt auf die Kieselsteine, das Messer fällt ihm aus der Jacke, er kann es nicht mehr greifen.

Der Alte hat auf ihn geschossen. Das Gefühl in seinem Körper ist neu, es tut sich ein schwarzes Loch in ihm auf. Adrian wird mit einem Mal klar, was passiert. Er wird sterben. Allein, im Vorgarten eines Fremden. Adrian denkt an seine Mutter, sie war bei allen wichtigen Momenten seines Lebens dabei, dem ersten Tag in der Schule, bei seinen Fußballspielen, bei der Zahnoperation, vor der er solche Angst hatte. Wie kann sie jetzt nicht bei ihm sein? Seine Augen hält er noch mit Mühe offen, er sieht, wie der Alte auf ihn zukommt. Vielleicht ist es nicht zu spät, vielleicht ist er Arzt und rettet ihn. Das Letzte, was Adrian spürt, ist ein Tritt in die Magengrube. Wenig kraftvoll, aber es reicht, Adrian verliert das Bewusstsein.

Zeitungen

Februar 2022

Das Hotel war ein Albtraum. Ich saß auf einem weißen Plastikstuhl am Pool, alle Liegen waren belegt, die Hälfte mit Menschen, die andere mit Handtüchern, die durch Wäsche und Sonne ihre Farbe verloren hatten. Das Frühstücksbuffet war noch nicht geschlossen, da bauten die Angestellten schon das Mittagessen auf, anschließend würde es Kaffee und Kuchen geben, dann Abendbuffet und Mitternachtssnack. Wer wollte, konnte im Hotel Maspalomas Royal rund um die Uhr essen. Und trinken. Am vergangenen Abend hatte ich erfolglos versucht, einen Martini zu bekommen. Stattdessen wurde ich auf eine Maschine verwiesen, an der sich bereits eine lange Schlange gebildet hatte. Auf Knopfdruck gab es Piña Colada, Sex on the Beach oder Caipirinha. Auch an diesem Morgen hielten schon die ersten Gäste ihre durchsichtigen Plastikbecher unter den Hahn. Es war mir von allem zu viel, zu viel Alkohol, zu viel Essen, zu viele Menschen.

Peter hatte sich neben mich gesetzt und blätterte im Programmheft des Hotels. Clubtanz am Morgen, Volleyball oder Bingo am Nachmittag, abends Kinderdisco und eine Tanzshow. Aber wir durften uns nicht beschweren. Als unsere alten Studienfreunde Sigrid und Gerd Schöller einen gemeinsamen Urlaub auf Gran Canaria vorschlugen, überließen wir ihnen die Planung. Peter steckte an der Universität mitten in Seminarprüfungen, und ich musste mich in der Kanzlei um ein großes Mandat kümmern. Wir waren erleichtert gewesen, dass die Schöllers die Buchung in die Hand nahmen. Sie fuhren zum dritten Mal in den Club, bestes Wetter, rundum versorgt, was wollte man mehr.

Die Musik wurde aufgedreht, schnell und laut. Noch sieben Tage und sechs Stunden bis zum Rückflug. Mein Mann ahnte, was ich dachte, und drückte meine Hand.

»Zum Trost habe ich dir etwas mitgebracht.« Peter griff in die Strandtasche und zog zwei deutsche Zeitungen heraus. Sie waren vom Vortag, aber ich freute mich.

Ich hätte Online-Ausgaben auf dem Handy lesen können, aber ich hatte meinem Mann versprochen, das Smartphone im Safe einzuschließen und nur in Notfällen herauszuholen. An meinem sechzigsten Geburtstag im Oktober vor zwei Jahren hatte ich mir vorgenommen, in der Kanzlei kürzerzutreten, den jungen Kollegen mehr Verantwortung zu geben. Aber Loslassen fiel mir schwer, noch immer. Ich konnte kein Schreiben versenden, ohne es vorher gegengelesen zu haben, und ich übertrug weiterhin jede Frist in meinen privaten Kalender.

»Deine Kanzlei heißt jetzt Herbergen und Partner, behandele die anderen auch so«, erinnerte mich Peter, wenn ich beim Abendessen noch schnell den Schriftsatz eines Kollegen umformulierte. In den letzten Wochen hatte ich ständig am Telefon gehangen, die Kanzlei lief gut, es war immer viel zu tun. Wir brauchten eine Pause. Also gab ich nach, das Handy blieb im Safe.

Ich blätterte durch die Zeitung und fragte mich, wie lange es gedruckte Zeitungen überhaupt noch geben würde. Vermutlich rentieren sie sich bald nicht mehr, die meisten Menschen lesen lieber auf ihrem Smartphone, und es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis der Papierdruck schon aus Klimagründen eingestellt wird. Es wird viel verlorengehen, da bin ich sicher. Vermutlich sage ich das auch, weil ich alt werde und Dingen hinterhertrauere. Aber wenn die gedruckten Zeitungen verschwinden, werden wir nur noch das lesen, was wir suchen. Wir werden nicht mehr blättern und durch Zufall auf die eine Rezension im Feuilleton stoßen, die uns ein neues Lieblingsbuch kaufen lässt, oder auf ein politisches Stück, das uns eine ganz neue Perspektive zeigt.

Der Artikel, den ich nun am Pool des Maspalomas Royal las, wäre ebenso unbemerkt geblieben. Es war reiner Zufall, dass Peter mir die Zeitung brachte, in einem Hotel in Spanien, und dass ich in der Eintönigkeit dieses Urlaubs die Ruhe hatte, sie bis zum Ende durchzusehen. Sonst wäre nichts von dem geschehen, was in den folgenden Wochen passierte.

Notwehr

Millionär freigesprochen. Es war Notwehr.

Ein kleiner Text in der Rubrik »Vermischtes«, auf der letzten Seite der Zeitung.

Der vor dem Landgericht Oldenburg angeklagte Rentner aus Hundsmühlen muss wegen der tödlichen Schüsse auf einen flüchtenden Räuber nicht ins Gefängnis. Die Richter sprachen den Millionär frei. Der Mann habe in Notwehr gehandelt, teilte der Pressesprecher des Gerichts mit.

Im vergangenen Oktober drang Adrian S. abends in das Haus von Hans K. ein. Er bedrohte den Rentner mit einem Messer, schlug ihn zusammen. Der bereits wegen Einbrüchen aufgefallene Rumäne durchsuchte die Wohnung nach Wertsachen. Der rüstige Rentner kam in der Zeit auf die Beine und konnte zu seinem Jagdgewehr greifen. Als sich der 17-jährige Räuber mit einem mehrere hunderttausend Euro teuren Gemälde aus dem Staub machen wollte, forderte ihn Hans K. zum Stehenbleiben auf. Doch Adrian S. reagierte nicht, und Hans K. schoss. Die Richter werteten die Tat als Notwehr. »Sein Eigentum darf man verteidigen«, erklärte der Anwalt von Hans K. auf Nachfrage dieser Zeitung. »Notfalls auch mit Gewalt.«

Ich las den Artikel ein weiteres Mal. Hans K., Millionär aus der Nähe von Oldenburg, die Tat begangen im letzten Oktober. Ich versuchte mich zu erinnern, wann der Anruf gekommen war. Es war Abend gewesen und bereits dunkel, Oktober kam hin. Hans Kleebach war vor zwei Jahren mein Mandant gewesen, Steuerhinterziehung, es war ein Grenzfall, und wir erreichten einen Freispruch. Damals hatte Kleebach in Berlin gelebt, aber ich meinte mich zu erinnern, dass er, wie ich, aus Niedersachsen kam. Vielleicht war er dorthin zurückgezogen.

Kleebach war kein besonders angenehmer Mensch, seinen Reichtum zeigte er gerne, er sprach laut und viel über Geld, Autos und die Jagd. Als junger Mann war er in den USA fast totgefahren worden, hatte knapp überlebt, brauchte aber seitdem eine Gehhilfe. Der zwanzigjährige Fahrer des roten Cabrios hatte unter Drogen gestanden. Der Vater war ein wohlhabender Unternehmer, die Familie bot Kleebach eine Million Dollar, damals eine unvorstellbare Summe. Kleebach nahm das Geld, die Anklage wurde fallengelassen. Als frischgebackener Millionär kehrte Kleebach nach Deutschland zurück, investierte geschickt in eine Computerfirma und später in Immobilien, einige Jahre später hatte er sein Vermögen mehr als verzehnfacht.

 

Wir waren damals gerade mit dem Abendessen fertig, als Kleebach anrief. »Schönen guten Abend, Frau Herbergen! Ich hoffe, Sie sind wohlauf.« Er schien bester Stimmung zu sein, sein abendlicher Anruf, es musste nach zwanzig Uhr gewesen sein, war ihm offensichtlich nicht unangenehm. »Ich sitze gerade mit meiner Enkelin zusammen. Emilia studiert Jura, und wir brüten über einer Hausarbeit. Strafrecht. Ich dachte, es geht am schnellsten, wenn ich Sie einfach kurz frage. Sie stellen mir das dann als Beratung in Rechnung.«

Ich weiß noch, was ich in diesem Moment dachte: Millionäre glauben, sich alles erlauben zu können. Und sie haben leider meist recht damit, auch ich setzte mich mit dem Telefon an meinen Arbeitstisch. »Schießen Sie los.«

Kleebach lachte. »Genau darum geht es. Erst einmal ganz einfach. Ein Mann erschießt einen flüchtenden Einbrecher. Darf er das?«

Zum Verdruss meiner Mandanten sind viele rechtliche Fragen nicht mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Ich erklärte Kleebach zuerst das Festnahmerecht. Wer einen anderen bei einer Straftat erwischt, darf ihn festhalten, nicht aber töten. Kleebach war offensichtlich nicht zufrieden. »Und dann muss man sich das gefallen lassen, dass einer einbricht?«

Mir war klar, dass jemand wie Kleebach mit diesem Ergebnis nicht einverstanden war. »Es gibt natürlich noch das Notwehrrecht. Man darf sich gegen einen Angriff auf sein Eigentum wehren. Das setzt aber voraus, dass der Angriff noch andauert. Ihre Enkelin muss im Sachverhalt schauen, ob der Einbrecher schon etwas eingesteckt hat.«

Kleebach schien sich Notizen zu machen.

»Wenn ja, wäre ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf das Eigentum zu bejahen. Damit sind wir aber noch nicht fertig. Der Schuss auf den Einbrecher muss erforderlich gewesen sein.«

Auch in einer Notwehrsituation darf nur das mildeste Mittel eingesetzt werden, um den Angriff zu beenden. Wer einen anderen mit einem Faustschlag zu Boden strecken kann, der darf ihn nicht erschießen. »Bei Schusswaffen gilt: Sofern das zeitlich möglich ist, muss man ihren Einsatz erst androhen, also zum Beispiel einen Warnschuss abgeben, und dann auf die Beine schießen. Damit wird der Dieb ja auch aufgehalten, es darf also kein gezielter Todesschuss sein.«

»Aber so ein Schuss kann ja danebengehen«, wandte Kleebach ein.

»Natürlich, es reicht, dass der Angegriffene versucht hat, auf die Beine zu zielen. Das müsste aber alles im Sachverhalt der Hausarbeit stehen.«

Kleebach unterbrach kurz, legte den Hörer beiseite, ich hörte ihn sprechen, offenbar gab er seiner Enkelin meine Worte weiter. »Es gibt noch etwas zu beachten«, sagte ich, als Kleebach wieder am Apparat war. »Die Notwehr muss zwar nicht grundsätzlich verhältnismäßig sein, aber bei einem krassen Missverhältnis zwischen dem Angriff und der Verteidigung kann das Notwehrrecht trotzdem abgelehnt werden. Das wurde von den Gerichten noch nicht abschließend entschieden, das muss Ihre Enkelin diskutieren.«

Kleebach hakte nach. »Wann hat man so ein Missverhältnis? Haben Sie da ein Beispiel?«

»Wenn der Dieb mit hundert Euro flieht, dann wird man sich schon die Frage stellen, ob ein Schuss noch geboten ist.«

»Aber bei größerer Beute wäre das anders?«

»Ja, es ist nicht so, dass wir sagen: Leben gegen Geld, das ist immer ein krasses Missverhältnis. Man muss auch erhebliche Eigentumsverletzungen nicht einfach hinnehmen. Recht braucht Unrecht nicht zu weichen, sagt man. Also wenn der Täter im Sachverhalt mit einer kostbaren Ming-Vase flieht, dann wird man keine Einschränkung des Notwehrrechts annehmen.«

Ich hörte Kleebachs Stift über das Papier gleiten.

»Danke, liebe Frau Herbergen. Sie haben uns sehr geholfen. Können Sie so nett sein und mir Ihre Rechnung an mein Postfach schicken? Die Adresse sende ich Ihnen.«

Ich wünschte Emilia noch viel Glück bei ihrer Hausarbeit. Das würde sie gebrauchen können. Was ich Kleebach und seiner Enkelin erzählt hatte, war einfaches Erstsemesterwissen. Ich ließ meine Sekretärin eine ordentliche Rechnung ausstellen, mit Abendzuschlag, und verwendete keinen weiteren Gedanken auf Hans Kleebach. Bis zu dem Tag, an dem ich die Geschichte des Millionärs aus Hundsmühlen las.

Nachforschungen

Ich ließ die Zeitung sinken. Freispruch wegen Notwehr. Nein, es war unwahrscheinlich. Hans war in unserer Generation einer der häufigsten Vornamen, und mehr als eine vage Erinnerung, dass Hans Kleebach aus der Nähe von Oldenburg stammte, hatte ich nicht.

 

Peter und ich versuchten, ein wenig zu schwimmen, aber bald vertrieb uns ein Kurs für Aquagymnastik aus dem Becken. Ich ging hoch aufs Zimmer, um mich umzuziehen. Als ich den Kleiderschrank öffnete, fiel mein Blick auf den Safe. Ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor elf, eine Stunde Zeitverschiebung, noch war nicht Mittagspause in deutschen Behörden. Ich öffnete den Safe und schaltete mein Telefon ein. Fünfunddreißig E-Mails, zweiundzwanzig WhatsApp-Nachrichten, ich zwang mich, sie zu ignorieren. Stattdessen suchte ich die Telefonnummer der Staatsanwaltschaft Oldenburg heraus. Es konnte nicht Kleebach sein, aber ich wollte sichergehen. Am anderen Ende meldete sich die Zentrale, ich bat um die Weiterleitung an die Abteilung für Kapitaldelikte.

»Worum geht es denn?« Die Stimme klang wenig hilfsbereit, ich schilderte mein Anliegen. »Da müssen Sie sich an die Pressestelle wenden. Wenn Sie nichts mit dem Verfahren zu tun haben, kann ich Sie nicht durchstellen.«

Ich blieb freundlich und ließ mich mit der Pressestelle verbinden, aber keiner hob ab. Als ich ein weiteres Mal bei der Zentrale anrief, war besetzt. Da hörte ich das Summen der Zimmertür. Für einen kurzen Moment überlegte ich, das Handy schnell zurück in den Safe zu legen.

»Liest du heimlich Mails?« Peter sah mich an, er lächelte nicht.

»Nein, ich musste nur ganz kurz etwas klären«, sagte ich.

»Wir haben doch darüber gesprochen, Eva. Was damals geschehen ist, war schrecklich. Aber es ist fast zwanzig Jahre her. Du kannst nicht alles kontrollieren.«

Ich wusste, dass er recht hatte. Wir waren im Urlaub, und der Fall ging mich nichts an. Ich legte das Handy zurück und gab ihm einen Kuss.

»Gut, gut.« Jetzt lachte er doch. »Aber beeil dich endlich, wir müssen zum Tennis, Gerd und Sigrid warten schon.«

Wir spielten, bis uns die Mittagssonne vom Platz vertrieb. Der Sport hatte mir gutgetan. Während des Matches hatte ich keine Zeit für schwere Gedanken gehabt, und auch jetzt, verschwitzt, aber trotz der Anstrengung voller Energie, fühlte ich mich leicht. Ich entschied mich, nicht weiter nachzuforschen. Die nächsten beiden Tage dachte ich nicht mehr an den überfallenen Rentner. Peter und ich unternahmen Ausflüge in die Dünen und verzichteten, zum Unverständnis unserer Freunde, auf das Abendbuffet und fuhren stattdessen in kleine Restaurants am Meer.

 

Am Freitagnachmittag brachte Gerd zum Kaffee die Zeitung mit, ein Blatt, das ich sonst nicht in die Hand nehme, aber der Hotel-Kiosk hatte nur eine einzige deutsche Ausgabe gehabt. Ich zwang mich, erst den Politikteil zu lesen, dann aber blätterte ich eilig zur Rubrik »Vermischtes«. Und tatsächlich, ein weiterer Artikel über Hans K.

Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Hans K., der im vergangenen Oktober in seinem eigenen Haus brutal überfallen worden war, muss keine Strafe mehr fürchten. Der gehbehinderte Rentner hatte in Notwehr auf Adrian S. geschossen, einen polizeibekannten Rumänen, der für Raubzüge nach Deutschland gekommen war. Er hatte Hans K. am Abend in seinem Heim mit einem Messer bedroht und dann versucht, mit einem wertvollen Gemälde zu fliehen. Es bleibt die Frage, weshalb die Staatsanwaltschaft überhaupt Anklage erhoben hat. Hier sollte das Opfer zum Täter gemacht werden.

»Was ist mit dir?« Peter schaute besorgt, offenbar sah man mir meine Fassungslosigkeit an. Gehbehindert. Das hatte im ersten Artikel nicht gestanden. Es war Hans Kleebach, er musste es sein, das war ein Zufall zu viel.

»Ich muss jetzt telefonieren.« Ich stand auf und lief ins Zimmer, holte das Handy aus seinem Versteck und rief die Staatsanwaltschaft an. Was während meiner Hochzeitsreise geschehen war, durfte kein zweites Mal passieren, noch einmal würde ich die Dinge nicht schleifen lassen.

»Guten Tag, mein Name ist Eva Herbergen, Strafverteidigerin. Ich muss in einer dringenden Haftangelegenheit mit dem Leiter Kapitaldelikte sprechen. Bitte verbinden Sie mich.«

Die kleine Unwahrheit und die Dringlichkeit in meiner Stimme waren offenbar überzeugend, wenige Sekunden später hatte ich Oberstaatsanwalt Franz Meisner in der Leitung. Ich stellte mich vor, Eva Herbergen, Strafverteidigerin aus Berlin. »Ich rufe an wegen des Verfahrens gegen den Rentner, der in Notwehr einen Einbrecher erschossen hat. Ich muss wissen, ob es sich bei dem Angeklagten um Hans Kleebach handelt.«

Meisner lachte. »Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen darf. Datenschutz.«

Ich blieb vorsichtig, ich hatte mich noch nicht entschieden, welche Informationen ich mit der Staatsanwaltschaft teilen wollte, sollte es sich tatsächlich um meinen früheren Mandanten handeln. »Wenn es Hans Kleebach ist, dann habe ich womöglich Informationen, die für Ihren Fall wichtig sein könnten.«

Ich meinte, ein kurzes Zögern zu spüren, dann aber blieb der Oberstaatsanwalt bei seiner Linie. »Wenn Sie Informationen haben, können Sie mir die gerne schriftlich zukommen lassen.«

Es hatte keinen Sinn, ich bedankte mich und legte auf. Da fiel mein Blick auf die Zeitung vom Dienstag, in der ich zum ersten Mal vom Rentner aus Oldenburg gelesen hatte, ich hatte sie nicht weggeworfen. Ich fand den Artikel und einen Namen, Jochen Bunke. Wenn er über den Fall geschrieben hatte, war er womöglich im Gerichtssaal gewesen und wusste mehr über das Verfahren. Ich googelte die Nummer der Redaktion, wenig später hatte ich eine Frau am Apparat. »Jochen ist heute auf Recherche, Montag ist er zurück.«

Ich fragte sie, ob er zu dem Fall des Rentners intensiver gearbeitet hatte.

»Soweit ich weiß, ist Jochen sogar einmal in das Dorf gefahren, in dem der Mann lebt.«

»Wissen Sie den Namen des Mannes? Heißt er zufällig Kleebach?«

Ich hatte kein Glück, sie erinnerte sich nicht, versprach mir aber, ihrem Kollegen eine dringende Rückrufbitte auf den Schreibtisch zu legen. Eines konnte ich noch tun. Ich schickte Filiz, der Referendarin in meiner Kanzlei, eine kurze Sprachnachricht. Sie sollte herausfinden, ob Hans Kleebach eine Enkelin hat, die Jura studiert. Über ein wenig Internetrecherche würde sich vielleicht etwas in Erfahrung bringen lassen.

 

Beim Abendessen gelang es uns, einen Tisch ein wenig abseits zu finden, Peter holte für alle Wein aus dem Automaten, heute war es mir gleich. Nach dem zweiten Glas entschied ich, ihm und meinen Freunden von der Geschichte mit Kleebach zu erzählen. Die Sache war nicht vertraulich gewesen, eine Hausarbeit an der Universität, kein Gerichtsverfahren. Ich berichtete der Runde von dem Telefonat, das ich im Herbst geführt hatte und von den beiden Zeitungsartikeln.

»Kommt es häufig vor, dass Mandanten dich um solch allgemeine Rechtsauskünfte bitten?« Gerd kaute an einem Hähnchenschenkel.

Ich schüttelte den Kopf, natürlich nicht.

»Kleebach ist allerdings zigfacher Millionär, der kann es sich leisten, eine Anwältin für die Hausarbeit seiner Enkelin einzuspannen. Noch dazu die beste und gewissenhafteste der Stadt.« Peter lächelte mir zu.

»Also wenn es sich in dem Artikel wirklich um Kleebach handelt, dann hat er dich angerufen, um herauszufinden, wie er davonkommen kann. Was ich nur nicht verstehe«, Gerd leerte sein Glas, »wieso hat er dir nicht einfach die Wahrheit gesagt und dich beauftragt?«

»Ganz einfach«, unterbrach ihn Peter, »Eva hätte ihm nicht dazu raten dürfen, Beweise zu fälschen und etwas Unwahres zu sagen.«

Ich nickte, vermied aber Peters Blick. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass ich genau das schon einmal getan hatte. Zwölf Jahre war es her, aber die Gedanken an Larissa und an das, was damals geschehen war, kamen sofort zurück.

Sigrid hatte sich bislang zurückgehalten, jetzt aber ließ sie die Gabel sinken. »Und es ist doch ungewöhnlich, dass er so spät angerufen hat. Wann soll der Überfall stattgefunden haben?«

In der Zeitung hatte gestanden, dass der Einbruch am Abend geschehen war.

»Dann hatte Kleebach den Einbrecher vermutlich gerade erschossen.«

Wir schwiegen eine Weile und aßen.

»Was willst du jetzt tun?« Gerd sah mich an.

Ich wusste es nicht. Erst einmal musste ich sicher sein, dass es sich tatsächlich um Kleebach handelte und dass es meine Ratschläge gewesen waren, die zu seinem Freispruch geführt hatten.

 

Zurück im Zimmer, warf ich einen Blick auf mein Handy. Eine Sprachnachricht von Filiz. Ich rief Peter zu mir und drückte auf Abspielen.

»Hallo, Frau Herbergen, ich hoffe, Sie genießen Ihren Urlaub. Ich habe auf Wikipedia herausgefunden, dass Kleebach eine Tochter hat, Ingrid. Es war nicht ganz einfach, sie zu finden, sie heißt nicht Kleebach. Aber ich habe einen Artikel über eine Restauranteröffnung entdeckt, da wurde erwähnt, dass die Eigentümerin Ingrid Hofstedt die Tochter des Millionärs Hans Kleebach ist. Ich habe im Restaurant angerufen, so eine typische deutsche Gaststätte in Oldenburg, Ingrid Hofstedt war da. Ich habe gefragt, ob ich ihre Tochter sprechen kann, ich würde sie vom Jurastudium kennen. Ingrid Hofstedt hat nur gelacht und gesagt, dass ich falsch verbunden sei. Sie habe zwar eine Tochter, aber die würde schon im Bett liegen und schlafen. Sie ist sechs Jahre alt, und die Mutter hofft sehr, dass sie später nicht Jura studiert.«

Ich griff nach Peters Hand. Kleebach hatte mich getäuscht. Ohne es zu wollen, hatte ich ihm die Informationen gegeben, die er brauchte, um wegen Notwehr freigesprochen zu werden.

»Du musst damit zur Staatsanwaltschaft gehen.« Peter streichelte über meine Finger. »Er war in dieser Sache nicht dein Mandant. Er hat dich reingelegt, es ist nicht deine Schuld.«

Peter hatte recht. Kleebach hatte mich belogen, ich stand nicht auf seiner Seite, ich konnte, nein, ich musste gegen ihn aussagen. Doch bevor ich mit dem Staatsanwalt sprach, wollte ich hören, was der Journalist aus Oldenburg zu erzählen hatte.

Der Journalist

Nach dem Frühstück legte ich mich neben Peter an den Pool, setzte Kopfhörer auf und hörte Musik. Leonard Cohens Stimme bildete einen beruhigenden Kontrast zum hektischen Treiben um mich herum. Ich hing meinen Gedanken nach, da wurde Cohen vom Summen des Telefons unterbrochen, eine unbekannte Nummer aus Niedersachsen. Es war Jochen Bunke, seiner Stimme nach ein junger Mann, trotz des Vornamens.

»Jochen Bunke hier. Meine Kollegin hat mir einen Zettel hingelegt. ›Eilig‹ und ›Notwehr-Rentner‹ steht da.« Er lachte.

Ich bedankte mich für seinen Rückruf. »Ich war früher als Anwältin für Hans Kleebach tätig, als er noch in Berlin gewohnt hat. In das aktuelle Verfahren bin ich nicht involviert, habe aber gewisse Zweifel an dem Urteil. Sie haben über den Prozess berichtet, mich würde Ihre Einschätzung interessieren.«

Bunkes Antwort beseitigte meine letzten Zweifel. Es war Hans Kleebach. »Ich habe zu Kleebach eine klare Meinung.«

Der Journalist erzählte mir, dass er noch vor Prozessbeginn nach Hundsmühlen gefahren war, um mehr über den Millionär herauszufinden, der einen Menschen in seinem Vorgarten erschossen hatte. Mit Kleebach hatte er natürlich nicht gesprochen, dem hatte der Verteidiger gleich einen Riegel vorgeschoben. Aber es war nicht schwer gewesen, im Dorf einiges über den Rentner zu erfahren. Kleebach war in Hundsmühlen aufgewachsen, hatte dann in den USA, München und Berlin gelebt und war erst vor einigen Jahren wieder in sein Heimatdorf gezogen. Es war ein großer Auftritt gewesen. Er hatte sein Elternhaus gekauft, abreißen lassen und eine Villa hochgezogen. Mit einem Pool, der nie genutzt wurde. Kleebach kam zu jeder Versammlung, er war laut und meinungsstark. Viele bewunderten ihn, einige konnten ihn nicht ausstehen. »Es hat natürlich einen unschönen Beigeschmack, dass gerade Kleebach einen jungen Ausländer erschießt.«

Ich wusste nicht, worauf Bunke hinauswollte.

»Kleebach ist politisch aktiv, und eines seiner Themen sind kriminelle Ausländer. Schauen Sie mal auf seine Facebook-Seite. Das hat auch die Staatsanwaltschaft versucht, geltend zu machen. Dass er ihn auch erschossen hat, weil er eine Wut auf osteuropäische Verbrecherbanden hat.«

Ich stand auf und ging Richtung Lobby, die tagsüber leer war, ich wollte keine Zuhörer. »Aber das Gericht ist dem nicht gefolgt?«

»Nein, die Notwehrsache war zu eindeutig. Der Täter hat Kleebach mit einem Messer bedroht und ihn auch ziemlich misshandelt. Eine Schnittverletzung am Oberarm und eine gebrochene Rippe. Kleebach hat getan, als wäre er bewusstlos. Als der Einbrecher nach oben gegangen ist, um das Bild zu holen, hat sich Kleebach zu seinem Waffenschrank geschleppt. Adrian, so heißt der junge Mann, wollte abhauen, Kleebach hat ihm gesagt, er solle das Bild fallen lassen, aber der wollte sich die Beute wohl nicht entgehen lassen, das Bild ist mehrere hunderttausend Euro wert. Er ist jedenfalls mit dem Bild nach draußen, Kleebach hat einen Warnschuss abgegeben, dann hat er auf die Beine gezielt. Er war aber so zittrig durch den Angriff, dass er ihn in den Rücken getroffen hat. Adrian ist ziemlich schnell verblutet.«

Das war also die offizielle Version. Das teure Gemälde, der Warnschuss, der fehlgegangene Schuss auf die Beine, Kleebach hatte mir aufmerksam zugehört. Jetzt war es an der Zeit, Bunke meine Seite der Geschichte zu erzählen.

Bunke konnte seine Verblüffung kaum verbergen. »Das ist unfassbar. Kleebach erschießt einen Menschen und hat dann die Nerven, seine Anwältin anzurufen und ihr die Lüge von einer Enkelin aufzutischen, die Hilfe bei einer Hausarbeit braucht. Ziemlich abgebrüht.«

Ich dachte daran, wie unbefangen Kleebachs Stimme geklungen hatte. Nichts in unserem Gespräch hätte mich erahnen lassen, dass er gerade das Leben eines Siebzehnjährigen beendet hatte. Und dass er danach in den Garten gehen und den Tatort für die Polizei vorbereiten würde. »Er hat sich alles so zurechtgelegt, dass er mit Notwehr davonkommt.«

Bunke war Journalist genug, um von den neuen Informationen weniger betroffen als begeistert zu sein. »Wir haben einiges in der Hand! Ihre Aussage wird Gewicht haben, schließlich haben Sie keinen Grund, ihn falsch zu belasten. Und es wird sich ein Verbindungsnachweis finden lassen, der das Telefonat an dem Abend belegt.«

Trotzdem, ich hatte nicht mehr als eine Aussage über ein Gespräch. »Kleebach ist ein kluger Mensch, wer weiß, welche Geschichte er sich einfallen lässt. Es müsste noch etwas geben, das unsere Version stützt.«

Bunke schwieg einen Moment. »Das Bild … Da hatte ich gleich ein komisches Gefühl.«

Ich horchte auf. »Wieso?«

Bunke räusperte sich. »Woher soll ein junger Rumäne wissen, dass dieses Gemälde ein Vermögen wert ist? Es sieht wirklich belanglos aus, eine triste Landschaft mit Kirchturm. Kleebach hat keinen guten Geschmack, wenn Sie mich fragen. Und was hätte der junge Mann damit anfangen sollen? Ein solches Kunstwerk auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, das geht nur mit Expertise.«

»Das Gericht wird angenommen haben, dass ihn jemand beauftragt hat?«

»Die Richter sind dem gar nicht weiter nachgegangen, der Tote hatte das Bild in der Hand, das war’s.«

Ein weiteres Indiz, mehr war es nicht. Doch Bunke hatte eine Idee. Er hatte im Zuge seiner Recherchen mit Bogdan Sima gesprochen, dem Bruder des Toten. Bogdan hatte im Verfahren die Aussage verweigert, um sich nicht selbst zu belasten. Aber es war offensichtlich gewesen, dass die Brüder die Einbrüche gemeinsam geplant hatten.

»Er wird uns sagen können, ob das mit dem Gemälde so abgesprochen war. Wenn er erfährt, dass eine Verurteilung von Kleebach möglich ist, wird er vielleicht reden.«

Bunke wollte gleich am nächsten Tag zu Bogdan fahren. Der Wunsch nach Gerechtigkeit in uns Menschen ist stark, erst recht, wenn sie einem nahen Angehörigen verwehrt wird. Wir mussten hoffen, dass Bogdan seine Beteiligung an dem Einbruch vor Gericht offenlegen würde, um den Mann bestraft zu sehen, der seinen Bruder getötet hatte.

Wir legten auf, und ich ging mit den neuen Informationen zu Peter und meinen Freunden zurück. Sie unterbrachen ihr Boulespiel, ich erzählte ihnen jedes Detail des Gesprächs.

»Das hat Sigrid gestern Abend im Bett auch zu mir gesagt! Woher weiß denn ein siebzehnjähriger Rumäne, was so ein Bild wert ist?« Gerd strahlte. »Jetzt habt ihr ihn.«

Er irrte sich.

Bogdan

Am nächsten Morgen, einem kalten Dienstagvormittag, klingelte Jochen Bunke an der Haustür von Bogdan Sima. Die Wohnung lag in einem dreistöckigen Gebäude am Rande Oldenburgs, grauer Anstrich, kleine Balkons, gerade groß genug für einen Stuhl oder einen Wäscheständer. Bogdan öffnete nicht, aber Bunke hatte Licht brennen sehen, also wartete er. In seinem Auto war es warm, er machte Musik an und arbeitete mit dem Laptop auf den Knien an einem Beitrag über die Agrarmesse, die in der nächsten Woche stattfinden sollte.

Nach einer guten Stunde ging die Tür auf, und Bogdan trat heraus. Bunke klappte den Computer zu und eilte ihm nach. Er war froh, dass es noch hell war, im Dunkeln wäre er Bogdan Sima ungern begegnet. Der Rumäne war groß und breitschultrig, Tätowierungen zogen sich über Hals und Hände.

»Herr Sima, bitte warten Sie kurz, ich habe Informationen über den Tod Ihres Bruders.« Besser gleich mit der Tür ins Haus fallen und deutlich machen, auf welcher Seite man stand.

Bogdan drehte sich um. Bunke verlor keine Zeit, er berichtete von dem Telefonat mit der Anwältin aus Berlin und von dem Verdacht, den sie hatten. Bogdan hatte sich eine Zigarette angezündet, er schaute den Journalisten nicht an, hörte aber aufmerksam zu.

»Dieses Schwein.« Er blies Rauch in die kalte Luft.

»Wir brauchen aber Beweise.« Bunke ließ sich eine Zigarette geben. Eigentlich hatte er dieses Laster abgelegt, aber das gemeinsame Rauchen kann zwei Menschen verbinden, die aus völlig anderen Welten kommen. »Hatte Ihr Bruder den Auftrag, dieses Gemälde zu stehlen? Hatte er Verbindungen in die Kunstszene?«

Bogdan lachte. »Adrian hätte die Mona Lisa nicht erkannt, wenn sie dort gehangen hätte.«

Wie Bunke vermutet hatte. »Wir brauchen mehr Informationen über den Einbruch. Ich gebe nichts davon ohne Ihr Einverständnis weiter. Aber ich muss wissen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.«

Bogdan warf seine Zigarette auf den Boden und beobachtete, wie sie langsam verglühte. Dann erzählte er. Davon, wie er seinen Bruder zu den ersten Einbrüchen mitgenommen hatte. Dass sie stets nur Bargeld einsteckten, weil sie keine Kontakte zu Hehlern hatten. Er erzählte von Mirela, die bei Kleebach putzte, sie tat es noch immer, Kleebach hatte nie Verdacht geschöpft. Sie hatte ihnen von dem Tresor im Schlafzimmer berichtet. Nein, ein Bild hätte Adrian nie im Leben gestohlen. Was hätten sie damit anfangen sollen?

 

Als Jochen Bunke wieder in sein Auto stieg, fühlte er sich wie elektrisiert. Bogdan hatte sich nicht festlegen wollen, aber der Journalist war sich sicher, dass er ihn zu einer Aussage bringen würde. Vielleicht konnte man mit der Staatsanwaltschaft vereinbaren, dass Bogdan und Mirela wegen ihrer Beteiligung an dem Einbruch straffrei ausgingen. Das Gericht würde dann ein anderes Urteil über Kleebach fällen. Niemand durfte einen Einbrecher einfach so erschießen, aus Hass oder aus Wut, erst recht nicht, wenn der erst siebzehn Jahre alt war. Kleebach würde bestraft werden, und er, Bunke, hätte eine unschlagbare Titelgeschichte. Der Journalist startete den Wagen und fuhr Richtung Redaktion, noch aus dem Auto wählte er meine Nummer.

Zu spät

»Bogdan hat alles bestätigt. Adrian Sima sollte kein Gemälde stehlen, sondern Geld aus einem Tresor.« Die Euphorie in der Stimme des Reporters war nicht zu überhören. Jochen Bunke berichtete mir alles von seinem Treffen mit dem Bruder des Toten. So fügten sich die Dinge, die Schlinge um den Hals des Millionärs zog sich zu.

Die Mittagssonne schien über dem Hotel, und ich war gerade auf dem Weg in unser Zimmer gewesen, um mich ein wenig hinzulegen. Ich vertrage die Hitze nicht mehr gut, sie macht mich müde und meine Gedanken schwerfällig. Ich fuhr in die Sonne, um mich dann vor ihr zu verstecken. Jetzt blieb ich im Eingangsbereich sitzen, neben den Tischtennisplatten und dem Game-Center, in dem einige Dreizehnjährige mit dem Geld ihrer Eltern Krieg spielten. Bunke würde bei Oberstaatsanwalt Meisner anrufen und persönlich vorstellig werden. Er würde mich telefonisch zuschalten, und wir würden ihm von dem Anruf und der Aussage von Bogdan berichten. Parallel würde ich die Rechnung, die ich damals an Kleebach gestellt hatte, faxen; sie war auf den Tag des Verbrechens datiert. Das Urteil war gesprochen, aber ein Revisionsgrund würde sich finden lassen.

Doch dann sagte Bunke etwas, das alles ins Wanken brachte. »Dem Meisner wird es natürlich peinlich sein, dass er selbst Freispruch gefordert hat.«

Ich dachte oder vielleicht hoffte ich, mich verhört zu haben. »Wie bitte? Die Staatsanwaltschaft hat Freispruch gefordert?«

Die Sorge in meiner Stimme verwirrte den Journalisten. »Es sah ja eindeutig nach Notwehr aus. Aber ist das wichtig?«

Es war wichtig.

»Ich melde mich.« Ich legte auf und wählte die Nummer der Oldenburger Staatsanwaltschaft. Meine Finger zitterten, ich musste die Zahlen ein zweites Mal eingeben.

Franz Meisner erinnerte sich an mich. Ich warf den mit Jochen Bunke gefassten Plan über Bord und erzählte Meisner alles, von Kleebachs Anruf im Oktober und dem Gespräch mit Bogdan Sima. Als ich geendet hatte, blieb es still in der Leitung.

»Ich hatte bei dem Fall auch ein komisches Gefühl, deshalb habe ich ihn angeklagt, obwohl die Presse darüber wütend war. Vor Gericht hatten wir keine Chance, seine Geschichte war hieb- und stichfest. Wir haben ein Projektil in einem Baum gefunden, der Beweis für den Warnschuss. Und dann das Messer und Kleebachs Verletzungen. Am Ende musste ich auf Freispruch plädieren.«

Ich atmete durch. »Und dann haben Sie natürlich keine Rechtsmittel eingelegt.« Ich meinte, das Kopfschütteln am anderen Ende hören zu können.

»Wann ist die Frist für die Revision abgelaufen?«

»Gestern.« Meisner flüsterte es fast.

 

Das war es also. Der Freispruch war rechtskräftig geworden, es gab keine Möglichkeit mehr, Kleebach zu verurteilen. Das deutsche Recht ist eindeutig: Freispruch ist Freispruch, neue Beweise hin oder her. Es gab keinen Richter, der sie sich ansehen würde. Kleebach war ein freier Mann, und er würde es bleiben.

Hätte ich die Zeitung bereits am Montag gelesen oder wäre Bunke am Freitag im Büro gewesen oder hätte ich Meisner gleich von meinem Verdacht erzählt, vielleicht wäre alles anders gekommen. Kleebach wäre für zwei oder drei Jahre ins Gefängnis gegangen. Es wäre für ihn das Beste gewesen.

Wendung

Zwei Wochen später veröffentlichte Jochen Bunke seinen Artikel über Hans Kleebach, die Wahrheit über die Ereignisse des Oktoberabends. Nicht nur ein Gericht kann einen Menschen bestrafen, auch die Öffentlichkeit. Häufig werden die härtesten Sanktionen nicht von einem Richter ausgesprochen, sondern von der eigenen Familie, den Freunden, den Nachbarn und den Kollegen. Ihr Urteil ist fast immer lebenslang. Kleebach sollte nicht davonkommen. Bunkes Text zeichnete das Bild eines Mannes, der sich über die Gesetze stellt, der die Richter getäuscht und einem jungen Menschen das Leben genommen hat, ohne Reue zu empfinden.

Der Beitrag hatte allerdings nicht die Wirkung, mit der wir gerechnet hatten. Die Leser waren nicht empört über das Verhalten des Rentners, im Gegenteil. Die Redaktion erreichten fast ausschließlich Briefe, in denen die Menschen ihre Solidarität mit Kleebach bekundeten. Man müsse sein Heim verteidigen dürfen, der Täter sei selbst schuld, es wäre ja noch schöner, das Opfer des brutalen Einbruchs jetzt ins Gefängnis zu schicken. Wenn das die Antwort unseres Rechts sei, dann habe Kleebach gut daran getan, einen Ausweg zu finden. Der Staat unternehme ohnehin zu wenig gegen kriminelle Ausländer. Eine rechtspopulistische Partei bot Kleebach eine Kandidatur für den Landtag an, sogar ein Schriftsteller fand sich, der seine Biographie verfassen wollte.

 

Wenn man meint, dass eine Geschichte erzählt ist, nimmt das Leben oft noch eine weitere Wendung. Es war ein warmer Frühlingstag Mitte April, als die Polizei Hans Kleebach erstochen auf dem Boden seines Wohnzimmers fand. In Kleebachs Rücken steckte ein Küchenmesser, die Hand des Toten lag auf dem Rahmen eines Bildes. Es zeigte eine kahle Landschaft und einen Kirchturm, der wolkenverhangene Himmel hatte sich durch das Blut rot gefärbt, als würde die Sonne untergehen.

Der Verdacht fiel auf Bogdan Sima, doch es blieb unklar, wie er ins Haus hätte kommen sollen. Kleebach war seit dem Überfall vorsichtig geworden, er öffnete Fremden nicht die Tür, und es hatte keine Einbruchsspuren gegeben. Bogdan erschien nicht zur Vernehmung, die Wohnung im Oldenburger Vorort war leer. Man erwog einen europäischen Haftbefehl, hielt die Beweise dann aber für zu dünn. Der Fall wurde nie aufgeklärt.

Kleebach wurde auf dem Friedhof seines Heimatdorfes begraben, der Pastor hielt eine ergreifende Rede. Seine Tochter verkaufte die Villa, nach zwei kurzen Sommern ließen die neuen Besitzer den Pool zuschütten. Bogdan und Mirela haben Deutschland an einem Frühlingstag verlassen, ihre Spur verliert sich in Ungarn.

 

Peter, Gerd und Sigrid versicherten mir, dass weder Kleebachs Freispruch noch sein Tod mein Fehler gewesen waren. Sie wussten nicht, dass ich vor einigen Jahren schon einmal dabei geholfen hatte, ein Verbrechen zu vertuschen.

Zweiter Fall: Leben lassen

August 2010