Dürrst - Simon Froehling - E-Book

Dürrst E-Book

Simon Froehling

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Beschreibung

Eher zufällig wird Andreas Durrer zum gefeierten Künstler – als »Dürrst« jedoch droht er bald an sich selbst unterzugehen. Sein Weg vom Jugendlichen, der seiner Oberschichtsherkunft den Rücken zukehrt, über besetzte Häuser, unzählige Partys, Vernissagen und Betten meist fremder Männer bis in die psychiatrische Klinik und wieder hinaus ist kein linearer. Das Leben ist eine wilde Tour, auf der Dürrst ab und an das Ziel aus den Augen, doch fast nie die Hoffnung verliert.

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Seitenzahl: 307

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Simon Froehling

Dürrst

roman

Diogenes

Für André und für Philipp, endlich.

… I have only just found out that I want to live.

James Baldwin, Giovanni’s Room

 

 

 

 

Du bist gesund genug, dich zu verlieben, beschließt du an einem selbst für Athen ungewöhnlich heißen Oktobermorgen – ja, traust dich sogar zu sagen: gesund genug für die Liebe.

Nur wenige Tage verbleiben dir in der Stadt, die du als deine zweite Heimat betrachtest, auch wenn du kaum da bist, und dir graut vor dem kalten, regnerischen Zürich, von dem Yuri & Nils berichten.

es pisst pausenlos. auf dem balkon sollte alles oke sein. die pflanzen drinnen gehen wir morgen nochmals machen. – keine post. in der wohnung alles bestens. – es schneit! – um wie viel uhr am sonntag? wir holen dich ab.

 

Vor deiner Abreise spürst du den bissigen Herbst, jene Zeit, die für dich am schwierigsten ist, nach deinem Gemüt schnappen und nimmst kurzfristig vierzehn Tage frei, teils Überstundenkompensation, teils Urlaubsguthaben, obwohl eine der beiden Wochen in die städtischen Schulferien fällt, wo immer viel los ist im Museum. Aber du musst der Tristesse der kürzer werdenden Tage etwas Sonne entgegensetzen, willst du den kommenden Winter überstehen, redest du dir und deiner Chefin ein.

Jene Sonne, die bis spätabends die Steine der kleinen Nacktbadebucht von Limanakia wärmt, gleich außerhalb der Stadt, und jene, die hinter dem Tempel des Poseidon auf Kap Sunion, knapp zwei Busstunden von deiner Wohnung entfernt, über den Saronischen Golf abtaucht. Die gleißende Morgensonne auf deinem Balkon und die warmrosa Abendsonne über den wie von Götterhand hingekullerten Felsformationen von Meteora in Thessalien, an denen unzählige mittelalterliche Klöster kleben, ebenfalls wie hingezaubert, oder die Sonne auf deinem Fußmarsch runter von Delphi nach Itea auf dem antiken Pilgerweg, die dir das Gesicht verbrennt trotz Kappe Made inPRC, die du dir in einem Souvenirladen gekauft hast.

 

Glücklich und sonnenmüde kehrst du nach deinem Ausflug nach Athen zurück. Zum ersten Mal warst du als Tourist im Land unterwegs, geht dir durch den Kopf, als du beim Pedion Areos, der riesigen Parkanlage am Rande deines Quartiers, von der neuen Regierung jüngst mit einem Polizeigroßeinsatz von den Junkies und Flüchtlingen gesäubert, aus dem Fernbus steigst, denn seit dem Wohnungskauf vor zwei Jahren hast du jeweils deine Ferien hier verbracht, die Stadt aber nie verlassen, so beschäftigt, wie du warst mit der Renovation und der Einrichtung.

 

Du kannst bis heute nicht glauben, dass die fünfunddreißig Quadratmeter am Rande Exarchias, dem sogenannten Anarcho-Viertel mit seinen Squats und Graf‌f‌iti, seinen Cafés und Kneipen, ganz allein dir gehören – und alles darin ebenso. So sehr dir, wie noch nie etwas dir gehört hat.

Die neue, neuerdings von der Eigentümergemeinschaft vorgeschriebene Sicherheitstür mit den beiden Schlössern und zwei verschiedenen Schlüsseln, die du anfänglich ständig verwechselt hast.

Der enge Flur mit dem dunkelroten, schwarz-beige gesprenkelten Terrazzoboden, wo du deinen Rucksack fallen lässt und den Schlüsselbund in die Bronzeschale vom Markt in Monastiraki legst, in die du jeweils auch die lästigen Euro-Cents schmeißt und die auf dem schmalen Schuhschrank steht.

Die offene Küche, die du eigenhändig eingebaut hast und die in den Essbereich mündet mit der dunkelgrauen Wand und dem metallenen Gartentisch, dessen rissigen, rostigen Lack du abgebeizt und den du mit einer schwarzen Glasplatte ausgestattet hast, auf die du deine Trainerjacke und die Kappe wirfst.

Der Kronleuchter aus bernsteinfarbenen Glastropfen, der über dem Tisch hängt und den du anmachst und runterdimmst mit dem speziellen Schalter, den der Elektriker zuerst einzubauen vergaß.

Und dahinter das Wohn-Schrägstrich-Schlafzimmer, dessen Parkett du in ein paar Jahren wohl doch wirst abschleifen und neu lackieren lassen und wofür du dir bei jedem Besuch vornimmst, ein kleines Pult oder einen Sekretär und einen Lesesessel zu kaufen.

Wo du dich ausziehst und nackt aufs kühle weiße Bettlaken legst und den ebenfalls weißen Vorhängen zuschaust, wie sie sich vor der schräg gestellten Balkontür in der leichten Abendbrise aufblähen wie Segel.

Dein mediterranes Möglichleben, denkst du. Dein Vielleichtleben, Plan-B-Leben, Sollten-alle-Stricke-reißen-Leben. Dein Irgendwannleben. Und döst kurz ein, bevor du wieder aufstehst, um in der Bäckerei an der Alexandras eine Spanakopita und einen Schokomuf‌f‌in sowie ein Joghurt für morgen zu holen und Zigaretten zu kaufen beim fliegenden Händler, der nie weit weg ist.

 

Du verdrückst die Spinatpastete und den Muf‌f‌in vor dem Laptop, schaust Folge um Folge einer seichten Krimiserie, die du dir eigentlich für die Weihnachtsferien aufsparen wolltest. Vom Binge Drinking früher zum Binge Watching heute.

Kurz nach Mitternacht und für deine Verhältnisse bereits spät klappst du den Laptop zu, kannst es aber nicht lassen, nochmals die Kuppel-App auf deinem Handy zu öffnen.

 

hi.

Ein bildloses Profil lediglich mit einer Altersangabe: 20.

Das sind achtzehn Jahre Unterschied, rechnest du dir aus – eine ganze Volljährigkeit jünger.

pics?

Die Gegenfrage kommt postwendend: where are u from?

Sie kommt immer gleich zu Beginn. Nicht, weil die Person hinter dem Profil wirklich daran interessiert ist, woher du stammst, sondern zur Vergewisserung, dass du eben nicht von hier bist, dass Diskretion gegeben ist.

i live in zurich. pics?

Du musst schmunzeln, als du die Fotos siehst.

we know each other.

oh, i didn’t realize. u look different.

 

Ihr habt euch bereits vor mehr als einem Jahr, während der Renovationsphase, einige Male getroffen, du und Pavlos aus Chania auf Kreta, der in Athen Architektur studiert und eine Freundin hat.

Pavlos mit der hellen Haut, heller sogar als deine nordeuropäische, und dem beinahe schwarzen Haar, den beinahe schwarzen, borstigen Augenbrauen. Pavlos mit den langen Händen und den schmalen Fingern, mit denen er sich die langen Fransen aus der Stirn streicht. Pavlos mit den O-Beinen und dazwischen der hübsche, nach links gekrümmte Penis und dem beinahe schwarzen, wild wuchernden Schamhaar darüber.

Der dir jeweils spätabends schreibt, auf dem Heimweg von irgendwo.

can i come by?

***

»Illegal ist das«, bemerkt dein Vater an deinem fünfzehnten Geburtstag, nachdem du den neunzehnjährigen Frank nach Hause gebracht und als deinen Freund vorgestellt hast, worauf nach einem angestrengt gesitteten Abendessen inklusive Verwandten väterlicherseits Zeter und Mordio auf dich einbricht.

Ja, illegal und amoralisch sei das, was dieser Bursche mit ihrem Sohn mache, und du habest Ausgehverbot auf unbestimmt, und überhaupt werde man dir diese Flausen austreiben, es sei an der Zeit, dass du deine Position in der Gesellschaft, in deiner Familie ernst nehmest, und möglicherweise ginge das am besten, wenn man dir deine Privilegien streiche, ob du dir überhaupt je Gedanken machest, woher das ganze Geld käme für deine Kapriolen, und dein Großvater würde sich im Grab umdrehen.

Dein hämisches Lachen klatscht von der geschmackvollen Seidentapete des Foyers ab, in dem ihr steht, nachdem deine Eltern den ungebetenen Gast höf‌lich verabschiedet haben.

Du hättest darauf wetten können, dass sie Opa irgendwann heraustrotten lassen wie ein altes Zirkuspony, um dir ein schlechtes Gewissen einzujagen. Aber diesmal gehst du nicht darauf ein, sondern nimmst dein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, öffnest es und fächerst deinem Vater zwei Fünfziger- und ein paar Zwanzigernoten hin.

»Hast du das Gefühl, das kommt von dir? Wann hast du den letzten Barbezug gesehen auf meinem Konto?«, sagst du extra laut, damit man dich auch in der Bibliothek hört, wohin sich deine verstaubte Tante und zwei viel ältere Cousins mitsamt ihren lauten blonden Frauen verzogen haben, je mit einem Glas Portwein in der Hand. »Oder willst du behaupten, du schaust die Auszüge nicht mehr an?«

Verwirrt blicken deine Mutter und dein Vater abwechselnd auf das Geld in deiner Hand und einander an.

»Ihr habt schon von überhaupt nichts eine Ahnung, was?«, sagst du und wendest dich deinem Vater zu. »Vielleicht solltest du nach Feierabend mal im Bahnhofsklo am Stadi vorbeikommen, um dich ein bisschen abzureagieren.«

In der Stille, die darauf folgt, befürchtest du, die Seidentapete, ein Familienfabrikat aus Großvaters Zeiten, würde von der Wand bröseln und, Asche geworden, euch ersticken in einer pompejischen Szenerie: Die letzten der Stützli-Durrers.

Stattdessen schlägt dir deine Mutter mit voller Wucht ins Gesicht und bricht dann weinend zusammen, gekonnt dramatisch auf dem schlichten dänischen Designsessel, der neben dem schlichten dänischen Designtisch steht, immer mit frischen Blumen, wo sonntags dein Taschengeld liegt in einem cremefarbenen gefütterten Kuvert mit vorgedrucktem Absender: Hans-Peter Durrer.

Der aus dem Haus stürmt.

Der wochenlang kein Wort mit dir redet.

Der dir den Geldhahn tatsächlich zudreht, wie er es formulieren würde, spräche er noch mit dir.

Was deine Mutter jedoch unterwandert: Jede Woche findest du das Dreifache des ausgemachten Betrags in deiner Unterwäscheschublade.

Als bräuchtest du jemals so viel. Und ist ihr die Komik nicht bewusst? Aber sie hat Angst, dass du wieder abdriftest in eins deiner Tiefs, weißt du – und dass du sie in der Hand hast, ohne es zu wollen. Oder nur ein bisschen.

 

Trotz Verbot deiner Mutter gehst du weiterhin in die Klappen am Stadelhofen und am Bellevue, am Bürkliplatz und in der Urania, und später (du weißt mittlerweile, dass das, was du tust, »Cruisen« heißt) nach Eindunkeln ins Arboretum oder zur Bäckeranlage.

Bei jedem Besuch beschleicht dich dasselbe Kribbeln wie damals, erst wenige Monate ist es her, als du mit Demir am Bahnhof rumgelungert bist und er dringend aufs Klo musste.

Während du im Vorraum auf ihn wartest, merkst du, wie sie dich alle von Kopf bis Fuß mustern, die Männer, die an dir vorbeigehen. Einige drehen sich im Türrahmen nach dir um, und einer zwinkert dir sogar zu. Du spürst sofort, was vor sich geht – du wirst begehrt, und das Gefühl elektrisiert dich.

Demir ist in eine der Klokabinen verschwunden, wohl weil alle Pissoirs besetzt sind.

Aber sind sie das wirklich? Von hier draußen siehst du nur die ersten beiden.

Es fühlt sich an, als tätest du etwas Verbotenes, dabei betrittst du lediglich in einem Bahnhof das WC und stellst dich vors Lavabo, weil ja: Alle Pissoirs sind besetzt.

Um nicht auf die urinierenden Männer zu starren, studierst du den Ausschnitt Wand, wo der Spiegel fehlt, begutachtest die kruden Penisse, die schweinischen Sprüche, die Telefonnummern, schnell hingekritzelt und kaum lesbar, welche die weißen Kacheln überziehen. Sie kommen dir vor wie schamanische Beschwörungen, ein Lockruf.

»Bist du fertig?«, fragt eine Stimme ganz nahe hinter dir.

Du erschrickst.

»Gehen wir!«

Es ist Demir.

Schnell drehst du den Wasserhahn auf, hältst deine Hände unter den eiskalten Strahl.

»Mann, stress nicht!«, sagst du, und wider Erwarten ist deine Stimme fest, obwohl alles in dir bebt.

Draußen zieht dich Demir hinter einen der Ticketautomaten und entrollt ein Heft, das er gefunden hat.

»Lag auf’m Spülkasten. Voll geil! Schau mal die Titten!«

Dann rollt er das Heft wieder ein, schiebt es in seine Jacke.

»Ich muss mal«, sagt er und deutet eine Wichsgeste an.

In dem Moment weißt du, dass du ihn verloren hast, deinen Kindheitsfreund, und gleichzeitig ahnst du, dass hinter der Tür zum Bahnhofsklo eine ganze Welt aufgeht, wenn du dich getraust.

Und du getraust dich Woche um Woche.

Beim zweiten oder dritten Mal, als du dir in einer der Kabinen einen blasen lässt, drückt dir der schmierige, eheringtragende Anzugtyp eine Fünfzigernote in die Hand, und von da an lässt du dich meist bezahlen.

Es geht dir nicht ums Geld, begreifst du schon damals, aber erst später kannst du benennen, dass du deinen Eltern etwas heimzahlen möchtest und du nicht nur die Gefahr genießt, in die du dich bringst, sondern auch die Macht, die du über die Männer ausübst, die etwas von dir wollen, was du ihnen für eine kurze Zeit gewährst und dann wieder entziehst. Deine eigene Lust kulminiert in der blanken Furcht in ihren Augen, nachdem sie gekommen sind. Wie ausgeliefert sie dir sind, buchstäblich, mit offener Hose vor dir auf den Knien. Weil du schreien könntest oder sie anzeigen oder erpressen. Es ist eine ähnliche Furcht wie jene, die im Gesicht deines Vaters aufblitzt, wenn er dich vermeintlich unbemerkt beobachtet: Ist diese Sissy wirklich mein Sohn?

***

In den Halbschlaf ist dir Pavlos geschlichen, bemerkst du heute beim Aufwachen, und hat dir die erste Morgenlatte seit Langem beschert, wohl weil es zu nichts gekommen ist gestern Nacht.

Du fühlst dich schmutzig, als du versuchst, ihn dir aus dem Kopf zu rubbeln, den niedergeschlagenen Pavlos, der dir zur Begrüßung im Flur lediglich einen Kuss auf die Wange drückt und murmelt: »I have nothing with me.«

Als wäre er nur zugekokst oder zumindest bekif‌f‌t genießbar.

Pavlos, der in die Küche geht und sich ein Glas aus dem Schrank nimmt, es mit Wasser füllt und sagt: »My girlfriend lef‌t.«

Der sich auf dem Weg ins Schlafzimmer die Schuhe abstreift und sich im Schneidersitz aufs Bett setzt.

Griechischer Halbgott, denkst du.

»I wanted to take her to Crete at Christmas.«

Du bist froh, dass er bei dir gelandet ist und nicht bei irgendwem sonst, irgendeinem anderen älteren Typen mit wer weiß was für Drogen und Absichten.

»You don’t understand«, sagt Pavlos in die Stille. »I can’t be gay.«

Gleichzeitig fährt er dir ins Nackenhaar, zieht dich zu sich und küsst dich endlich richtig.

»Take me with you.«

»To Zurich?«

»Yes.«

»You wouldn’t f‌it in my bag.«

Pavlos deutet ein Lächeln an.

»But can I sleep here tonight?«

 

Jetzt, im Bett, stellst du dir Pavlos mit der falschen Blondine aus der Bäckerei vor, mit der Kassiererin im Supermarkt, mit der jungen Studentin aus dem Erdgeschoss, was aber dazu führt, dass du dich nur noch schmutziger fühlst. Denn bist du nicht genau gleich wie all die anderen Daddys, die es bestimmt gibt und die aufzusuchen Pavlos nicht lassen kann, wenn er ausreichend betrunken oder zugedröhnt ist, damit sie ihn fesseln mögen und bestrafen? Und bötest du ihm nicht auch Drogen an, hättest du welche im Haus? Um ihn zum Bleiben zu bewegen, ihn willig zu machen?

Du schüttelst den Gedanken ab, stehst auf und gehst in die Küche.

»Yes, Daddy!«-Pavlos, »Please, Daddy!«-Pavlos, »Give it to me, Daddy!«-Porno-Pavlos folgt dir, will dich zurück ins Schlafzimmer kriegen, um zu Ende zu bringen, womit ihr gestern angefangen habt.

»Schluss damit!«, sagst du laut, setzt Wasser auf für den Instantkaffee, nach dem du süchtig bist, und holst das Joghurt, das du gestern gekauft hast, aus dem Kühlschrank.

Aber Pavlos, der schlussendlich doch nicht bei dir übernachtet hat, weicht nicht von deiner Seite, lässt euch nochmals rumknutschen, rumfummeln, euch gegenseitig die Hose aufknöpfen, bis er – du bist längst auf dem Balkon angekommen mit deiner Tasse und den Zigaretten – irgendwann eingesteht: »Sorry, I can’t tonight.«

Und du: »You don’t need to apologize.«

 

Schluss mit den Jünglingen und ihren jugendlichen Dramen, schwörst du dir und reckst dein Gesicht in die Sonne, bevor sie, wie immer recht früh im Herbst, hinter dem Stref‌i-Hügel verschwindet und dich erst gegen Abend und durchs Küchenfenster wieder beglückt.

Schluss mit den schnellen Nummern aus Langeweile, um dein Ego zu füttern, um die Feierabendleere, die Sonntagsleere, die Herbstleere zu stopfen.

Schluss damit.

 

Du wirst die Dating-App ignorieren, solange du in Athen bist, und die letzten Tage hier genießen. Wirst die Wohnung gründlich reinigen, damit sie bereit ist für die nächsten Gäste, auch wenn du das Nancy überlassen könntest, die sich in deiner Abwesenheit um alles kümmert. Du wirst den Vorratsschrank, den Putzschrank auf‌füllen. Wirst ein letztes Mal nach Limanakia ans Meer fahren und erholt und glücklich zurück nach Zürich fliegen, gewappnet für die Suche – nein, fürs Finden.

Ja, du bist definitiv bereit, dich zu verlieben, definitiv gesund genug für die Liebe.

 

Beweisen es die letzten Jahre nicht? Schaffst du es nicht ganz allein, eine Immobilie zu erwerben, zu renovieren und einzurichten? Recherchierst du nicht monatelang das richtige Vorgehen und die relevanten Gesetze, beantragst eine griechische Steuernummer? Fährst du nicht wieder und wieder nach Griechenland und besichtigst Wohnung um Wohnung? Entschlüsselst das wirre Bus-System der Metropole und flitzt hinten auf Motorrädern von dubiosen Maklern in haarsträubendem Tempo durch die Straßen? Schreibst Mail um Mail, wovon die meisten unbeantwortet bleiben, und tätigst Anruf um Anruf? Stehst in kakerlakenverseuchten Kellerlöchern, die im Inserat als Garden Apartment with Charm angepriesen werden? Machst jeden erdenklichen Fehler, den man machen kann?

Bis du in einer winzigen Wohnung im dritten Stock einer 1970er-Jahre-Liegenschaft in Exarchia stehst und weißt: Das ist sie.

 

Du siehst sofort vor dir, wie die Wohnung daherkommen könnte, welche Wand herausgebrochen, wie die vermoderten Küchenelemente ausgetauscht und neu angeordnet werden müssen, wie du im Bad zusätzlich Platz schaffen kannst, indem du die eigenartige Sitzbadewanne entfernst. Wo dein Bett stehen wird.

 

Zugegeben, sporadisch droht dich alles zu überwältigen, dein Eifer gefährlich überzuschäumen. Aber erkennst du die Anzeichen, das Gedankenrasen, die Ein- und Durchschlafschwierigkeiten, den abnehmenden Appetit nicht frühzeitig und passt in telefonischer Absprache mit Dr. Hammer deine Medikation an?

Zugegeben, du kapitulierst beinahe, erwartest nicht, dass sich die letzte von dir kontaktierte Maklerin zurückmeldet, und buchst sogar deinen Flug um: keine Energie übrig für dieses Land, in dem keine einzige gerade Linie zu finden ist, nur Ecken und Kurven, Um- und Irrwege, und weil die Suche zu sehr ins Geld geht, von dem bald nicht mehr genug da ist. Möglicherweise muss es doch nicht sein?

Und zugegeben, ganz allein schaffst du es nicht. Ohne die Immobilienhändlerin, mit der du bis heute befreundet bist, ohne die Ingenieurin, die bei den Behörden den Umbau durchbringt, ohne die Notarin, die die Verträge macht und die Einträge in den beiden Grundbuchämtern, dem alten analogen und dem neuen digitalen, ohne Nancy – ohne das große Glück, das du mit all diesen Frauen hast, ginge es nicht.

Ja, du vermagst es trotz aller Widrigkeiten, dir etwas von Bestand zu schaffen in dieser bröselnden, bröckelnden Stadt, in diesem schnellen, schmutzigen, aufregenden Moloch, wo du dich immer ein wenig fremd fühlst, was dir ganz gut gefällt.

Und ja, deine Wohnung ist der beste Beweis dafür, dass du gesund genug bist für alles andere, inklusive die Liebe. Oder zumindest, um eine Beziehung zu führen wie ein erwachsener Mensch. Mit einem gleichaltrigen, bodenständigen, pünktlichen, verlässlichen, gut verdienenden Mann mit breiten Schultern, in dessen Achselhöhle du dich schmiegen kannst und der dir jeden Abend vor dem Einschlafen etwas Süßes oder Schweinisches ins Ohr flüstert.

 

Du hörst dich selbst lachen.

Und wie, bitte, willst du diesen Pappkartonausschnitt von einem Bünzlischweizer finden? Selbst basteln?

Vielleicht, antwortest du lapidar, sammelst deine Frühstückssachen ein und stellst sie in die Spüle.

Aber vielleicht gehst du genauso hartnäckig vor wie beim Wohnungskauf. Vielleicht passt du dein App-Profil an, löschst alle Angaben zu deinen sexuellen Vorlieben, versiehst es mit dem Emoji einer Kaffeetasse und triffst dich nicht mehr für Sofortsex. Und vielleicht hilft dir im richtigen Moment das Universum. Wie mit der Maklerin damals und dem Glück mit der Anwältin, der Ingenieurin, mit Nancy.

Das Lachen, das nur du hörst, ist ein abschätziges, gefolgt von dieser strengen, von jahrelanger Enttäuschung zynisch gefärbten Stimme, die du so gut kennst: Bist du auch gesund genug, Vera anzurufen?

 

Du wischst den Gedanken an dein Ex-Leben, wie du es nennst, weg und holst deinen Rucksack aus dem Flur. Beim Auspacken rieselt Sand auf den Boden. Wie schön es im Grunde ist, dein Jetzt-Leben.

In der Küche füllst du die Waschmaschine, spülst das Geschirr, putzt die Arbeitsflächen, putzt auch das Bad und beginnst dann, die Böden zu saugen.

Immer wieder huscht Pavlos durch deine Räume, zieht dich ins nackte, noch ungestrichene Schlafzimmer eurer ersten Begegnung zurück, wo er stehen bleibt.

»I’m a bit high«, gesteht er und bittet darum, gefesselt zu werden. »So that I can’t move.«

Später fällt das Wort »rape«.

»That’s not cool«, sagst du und nimmst ihn trotzdem, so hart du kannst.

***

So etwas hast du noch nie gehört. Es ist nicht der Kuschel-Rock von euren Schülerdiscos und auch nicht der Plastik-House, den du von den paar Klubbesuchen kennst, als du und deine Kameraden euch an den Türstehern vorbeimogeln konntet. Es ist eine magisch anmutende Musik, die sich, ließe man sie nach draußen, aus diesem Keller in die Stadt steigen, kurz aufbäumen würde und dann absterben.

Frank und du seid soeben durch eine stahlverstärkte Betontür im Erdgeschoss eines eigenartigen Gebäudes getreten, das von der Straße her aussieht wie ein Wohnhaus, wo die Fenster vergessen wurden in den ersten beiden Stockwerken. Jetzt steht ihr auf einer Art Galerie, unter der sich das Souterrain als riesige Halle auf‌tut, worin höchstens zwei Dutzend Gestalten im bunten Scheinwerferlicht verloren herumhampeln. Die Lampen sind an einer dicken Metallschiene angebracht, die auf der Höhe der Galerie längs über dem Kellerschlund entlangläuft und von der eine immense Winde baumelt, an der wiederum eine winzig wirkende Spiegelkugel hängt.

Die Musik dockt sich augenblicklich an jede deiner Zellen an, schäumt dein Blut auf und lässt deine Organe anschwellen. Du kannst gar nicht anders, als deine Füße zu bewegen, deine Beine und Arme, deine Hände, jeden einzelnen Finger, deinen Kopf.

Frank steht wie angegossen neben dir und stellt nüchtern fest: »Es ist ja kaum jemand da.«

 

Ihr installiert euch gegenüber dem DJ-Pult und neben den drei großen schwarzen Plastikwannen, wie man sie auf Baustellen sieht. Alle drei sind randvoll mit Eis und Getränken, zwei davon mit Fünf-Deziliter-Bierdosen, die dritte mit härterem Alkohol und, eher pro forma, wie es scheint, ein paar einsamen Drei-Liter-Sof‌tdrink-Flaschen. Dein Körper weigert sich, ruhig zu bleiben, während Frank, ebenfalls eher pro forma, sein Gewicht mehr oder weniger im Takt der Musik von einem Fuß auf den anderen verlagert.

Pro forma: So wie du bislang lebst, um Vorschriften zu erfüllen und Vorstellungen zu genügen. Aber nicht heute Abend. Heute gibt es keinen Schülerdurrer und keinen Durrersohn, überhaupt gibt es keine Nachnamen und keine Definitionen. Heute bist du nichts als ein Mensch in einer Musik in einem Keller, und es zieht dich ins Zentrum dieser unterirdischen Welt, näher und näher an die wachsende Gruppe Tanzender, denen du dich stärker verbunden fühlst als allen Menschen, die deinen Alltag bevölkern.

 

Irgendwann treibt euch das viele Bier in die Warteschlange vor den Klos. Frank ist etwas lockerer geworden, hat lässig seinen Arm um deine Schultern gelegt, was er sonst nicht tut in der Öffentlichkeit.

Plötzlich hört ihr hinter euch und über das Wummern des Basses eine weibliche Stimme brüllen: »Tu étais où?«

Die ganze Schlange dreht sich um und schaut zu der zierlichen Frau, die in einem wallenden Batikkleid an euch vorbeirauscht und direkt aufs Männerklo zusteuert, wo ein Typ, der sich am Waschbecken das Gesicht benetzt, jedoch den Weg versperrt zu den drei anderen, die am Pissoir stehen. Der hinterste schaut noch alarmierter drein als die zwei vorderen. Es ist klar, dass die Frau ihn meint. Hastig knöpft er seine Hose zu.

»Tu ne prends jamais de temps pour moi!«, schreit sie und schleudert ihm ihre Bierdose entgegen.

Der Typ duckt sich, die Bierdose klatscht an die Wand, zerbirst und schäumt das ganze kleine Klo ein.

Du möchtest Beifall klatschen. Es ist die beste Party, auf der du je gewesen bist, obwohl kaum eine Stunde vergangen ist seit eurer Ankunft.

Frank scheint das anders zu sehen. »Lass uns abhauen hier«, sagt er, wieder steif geworden.

»Auf keinen Fall!«, erwiderst du und küsst ihn auf den Mund.

Und jetzt klatscht tatsächlich jemand in die Hände, zuerst langsam, dann immer schneller.

»Frank? Verliebt?«, fragt die Bierdosen werfende Furie, die neben euch zu stehen kommt. »Dass ich das noch erleben darf!« In den Augen der jungen Frau, die sich gänzlich gefasst gibt, als hätte sie nicht gerade einen Gewaltakt verübt, blitzt Schalk auf.

»Ich hätte wenigstens getroffen«, weicht Frank aus. »Ist der arme Tropf dein Freund?«

»Der? Vielleicht. Kommt mit, ich zeig euch die Ausstellung.«

»Es gibt eine Ausstellung?«, fragst du.

»Das hier ist eine Vernissage, mon chérie. Hat Bruderherz das Wichtigste unterschlagen? Céleste, übrigens.«

»Céleste?«, fragt Frank.

»Ja, Céleste«, antwortet seine Schwester und wendet sich wieder dir zu: »Enchanté!«

***

Eine einzige, bereits einige Tage alte Nachricht kommt rein, als du in Zürich die Kuppel-App öffnest. Sie ist von M., einem deiner wenigen Fuckbuddies, der fragt, ob du Zeit habest für einen Quickie, er sei gerade in der Nähe.

sorry, ich war in den ferien, tippst du.

 

Eigentlich willst du deine Wohnung putzen, die du vor deiner Abreise sträf‌lich vernachlässigt hast, weil du bis spätabends im Büro geblieben bist, um alles aufzugleisen für deine Stellvertretung, und danach schlicht die Kraft nicht fandest. Die Küche und das Bad sind verdreckt, in den Ecken liegen Staubmäuse, die sich mit Haarknäueln paaren, und im Wohnzimmer türmt sich jener Teil der Wäsche, den du nicht mitgenommen hast nach Athen.

Du könntest den Haushalt einfach sein lassen, denkst du, und eine zweite Regel aufstellen neben dem Sofortsexverbot, das du dir bereits in Griechenland auferlegt hast: Geputzt wird erst vor dem nächsten Besuch. Dann müsstest du dich beeilen mit Daten, denn du bist zwar oft faul, im Grunde jedoch ziemlich pedantisch, und lange hältst du es in einer schmutzigen Wohnung nicht aus, bevor dich das Gefühl beschleicht, die Kontrolle über deinen Alltag zu verlieren, was in die Angst mündet, dein ganzes Leben entgleite dir.

 

Das Problem mit dem Daten ist der Alkohol. Unweigerlich bestellt deine Begleitung zum Apéro ein Bier oder ein Glas Prosecco oder Wein, und unweigerlich folgt auf deine eigene Bestellung (meist eine Cola Zero, manchmal, hast du tagsüber zu viel Kaffee getrunken, eine Apfelschorle) eine Variante derselben Frage: »Du trinkst nicht?« – »Du machst eine Pause? Finde ich super!« – Oder einfach ein: »Oh?«

Du weißt nie, was erwidern.

»Ich mag Alkohol nicht.« – »Ich bin nicht gerne betrunken.« – »Ich hasse es, die Kontrolle zu verlieren.« – Oder aus Lust an der Provokation: »Ich bin Alkoholiker.«

Du hast schon alle möglichen Antworten ausprobiert, sogar ein Zitat von Jarman, den dir Yuri einen Winter lang vorliest (die Frage, ob Alkohol nicht einfach die beste Droge sei, um die Massen zu kontrollieren, oder so etwas in der Art), aber keine Replik stimmt ganz.

 

Obwohl dir angezeigt wird, dass M. momentan nicht online ist, starrst du auf euren Chat-Verlauf, als könntest du mit purer Gedankenkraft eine Nachricht heraufbeschwören. Und dann beobachtest du, wie dein Zeigefinger mit ein paar wenigen Berührungen zuerst den Verlauf und danach die App selbst löscht.

Bevor du es dir anders überlegen kannst, legst du dein Handy weg und holst den Staubsauger hervor.

Du wirst den Winter im Büro und im Gym totschlagen, vor dem TV, nein, mit guten Büchern, und somit dem Universum signalisieren, dass du nicht auf der Suche bist.

Als ließe sich das Universum so leicht überlisten.

Aber trotzdem: Es ist besser so.

Du steckst den Staubsauger ein.

Wie sehr viel lieber du in Athen geputzt hast, erst gestern, geht dir durch den Kopf. Und wieder deine Galeristin, Vera. Falls sie überhaupt noch deine Galeristin ist.

Aber was wäre zu sagen? Sie fragen, ob sie Lust habe, Ideen zu brainstormen für dein Comeback?

»Brainstormen«, »Comeback« – nur schon die Wörter!

***

Und so etwas hast du noch nie gesehen. Bereits der Warenlift, zu dem euch Céleste führt, ist ein Kunstwerk: eine Höhle, von deren Decke schwarz glänzende Stalaktiten bedrohlich in den Raum ragen (instinktiv duckst du dich, als ihr den Lift betretet), während aus dem Boden psychedelisch-bunte Stalagmiten emporwachsen, sodass ihr aufpassen müsst, wohin ihr tretet, bis ihr in der Mitte des Lifts, auf einer Art Mini-Lichtung, eng beieinander zu stehen kommt.

Als sich die Grotte in Bewegung setzt, ertönt ein metallenes Rumpeln, das in dumpf-düstere Töne übergeht, die sich zum Stakkato emporschwingen, um ganz zum Schluss von einer sphärischen Melodie unterspült zu werden, die anschwillt, lauter und lauter, sodass du das Gefühl bekommst, der Lift werde schneller und schneller.

Frank, dem es schon auf dem Ein-Meter-Sprungbrett schlecht wird, packt dich am Arm und sieht aus, als müsse er gleich erbrechen.

Aber dann reißt die Musik jäh ab, und ihr kommt mit einem letzten Poltern zum Stehen.

»Endlich!«, zischt Frank und verfängt sich beinahe in dem Fischernetz, das über dem Liftausgang hängt.

»Pussy!«, lacht Céleste.

 

Die Höhle mündet in eine surreale, blau-grün-silbern glitzernde Unterwasserlandschaft, aus der nur durch ein etwa hüfthohes Loch zu entkommen ist, worauf ihr euch in einem eigenartigen, gänzlich gelb gestrichenen Wohnzimmer mit viel zu niedriger Decke wiederfindet, in dem die ebenfalls gelben Möbel zerlegt, neu zusammengefügt und mit gelben Schnüren kreuz und quer miteinander verbunden worden sind. Vorsichtig bahnt ihr euch einen Weg durch den Raum, um euch nicht zu verheddern.

Erst auf der Dachterrasse, nach vier oder fünf weiteren Räumen, mit deinem dritten Bier in der Hand, merkst du, wie flach und stockend dein Atem geworden ist.

»Toll, nicht?«, sagt Céleste strahlend, als hätte sie die gesamte Ausstellung allein zu verantworten.

»Ich fange nächstes Jahr den gestalterischen Vorkurs an«, weißt du nichts anderes zu erwidern.

Céleste lacht. »Sag das nicht zu laut! Institutionalisierte Kunstausbildungen sind hier verpönt.«

Aber du hast dich entschieden. Auf der Stelle, hier und jetzt. In Gedanken übst du bereits das Gespräch mit deinen Eltern, die schon einen Aufstand gemacht haben, als du mit vierzehn darauf bestanden hast, aufs Kunstgymnasium zu gehen – immerhin ein Gymnasium. Und jetzt der Vorkurs? Wohin sollte der, bitte schön, führen? Zu einer Berufslehre etwa?

 

Irgendwann stehst du erneut in der Schlange vor den Klos.

Céleste hat dich nach unten begleitet, aber Frank meinte, er warte auf der Terrasse, da habe es nicht so viele Menschen. In Wahrheit passt es ihm wohl nicht, dass du dich so amüsierst und dich auf Anhieb verstehst mit seiner Schwester. Oder wollte er dich am Ende überraschen mit der Ausstellung, weil er weiß, wie gerne du »bastelst«? Wie rührend! Aber weshalb sondert er sich dann ab?

Was soll’s, sagst du dir und merkst, wie still es geworden ist im Flur. Du schaust dich um und glaubst kurz, dich treffe der Schlag: Das kann doch nicht – Mutter?

Aber natürlich ist die gänzlich deplatziert wirkende ältere Frau, die direkt auf dich zuzustaksen scheint, nicht deine Mutter. Sie trägt lediglich das exakt selbe lachsfarbene Chanel-Kostüm. Nur trägt sie es nicht wie eine Rüstung, sondern wie eine zweite Haut.

»Kann mir jemand sagen, wo es hier zur Kunst geht?«

Du hebst die Hand, als seist du in der Schule.

Die anderen in der Warteschlange beginnen wieder zu quatschen.

»Na dann los!«, sagt der lachsrosa Mund und lächelt. Die Frau wirkt auf einmal zehn Jahre jünger, ihr kantiges Gesicht plötzlich weich. Sogar ihre ausgeklügelte Hochsteckfrisur scheint weniger streng. »Ich bin Vera.«

»Andreas Durrer. Aber alle nennen mich Dürrst.«

»Ich habe ebenfalls einen Spitznamen«, sagt Vera, »aber der ist niederländisch und kaum auszusprechen. Können wir? Ich pflege nicht gerne vor Klos rumzustehen.«

 

Oben angekommen, führst du Vera, die sich bei dir einhakt, stolz durch die Räume, als sei sie das Kunstwerk, bis sie stehen bleibt und fragt, ob du wissest, wo Céleste bleibt.

»Sie kennen Céleste?«

»Die ist bei mir im Stall. Eigentlich waren wir verabredet. Aber bitte nenn mich Vera.«

»Ich habe sie gerade noch gesehen.«

»Sicher dieser Franzose. Der bremst sie total aus. Sie hat sich seinetwegen sogar umbenannt.«

Ihr steht mittlerweile auf der Dachterrasse, aber auch da ist Céleste nicht zu finden. Und Frank ist ebenfalls verschwunden. Spätestens morgen wirst du seinen Groll zu spüren bekommen.

»Ich kann Vernissagen-Geplänkel nicht ausstehen«, erklärt Vera, und jetzt ist es sie, die dich führt, zurück durch die Ausstellung und zum Lift. Was dir recht ist, denn du musst immer dringender aufs Klo.

»Du bist auch Künstler?«

»Ich bin noch gar nichts«, sagst du, als ihr euren Weg durch die Stalagmiten in die Mitte des Lifts bahnt, und bist selbst erstaunt, wie nonchalant du klingst. Wie erwachsen.

Aber etwas stimmt nicht. Müsste da nicht Musik –

In dem Moment bleibt der Lift stehen. Zum Glück gehen die Lichterketten nicht aus, die sich um die Stalaktiten schlängeln. Wahrscheinlich batteriebetrieben, denkst du. Und dass du wirklich unbedingt pissen musst, ausgerechnet jetzt.

Vera greift in ihre überdimensionierte Handtasche und zieht einen vorgedrehten Joint hervor.

»Machen wir das Beste draus«, sagt sie und setzt sich, Chanel-Kostüm hin oder her, auf den Boden, dass es kracht.

»Scheiße«, sagst du, als auch bei dir ein paar Stalagmiten abbrechen.

Vera schmunzelt, zündet den Joint an und hebt anschließend einen der losen Stäbe vom Boden auf, sagt »billiger Bauschaum« und steckt ihn in ihre Tasche. »Kunst ist nicht heilig, mi amor!«, schiebt sie nach, als sie dein empörtes Gesicht sieht. »Schreib dir das auf die Ohren.«

»Hinter die Ohren.«

»Du wagst es, mich zu korrigieren?«

»Sorry, ich –«

Vera kichert, was so gar nicht zu ihr passt, und reicht dir den Joint. »Junger Mann, du gefällst mir!«

Wieder greift sie in ihre Tasche, findet aber erst nach einigem Wühlen, wonach sie sucht: ihre Visitenkarte.

»Komm mal bei mir vorbei. Eine alte Frau wie ich muss am Puls der Jugend bleiben.«

 

Später erinnerst du dich nicht daran, wie ihr aus dem Lift gekommen seid. Das nächste Bild, das du siehst, ist, wie du am Pissoir stehst und endlich, endlich deine Blase leerst, während Vera sich am Waschbecken daneben die Lippen nachzieht und dann verschwindet, so plötzlich, wie sie aufgetaucht ist.

***

Am Sonntag nach deiner Rückkehr aus Athen betrittst du das Dampfbad deines Fitnesscenters und bist irritiert, dass die drei nur schematisch erkennbaren Gestalten sich offensichtlich nicht ihrer Tücher entledigt haben, wie du das aus den Schwulensaunas kennst, die du früher regelmäßig frequentiert hast. Kurz überlegst du dir, nochmals rauszugehen und dein eigenes Tuch, das an einem der bestimmt dafür vorgesehenen Haken neben der Glastür hängt, wieder umzubinden, entscheidest dich jedoch dagegen.

Du setzt dich in einiger Entfernung von der einen und gegenüber den zwei anderen Figuren auf die linke Sitzbank, darauf bedacht, die Beine selbstbewusst männlich zu spreizen. Im heißen Nebel und in der Dunkelheit ist deine wachsende Erregung wahrscheinlich nicht zu erkennen.

Oder doch? Denn zwei der Männer stehen auf und verlassen das Bad, das sich schließlich nicht in einem schwulen Sex-Etablissement, sondern im Umkleidebereich deines Gyms befindet. Vielleicht hast du Glück, dass du nicht angepöbelt wirst oder schlimmer.

Einen Augenblick später erhebt sich auch der verbleibende Mann, aber anstatt den Raum zu verlassen, setzt er sich in kaum zwanzig Zentimetern Entfernung neben dich.

Du hörst dein Herz pochen und wartest vielleicht eine halbe, eine ewig lange Minute, bevor du deine Hand auf den fremden Oberschenkel legst.

Der Mann, der relativ muskulös sein muss und, zumindest in Sitzposition, einen leichten Bauchansatz hat, was du seit jeher sexy findest, atmet geräuschvoll aus, fährt dir mit der eigenen Hand deinen bereits schweißnassen Rücken hoch in den Nacken und übt sanften Druck aus.

Du gibst dem Druck nach.

 

Mehrmals hast du munkeln gehört, dass es samstags und sonntags in deinem Gym ziemlich abgeht, was du jedoch, gemessen an der Klientel, auf die du wochentags beim Work-out triffst, als urbane Legende abtust. Du trainierst nicht sonderlich gerne, versuchst, an Randzeiten und nie am Wochenende zu gehen, und duschst jeweils zu Hause. Dein Gaydar schlägt höchst selten aus, und wenn du früher zwischen den Übungen jeweils die Dating-App geöffnet hast, war kaum je einer näher als ein paar Hundert Meter.

Aber siehe da, der Sonntag erwischt dich im Dampfbad auf den Knien. Wobei das wirklich Unerwartete draußen im Umkleidebereich passiert.

***

Du brauchst eine Weile, bis du begreifst, mit wem und wo du aufwachst, und als die Erinnerung einsetzt, gleicht sie eher einer Diashow als einem Film: das eigenartige Gebäude. Die viele Kunst. Frank und Céleste. Die Galeristin, Vera, und ihr Kärtchen in deiner Hosentasche.

Aufstehen und nachschauen, ob du nicht träumst?

Doch deine Arme, deine Beine, dein Schädel sind aus Watte, und das einzige Geräusch, das du hörst, ein leises zufriedenes Japsen, scheint aus meilenweiter Entfernung zu kommen.

Das nächste Dia zeigt die Tanzfläche und danach einen Jungen in ausgewaschenen Jeans mit roten Hosenträgern über der nackten haarlosen Brust. Der Junge hält ein Silbertablett und offeriert dir ein Shot-Glas randvoll mit einer pinkfarbenen Flüssigkeit. Er wartet, bis du es geleert hast, und zwinkert dir zu.

Dann bist nur noch du zu sehen. Wie du tanzt und tanzt.

Kurz darauf oder nach einer Ewigkeit, du hast jegliches Zeitgefühl verloren, wieder der Junge. Diesmal ohne Tablett. Seine Haut schimmert feucht unter den vielen Lichtern. Du willst deine Hand ausstrecken und ihn berühren, seinen Oberkörper nachzeichnen mit all deinen Fingern, deine Fingerkuppen ablecken.

Du berührst seine Schulter, berührst die Stelle, wo sein Schultergelenk in den Pectoralis übergeht.

Dieses Wort aus dem Zeichenunterricht. Pectoralis.

Es kullert aus deinem Mund, es dehnt sich aus. Pectoralis major.

Er fängt es auf, ihr küsst euch.

»Dein erstes Mal?«, fragt der Hosenträger-Träger, der sich als Yuri vorstellt.

Du weißt nicht, ob er den Kuss meint oder dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, in dem du dich aufgelöst hast wie Honig in warmer Milch, und auch seine Zunge ist süß und nichts an euch hart, alles nur zartweiche Haut.

Ein Grinsen breitet sich aus auf deinem Gesicht.

»Oh ja«, flüsterst du, »oh ja.« Und meinst beides.

Der Junge, der, du weißt es, genau gleich alt ist wie du und der, du spürst es, genau so ist wie du, nein, der du ist in einem Parallelleben, legt seine Hand über deine, die immer noch auf seiner Brust ruht, die deine Brust, die eure Brust ist.

»Komm, tanzen wir«, sagt er, und die Diashow bricht ab, wie auch das Geräusch neben dir.

Deine Eltern werden dich umbringen, denkst du und drehst dich zu Yuri, um den Kuss von gestern Nacht zu Ende zu küssen.

***