30,99 €
Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 171 : Thomas weiß, was er will E-Book 172 : Die Wahrheit über Stefans Vater E-Book 173 : Ani bekommt wieder Eltern E-Book 174 : Aus dem Elternhaus vertrieben E-Book 175 : Hab Sonne im Herzen E-Book 176 : Er musste immer der Beste sein E-Book 177 : Steffi kann nicht sprechen E-Book 178 : Der Junge aus dem Moor E-Book 179 : Mutter hat mich verlassen E-Book 180 : Bedrohtes Kinderglück E-Book 1: Thomas weiß, was er will E-Book 2: Die Wahrheit über Stefans Vater E-Book 3: Ani bekommt wieder Eltern E-Book 4: Aus dem Elternhaus vertrieben E-Book 5: Hab Sonne im Herzen E-Book 6: Er musste immer der Beste sein E-Book 7: Steffi kann nicht sprechen E-Book 8: Der Junge aus dem Moor E-Book 9: Mutter hat mich verlassen E-Book 10: Bedrohtes Kinderglück
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1450
E-Book 171 - 180
Thomas weiß, was er will
Die Wahrheit über Stefans Vater
Ani bekommt wieder Eltern
Aus dem Elternhaus vertrieben
Hab Sonne im Herzen
Er musste immer der Beste sein
Steffi kann nicht sprechen
Der Junge aus dem Moor
Mutter hat mich verlassen
Bedrohtes Kinderglück
Es regnete in Strömen, als der Schriftsteller Eugen Luchs das Stuttgarter Funkhaus verließ. Missbilligend schaute er zum Himmel und spannte seinen großen schwarzen Schirm auf. Er hatte einige spannende Tiergeschichten auf Band gesprochen, die zu späterer Zeit gesendet werden sollten. Seine lebendigen Erzählungen erfreuten sich bei jung und alt großer Beliebtheit. Doch standen auch noch einige Besorgungen auf seinem Programm. Vor allem musste er für sein Pflegetöchterchen Peggy zwei neue T-Shirts kaufen, denn Peggy war mächtig gewachsen in letzter Zeit. Mit langen Schritten machte sich der etwas untersetzte Verfasser von Reise- und Tierbüchern auf den Weg. An einer Kreuzung stand die Ampel auf Rot, und er musste warten. Ein Junge von etwa fünf Jahren nahm die Gelegenheit wahr, sich mit unter seinen Schirm zu stellen. Lächelnd ließ Eugen Luchs das Kind gewähren.
Der Bub blieb von nun an beharrlich an seiner Seite. Er war bereits völlig durchnässt und trug weder einen Mantel noch eine Kopfbedeckung. An einem Textilgeschäft machte Eugen Luchs Halt.
»Ich möchte hier hineingehen«, erklärte er dem Jungen.
»Dann warte ich so lange«, erwiderte der kleine Bursche mit verblüffender Selbstverständlichkeit.
»Na schön, wenn du den gleichen Weg hast.«
Der Schriftsteller lächelte und strich mit der freien Hand über seinen rötlich blonden Bart. Im Geschäft konzentrierte er sich ganz und gar auf seinen Einkauf.
Er erstand für Peggy nicht nur zwei, sondern sogar vier Baumwollhemden, jedes anders und allesamt so knallbunt und lustig, wie Peggy es liebte. Sicher würden sie dem kleinen Waisenmädchen aus dem fernen Afrika gut stehen.
Die Verkäuferin verpackte die Sachen in einer wasserfesten Plastiktüte. Vor dem Eingang wartete geduldig der Junge. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Mit seinen braunen Augen blickte er Eugen Luchs vertrauensvoll entgegen.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der Schriftsteller.
»Thomas.«
»Willst du jetzt noch weiter mit mir gehen? Ich muss da rechts herum zum Parkplatz.«
»Ja, ich komme mit.« Thomas trottete neben Eugen Luchs her und hielt sich eng neben ihm, um den Schutz des Schirms auszunützen.
Nach etwa zehn Minuten erreichten sie den bewachten Platz, auf dem Eugen Luchs den Wagen abgestellt hatte. »So, da wären wir, Thomas. Weißt du was, ich fahre dich schnell nach Hause. Komm, steig ein!«
Thomas ließ sich das nicht zweimal sagen. Er kletterte auf den Rücksitz und strich sich aufatmend das feuchte Haar aus dem kleinen ernsten Gesicht.
»Wohin also?«, fragte Eugen Luchs, als er hinter dem Steuer saß.
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich will nicht nach Hause.«
»Ach so, du bist wohl fortgelaufen?« Damit hatte Eugen Luchs nicht gerechnet. »Was sollen wir denn jetzt machen? Ich bleibe nicht in Stuttgart, denn ich wohne nicht hier.«
»Kannst du mich nicht mitnehmen? Ich mag nicht allein sein.«
»Allein? Wie meinst du das, Thomas?«
»Eben allein. Meine Mutti ist nicht heimgekommen. Das war vorgestern. Ich habe gewartet und gewartet. Heute wollte ich sie suchen. Aber dann fing es an zu regnen. Vielleicht kannst du mir helfen.«
Eugen Luchs drehte sich halb nach rückwärts und betrachtete seinen verregneten Findling mitleidig. »Nun wollen wir der Sache einmal auf den Grund gehen, Thomas. Ich bin Onkel Luchs aus Sophienlust. Verrätst du mir deinen Familiennamen? Oder ist das ein Geheimnis?«
»Nein, ein Geheimnis nicht. Thomas Harder heiße ich.«
Eugen Luchs erfuhr, dass Thomas fünf Jahre alt war. Auch seine Adresse konnte der Junge angeben. Seine Mutti arbeitete, berichtete er. Leider wusste er nicht, wo sie beschäftigt war. Er pflegte den Tag in einem Kindergarten zu verbringen. Vorgestern war seine Mutti nicht gekommen, um ihn abzuholen wie gewöhnlich. Da sie sich manchmal ein wenig verspätete, hatte der Vater eines kleinen Mädchens Thomas mitgenommen und vor dem Wohnhaus der Harders abgesetzt. Mit dem Schlüssel, den Thomas für alle Fälle an einem Kettchen um den Hals trug, war er in die Wohnung gelangt. Seitdem wartete er vergeblich auf die Rückkehr seiner Mutti.
»Hast du auch einen Vati, Thomas?«, erkundigte sich Eugen Luchs mit wachsender Besorgnis.
»Nein, einen Vati haben wir überhaupt nicht.«
»Warum bist du nicht zu den Nachbarn gegangen? Es ist doch sonnenklar, dass etwas nicht stimmt, wenn deine Mutti plötzlich nicht heimkommt.«
»Ich – ich habe mich nicht getraut, Onkel Luchs. Frau Weber schimpft nämlich immer, wenn ich mit nassen Schuhen die Treppe heraufkomme oder so was.«
»Du bist also seit vorgestern ganz allein gewesen? Hast du denn etwas zu essen gehabt?«
»Doch, es war noch was im Kühlschrank. Ich hatte auch keinen richtigen Hunger, denn es macht keinen Spaß, wenn man ganz allein ist, Onkel Luchs.«
»Ja, das verstehe ich, Thomas. Weißt du was? Wir fahren jetzt zur Polizei. Irgendwie müssen wir deine Mutti doch schließlich finden.«
»Auf der Polizei? Glaubst du, dass sie dort ist?«
»Nein, das nicht, Thomas. Aber die Polizei wird uns helfen. Dafür ist sie nämlich da.«
Eugen Luchs warf einen Blick auf seine Uhr. Es würde eine ganze Weile dauern. Aber er musste sich jetzt um diesen Jungen kümmern. Wer weiß, was Thomas noch alles zustoßen mochte, wenn er ihn jetzt sich selber überließ. Er startete und setzte den Wagen aus der Parklücke. Bei der Ausfahrt zahlte er und erfuhr vom Kassierer, dass sich zwei Straßen weiter ein Polizeirevier befand.
Wenig später betraten Eugen Luchs und Thomas die Amtsstube, wo zwei uniformierte Beamte sie nach ihren Wünschen befragten. Der Schriftsteller berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte. Einer der beiden Polizisten nahm sofort ein Protokoll auf. Thomas saß auf einem Stuhl und baumelte mit den Beinen. Sein blondes Haar begann nun schon zu trocknen.
»Haben eure Nachbarn Telefon?«, erkundigte sich der Beamte bei Thomas. »Ich meine die Webers, weißt du?«
Thomas nickte. »Doch. Telefon haben sie. Aber die Nummer weiß ich nicht.«
»Das macht nichts. Die finden wir im Telefonbuch.«
Es gab viele Webers, doch schließlich fanden sich die mit der richtigen Adresse. Gespannt hörten Eugen Luchs und der Junge zu, wie der Polizist seine Nachforschungen fortsetzte.
»Aber Frau Weber weiß bestimmt nicht, wo meine Mutti ist«, meinte Thomas mit gesenkter Stimme.
»Abwarten, Thomas«, sagte Eugen Luchs. »Möglicherweise kann sie uns doch irgendwie helfen.«
Der Beamte, der einige Notizen gemacht hatte, legte den Hörer auf. »Frau Weber und ihr Mann haben nichts davon bemerkt, dass der Junge allein in der benachbarten Wohnung war. Sie sagten, sie hätten sich sonst um ihn gekümmert. Frau Jutta Harder arbeitet als Fremdsprachensekretärin in einem Chemiewerk. Zwar konnte mir Frau Weber den Namen der Firma nicht nennen, aber sie gab mir die dienstliche Telefonnummer ihrer Nachbarin, die diese für alle Fälle bei ihr hinterlegt hatte. Jetzt werden wir feststellen, ob deine Mutti zum Dienst gekommen ist, Thomas. Das bringt uns vielleicht ein Stück weiter.«
Thomas antwortete nicht. Er blickte vielmehr recht kläglich und sorgenvoll drein. Solange er neben dem Schriftsteller unter dem Schirm durch die Stadt gestapft war, hatte er seine Angst ein wenig vergessen gehabt.
Das nächste Telefongespräch ergab eine betrübliche Nachricht. Jutta Harder war vor zwei Tagen im Betrieb so unglücklich gestürzt, dass sie bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Geschickt vermied es der Beamte, dass Thomas hiervon sogleich etwas erfuhr. Er ließ sich die Nummer der Klinik geben und setzte seine Erkundigungen fort. Das Ergebnis war entmutigend. Die Verletzte hatte einen Schädelbruch erlitten und das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.
»Deine Mutti ist krank, Thomas«, erklärte der Beamte dem Jungen. »Sie hatte einen Unfall und muss einige Zeit im Krankenhaus liegen. Es wird wohl eine Weile dauern, bis sie wieder gesund ist. Hast du vielleicht eine Omi oder eine Tante, zu der wir dich bringen können?«
Thomas kämpfte mit den Tränen. »Ich – ich habe keine Omi. Was ist mit meiner Mutti passiert?«
»Sie ist hingefallen. Dabei hat sie sich stark am Kopf geschlagen. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir sorgen schon dafür, dass du unterkommst.«
»Hast du denn gar keine Verwandten, Thomas?«, wandte sich der Schriftsteller an das Kind. »Weißt du niemanden, bei dem du eine Zeit lang wohnen kannst?«
Thomas hob die Schultern und schwieg.
»Wir müssen einen Platz in einem städtischen Heim für ihn finden«, ließ sich der zweite Polizist vernehmen, der inzwischen sein Protokoll beendet hatte. »Am besten setzen wir uns mit dem Jugendamt in Verbindung.«
Thomas griff nach der Hand des Schriftstellers. »Ich mag nicht in ein Heim, Onkel Luchs«, stieß er hervor. »Warum kann ich nicht bei dir bleiben, bis meine Mutti wieder gesund ist?«
Eugen Luchs betrachtete den Buben voller Mitleid. Es war tatsächlich für Thomas keine angenehme Situation. Und in Sophienlust gab es schließlich immer einen freien Platz. Der Schriftsteller räusperte sich. »Falls keine Einwendungen bestehen, könnte ich Thomas in einem ausgezeichneten privaten Kinderheim unterbringen. Glauben Sie, dass man die Genehmigung des Jugendamtes erhalten könnte?«
»Es kommt darauf an, um welches Heim es sich handelt. Das Jugendamt legt da strenge Maßstäbe an. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man froh sein wird, wenn das Problem sich auf diese Weise lösen lässt, Herr Luchs.«
Das war wenigstens keine glatte Absage. Es sollte allerdings noch mehrere Telefongespräche und umständliche Rückfragen erfordern, bis die Erlaubnis erteilt wurde. Das Kinderheim Sophienlust war beim Jugendamt wohl bekannt. Nachdem Eugen Luchs seine Personalien angegeben und sich ausgewiesen hatte, waren auch die letzten Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt.
»Ist es dein eigenes Kinderheim, Onkel Luchs?«, fragte Thomas, als sich die Tür des Polizeireviers hinter ihnen schloss.
»Nein, Thomas. Ich erkläre es dir unterwegs. Zuerst wollen wir aus dem Regen herauskommen.« Er schloss den Wagen auf und ließ Thomas wieder hinten einsteigen. Dann setzte er sich ans Steuer und ließ den Motor an. Sobald sie die große Ausfallstraße erreicht hatten, begann Eugen Luchs mit seiner Erzählung.
»Sophienlust gehört seltsamerweise einem Jungen, Thomas. Er war erst fünf Jahre alt, als er das Gut von seiner Urgroßmutter erbte. Natürlich konnte er damals den Wunsch seiner Urgroßmutter, aus dem schönen alten Haus, ein Heim für Kinder zu machen, nicht selber erfüllen. Aber seine Mutter übernahm diese Aufgabe. Sie heißt Denise von Schoenecker, und du wirst sie noch heute kennenlernen. Die Kinder von Sophienlust nennen sie Tante Isi.«
»Und wie heißt der Junge, dem das Heim gehört?«
»Nick.«
»Das ist ein hübscher Name. Wohnst du auch in Sophienlust?«
»Ganz in der Nähe. Ich habe einen Wohnwagen, mit dem ich oft weite Reisen unternehme. Was ich unterwegs erlebe, schreibe ich auf.«
»Das gefällt mir. Kann ich nicht bei dir im Wohnwagen schlafen?«
»Nein, Thomas. Dieses Vorrecht hat Peggy, mein Pflegetöchterchen. Doch auch Peggy wohnt häufig in Sophienlust, denn ich bin viel unterwegs und meine Peggy geht bereits zur Schule. Peggy ist übrigens eine Afrikanerin und hat dunkle Haut. Darüber darfst du dich nicht wundern.«
»Hast du sie von einer Reise mitgebracht?«
»Stimmt genau. Du bist ziemlich schlau, Thomas. Ich war in Afrika, als Peggy ihre Eltern verlor. Jetzt ist sie mein Pflegekind, und ich habe sie sehr lieb. Du wirst sie bestimmt auch gernhaben.«
»Ich bin froh, dass ich mit dir fahren kann, Onkel Luchs«, sagte Thomas leise. »Glaubst du, dass es lange dauert, bis meine Mutti wieder gesund wird?«
»Sie scheint sich ziemlich schwer verletzt zu haben, Thomas. Wahrscheinlich musst du eine Weile Geduld haben. Sobald es ihr besser geht, wirst du sie im Krankenhaus besuchen. Das verspreche ich dir. Tante Isi leiht mir dann sicherlich wieder ihr Auto, genau wie heute.«
»Ach so, dieses Auto gehört dir gar nicht?«
»Nein. Mein großer Wohnwagen wäre so unpraktisch für eine Fahrt nach Stuttgart. Deshalb habe ich Nicks Mutti gebeten, mir ihren Wagen zu geben.«
»Hat Nick auch einen Vati?«
»Ja, die Familie ist ziemlich groß. Der älteste Bruder heißt Sascha und studiert in Heidelberg, er kommt nur noch selten nach Hause. Andrea, Nicks große Schwester, ist verheiratet und lebt in Bachenau. Ihr Mann ist Tierarzt. Dort gibt es es übrigens ein Heim für verlassene Tiere. Das wirst du bestimmt bald sehen.«
»Tiere mag ich gut leiden. Erzähl mir noch mehr, Onkel Luchs!«
»Nick selber ist schon ein großer Bursche. Er besucht das Gymnasium in Maibach. Das ist unsere Kreisstadt. Sein jüngster Bruder heißt Hendrik.«
»Wohnen sie alle in Sophienlust? Ist dort so viel Platz? Du sagst doch, dass auch eine Menge Kinder in Sophienlust sind – ich meine, die Heimkinder.«
»Die Familie von Schoenecker lebt auf einem nur wenig entfernten Gut, das Schoeneich heißt. Es gibt eine private Verbindungsstraße von Sophienlust aus. Tante Isi ist täglich in Sophienlust. Außerdem ist noch Tante Ma da, die das Heim leitet, sowie Schwester Regine, Magda, die beste Köchin der Welt – nun, du wirst es erleben.«
»Ob mich meine Mutti in Sophienlust findet?«, wandte Thomas ein wenig bedenklich ein.
»Dafür sorgen wir bestimmt, Thomas«, beruhigte ihn Eugen Luchs. »Sowie sie aufwacht, wird man ihr sagen, wo du steckst.«
»Schläft sie denn?«
»Ach so – das habe ich dir noch nicht erklärt. Sie ist so heftig gestürzt, dass sie ohnmächtig geworden und noch nicht wieder erwacht ist. So etwas kommt vor. Deshalb konnte sie sich nicht um dich kümmern.«
»Hoffentlich wacht sie bald auf, Onkel Luchs.«
»Wir werden von Sophienlust aus gleich im Krankenhaus anrufen und nachfragen, wie es deiner Mutti geht.«
Thomas schwieg nachdenklich. Im Rückspiegel beobachtete Eugen Luchs, wie er sich zurücklehnte. Dem Jungen fielen die Augen zu. Wenige Minuten später schlief er fest. Angst und Aufregung hatten ihn erschöpft. Eugen Luchs lächelte. Es war sicher gut, dass der Junge die Fahrt verschlief.
*
Denise von Schoenecker war eine schlanke Frau mit dunklem Haar und sehr schönen braunen Augen. Sie hatte vom Jugendamt in Stuttgart einen Anruf erhalten und war nicht überrascht, als Eugen Luchs mit dem verschlafenen Jungen an der Hand zu ihr kam. Vor dem Portal des stolzen Herrenhauses, das zur Heimstatt für in Not geratene Kinder geworden war, umringten einige der jungen Bewohner von Sophienlust den Neuling. Kleine Hände streckten sich Thomas entgegen, und verschiedene Namen erreichten sein Ohr.
»Dies ist Pünktchen, diese beiden Schwestern heißen Angelika und Vicky Langenbach, das da ist unsere Heidi, und hier kommt Henrik.«
Die blonde Schwester Regina erkannte, wie müde Thomas war. »Ihr lernt euch schon noch früh genug kennen, Kinder. Jetzt bringen wir Thomas zu Tante Isi ins Biedermeierzimmer, und dann werde ich ihn baden und schlafen legen.«
Bald stand Thomas auf dem weichen hellen Teppich des stilecht eingerichteten Biedermeierzimmers, in dem Denise ihre Besucher zu empfangen pflegte. Ehrfürchtig betrachtete er die schönen Kirschbaummöbel, die geblümten Sesselbezüge und vor allem das große Gemälde einer alten Dame an der einen Wand.
Er fühlte sich von liebevollen Händen ergriffen und spürte einen feinen Duft nach Lavendel, als Denise ihn fest an sich drückte. »Willkommen in Sophienlust, Thomas. Ich bin Tante Isi und will dich lieb haben.«
Der Junge antwortete nicht. Er fühlte sich in den Armen dieser schönen Frau sicher und geborgen.
»Möchtest du dich erst einmal richtig ausschlafen?«, fragte Denise leise.
Thomas nickte. Er konnte sich kaum noch auf den kleinen Beinen halten.
Schwester Regine nahm ihn auf den Arm, obwohl er doch schon fünf Jahre alt und kein Baby mehr war. Eugen Luchs winkte ihm zu. »Wir sehen uns bald wieder, Thomas.«
Erst dann fand er Gelegenheit, Denise ausführlich von seinem Erlebnis zu berichten. »Er schlüpfte mir unter den Regenschirm, Frau von Schoenecker. Wer weiß, wo er gelandet wäre, wenn es nicht wie aus Kannen gegossen hätte!«
»Armes Kerlchen!«, entgegnete Denise. »Hoffentlich bessert sich der Zustand seiner Mutter recht bald. Konnten Sie Genaueres in Erfahrung bringen?«
»Nein, leider nicht. Thomas behauptet, weder einen Vater noch sonstige Angehörige zu haben. Vielleicht trifft das nicht im vollen Umfang zu. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Familie sich geschlossen von einer jungen Frau abwendet, nur weil sie als Unverheiratete ein Kind bekommen hat.«
»Es wäre schlimm für Thomas, wenn er jetzt auch noch die Mutter verlieren müsste«, sage Denise seufzend. »Ein Schädelbruch mit so lang andauernder Bewusstlosigkeit ist sicher nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie haben die Telefonnummer der Klinik mitgebracht?«
Eugen Luchs übergab Denise von Schoenecker das Blatt, auf dem alles über Thomas Harder notiert war, was man bis jetzt in Erfahrung bringen konnte. Es war wenig genug. »Ich habe mich nicht damit aufgehalten, noch in die Wohnung zu fahren und Kleidung für Thomas einzupacken«, sagte der Schriftsteller. »Zwar trägt der Junge den Schlüssel bei sich, doch dachte ich, es sei eine unnötige Verzögerung.«
»Wir haben hier genügend Sachen, um Thomas auszustaffieren, Herr Luchs. Es war ganz richtig, dass Sie gleich zu uns gekommen sind. Für Thomas wäre es wahrscheinlich recht schmerzlich gewesen, noch einmal die verlassene Wohnung zu betreten, in der er sich zwei Tage lang Sorgen um seine Mutter gemacht hat.«
Nachdem noch einige Einzelheiten besprochen worden waren, verabschiedete sich der Schriftsteller. Denise wollte nach oben gehen, um sich davon zu überzeugen, dass der kleine Neuling sich wohlfühlte. Eugen Luchs hatte die Absicht, zu seinem Wohnwagen zurückzukehren, der auf dem weitläufigen Gelände einen idealen Standort hatte. Im Gedanken an die ferne Heimat der kleinen Peggy hatten die Sophienluster Kinder den Platz Swasiland getauft.
Doch so rasch sollte er nicht fortkommen, denn in der geräumigen Halle warteten mehrere Kinder auf ihn, die ihn festhielten und nach Thomas Harder ausfragten. Eugen Luchs setzte sich, denn er wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis er die Neugier der Kinder befriedigt hatte. Die krausköpfige Peggy kletterte sofort auf seine Knie und schlang die schokoladenbraunen Ärmchen fest um seinen Hals. Sie liebte Eugen Luchs wie einen leiblichen Vater.
Nick, Pünktchen, Angelika, Vicky, Henrik, Irmela, Heidi und Fabian – sie alle wollten ganz genau wissen, was geschehen war. Der Schriftsteller tat den Kindern den Gefallen und berichtete von Anfang an.
»Er hat sich zu dir unter den Schirm gestellt, weil du so lieb aussiehst«, erklärte Peggy aufseufzend, als er geendet hatte.
»Falls seine Mutti nicht wieder gesund werden sollte, behalten wir ihn für immer«, sagte Nick.
»Nun, zunächst wollen wir doch hoffen, dass Frau Harder sich recht bald von ihrem Unfall erholt, Nick«, wies ihn Eugen Luchs freundlich zurecht.
»Na ja, ich meine ja nur …« Nick war der festen Überzeugung, dass Sophienlust für jedes Kind der beste Aufenthalt der Welt sei. Es fiel ihm immer wieder schwer, sich von einem der kleinen Schützlinge zu trennen, wenn er auch letzten Endes einsah, dass die Anzahl der jungen Bewohner von Sophienlust begrenzt bleiben musste.
Als Eugen Luchs sich erhob, um sich auf den Weg zu machen, erschien Denise auf der Treppe. »Thomas schläft fest«, berichtete sie. »Ihr anderen solltet auch allmählich ans Bett denken, lässt euch Schwester Regine ausrichten. Ihr könnt in meinem Wagen mitkommen, Nick und Henrik. Wenn Sie wollen, setzen wir Sie in Swasiland ab, Herr Luchs.«
Der Schriftsteller nahm das freundliche Angebot dankend an. Peggy, der er die Wahl ließ, entschied sich dafür, in Sophienlust zu bleiben. Sie wollte sich das erste Zusammentreffen mit Thomas nicht entgehen lassen. Denn Peggy liebte ihren Onkel Luchs zwar sehr, aber ihre Neugierde war ebenfalls beachtlich.
Auf Gut Schoeneich empfing Alexander von Schoenecker herzlich seine geliebte Frau und die beiden Jungen. Im Familienkreis wurde ausführlich über Thomas Harder gesprochen, und Denise bekräftigte ihre Absicht, gleich am folgenden Morgen mit dem Stuttgarter Krankenhaus Verbindung aufzunehmen.
*
Zwei Tage vergingen, Thomas lernte die Namen der Kinder kennen und ließ sich die vielen Besonderheiten von Sophienlust zeigen und erklären. Er erfuhr, dass er nun im Haus der glücklichen Kinder wohnte, und es gefiel ihm tatsächlich sehr gut in dieser harmonischen und fröhlichen Gemeinschaft. Er staunte über die Weitläufigkeit des ehrwürdigen Herrenhauses und durchstreifte mit anderen Kindern den Park, die Stallungen und insbesondere natürlich die Pferdeställe, wo sich muntere Ponys befanden, auf denen man reiten durfte. Justus, der pensionierte ehemalige Gutsverwalter, setzte Thomas auf eines der kleinen Pferde. Der Junge war hellauf begeistert, und nahm sich vor, recht bald die Kunst des Reitens richtig zu erlernen.
Am Nachmittag des zweiten Tages wurde in einem der beiden roten Schulbusse eine Fahrt nach Bachenau unternommen. Andrea von Lehn, Nicks verheiratete Schwester, bewirtete ihre jungen Gäste mit Fruchtsaft und Gebäck. Dann folgte eine eingehende Besichtigung des von Andrea begründeten Tierheims, das den klangvollen Namen, Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere, trug. Hier führten die verschiedenen Tiere unter der gewissenhaften Pflege und Obhut des alten Ungarn Janosch ein zufriedenes und beschauliches Dasein.
Thomas blieb eigentlich kaum Zeit, Trübsal zu blasen oder sich nach seiner Mutti zu sehnen. Trotzdem bedeutete es für den Jungen eine große Erleichterung, als Denise ihm am dritten Tage eröffnete, dass sie mit ihm nach Stuttgart fahren wolle, um seine Mutter zu besuchen.
»Wird sie jetzt schnell gesund, Tanti Isi?«, fragte er voller Eifer.
»Nein, es wird leider ziemlich lange dauern, Thomas. Du darfst nur ganz kurz zu ihr hineinschauen, damit es nicht zu anstrengend für sie wird.«
Thomas schluckte seine Enttäuschung herunter. »Na, es macht nichts, Tante Isi. In Sophienlust gefällt es mir. Ich bleibe eben bei euch, bis sie gesund ist.«
Denise strich ihm übers Haar. »Ja, Thomas, wir behalten dich sehr gern bei uns. Lauf nach oben und wasch dir die Hände. Schwester Regine soll dir auch ein frisches Hemd anziehen, damit du ordentlich aussiehst.«
Wie der Blitz rannte Thomas davon.
Die kleine Peggy, die sich eben mit Thomas auf den Weg nach Swasiland machen wollte, um Eugen Luchs zu besuchen, schmollte. »Musst du unbedingt schon heute mit ihm nach Stuttgart fahren, Tante Isi?«
»Ja, Peggy, es ist wichtig für Thomas, seine Mutti zu sehen. Ihr könnt später immer noch nach Swasiland gehen und euch von Onkel Luchs eine schöne Geschichte erzählen lassen.«
»Na gut«, sagte die kleine Schwarze seufzend. »Aber schade ist es doch. Thomas hatte sich nämlich schon sehr gefreut.«
Nick trat zu seiner Mutter. »Geht es ihr sehr schlecht?«, fragte er leise.
»Ich weiß es nicht genau, Nick. Auf jeden Fall möchte ich sofort nach Stuttgart fahren, damit Frau Harder ihren Jungen sieht und sich davon überzeugt, dass es ihm bei uns gut geht. Das wird ihr helfen.«
Schwester Regine brachte Thomas persönlich herunter. Er war blitzsauber und wirkte wie aus dem Ei gepellt. Das hübsche gelbe Hemd stand ihm besonders gut.
Der Wagen setzte sich in Bewegung, und die Kinder winkten, bis er nicht mehr zu erblicken war.
Unterwegs hatte Denise Gelegenheit, den neuen Heimbewohnern näher kennenzulernen. Sie plauderte mit ihm, ohne allzu viele direkte Fragen an ihn zu richten. Auf diese Weise erfuhr sie oft mehr als durch ein gezieltes Verhör, wie es auf den Ämtern gern angestellt wurde, wenn es galt, das Schicksal eines Kindes aufzuklären.
Sie gewann den Eindruck, dass Jutta Harder ihren Jungen mit sehr viel Liebe umgeben hatte. Allerdings beklagte sich Thomas darüber, dass seine Mutti den ganzen Tag lang im Büro arbeiten müsse und erst abends für ihn Zeit habe. Umso schöner seien die Samstage und Sonntage, berichtete er lebhaft. Dann habe seine Mutti nichts anderes zu tun, als mit ihm zu spielen, ihm Geschichten vorzulesen oder auch Ausflüge mit ihm zu unternehmen. »Wenn wir einen Vati hätten, brauchte meine Mutti kein Geld zu verdienen«, meinte Thomas mit einem Seufzer. »Aber es ist nun mal nicht zu ändern. Wir haben eben keinen.«
Sie erreichten Stuttgart gegen Mittag. Denise bewirtete Thomas in einem Restaurant und nahm auch selbst eine Erfrischung zu sich, ehe sie zum Krankenhaus fuhr.
Eine Schwester wies ihnen den Weg. »Das Kind darf nur für einen Augenblick hinein«, sagte sie mit freundlicher Entschiedenheit.
Thomas umklammerte Denises Hand. Er hatte auf einmal Angst. Nun öffnete sich eine Tür. In einem nicht allzu großen Zimmer stand ein Bett, auf dem eine Gestalt ruhte. Wegen des Kopfverbandes, den die Kranke trug, erkannte Thomas seine Mutter zunächst nicht. Dann aber warf er sich schluchzend über das Bett. »Mutti, ach Mutti!«
»Es – es geht mir schon besser, Thomas«, versicherte die Verletzte mühsam. »Bist du gern in Sophienlust?«
»Ja, es ist schön dort, Mutti. Wenn du gesund bist, musst du hinkommen und dir alles anschauen.«
Denise ließ Mutter und Sohn allein. Von der Schwester erfuhr sie, dass Frau Harder operiert worden war. Obwohl der Eingriff erfolgreich gewesen war, schwebte die Patientin noch in Lebensgefahr. Deshalb sei sie zunächst in diesem Einzelzimmer untergebracht worden.
Nach etwa fünf Minuten holte die Schwester Thomas heraus. Der Junge schien durch das kurze Gespräch mit seiner Mutter sehr getröstet zu sein. Er weinte nicht mehr.
»Frau Harder möchte auch mit Ihnen reden, Frau von Schoenecker«, erklärte die Schwester. »Ich kann Thomas solange mitnehmen, wenn es Ihnen recht ist.«
So betrat Denise das Krankenzimmer noch einmal. Jutta Harder sah blass aus. Man benötigte keine medizinischen Kenntnisse, um festzustellen, dass ihr Zustand ernst war. »Haben Sie Schmerzen?«, fragte Denise leise. »Gibt es etwas, was wir für Sie tun können?«
»Ich bin hier sehr gut versorgt«, erwiderte Jutta Harder im Flüsterton. Ihr fehlte die Kraft, um laut zu sprechen. »Für mich brauche ich nichts. Aber Thomas …«
»Ihr Junge kann bei uns in Sophienlust bleiben, bis es Ihnen wieder gut geht, Frau Harder.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber was soll werden, falls ich sterben muss?«
Sie sagte es tonlos und ohne zu stocken. Sie mochte lange darüber nachgedacht haben, sodass ihr das Wort ›Sterben‹ ganz selbstverständlich erschien.
»So etwas sollten Sie nicht denken, liebe Frau Harder. Wenn es Sie jedoch beruhigt, so kann ich Ihnen versichern, dass Thomas im schlimmsten Fall für immer bei uns bleiben kann. Nicht einmal finanzielle Probleme entstehen. Denn Sophienlust verfügt über ein beträchtliches Stiftungskapital, mit dem wir helfen können, wo es nötig ist.«
»Thomas ist kein armes Kind. Sein Vater würde selbstverständlich für ihn sorgen. Thomas kennt ihn nicht, denn wir sind seit Jahren geschieden. Ich habe ihm absichtlich bisher nichts über seinen Vater erzählt.«
Denise war auf eine solche Eröffnung nicht gefasst gewesen. Genau wie Eugen Luchs hatte sie geglaubt, dass Jutta Harder unverheiratet sei. Jetzt erfuhr sie, dass der Vater des kleinen Jungen Fred Harder hieß, dreiunddreißig Jahre alt war und als Chefingenieur in einem bedeutenden Flugzeugwerk arbeitete.
Mit schwacher Stimme nannte ihr Jutta Harder seine Anschrift, die Denise sorgsam notierte.
»Nur für den schlimmsten Fall, liebe Frau Harder«, sagte sie und lächelte ermutigend. »Sie wissen jetzt, dass Thomas bei uns in guten Händen ist. Das wird Ihnen helfen, rasch gesund zu werden. Denken Sie immer daran, dass Ihr Junge auf Sie wartet und dass er Sie braucht. Der gute Wille ist oft mehr wert als alle Medizinen. Das habe ich oft genug erfahren.« Sie strich über die schmale, farblose Hand Jutta Harders. Das Herz war ihr schwer. Würde diese unglückliche junge Frau wieder gesund werden? »Wir kommen bald wieder, um Sie zu besuchen«, versprach sie, als sie das stille Krankenzimmer verließ.
Es gelang ihr, den behandelnden Arzt zu erreichen. Der Doktor gebrauchte viele lateinische Ausdrücke und sprach auch davon, dass die Patientin sich in einem schlechten Allgemeinzustand befunden habe. Eine von diesen überlasteten Frauen, die Kindererziehung, Haushalt und einen anstrengenden Beruf miteinander vereinen müssten.
»Sie machen mir also keine allzu große Hoffnung, Herr Doktor?«, fragte Denise.
»Der Zustand der Patientin ist ernst, Frau von Schoenecker. Wir tun selbstverständlich, was in unserer Macht liegt. Als Arzt gibt man die Hoffnung niemals auf. Aber es wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewissenlos, von Hoffnung zu sprechen.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Möge eine gute Wende eintreten! Der kleine Junge würde die Mutter verlieren.«
»Ja, das ist traurig, Frau von Schoenecker. Es wird alles versucht, die Patientin zu retten. Darauf können Sie sich verlassen.«
Es war für Denise nicht leicht, Thomas mit heiterem Gesicht in der kleinen Stationsküche abzuholen, wo die nette Schwester ihn mit Kakao verwöhnt hatte. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln, weil sie wusste, dass es sinnlos war, den Jungen mit Sorgen zu belasten.
Thomas hatte seinen ersten Schreck restlos überwunden. Er hatte nicht die geringste Ahnung wie groß die Gefahr war, in der seine Mutter schwebte. »Wenn wir wiederkommen, kann sie vielleicht schon aufstehen, Tante Isi«, sagte er mit voller Zuversicht. »Das Krankenhaus ist bestimmt sehr gut, nicht wahr?«
»Ja, Thomas. Davon bin ich überzeugt.«
Denise kehrte mit ihrem kleinen Begleiter auf dem schnellsten Weg nach Sophienlust zurück. Sie kamen eben zurecht zum Abendessen. Thomas nahm seinen Platz an der linken Seite der kleinen Peggy ein und verwickelte das Mädchen sofort in ein Gespräch.
Nick und Henrik saßen mit den Sophienluster Kindern bei Tisch.
»Weil Magda heute Schinkenpastete gemacht hat, Mutti«, erklärte Nick treuherzig. »Wir haben die Fahrräder dabei und kommen dann gleich nach dem Essen nach Hause.«
Die Mutter nickte ihren Söhnen zu. Sie war zufrieden, dass sie sich mit ihrem Mann in Ruhe aussprechen konnte, und bestieg sogleich wieder ihren Wagen.
Alexander von Schoenecker kannte seine Frau viel zu gut, als dass sie ihn hätte täuschen können. Behutsam fragte er, was sie erlebt und erfahren hatte, und sie berichtete von dem Besuch im Krankenhaus.
»Weißt du Näheres, Isi?«, erkundigte er sich, als sie geendet hatte. »Frau Harder muss über das Verhalten ihres Mannes sehr enttäuscht und gekränkt gewesen sein. Sonst hätte sie doch gewiss mit ihrem Jungen über seinen Vater gesprochen.«
»Ich habe dir alles erzählt, was ich weiß, Alexander. Es war für mich ziemlich bedrückend. Frau Harder ist sich völlig darüber im Klaren, wie es um sie steht. Nur aus diesem Grund hat sie mir Namen und Anschrift ihres früheren Mannes mitgeteilt. Jetzt stehe ich vor der Frage, ob es meine Pflicht wäre, Herrn Harder eine Nachricht zukommen zu lassen. Es wäre sicherlich ratsam, ihn vorsorglich einzuschalten. Was meinst du?«
Alexander ging mit langen Schritten im Zimmer hin und her. Schließlich blieb er vor seiner Frau stehen und schloss sie liebevoll in die Arme.
»Ich glaube, dass der Vater ein gewisses Anrecht darauf hat, unterrichtet zu werden«, erklärte er.
Denise ließ es geschehen, dass er sie lange küsste. Die tiefe, erfüllte Liebe zwischen ihr und Alexander war der Quell ihrer Kraft. An ihres Mannes Brust fand sie Ruhe und Geborgenheit, bei ihm durfte sie stets auf Verständnis und guten Rat rechnen.
»Ich werde an Herrn Harder schreiben«, sagte sie endlich aufatmend. »Ein Telefongespräch ist zu direkt. In einem ausführlichen Brief lässt sich das Geschehene wohl am besten darstellen.«
»Ja, du hast recht, Isi. Ein Brief ist genau das Richtige in dieser Angelegenheit. Herr Harder wäre wenigstens schon vorbereitet, wenn seine ehemalige Frau sterben sollte. Hast du erfahren, ob er wieder verheiratet ist?«
»Nein. Ich wollte keine Fragen stellen. Es spielt ja auch eigentlich kaum eine Rolle. Sofern die Mutter sterben sollte, was der Himmel verhüten möge, hat der Vater unter allen Umständen die Pflicht, sich seines Sohnes anzunehmen.«
Das vertraute Gespräch wurde unterbrochen, weil jetzt die beiden Jungen hereinstürmten, die sofort nach dem Essen aufgebrochen waren, wie sie es versprochen hatten.
Alexander legte die Hand auf Nicks Schulter. »Du hast mich fast eingeholt, Junge. Wie groß willst du eigentlich noch werden?«
»Keine Ahnung, Vati«, erwiderte Nick lachend. Dann wandte er sich an Denise. »War mein richtiger Vater sehr groß, Mutti?«
Nick, eigentlich auf den Namen Dominik getauft, stammte aus Denises erster, kurzer Ehe, die mit dem viel zu frühen Tod ihres Mannes geendet hatte. Durch Nicks Erbschaft und ihre Übersiedlung nach Sophienlust hatte die seinerzeit noch sehr junge Witwe Alexander von Schoenecker kennen- und liebengelernt. Auch Alexander war damals allein und hatte seine Frau begraben müssen. Seine Kinder, Sascha und Andrea, lebten im Internat. Die Heirat zwischen Denise und Alexander bedeutete für Nick, Sascha und Andrea zugleich den Rückgewinn des lang begehrten zweiten Elternteils. Alexanders Kinder konnten nach Schoeneich zurückkehren, und Nick erhielt gerade in der Zeit einen liebenden, verständnisvollen Vater, in der er ihn besonders brauchte. Henrik, der neuen Ehe entstammend, hatte auf diese Weise dafür gesorgt, dass die Familie endgültig zu einem geschlossenen Ganzen wurde – durch innige Liebe verbunden.
Nicks Frage nach seinem Vater Dietmar von Wellentin war deshalb für Denise durchaus nicht schmerzlich. »Er war wohl noch ein Stückchen größer als du jetzt, Nick«, erklärte sie unbekümmert. »Aber genau erinnere ich mich nicht.«
»Du musst dich jedenfalls unter Umständen darauf gefasst machen, dass ich dir über den Kopf wachse, Vati«, sagte Nick vergnügt. »Wie war es in Stuttgart, Mutti? Thomas hat erzählt, dass seine Mutti mit verbundenem Kopf im Krankenhaus liegt. Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.«
Denise nickte ihrem Sohn zu. »Mehr ist auch nicht zu sagen, Nick. Frau Harders Befinden ist nicht sonderlich gut. Aber ich habe Thomas darüber nichts mitgeteilt.«
Nick war betroffen. »Hoffentlich wird sie gesund, Mutti.«
»Ja, hoffen wir es, mein Junge.«
Henrik, der inzwischen in der Küche Umschau gehalten hatte, ob sich noch etwas Leckeres auftreiben ließ, hatte von dieser Unterhaltung nichts gehört. Es war sicherlich besser so, denn er war noch zu jung, um an den ersten Sorgen der Erwachsenen teilnehmen zu können.
Eben kehrte er ins Wohnzimmer zurück und biss große Happen von einem Stück Kuchen ab. »Bist du eigentlich nie satt zu kriegen?«, fragte sein Vater lachend.
»Du hättest dir wenigstens einen Teller mitbringen können«, fügte Denise mit freundlichem Tadel hinzu. »Jetzt verkrümelst du hier alles.«
Doch sie war ihrem Jungen nicht wirklich böse, sondern im Gegenteil sogar dankbar, weil er dafür sorgte, dass sie wieder lachen konnte. Denn die Erinnerung an ihren Besuch bei Jutta Harder lastete noch immer auf ihrer Seele.
*
Am nächsten Tag ging Peggy mit Thomas zu Onkel Luchs nach Swasiland. Henrik begleitete die beiden Kinder, denn zwischen ihm und Peggy bestand eine besonders herzliche Freundschaft, wenngleich sich die beiden Unzertrennlichen gelegentlich heftig zu streiten pflegten.
Thomas bewunderte den robusten großen Wohnwagen mit seiner praktischen Inneneinrichtung. »Man kann damit um die ganze Welt reisen«, behauptete Peggy. »Früher hatten wir einen anderen Wagen, aber der ist leider verbrannt. Es war ein ziemlich schlimmes Unglück, und Onkel Luchs musste im Krankenhaus liegen, genau wie deine Mutti, Thomas. Damals bin ich nach Sophienlust gekommen.«
»Wie kann so ein großer Wagen denn einfach verbrennen?«, fragte Thomas.
»Ein Flugzeug war abgestürzt, deshalb«, erklärte Eugen Luchs. »Aber es ist lange her, und wir wollen nicht mehr daran denken. Mein neuer Wagen ist viel besser als der alte.«
»Er gefällt mir großartig«, sagte Thomas. »Hast du Peggy oft mitgenommen auf deinen Reisen, Onkel Luchs?«
»Ja, recht oft. Aber das hat so ziemlich aufgehört, seit unsere Peggy ein Schulmädchen geworden ist.«
»Ich brauche noch nicht zur Schule zu gehen«, erklärte Thomas schlau. »Wenn du wieder einmal verreisen musst, könntest du mich vielleicht mitnehmen.«
Eugen Luchs fuhr dem Jungen mit seiner großen Hand durchs helle Haar. »Vielleicht wäre deine Mutti damit nicht ganz einverstanden, Thomas. Du sollst doch nur in Sophienlust bleiben, bis sie wieder gesund ist.«
»Aber es kann lange dauern mit ihr. Der Verband um ihren Kopf ist riesengroß.«
»Ich habe gar nicht die Absicht, in nächster Zeit zu verreisen. Da drinnen in meiner Kiste liegen noch viele Aufzeichnungen, aus denen ich ein neues Buch schreiben möchte. Wenn ihr wollt, werde ich euch jetzt eine schöne Geschichte erzählen.«
Die Kinder waren sofort bei der Sache. Sie setzten sich ins Gras und Eugen Luchs ließ sich neben ihnen nieder. Mit seiner tiefen, vollen Stimme begann er zu sprechen.
Eugen Luchs konnte gut und spannend erzählen. Deshalb waren auch seine Rundfunksendungen sehr beliebt. Die Sophienluster Kinder versäumten es nie, das Radio einzuschalten, sobald eine Geschichte von und mit Eugen Luchs auf dem Programm stand. Doch am schönsten fanden sie es, wenn er sich mit ihnen zusammensetzte und unmittelbar zu ihnen sprach.
Thomas Harder war von der Geschichte besonders beeindruckt. Er sah Eugen Luchs mit seinen braunen Augen bewundernd an. »Hast du das selber erlebt, Onkel Luchs?«, fragte er atemlos, nachdem der Erzähler geendet hatte.
»Ja, Thomas – das war vor vielen Jahren in Kroatien.«
»Da möchte ich auch einmal hinfahren«, sagte Thomas seufzend.
»Du hast noch viel Zeit, Thomas. Das ganze Leben liegt vor dir. Wenn du erwachsen bist, kannst du reisen, so viel du willst.«
»Vielleicht werde ich dann auch Bücher schreiben«, sagte Thomas ernsthaft. »Nächstes Jahr komme ich schon in die Schule und lerne schreiben.«
»Das wäre immerhin ein Anfang«, erwiderte Eugen Luchs und verbarg sein Lächeln. »Aber jetzt müsst ihr zurück nach Sophienlust gehen, sonst kommt ihr zu spät zum Essen.«
Peggy, Henrik und Thomas reichten ihm die Hände. Dann machten sie sich auf den Rückweg.
»Er ist ganz toll, der Onkel Luchs«, stieß Thomas hervor, sobald sie sich ein Stück entfernt hatten. »Er hat mir gleich gefallen, wie er so mit seinem großen Schirm herumgelaufen ist.«
Peggy nickte fröhlich. »Aber er ist nun einmal mein Onkel Luchs, Thomas. So ganz richtig gehört er nur mir.«
»Eigentlich schade«, erwiderte Thomas betrübt.
»Vielleicht nimmt er dich doch einmal mit«, sagte Peggy großzügig. »Es würde mir nichts ausmachen.«
Da war Thomas schon getröstet. »Das ist nett von dir, Peggy«, stellte er anerkennend fest.
Unter solchen und anderen Gesprächen erreichten sie das Herrenhaus und kamen eben zurecht, als der Gong zum Essen erklang.
*
Thomas hatte sich innerhalb weniger Tage völlig eingelebt, und die Kinder sorgten dafür, dass er keine Zeit fand, trüben Gedanken nachzuhängen. Zunächst erfuhr er nicht, dass sein Vater einen ausführlichen Brief von Denise von Schoenecker erhalten und sich sofort telefonisch mit ihr in Verbindung gesetzt hatte.
Der Ingenieur Fred Harder hatte seinen Besuch für das nächste Wochenende angekündigt und Denise keine Möglichkeit gelassen, ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Immerhin konnte sie ihn dazu bewegen, sich zunächst in Schoeneich mit ihr zu treffen. Fred Harder war groß, athletisch und durchaus sympathisch. Die braunen Augen hatte der kleine Thomas von ihm geerbt. Auch sonst war die Ähnlichkeit unverkennbar.
Denise empfing den Ingenieur in ihrem gemütlichen Damenzimmer in Schoeneich. »Es wird Ihrer früheren Frau vielleicht nicht recht sein, wenn Sie mit Thomas in Verbindung treten, ehe sich die absolute Notwendigkeit dazu ergibt«, meinte sie unsicher. »Entschuldigen Sie, dass ich das so offen erwähne, Thomas weiß nicht einmal, dass er einen Vater hat.«
Der Besucher nickte. »Ich habe mich bei unserer Scheidung verpflichtet, keinerlei Anspruch auf den Jungen zu erheben und nicht mit ihm in Verbindung zu treten, Frau von Schoenecker. Das war Juttas Bedingung. Ich fühle mich an mein Versprechen auch heute noch gebunden. Trotzdem möchte ich nach Thomas sehen, solange seine Mutter sich nicht selbst um ihn kümmern kann. Sie haben mir geschrieben, dass es ihr schlecht geht. Ich habe mich daraufhin mit dem Krankenhaus in Verbindung gesetzt und auch keine bessere Auskunft erhalten. Ich sorge mich.«
Denise schwieg und sah ihn mitleidig an. Seine Besorgnis war nicht gespielt. Das war deutlich zu erkennen.
»Thomas kennt mich nicht«, fuhr Fred Harder zögernd fort. »Ich brauche ihm nicht unbedingt zu sagen, dass ich sein Vater bin. Zum Beispiel könnte ich mich Herr Fischer nennen. Ich hätte auf diese Weise die Möglichkeit, meinen Sohn zu sehen und mit ihm zu sprechen, ohne dass ich mein Wort brechen würde.«
»Das wäre so etwas wie ein Winkelzug, fürchte ich«, wandte Denise ein. »Trotzdem gebe ich zu, dass ich es für gut halte, wenn Sie mit Thomas ein wenig Freundschaft schließen.«
»Ich verbürge mich dafür, dass es zunächst eine unverbindliche Beziehung bleiben soll, Frau von Schoenecker. Es wird mir nicht ganz leichtfallen, mich nicht zu erkennen zu geben. Ich habe oft an Thomas denken müssen. Er war noch ein Baby, als ich fortging.«
Denise schwieg und wartete, ob er ihr mehr anvertrauen würde. Doch Fred Harder sagte nichts mehr über seine Scheidung, und Denise widerstrebte es, ihn durch eine Frage in Verlegenheit zu bringen.
Wie meist verließ sich Denise auf ihren persönlichen Eindruck und auf ihr Gefühl. Sie besaß eine untrügliche Menschenkenntnis, und diese sagte ihr, dass sie sich auf Fred Harder verlassen könne. Er nahm seine Pflicht als Vater ernst, und er würde sich an das einmal gegebene Versprechen halten, und Thomas nicht in seelische Konflikte stürzen.
»Ich werde meine Anwesenheit und meinen Besuch damit erklären, dass ich Sophienlust kennenlernen möchte. Das entspricht wenigstens völlig der Wahrheit. Wären Sie damit einverstanden, Frau von Schoenecker?«
»Ja, Herr Harder. Sie werden auf diese Weise Gelegenheit haben, sich davon zu überzeugen, dass Thomas bei uns gut aufgehoben ist. Zugleich können Sie erfahren, wie er bisher gelebt hat, und Ihr Kind kennenlernen.«
»Vielen Dank für Ihr Verständnis, Frau von Schoenecker. Aber Sie müssen mich nun mit meinem Decknamen Fischer anreden. Hoffentlich fällt Ihnen das nicht zu schwer.«
»Ich werde mir Mühe geben, mich nicht zu versprechen, Herr Fischer. Eine besonders geschickte Schauspielerin bin ich leider nicht. Aber es wird schon schiefgehen. Wollen Sie bis morgen bleiben, oder müssen Sie schon heute wieder abfahren?«
»Ich habe bis morgen Zeit und würde mich gern hier in der Nähe einquartieren, falls Sie mir einen Gasthof oder ein Hotel empfehlen können.«
»Mein Mann und ich würden uns freuen, wenn Sie hier in Schoeneich blieben, Herr Har-Fischer.«
»Kann ich das annehmen?«, fragte er zögernd.
»Auf dem Land freut man sich über Gäste. Das Haus ist groß genug, und es macht keine Umstände.«
»Also dann, ich bedanke mich herzlich. Nach Sophienlust ist es ja nicht weit. Ich habe mich schon orientiert.«
Denise schlug vor, er solle zum Mittagessen in Schoeneich bleiben. Gleich nach Tisch wollte sie ihn selbst nach Sophienlust begleiten und ihn mit seinem Sohn bekannt machen.
So lernte Fred Harder zunächst Alexander von Schoenecker kennen, sowie Nick und Henrik, die gerade aus der Schule heimgekommen waren und heute nicht in Sophienlust hatten bleiben wollen, weil sie auf unerklärliche Weise schon wieder wussten, dass ein Gast gekommen sei. Das bedeutete ein besonders gutes Mittagsmahl und versprach möglicherweise auch sonst ein interessantes Erlebnis.
Die Jungen kamen auf ihre Kosten. ›Herr Fischer‹ wusste anschaulich von seiner Tätigkeit als Flugbau-Ingenieur zu erzählen. Nick stellte eine Menge Fragen, und Henrik erklärte mit leuchtenden Augen, dass er später auch Flugzeuge konstruieren und sie dann selber erproben wollte. Henrik war in dem beneidenswerten Alter, in dem ein Junge jeden Tag neue und andere Pläne für die Zukunft schmiedet.
Da Denise eben noch Zeit gefunden hatte, ihren Mann einzuweihen, gab es keine Komplikationen wegen der Anrede, und die Jungen erfuhren nicht, wer der Besucher in Wirklichkeit war. Die Begründung, er wolle Sophienlust kennenlernen, erschien ihnen absolut stichhaltig.
Ob er vielleicht ein Kind in Sophienlust unterbringen wolle, erkundigte sich Nick voller Eifer. Fred Harder erwiderte, ja, das sei möglich, wenn auch noch nicht sicher. Zunächst interessiere er sich ganz allgemein für das Haus der glücklichen Kinder.
Nach dem Essen tranken die Erwachsenen Kaffee. Dann setzte sich Denise ans Steuer ihres kleinen Wagens, und Fred Harder bestieg ebenfalls sein Auto, um seiner freundlichen Gastgeberin unmittelbar zu folgen.
»Wir kommen später auch nach Sophienlust«, erklärte Nick beim Abschied. »Aber erst müssen wir leider Schulaufgaben machen.«
»Sogar am Samstag?«, fragte der Gast erstaunt.
»Nur ausnahmsweise, Herr Fischer. Genau genommen, hätten wir sie schon gestern machen können. Aber man schiebt so etwas ja immer auf die lange Bank, wenn das Wochenende kommt. Für gewöhnlich haben wir am Samstag keine Schule.«
Auf seine weitere Frage hin erfuhr Fred Harder, dass die Sophienluster Kinder größtenteils das Gymnasium in der Kreisstadt besuchten und täglich mit einem Kleinbus dorthin gebracht wurden.
Dann fuhr Denise an, und Fred Harder legte ebenfalls den Gang ein. Auf der gepflegten Verbindungsstraße ging es in rascher Fahrt nach Sophienlust hinüber. »Was für ein schöner alter Bau!«, rief der Ingenieur aus, sobald er ausgestiegen war. »Unter einem Kinderheim stellt man sich etwas ganz anderes vor.«
»Es ist das ehemalige Herrenhaus«, sagte Denise. »Obwohl es für den Zweck nicht gedacht war, eignete es sich vortrefflich. Vor allem haben wir wirklich genügend Platz für unsere jungen Schützlinge. Kinder brauchen Bewegungsfreiheit. Die finden sie hier.«
Sie führte ihren Gast durch die Halle, wo einige Kinder in ein Gesellschaftsspiel vertieft waren. Sie grüßten unbefangen.
Fred Harder wurde noch einmal überrascht, als er das Biedermeierzimmer betrat. »Das vermutet man nun wahrhaftig nicht in einem Kinderheim, Frau von Schoenecker.«
»Ich werde Ihnen die Geschichte von Sophienlust ein andermal erzählen. Das Gemälde da stellt Sophie von Wellentin dar, die meinem Sohn Nick das Gut und ihr gesamtes Vermögen hinterließ. In ihrem Testament verfügte die alte Dame, dass das Haus zu einer Heimstatt für in Not geratene Kinder werden sollte. Ich übernahm es damals, den Letzten Willen Sophie von Wellentins zu verwirklichen. Dieses Zimmer hier haben wir bewusst ganz so gelassen, wie es zu ihren Lebzeiten war. So scheint die gütige Stifterin auch heute noch ein wenig bei uns zu sein.«
»Sicherlich tut es den Kindern gut, auch etwas über Tradition und Vergangenheit zu lernen«, sagte Fred Harder. »Beinahe schäme ich mich jetzt vor Ihnen, weil ich ja ursprünglich so rasch hierhergefahren bin, um sicherzugehen, dass Thomas gut untergebracht sei. Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass es sich um ein Heim so eigener und besonderer Prägung handeln würde.«
»Auch im schönsten Haus mit den kostbarsten Möbeln könnte ein Kind einsam oder unglücklich sein, Herr Harder. Es kommt auf den Geist an, in dem ein solches Heim geführt wird.«
»Fischer heiße ich, Frau von Schoenecker«, verbesserte er lächelnd. »Wie fangen wir es jetzt an, dass ich Thomas kennenlerne? Ich weiß nicht einmal, wie mein Sohn aussieht.«
Denise läutete. Ein junges Mädchen erschien an der Tür. »Bringen Sie uns bitte Thomas«, trug Denise ihr auf.
Fünf Minuten später betrat Thomas unsicher und zögernd das Biedermeierzimmer. Sein Blondhaar war wirr, und seine Händchen verrieten, dass er eben noch im Sand gegraben hatte.
»Thomas, dies ist Herr Fischer. Er besucht uns, um Sophienlust kennenzulernen. Ich dachte mir, dass du ihm am besten erzählen kannst, was dir hier gefällt und was du vielleicht lieber ändern möchtest.«
»Warum gerade ich, Tante Isi?«, fragte Thomas.
»Weil du zuletzt zu uns gekommen bist und dich bestimmt aufmerksam hier umgeschaut hast. Oder etwa nicht?«
»Doch, Tante Isi, das stimmt.«
Der Vater gewann durch die kurze Unterhaltung zwischen Denise und dem Jungen ein wenig Zeit, um sich zu fassen. Die erste Begegnung mit seinem Sohn war für Fred Harder bewegender, als er es erwartet hatte. Nun streckte er dem Jungen die Hand hin. »Guten Tag, Thomas. Wenn du magst, kannst du Onkel Fred zu mir sagen. So heiße ich nämlich.«
Thomas betrachtete seine kleine sandige Pfote. »Bisschen schmutzig«, meinte er treuherzig.
»Das macht nichts, Thomas. Gib nur her.« Die große Hand umschloss die kleine. Der helle Sand aus dem Sandkasten rieb ein wenig zwischen den Fingern. Es war für Fred ein seltsames Gefühl. »Bist du schon lange hier, Thomas?«, fragte er nun.
»Nein, erst seit ein paar Tagen. Onkel Luchs hat mich mitgenommen, weil meine Mutti im Krankenhaus liegen muss.«
»Gefällt es dir in Sophienlust?«
»Ganz prima, Onkel Fred. Wenn du willst, zeige ich dir alles. Das Haus ist so groß, dass ich mich manchmal noch verlaufe. Ich habe ein Zimmer für mich allein. Im Wintergarten gibt es einen großen Papagei, der sprechen kann. Er heißt Habakuk und gehört Nick. Aber am besten finde ich die Ponys. Ich reite jeden Tag. Justus zeigt mir, wie man es macht. Manchmal tut es auch Nick. Reiten macht mir großen Spaß.«
Fred Harder konnte nicht widerstehen. Er zog den Jungen näher zu sich heran und setzte ihn auf seine Knie. Thomas ließ es geschehen, und Denise bemerkte mit Rührung wie glücklich der Vater darüber war.
Das Gespräch zwischen dem Jungen und Fred Harder stockte keinen Augenblick. Schon bald stellte Denise fest, dass ihre Anwesenheit eigentlich überflüssig war. Sie begleitete den Besucher und seinen ahnungslosen Sohn noch auf einem Rundgang durchs Haus und überließ die beiden dann ihrem Schicksal. Es war unverkennbar, dass sie sich gegenseitig gut leiden mochten und im Begriff standen, Freundschaft zu schließen. Wenigstens ergaben sich in dieser Hinsicht keine Probleme. Das war tröstlich und beruhigend für Denise, denn man musste immerhin mit der Möglichkeit rechnen, dass Thomas in Zukunft der Obhut seines Vaters anvertraut werden könnte.
Denise besprach sich mit Frau Rennert, der guten Tante Ma, die mit der ständigen Leitung des Heims betraut war. Selbstverständlich teilte sie ihr mit, wer ›Herr Fischer‹ in Wirklichkeit war.
»Schade, dass die Eltern sich für immer getrennt haben«, meinte die Heimleiterin betrübt. »Aber seit der Scheidung ist ja schon so viel Zeit vergangen, dass sie sich kaum versöhnen werden.«
»Ich habe von den näheren Umständen keine Ahnung. Es ist möglich, dass Herr Harder seit Jahren verheiratet ist, liebe Frau Rennert. Ich möchte ihn nicht ausfragen.«
Frau Rennert seufzte. »Nun ja, falls die arme Mutter wirklich nicht gesund wird, wäre es für den kleinen Thomas wohl sogar ein Segen, wieder in eine richtige Familie zu kommen. Man weiß einfach nicht, was man dem Jungen jetzt wünschen soll.«
»Überlassen wir es dem Schicksal, Frau Rennert. Zunächst ist Thomas hier bei uns gut aufgehoben und fühlt sich glücklich. Der erste Kontakt zu seinem Vater ist geknüpft. Alles Weitere müssen wir in Ruhe und Geduld abwarten.«
Gemeinsam mit Frau Rennert ging Denise in die Küche zu Magda, die trotz ihres vorgerückten Alters noch in bemerkenswerter Frische für das leibliche Wohl der Kinder von Sophienlust sorgte.
Nachdem der Küchenzettel für die nächste Woche festgelegt war, fuhr Denise nach Schoeneich zurück. Sie fand selten genug Gelegenheit, ungestört mit ihrem Mann zusammenzusein. Gerade heute war es ihr ein Herzensbedürfnis, mit Alexander über seinen Eindruck von Fred Harder zu sprechen.
*
Thomas streifte mit dem vermeintlichen Onkel Fred durch den Park. »Hier im Pavillon spielen wir, wenn es regnet«, erklärte der Junge. »Früher war das ein Teehaus. Und dort ist unser Sandkasten. Peggy und Heidi – sagt Onkel Fred guten Tag«, forderte er die beiden kleinen Mädchen auf, die im Sand spielten.
Wieder musste Fred sandige Kinderhände drücken. »Peggy kommt aus Afrika«, berichtete Thomas. »Ihr Pflegevater ist der gute Onkel Luchs, der mich hierhergebracht hat. Er wohnt in Swasiland.«
»So weit von hier?«, fragte Fred Harder erstaunt.
»Nicht im echten Swasiland«, plapperte Peggy munter dazwischen. »Wir nennen den Platz, wo sein Wohnwagen steht, Swasiland.«
»Ach so. Ich sehe, es gibt hier eine ganze Menge zu lernen. Onkel Luchs würde ich ganz gern besuchen, wenn sich das machen lässt.«
»Das passt immer«, versicherte Peggy treuherzig. »Wollen wir gleich zu ihm gehen? Sehr weit ist es nicht.«
»Nein, zuerst möchte ich Onkel Fred die Ställe zeigen und vor allem die Ponys. Er soll auch zugucken, wie ich reite«, widersprach Thomas etwas eifersüchtig. »Zu Onkel Luchs gehen wir dann später.«
Fred Harder ließ sich weiterhin von Thomas ins Schlepptau nehmen. Er lernte den alten Justus kennen und schaute dann aufmerksam zu, wie Thomas eines der munteren Ponys bestieg und voller Stolz im Kreis ritt.
»Du hast wirklich schon viel gelernt«, lobte Fred den Jungen.
»Na ja, hier können alle reiten, Onkel Fred. Es macht mir viel Spaß.«
So verging dieser Nachmittag wie im Flug. Als es zum Abendessen gongte, wusste Fred Harder nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Doch Frau Rennert lud ihn herzlich ein, am gemeinsamen Mahl der Kinder teilzunehmen. Sie habe bereits in Schoeneich angerufen, und Bescheid gegeben, denn sicherlich gewinne er einen guten Eindruck, wenn er mit den Kindern am Tisch sitze und sich mit ihnen ungezwungen unterhalten könne.
Thomas kam sich als Hauptperson vor und bestand darauf, den Platz neben ›Onkel Fred‹ zu bekommen. Nick setzte sich an die andere Seite des Gastes. Zum Abendessen hatten sich Denises Söhne in Schoeneich abgemeldet.
Schon bald erfuhren die Kinder durch Nick etwas über ›Herrn Fischers‹ interessanten Beruf. Sie stellten allerlei Fragen, und Fred Harder tat ihnen den Gefallen, eine spannende Geschichte von einem beinah misslungenen Testflug zum Besten zu geben.
»Gut, dass nichts passiert ist«, meinte Thomas seufzend. »Trotzdem möchte ich auch gern einmal Flugzeuge bauen, wenn ich groß bin.«
»Klar, Thomas, ich auch«, fiel Henrik sofort ein. »Und selber ausprobieren müssen wir unsere Maschinen. Das ist Ehrensache.«
»Ich fürchte, man braucht viel Mathematik in Ihrem Beruf, Herr Fischer«, sagte Nick nachdenklich. »Das würde mir nicht so liegen, wenn ich ehrlich bin.«
»Wenn die Berechnungen falsch sind, kann die Maschine bestimmt nicht fliegen«, sagte der Ingenieur. »Schließlich ist es nicht nötig, dass jeder Junge Flugzeugbauer wird. So viele Menschen werden später ganz gewiss nicht gebraucht.«
»Das ist richtig, Herr Fischer«, bestätigte Nick. »Außerdem weiß ich ja, dass ich später Sophienlust übernehmen werde. Und einen schöneren Beruf kann ich mir sowieso nicht vorstellen.«
Fred Harder war von Nicks Einstellung beeindruckt. Er erkannte, dass dieser dunkelhaarige Junge, der ihn mit den schönen Augen seiner Mutter anblickte, seine Lebensaufgabe bereits heute voll akzeptierte. Die alte Dame auf dem Bildnis im Biedermeierzimmer hatte ihr Vermächtnis offenbar in die rechten Hände gelegt.
Nach dem Essen erschien zur Freude aller Kinder Eugen Luchs. Er hatte eine neue Geschichte aufgeschrieben und wollte sie vorlesen. Da es noch warm genug war, setzte man sich im Park auf die Wiese. Fred Harder hatte Gelegenheit, den Mann, der seinen Sohn in seinen Schutz genommen hatte, ein wenig zu beobachten. Er empfand den lebhaften Wunsch, den Schriftsteller, der so fesselnd zu erzählen wusste, besser kennenzulernen. Fast bedauerte er es, als die Geschichte zu Ende war.
Schwester Regine erschien und holte die kleineren Kinder ins Haus, weil es für sie Schlafenszeit war. Zu seinem Leidwesen gehörte auch Thomas dazu. »Bleibst du bis morgen, Onkel Fred?«, fragte er und hielt Freds Hand mit seinen kleinen Fingern umklammert.
»Ja, Thomas. Ich übernachte in Schoeneich und sehe dich morgen bestimmt noch. Du hast mir hier alles so gut erklärt, dass ich mich auch morgen von dir weiter herumführen lassen möchte.«
»Du musst noch Tante Andreas Tierheim sehen«, meinte Thomas eifrig. »Und im Märchenwald sind wir auch nicht gewesen.«
Schwester Regine entführte ihre kleinen Schützlinge. Die größeren Kinder wollten teils Tischtennis spielen, teils einen Film im Fernsehen anschauen. Es handelte sich um einen Bericht über aussterbende Tierarten. So etwas stieß in Sophienlust auf viel Interesse.
Unversehens sah sich Fred Harder mit Eugen Luchs allein auf der Parkwiese im Dämmerlicht. »Darf ich Sie zu Ihrem privaten Swasiland begleiten, Herr Luchs?«, bat er. »Ich möchte gern ein wenig mit Ihnen sprechen. Allerdings muss ich zuvor bei meinen Gastgebern in Schoeneich anrufen, damit sie mich nicht auf die Vermisstenliste setzen.«
»Sie sind mir herzlich willkommen, wenn Sie nicht zu viel erwarten, Herr Fischer. Gehen Sie zu Frau Rennert, Sie wird Ihnen die telefonische Verbindung herstellen.«
Fred Harder telefonierte mit Alexander von Schoenecker, der volles Verständnis dafür zeigte, dass der Gast sich bei Eugen Luchs besonders bedanken wollte.
»Ich habe den Wagen hier, Herr Luchs. Können wir zu Ihnen fahren?«, fragte Fred Harder, als er wieder vor dem Herrenhaus stand.
»Ja, natürlich. Es ist allerdings nicht weit.«
Bald darauf hielten sie an, um die letzten Schritte zum Standplatz des Wohnwagens zu Fuß zu gehen.
»Das ist ein idyllisches Fleckchen«, stellte der Besucher fest, »Sophienlust ist voller Wunder.«
»Der Grund und Boden gehört zu Schoeneich, Herr von Schoenecker hat ihn mir auf unbefristete Zeit zur Verfügung gestellt. Allzu lange kann ich es meist nicht am gleichen Ort aushalten. Obwohl ich von einer Hallig stamme, scheine ich einen Schuss Zigeunerblut in den Adern zu haben. Der Anblick dieser Räder unter meinem Wohnwagen wirkt auf mich tröstlich und beruhigend. Sie garantieren mir die Möglichkeit, jederzeit auf Reisen zu gehen. Immerhin bin ich für meine Verhältnisse hier ziemlich sesshaft und häuslich geworden. Schon wegen der kleinen Peggy, die ich jetzt nicht mehr ohne Weiteres auf meinen Fahrten mitnehmen kann. Ich hänge an dem Kind.«
»Sie haben viel für die kleine Afrikanerin getan. Aber auch Thomas verdankt Ihnen allerlei.«
»Hat er Ihnen etwas darüber erzählt? Ich habe ihn sozusagen unter meinem Regenschirm gefunden. Inzwischen fühlt er sich glücklicherweise in Sophienlust schon ganz heimisch. Warten Sie, ich schließe auf. So, bitte, nach Ihnen! Nehmen Sie nur Platz. Nicht wahr, es ist ganz gemütlich hier bei mir? Sogar eine Flasche Wein kann ich Ihnen anbieten, Herr Fischer.«
Die beiden Männer saßen sich am kleinen Klapptisch des Wohnwagens gegenüber. Eugen Luchs entkorkte eine Flasche Rotwein und füllte zwei einfache Bechergläser. »Um auf Thomas zurückzukommen«, meinte der Schriftsteller, »der Junge hat ein trauriges Schicksal. Die Mutter ist schwer verunglückt und es ist nicht gewiss, ob sie sich von ihrem Schädelbruch erholen wird. Einen Vater scheint es nicht zu geben.«
Fred Harder hob die Hand. »Nein, nein, Herr Luchs, ganz so ist es nicht. Ich bin der Vater des Jungen, und ich möchte mich heute bei Ihnen bedanken, dass Sie sich um Thomas gekümmert haben.«
»Aber Thomas weiß nichts davon – nicht wahr?«
»Nein, ich habe es mit Frau von Schoenecker so vereinbart. Ich heiße Fred Harder. Meine Ehe mit Jutta Harder wurde geschieden, als Thomas noch ein winziges Kerlchen war. Selbstverständlich kann er sich nicht an mich erinnern. Ich habe damals versprochen, dass ich meiner Frau das Kind überlasse und nie mit ihm in Verbindung trete. Jetzt verständigte mich Frau von Schoenecker von dem schlimmen Unfall, den meine – meine frühere Frau erlitten hat. So kam ich hierher, um nach meinem Sohn zu sehen. Denn seine Mutter hat festgestellt, dass ich für Thomas sorgen soll, falls ihr etwas zustößt.«
»Ich verstehe. Um Ihr Wort zu halten und dennoch mit Thomas beisammen sein zu können, haben Sie sich einen anderen Namen zugelegt.«
»Ja. Es mag ein törichter Schachzug sein. Aber ich bereue es nicht. Die Begegnung mit Thomas war für mich ein bewegendes Erlebnis. Die Vorstellung in ernste Gefahr geraten zu sein, ist erschreckend. Ein Schutzengel muss ihn Ihnen zugeführt haben.«
»Ich übe auf Kinder offenbar eine gewisse Anziehungskraft aus – ich weiß nicht recht, warum«, erwiderte Eugen Luchs gelassen. »Außerdem hatte ich meinen großen Schirm dabei, und es regnete fürchterlich. So hat sich Thomas bei mir untergestellt, und alles Weitere ergab sich ganz von selber. Sie brauchen sich also nicht ausdrücklich bei mir zu bedanken, Herr Harder.«
»Bleiben wir bei Fischer, Herr Luchs. Sicher ist sicher.«
»Wie Sie wollen, Herr Fischer. Gefällt Ihnen Sophienlust. Ich möchte meinen, Ihr Junge hätte nirgends besser unterkommen können als hier.«
»Ja, dieses Heim ist einzigartig. Ich bewundere Frau von Schoenecker sehr.«
»Wer täte das nicht, Herr Fischer! Aber trinken wir doch erst einmal einen Schluck. Es ist ein ganz ordentlicher Tropfen.«
Die beiden Männer kosteten vom Wein und schauten einander an. »Wirklich ausgezeichnet«, lobte der Gast.
Eugen Luchs fragte: »Werden Sie länger hierbleiben? Haben Sie etwas über den Zustand Ihrer ehemaligen Frau erfahren können?«
»Die Auskunft, die man mir erteilte, war nicht gerade ermutigend. Ich sprach mit dem Arzt. Allzu viel Hoffnung hat er mir nicht gemacht. Es kommt mir so schrecklich sinnlos vor. Ein Sturz im Betrieb. Sie soll ausgeglitten sein. Dabei hätte sie es nicht einmal nötig gehabt, einen Beruf auszuüben und Geld zu verdienen. Aber Jutta hat nun einmal ihren Stolz. Sie wollte nichts von mir annehmen und legte Wert darauf, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Ob sie das Geld angerührt hat, das ich regelmäßig für Thomas überweise, ist mir nicht bekannt.«
»Sie haben nicht mehr mit Ihrer früheren Frau in Verbindung gestanden?«
»Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Sie wollte es so, und ich habe das immer respektiert.«
Der Schriftsteller füllte die Gläser nach. Er stellte keine weitere Frage, doch er spürte, dass Fred Harder den Wunsch hatte, sich einmal auszusprechen.
»Es kam alles durch meine Schuld«, sagte der Ingenieur nach einer kleinen Weile. »Jutta und ich waren sehr glücklich miteinander. Vielleicht zu glücklich. Wir hatten den kleinen Jungen, wir hatten genügend Geld, eine schöne Wohnung – es fehlte uns absolut nichts. Aber ich war so verrückt, das alles zu zerschlagen.« Fred trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Im Auftrag meiner Firma musste ich für einige Zeit in die Vereinigten Staaten reisen. Dort lernte ich Moira kennen. Sie war bildschön, sehr jung. Zuerst wehrte ich mich gegen die Leidenschaft, die mich überkam. Aber schon bald gab ich es auf. Moira erwiderte meine Zuneigung. Meine Ehe, Juttas Liebe, mein kleiner Thomas – das alles bedeutete mir plötzlich gar nichts mehr. Ich wollte noch einmal ganz neu beginnen, und zwar mit Moira. Keine Macht der Welt sollte mich wieder von diesem Mädchen losreißen.