E-Book 291-300 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 291-300 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Tanjas Traum vom großen Glück E-Book 2: Schenk mir dein Vertrauen E-Book 3: Kathrin und der geheimnisvolle Fremde E-Book 4: Radtour ins Glück? E-Book 5: Liebe auf Umwegen E-Book 6: Die schöne Sennerin E-Book 7: Karriere oder Liebe? E-Book 8: Der Mann mit den zwei Gesichtern E-Book 9: Herzen in Flammen E-Book 10: Martin ist wieder da

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Inhalt

Tanjas Traum vom großen Glück

Schenk mir dein Vertrauen

Kathrin und der geheimnisvolle Fremde

Radtour ins Glück?

Liebe auf Umwegen

Die schöne Sennerin

Karriere oder Liebe?

Der Mann mit den zwei Gesichtern

Herzen in Flammen

Martin ist wieder da

Der Bergpfarrer – Staffel 30 –

E-Book 291-300

Toni Waidacher

Tanjas Traum vom großen Glück

Dabei liegt das Gute doch so nah

Roman von Waidacher, Toni

»So, Frau Müller, ich hab’ Ihnen die Hose leicht gekürzt, und an Ihrer Jacke hab’ ich die Seitennaht etwas ausgelassen. Wenn S’ einmal schauen mögen?« Tanja Brügger legte die Kleidungsstücke vor sich auf den Tresen, doch die ältere Dame winkte ab.

»Ach, lass nur gut sein, Madel. Ich weiß auch so, dass du und deine Mutter immer gute Arbeit leisten.« Sie spähte über Tanjas Schulter hinweg, wo sich hinter einer meist offen stehenden Tür die kleine Arbeitsstätte befand. »Ist die Mutti denn heut’ gar net da?«, fragte sie.

Tanja schüttelte den Kopf. »Sie ist in die Stadt g’fahren, weil s’ was zu erledigen hat. Am Nachmittag wird s’ aber wieder zurück sein.«

»Da kann sie aber recht stolz auf dich sein, dass sie eine Tochter wie dich hat, mein Kind.«

Tanja lächelte. »So, finden Sie?«

»Aber ja doch. Dass du schon in der Lage bist, einen ganzen Tag lang hier alles allein zu meistern, zeugt von großer Reife!«

Tanja lächelte weiter, seufzte aber leicht genervt auf. Zwar war es immer schön, gelobt zu werden, aber ihrer Meinung nach war dieses Lob völlig fehl am Platze. Immerhin war sie schon zwanzig, also längst kein Kind mehr! Und in dem Alter waren die meisten berufstätig. Aber irgendwie schien niemand in St. Johann das so richtig zu begreifen, am wenigsten ihre Mutter selbst!

Doch Tanja enthielt sich eines Kommentares und packte stattdessen die zwei Kleidungsstücke in eine Baumwolltragetasche, aus Umweltgründen gab sie nie Plastiktüten heraus, die sie anschließend der Frau Müller überreichte.

Die beglich den Rechnungsbetrag, wobei sie auch nicht an einem kleinen Trinkgeld sparte, wofür Tanja sich freundlich bedankte, und verabschiedete sich.

Sobald sie wieder allein im Laden war, atmete Tanja erleichtert auf. Frau Müller war wirklich eine gute Kundin und eine nette, liebenswerte alte Frau – aber gerade hatte Tanja sich regelrecht zusammenreißen müssen, ruhig zu bleiben.

Das jedoch lag nicht an Frau Müller selbst, sondern vielmehr daran, dass Tanja sich im Moment einfach nicht wohlfühlte. Sie war unzufrieden mit sich, mit ihrer Arbeit, mit ihrem Leben hier in St. Johann und überhaupt mit der ganzen Welt!

Zwanzig Jahre war sie jetzt alt. Vor einem Jahr hatte sie ihr Abitur gemacht, und seitdem arbeitete sie auf Drängen ihrer Mutter mit ihr zusammen in deren Laden.

Die kleine Änderungsschneiderei bestand schon seit vielen Jahren. Ihre Eltern hatten sie damals von der Vorbesitzerin übernommen, und nach dem Tod von Tanjas Vater vor fünf Jahren hatte ihre Mutter sie erst einmal allein weitergeführt, weil Tanja ja noch zur Schule gegangen war. Allerdings hatte sie immer schon nachmittags ein wenig ausgeholfen.

Tanja strich sich eine widerspenstige Strähne ihres schulterlangen blonden Haares aus dem Gesicht. Sie hatte immer gern ausgeholfen, aber seit sie hier von morgens bis abends hinter der Theke stand und ihrer Mutter auch beim Schneidern half, merkte sie, dass ihr die Arbeit nicht mehr gefiel. Und das hatte auch seinen Grund, denn ihre Mutter wollte unbedingt, dass Tanja bei ihr eine richtige Lehre zur Schneiderin machte und den Laden auch später einmal übernahm.

Doch genau das wollte Tanja auf gar keinen Fall. Sie stellte sich ihre Zukunft einfach anders vor. Sie wollte nicht ihr ganzes Leben lang in diesem kleinen Geschäft arbeiten, und sie wollte auch keine Lehre zur Schneiderin machen.

Stattdessen träumte sie davon, Modedesignerin zu werden. Und dazu brauchte man keine Lehre als Schneiderin, wenngleich manche diese Ausbildung mitbrachten, aber das war kein wirkliches Muss, und gerade in der heutigen Zeit half das auch kaum weiter, da war einfach nur Kreativität und Talent gefragt, kein starres Handwerk.

Eines aber musste man tun, um Designerin zu werden: studieren.

Tanja hatte sich schon genau erkundigt. Das war bei ihr immer so: Wenn sie sich für etwas wirklich interessierte, dann tauchte sie regelrecht ab in der Materie und nahm begierig alle Informationen in sich auf, die sie bekommen konnte.

Und so wusste sie, dass sie in München die Möglichkeit zu einem Studium hätte. Allerdings an einer Privatschule, was wiederum mit hohen Kosten verbunden wäre. Woher sollte sie das Geld nehmen?

Seufzend warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Zeit für die Mittagspause, dachte sie, nahm ihre Jacke und ging hinaus, wo strahlender Sonnenschein sie erwartete. Es war wirklich ein herrlicher Sommertag. Nicht zu kalt, aber auch nicht brütend warm, was daran lag, dass von den Bergen her ein angenehm kühler Wind blies. Der Himmel war beinahe wolkenlos, nur ein paar Schäfchenwolken tummelten sich dort. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, und Kinder, die gerade aus der Schule kamen und sich nun auf dem Weg nach Hause befanden, tobten ausgelassen auf der Straße herum.

Es war ein schöner Ort hier,

wirklich. Tanja hatte sich immer recht wohlgefühlt. Doch inzwischen fühlte sie sich mehr und mehr eingeengt, und sie spürte, dass sie

einfach mal eine Veränderung brauchte, einen Tapetenwechsel sozusagen.

»Grüß Gott, Tanja«, vernahm sie da eine Stimme neben sich. Sie wandte sich um und erblickte Sebastian Trenker, den Pfarrer von Johann.

»Grüß Gott, Hochwürden«, erwiderte sie erfreut. »Genießen S’ auch das schöne Wetter?«

»In der Tat«, nickte er und musterte sie. »Du schaust allerdings gar net so aus, als wärest du in der Stimmung, den Tag zu genießen. Geht’s dir net gut?«

Sie lächelte leicht. »Sieht man mir das etwa so deutlich an?«

»Ein bisserl schon«, antwortete der Geistliche ehrlich. »Liegt dir denn etwas auf dem Herzen? Wenn du magst, kannst du gern darüber mit mir sprechen.«

»Ach, Herr Pfarrer.« Tanja winkte ab. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, und ich weiß das auch zu schätzen. Aber ich glaub, im Moment kann mir nix und niemand helfen. Trotzdem dank’ ich Ihnen recht schön für das Angebot.«

»Nix zu danken. Und wenn du es dir mal anders überlegen solltest: Meine Tür steht jederzeit offen für dich.« Er nickte ihr noch einmal zu und ging dann weiter.

Gedankenverloren blickte Tanja ihm nach. Vielleicht hatte er ja recht, und es würde ihr tatsächlich helfen, sich einmal all ihren Kummer von der Seele zu reden. Aber was sollte das bringen?

Nein, nein. Sie schüttelte den Kopf. Es ging um ihre Zukunft, und deshalb musste sie da ganz allein durch. Bei solchen Problemen konnte einem einfach niemand helfen, da war man auf sich allein gestellt. Andere konnten einem vielleicht Tipps und Ratschläge geben, aber die jeweilige Entscheidung musste man allein fällen.

Und genau das war es wohl, was der Tanja am meisten Probleme bereitete, denn bisher hatte sie noch nie in ihrem jungen Leben eine wirklich wichtige Entscheidung treffen müssen.

Und sie musste zugeben, dass sie Angst davor hatte, es bald zu tun.

*

Leonhard Gartner vergewisserte sich noch einmal, ob Adress- und Absenderangaben auf dem großen Kuvert, das er in der Hand hielt, in Ordnung waren, dann warf er den ausreichend frankierten Brief in den Postkasten und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass seine Aktion erfolgreich sein würde.

Und das hoffte er nicht für sich, sondern für Tanja, denn er wollte, dass es dem Madel gut ging, und genau das war im Augenblick nicht der Fall.

Zwar hatte sie bisher nicht richtig mit ihm darüber gesprochen, aber er merkte deutlich, dass sie etwas bedrückte, und er wusste auch, um was es sich dabei handelte.

Es ging um ihre Zukunft und um ihren Wunsch, Modedesignerin zu werden. Diesen Wunsch hatte sie schon seit vielen Jahren, doch in der letzten Zeit hatte sie immer öfter davon gesprochen, was Leonhard natürlich nicht entgangen war, schließlich hörte er immer genau zu, wenn sie etwas erzählte.

Er kannte sie aus gemeinsamen Kindergartentagen, später waren sie auch in die gleiche Schulklasse gegangen, und bereits damals hatte er gemerkt, dass sie irgendwann einmal eine Veränderung in ihrem Leben brauchen würde. Sie strebte ganz einfach nach Höherem, als ihr das Leben in St. Johann bieten konnte.

Leonhard bedauerte dies, denn im Grunde wollte er nicht, dass sie einmal fortging.

Dass sie wirklich mit dem Gedanken spielte, einmal zu studieren, um Designerin zu werden, hatte sie ihm vor über einem Jahr gesagt. Leonhard, der zu der Zeit schon nicht mehr zur Schule gegangen war, weil er nach der zehnten Klasse aufgehört hatte, um sich ganz auf die Arbeit auf dem elterlichen Hof konzentrieren zu können, hatte sich erkundigt, ob sie nun studieren wolle, um Modedesignerin zu werden.

Tanja war daraufhin ganz traurig geworden und hatte geantwortet, dass sie auf jeden Fall studieren wollte, dass daraus aber wohl vorerst einmal nichts werden würde, weil sie erst einmal bei ihrer Mutter im Laden arbeiten musste.

Leonhard konnte nicht abstreiten, dass ihm im ersten Moment ein Stein vom Herzen gefallen war. Ja, er hatte sich gefreut über diese Nachricht, und der Grund dafür war einfach, empfand Leonhard doch weitaus mehr für Tanja als bloße Freundschaft. Viel mehr sogar.

Schon seit mehr als zwei Jahren war er heimlich verliebt in die Tanja. Es kam ihm vor wie gestern, als er zum ersten Mal andere Gefühle ihr gegenüber verspürt hatte als rein freundschaftliche: Es war ein schöner Sommertag gewesen, und sie waren an den Achsteinsee gegangen, um zu baden. Nicht, dass sie das zum ersten Mal getan hatten, nein, eigentlich waren sie damals ständig beieinander, und im Sommer gingen sie fast täglich schwimmen.

Doch an diesem einen Tag war irgendetwas anders gewesen. Leonhard konnte sich selbst nicht erklären, woran genau es gelegen hatte, aber als sie ihn einmal aus ihren hübschen blauen Augen angesehen und ihn gebeten hatte, ihr den Rücken mit Sonnenmilch einzucremen, da hatte es plötzlich ›klick‹ gemacht bei ihm.

Er wusste selbst nicht, warum – ob es an ihrem vom Schwimmen tropfnassen Gesicht und dem nicht weniger nassen Haar oder an ihrem Blick oder sonst etwas gelegen hatte. Nur eines war sicher: Dass er sich in diesem Augenblick in das Madel verliebt hatte, mit dem ihm schon seit Jahren eine enge Freundschaft verband.

In der folgenden Zeit war der Bursche mehr als verwirrt. Plötzlich wusste er nicht mehr, wie er mit der Tanja umgehen und wie er seine neuen Gefühle, die er für sie hegte, verbergen sollte. Nach und nach unternahm er dann immer kleinere Versuche, herauszufinden, ob Tanja vielleicht selbst auch mehr empfand als bloße Freundschaft, doch genau das schien zu seinem Bedauern nicht der Fall zu sein.

Tanja sah in ihm einen Freund. Einen guten engen Freund – aber eben doch nicht mehr.

Das wurde dem Leonhard immer wieder aufs Neue klar, und dementsprechend verbarg er auch seine wahren Gefühle vor ihr. Denn um nichts in der Welt wollte er die Tanja vor den Kopf stoßen und möglicherweise dadurch noch die Freundschaft zu ihr aufs Spiel setzen.

Aus diesem Grunde verbarg er vor ihr, was er wirklich für sie empfand. Außerdem hatte sie auch mehr als einmal gesagt, dass sie an einer Beziehung mit einem Burschen ganz generell im Moment nicht das geringste Interesse hatte, weil sie sich dafür einfach noch zu jung fühlte.

Es war nicht immer leicht für Leonhard, seine Gefühle Tanja gegenüber zu verstecken, aber ihm blieb einfach keine andere Wahl.

Im ersten Moment hatte er sich also gefreut, als sie sagte, dass sie nicht studieren, sondern in der Schneiderei ihrer Mutter arbeiten wolle, bedeutete dies schließlich, dass sie weiterhin in St. Johann leben würde.

So blieb ihm immerhin ihre Nähe.

Doch dann hatte er umgedacht. Tanja bedeutete ihm sehr viel, und er wusste, dass sie andere Ziele im Leben hatte. Und im Moment war sie einfach nur unglücklich. Sie wollte nicht auf ewig in der kleinen Schneiderei arbeiten, wollte etwas anderes aus ihrem Leben machen.

Und er wusste ja, dass es ihr großer Traum war, Modedesignerin zu werden.

Und deshalb hatte er beschlossen, ihr ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Im Internet hatte er sich schlau gemacht. Zwar wurde allgemein empfohlen, zu studieren, wenn man diesen Berufswunsch hatte, aber es ging auch anders: Wenn jemand wirkliches Talent hatte, konnte er einfach versuchen, Probearbeiten an Modelabels zu schicken, in der Hoffnung, dass die entsprechenden Herren in den oberen Etagen dort auf einen aufmerksam wurden.

Dass Tanja großes Talent besaß, stand für Leonhard außer Frage: Schon seit Jahren fertigte sie in ihrer Freizeit Entwürfe für eigene Kreationen an, und sie hatte ihm auch immer welche gezeigt. Zwar war Leonhard kein Experte auf diesem Gebiet, aber er war sicher, dass es sich dabei um großartige Arbeit handelte, und auf sein Gespür hatte er sich bislang noch immer verlassen können.

Vor Kurzem hatte Tanja ihm erneut einige Entwürfe gezeigt, und er hatte vorgegeben, kaum Zeit zu haben und sie gebeten, ihm die Unterlagen mitzugeben, damit er sie sich zu Hause in aller Ruhe anschauen konnte.

Daheim hatte er sich die Entwürfe dann nicht nur angesehen, sondern auch Kopien angefertigt und diese zu einer umfangreichen Mappe zusammengestellt.

Und genau diese Mappe hatte er soeben an ein Modelabel in München geschickt, in der Hoffnung, dass man dort auf Tanja aufmerksam werden würde.

Zwar schnitt er sich damit womöglich ins eigene Fleisch, denn ihm war natürlich klar, dass Tanja, sollte sie von einem Label unter Vertrag genommen werden, nicht würde in St. Johann bleiben können. Das wusste er also sehr wohl und machte sich da nichts vor.

Aber das war für ihn inzwischen zweitrangig. Das Wichtigste für ihn war, dass die Tanja glücklich wurde.

Und vielleicht erkannte sie irgendwann ja trotzdem, was er für sie empfand.

*

Sebastian Trenker und sein Bruder Max, nebst Familie, saßen am Abend in der Küche des Pfarrhauses zusammen und ließen sich von Sophie Tappert, der Haushälterin und guten Seele des Pfarrhauses, verwöhnen.

Und zwar mit Szegediner Gulasch, das mal wieder ganz hervorragend schmeckte. Dazu hatte Sophie Tappert Sauerkraut und Kartoffelknödel serviert, die – wie alles, was im Pfarrhaus auf den Tisch kam – selbstgemacht waren. Sophie hielt gar nichts von irgendwelchen Fertigprodukten, und entsprechend frisch war alles stets zubereitet. Für die Knödel hatte sie Kartoffeln gekocht und anschließend püriert und dann mit Stärkemehl und Ei gebunden.

Normalerweise kam am Abend nicht mehr so eine deftige Mahlzeit auf den Tisch, aber da nicht nur Max, sondern auch Claudia heute vor lauter Arbeit keine Zeit für das Mittagessen gehabt hatten, wurde diese Ausnahme gemacht.

»Übrigens hab’ ich heut’, als ich dienstlich in der Stadt war, die Brügger-Iris g’troffen«, sagte Max Trenker mit vollem Mund, ein sicheres Zeichen, dass es ihm schmeckte, was aber auch bei Frau Tapperts Kochkünsten kein Wunder war.

»Na, das ist aber ein Zufall«, erwiderte Sebastian.

»Zufall? Was willst du damit sagen?«

»Nun, ich hab’ mich heute nämlich mit ihrer Tochter, der Tanja, unterhalten. Glücklich scheint das Madel im Moment net zu sein, jedenfalls hat s’ keinen sehr fröhlichen Eindruck g’macht.«

»Na, da geht’s ihrer Mutter net viel anders.«

»Wie meinst du das?«

Max tat sich noch einen Knödel auf den Teller. »Na, sie kam wohl grad aus der Augenklinik und war gar net guter Dinge. Aber das kann man ihr ja wohl auch kaum verdenken, bei den Neuigkeiten …«

»Ist sie denn krank? Ich mein, dass s’ net gut sehen kann, hab’ ich ja schon immer g’wusst, ich kenn sie ja gar net ohne Brille. Aber eine Sehschwäche ist ja normalerweise kein großes Problem.«

»Normalerweise net.« Max nickte. »Aber bei ihr handelt es sich wohl net um einen Sehfehler, sondern um eine Krankheit, die zwar schleichend, aber unaufhaltsam voranschreitet.«

»Das ist ja schrecklich!«, stieß Claudia Trenker erschrocken hervor. »Wahrscheinlich war die Tanja deshalb so betrübt.«

Doch Max schüttelte den Kopf. »Das glaub ich eher net«, sagte er. »Wie die Iris mir nämlich erzählt hat, weiß ihre Tochter gar nix von der Sache.«

»Bitte was?« Ungläubig sah der Geistliche seinen Bruder an. »Die Iris ist schwer krank und sagt ihrer Tochter nix davon? Das ist doch jetzt hoffentlich net wahr!«

»Leider doch.« Max Trenker hob die Schultern. »Gut find’ ich das ehrlich g’sagt auch net, aber die Iris meinte, dass sie ihrer Tochter bisher nix davon erzählen wollt’, weil s’ Angst hat, dass das Madel sich dann zu viel Sorgen macht.«

»Wie kommt’s denn, dass die Iris mit dir darüber gesprochen hat?«, wollte Sebastian wissen.

»Ich glaub, sie war einfach richtig fertig mit den Nerven, als sie von der Untersuchung kam, und als ich sie angesprochen hab’, ist halt alles aus ihr hervorgesprudelt. Schätze, sie brauchte längst mal jemanden zum Aussprechen. Ich hab’ ihr auch g’sagt, dass sie jederzeit zu dir kommen kann, wenn sie Kummer hat.« Max zuckte die Achseln. »Aber ob s’ das Angebot wahrnehmen wird, ist natürlich fraglich.«

»Besser wäre es aber in jedem Fall«, nickte Sebastian und überlegte, wie er es der Frau leichter machen konnte, das Gespräch mit ihm zu suchen. »Vielleicht sollt’ ich in den nächsten Wochen einfach mal ab und zu bei ihr vorbeischauen.«

»Du meinst, damit sie sich so besser an das Angebot, das ich ihr gemacht hab’, erinnert?«

Sebastian nickte. »Manchmal muss man die Leut’ halt ein bissel anstupsen, damit sie so etwas wahrnehmen. Und ich denk’ schon, dass es das Beste wär’, wenn die Iris endlich mit der Heimlichtuerei aufhört. Net bloß für sie selbst, sondern vor allem auch für die Tanja.«

*

»Nett, dass du Lust hast, ein bisserl mit mir spazieren zu gehen«, sagte Tanja, als sie eine Woche später vom Leonhard abgeholt wurde. Es war Sonntag, daher war der Laden geschlossen, dennoch gingen sie von hier aus los, da Tanja und ihre Mutter in einer kleinen Wohnung direkt über dem Geschäft wohnten.

Tanja mochte die Wohnung. Sie war nicht allzu groß, aber die Räume waren hell, und die Einrichtung zwar ein wenig altmodisch, aber auch gemütlich.

Dennoch musste das Madel in letzter Zeit immer wieder daran denken, wie es sein würde, mal aus St. Johann fortzugehen. Es war der Duft der großen weiten Welt, der sie längst in den Bann gezogen hatte und seither nicht mehr losließ.

Der Bursche winkte ab. »Ach, ich freu mich doch, dass wir mal wieder ein bissel zusammen sein können. Viel Zeit hast du ja im Moment net grad.«

»Ja, das stimmt wohl«, räumte Tanja ein. Schuldbewusst senkte sie den Blick. »Ich weiß auch, dass ich dich in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt hab’, dabei bist du doch schon seit jeher mein bester Freund.«

Während sie weitergingen bemerkte Tanja, dass Leonhard ein bisschen verlegen wirkte.

»Gibt’s eigentlich Ärger mit dem Laden deiner Mutter?«, fragte er, ohne auf das, was sie zuvor gesagt hatte, einzugehen.

»Ärger?« Sie zuckte die Achseln. »Nein, eigentlich net. Warum fragst du?«

»Nun, du schaust halt irgendwie net allzu glücklich aus. So, als ob du Kummer hast. Kann es sein, dass’s dir net allzu gut geht im Moment?«

Jetzt seufzte Tanja. »Wenn du so direkt fragst: Ja, dein Eindruck hat dich net getäuscht, allzu gut geht’s mir jedenfalls im Augenblick net. Und im Grund genommen hat das auch was mit dem Laden zu tun.«

»Willst du mir davon erzählen?«, fragte Leonhard behutsam. »Du weißt doch, dass du über alles mit mir sprechen kannst, oder?«

Sie nickte. »Aber lass uns erst noch ein Stückchen gehen. ’s tut einfach zu gut, mal wieder die Ruhe und den Frieden zu genießen und an nix weiter denken zu müssen.«

Seufzend schaute Tanja sich um. Es war wirklich eine herrliche Umgebung hier. Wo man auch hinblickte, gab es unberührte Natur. Vor allem jetzt, als sie die Ortsgrenze hinter sich ließen und an weiten Wiesen und Feldern vorbeigingen. Zudem war heute wirklich ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Kein Wölkchen am strahlend blauen Himmel, dann die Sonne, die Wärme verbreitete, und im Hintergrund die mächtigen Berge mit den schneebedeckten Gipfeln. Tief sog Tanja die klare Luft ein.

Sie war glücklich, hier aufgewachsen zu sein, keine Frage. Und dennoch zog es sie insgeheim in die Ferne. Dahinter steckte der Wunsch, etwas Neues zu erleben, auch einmal das Leben in der Stadt kennen zu lernen, vor allem aber wollte sie fort von hier, um zu studieren und damit ihrem Traumberuf ein Stück näherzukommen.

Doch wie es aussah, würde daraus nichts werden. Zumindest vorerst nicht. Woher sollte sie das Geld für die Privatschule nehmen? Und bis sie an einer öffentlichen Universität einen Platz bekam, würden Jahre vergehen. Denn Tanja stand mit ihrem Berufswunsch nicht allein da, und es gab nicht allzu viele Plätze.

Und dann war da noch ihre Mutter, die partout nichts von den Zukunftswünschen ihrer einzigen Tochter hören wollte und sie stattdessen immer wieder aufs Neue überreden wollte, in ihrer Schneiderei eine Lehre zu machen und nicht bloß dort zu arbeiten. Irgendwie konnte Tanja sie ja sogar verstehen. Sie sorgte sich halt. Nicht nur um ihre Tochter, sondern auch um das Fortbestehen der Schneiderei. Aber auf Dauer konnte Tanja auch nicht immerzu Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse anderer nehmen. Sie musste endlich auch einmal an sich selbst denken.

Tanja und Leonhard erreichten eine schöne Wiese und ließen sich einfach ins Gras sinken. Während Tanja dem Burschen im Schneidersitz gegenübersaß und gedankenverloren an einem Grashalm herumspielte, kamen ihr die Tränen. Sie wollte es noch verhindern, aber das war vergebene Liebesmüh.

Erschrocken darüber, dass sie so plötzlich zu weinen begann, sah Leonhard sie an und legte ihr eine Hand aufs Knie. »Was ist denn los, Tanja?«, fragte er besorgt. »Sag doch: Was hast du für einen Kummer?«

»Ach, es ist nix.« Rasch wischte sie sich die Tränen aus den Augen. »Jedenfalls nix, weshalb man gleich weinen müsst’.« Sie hob die Schultern. »Eigentlich weiß ich ja selbst, dass ich gar keinen rechten Grund zum Jammern hab’. Ich mein, schau dich nur um: Ich lebe hier auf dem schönsten Fleckchen Erde, das man sich vorstellen kann. Denk doch nur dran, wie viele Leute, die in der Stadt wohnen, sich nach einem Leben auf dem Lande sehnen. Und genau das hab’ ich doch. Außerdem bin ich gesund, habe so gute Freunde wie dich, und Geld zum Leben hab’ ich durch den Laden auch. Vielen Leuten auf der Welt geht’s wirklich schlecht, die hätten einen Grund, sich zu beklagen, aber doch nicht ich! Und trotzdem, ich weiß auch nicht. Ich bin einfach net …«

»Net glücklich?«, vervollständigte Leonhard den Satz.

Seufzend senkte Tanja den Blick. »Ja, wahrscheinlich ist es genau das.«

»Das hab’ ich mir schon gedacht«, sagte Leonhard verständnisvoll. »Und du brauchst dir auch keine Gedanken darüber zu machen, dass es Leute gibt, denen es viel schlechter geht. Jeder Mensch hat Probleme, und jedes Problem ist ein wichtiges Problem. Da gibt’s nix zu vergleichen!« Er hielt einen Moment inne. »Ich denke ja auch, dass ich weiß, was dich so bedrückt«, fügte er schließlich hinzu.

Sie schaute ihn an. »Im Ernst?«

»Zumindest kann ich es mir denken. Ich mein’, ich weiß ja schließlich, dass du ganz andere Träume hast, als den Rest deines Lebens in eurem Laden hinter der Theke im Geschäft deiner Mutter zu stehen.«

»Ja, das stimmt.« Tanja nickte. »Findest du das eigentlich sehr kindisch?«, wollte sie dann wissen. Ihre Mutter sagte das immer, sie bezeichnete die Träume ihrer Tochter als ›Flausen‹ und ›Spinnereien‹.

Nach kurzem Überlegen schüttelte Leonhard den Kopf. »Nein, das find ich net. Ganz im Gegenteil sogar. Ich find schon, dass man net nur auf andere hören, sondern vor allem seine eigenen Ziele verfolgen sollte.«

»Meinst du das wirklich?«, fragte sie und schaute den jungen Mann lächelnd an.

Der nickte. »Ja, natürlich mein’ ich das wirklich. Warum sollt’ ich dir auch was vormachen?«

»Sicher, es ist nur …« Sie zögerte. »Weißt du, du bist einfach der einzige Mensch, der mir in dieser Sache net einfach immer nur den Kopf waschen und mich davon abbringen will. Manchmal glaub ich wirklich, dass das zwischen uns nicht bloß reine Freundschaft ist.«

»Ist das dein Ernst?«, fragte Leonhard, wobei Tanja eher beiläufig wahrnahm, dass er sie plötzlich ganz hoffnungsvoll anschaute.

»Aber ja doch«, erwiderte sie. »Schau, ich hab’ manchmal einfach das Gefühl, dass wir mehr sind als Freunde. Eher so etwas wie …« Sie suchte einen Augenblick nach dem richtigen Ausdruck. »Ja, wie Seelenverwandte«, sagte sie dann. »Genau, das sind wir, glaube ich: seelenverwandt. Meinst du net auch?«

Er hob die Schultern. »Keine Ahnung, ob’s so was gibt, aber wenn du meinst.«

Tanja stutzte. Ihr fiel auf, dass Leonhard mit einem Mal irgendwie gekränkt wirkte. Aber warum? Hatte sie etwas falsch gemacht?

Doch ehe sie ihn weiter danach fragen konnte, stand er hastig auf und reichte ihr dann die Hand, um ihr ebenfalls aufzuhelfen.

»Was meinst du?«, sagte er. »Sollen wir uns langsam wieder auf den Rückweg machen?«

Tanja nickte, und gemeinsam gingen sie zurück zum Ort. Leonhard brachte sie bis zum Laden, über dem sich ja die Wohnung ihrer Mutter befand.

»Und mach dir net allzu viele Gedanken«, sagte er zum Abschied. »Wer weiß, vielleicht ergibt sich ja schon bald eine Möglichkeit, wie du doch noch an deinen Traumjob kommen kannst.«

Tanja lächelte dankbar, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf.

»Lieb von dir, dass du das sagst, aber ich glaub da net unbedingt dran. Wenn ich Modedesignerin werden will, muss ich studieren, und das geht im Moment einfach net, dazu fehlt das nötige Geld. Vielleicht sollt’ ich mich doch einfach mit dem Gedanken abfinden, dass aus meinem großen Traum nix werden wird.«

»Und wenn du doch erst einmal eine richtige Lehre bei deiner Mutter machst?«, fragte Leonhard. »Ich meine, das wäre doch vielleicht wirklich ein Anfang. Und vor allem allemal besser, als wenn du jetzt jahrelang nur so im Laden arbeitest. Wenn du stattdessen eine Lehre machst, ändert sich für dich im Grunde ja gar nix, und dafür hast du dann hinterher was vorzuweisen.«

Doch davon wollte Tanja nix wissen. »Kommt gar net infrage!«, sagte sie entschieden. »Dann hätt’ es meine Mutter mal wieder geschafft, und ich tät’ nach ihrer Pfeife tanzen. Auf keinen Fall!« Sie hielt kurz inne. »Trotzdem lieb von dir, dass du so besorgt um mich bist.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte dem Burschen einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Dann ging sie ins Haus.

*

»Hast dir jetzt noch einmal Gedanken über das gemacht, was ich dir g’sagt hab’?«, fragte Iris Brügger ihre Tochter wenige Tage später bei der mittäglichen Brotzeit. Da Mutter und Tochter wegen dem Laden mittags nicht dazu kamen, richtig zu kochen, aßen sie für gewöhnlich abends warm. »Ich mein’, wegen der Lehre?«

Genervt verdrehte Tanja die Augen. »G’sagt ist gut, Mutter. Du liegst mir ja in letzter Zeit mit nix anderem mehr in den Ohren!«

»Weil es nun mal um deine Zukunft geht!«, sagte ihre Mutter. »Es wäre doch wirklich das Beste, wenn du hier net länger einfach so mithilfst. Ich bin Schneidermeisterin und könnte dir damit eine richtige Lehrstelle bieten. Dann hättest du was Sicheres für die Zukunft und ...«

»Was Sicheres?« Tanja lachte abfällig. »Komm schon, Mutter, jetzt sei doch bitte net gar so naiv. Oder meinst du denn wirklich, eine Schneiderlehre stellt heutzutage wirklich noch was Sicheres da? Die Zeiten haben sich geändert, den sicheren Beruf gibt es längst nimmer.«

»Aber du hättest wenigstens eine Ausbildung«, hielt Iris Brügger ihrer Tochter entgegen. »Das ist die Grundlage von allem. Grad heutzutage, wenn du mich fragst. Und was danach machst, kannst ja dann immer noch schauen.«

»Ich will diese Lehre aber nicht machen!«, schrie Tanja und sprang auf. »Und jetzt entschuldige mich bitte, aber ich muss einfach mal ein bisserl raus. Mir fällt hier langsam wirklich die Decke auf den Kopf.«

»Aber Kind, wir müssen doch gleich wieder den Laden öffnen, die Mittagspause ist schon fast vorbei. So sei doch vernünftig und …«

Doch die folgenden Worte hörte Tanja schon gar nicht mehr, denn da war sie bereits zur Wohnungstür hinaus, und kurz darauf lief sie ins Freie.

Tief atmete sie durch. Sie ärgerte sich. Aber nicht über ihre Mutter, sondern vor allem über sich selbst. Warum hatte sie so aus der Haut fahren müssen? Ihr war klar, dass sie viel zu heftig reagiert hatte. Sie hatte ihre Mutter lieb und wollte sie nicht anschreien, aber gerade hatte sie einfach nicht anders gekonnt. Warum musste sie auch nur immer wieder mit dieser Lehre anfangen?

Tanja seufzte, während sie losging, um sich ein bisschen die Beine zu vertreten. Sie wusste ja, dass ihre Mutter sich nur Sorgen um die Zukunft ihrer einzigen Tochter machte, und im Grunde hatte sie ja auch Recht mit dem, was sie sagte: Eine Lehre war wichtig, stellte sie doch den Grundstein für eine berufliche Laufbahn dar. Das Problem war bloß, dass Tanja sich einfach nicht dazu durchringen konnte, eine Lehre zur Schneiderin zu machen.

Und der Grund dafür war einfach: Sie hatte Angst davor, hinterher für immer in diesem Beruf festzuhängen. Und das wollte sie nicht.

Wenn ich schon eine Ausbildung mach’, dann möcht’ ich auch frei entscheiden können, in welchem Bereich ich tätig bin, überlegte sie.

Was genau das für ein Bereich sein sollte, wusste sie jedoch noch nicht. Dazu hatte sie sich einfach bisher viel zu wenig Gedanken darüber gemacht. Am liebsten hätte sie ohnehin lieber heute als morgen ihre Sachen zusammengepackt, um nach München zu gehen und dort zu studieren.

Aber das konnte sie sich nicht leisten. Ein Studium an einer Privatschule kostete ein kleines Vermögen, und einen Platz in einer regulären Universität würde sie erst in ein paar Jahren bekommen.

Aber das Geld war nicht das einzige Problem. Denn auch wenn sie mit ihrer Mutter in dieser Hinsicht nicht einer Meinung war, so konnte sie es sich doch nicht vorstellen, sie einfach mit dem Laden im Stich zu lassen.

Seufzend fuhr sie sich durch ihr langes blondes Haar. Es war aber auch wirklich zum Verzweifeln. Warum muss ausgerechnet ich in so einem Zwiespalt stecken?, fragte sie sich.

»Grüß dich, Tanja«, erklang da eine Stimme, und Tanja zuckte leicht erschrocken zusammen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass sie bis zum Kirchplatz gelaufen war. Und aus der Kirche trat nun der Mann, der soeben ihren Namen gerufen hatte.

Pfarrer Trenker.

Sofort legte sich ein feines Lächeln um Tanjas Lippen. Sie mochte den Bergpfarrer wirklich sehr, was vor allem daran lag, dass er unglaublich sympathisch war.

Er war ein kerniger und unkomplizierter Typ. Außerdem stand er

allem und jedem tolerant gegenüber und war frei von starren Vorschriften.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer«, sagte sie nun, als Pfarrer Trenker auf sie zukam. »Wir haben uns ja schon eine ganze Weile nimmer gesehen. Ach, doch, vor einer Woche war’s, glaub ich, als wir uns das letzte Mal über den Weg gelaufen sind, oder täusch’ ich mich da?«

»Nein, du täuschst dich net. Und es ist auch ein rechter Zufall, dass wir uns grad begegnen.«

»Wie meinen S’ denn das?«

Er hob die Baumwolltragetasche hoch, die er in der rechten Hand hielt. »Na, ich wollt’ grad zu dir und deiner Mutter, um ein paar Sachen von mir wieder herrichten zu lassen. Abgerissene Knöpfe, mal ein neuer Reißverschluss, eine neue Hosentasche – das übliche Programm, nehm’ ich an.«

»Ach, geben S’ ruhig her«, bot Tanja sofort an. »Ich nehm die Tasche ganz einfach mit, dann haben S’ sich den Weg g’spart.«

Doch der Pfarrer winkte lachend ab. »Recht schönen Dank für das Angebot, Tanja, aber ich muss mir ohnehin ein wenig die Füße vertreten. Nachdem ich heut’ beinahe den ganzen Tag hinterm Schreibtisch gesessen hab’, ist das wahrhaftig bitter nötig.«

Das Madel hob die Schultern. »Ganz wie Sie möchten. Ach, könnten S’ meiner Mutter dann bitt’ schön ausrichten, dass ich noch einmal droben beim Leonhard bin? Sonst macht sie sich wieder Sorgen, wenn’s ein bissel länger dauert. Ein oder zwei Stündchen wird’s sicher auch mal im Laden ohne mich auskommen.«

»Aber ja doch, das mach ich natürlich.« Der Pfarrer lächelte. »Aber sag einmal, wie geht’s dir denn mittlerweile, Tanja? Hast du noch einmal über mein Angebot nachgedacht? Du weißt, ich bin immer da, wenn du mal jemanden zum Reden brauchst.«

»Ja, das weiß ich wirklich, Herr Pfarrer, und das ist auch sehr nett von Ihnen. Aber im Moment ...« Sie winkte ab. »Ach, wissen S’, mir geht’s inzwischen wieder richtig gut. Also dann, einen schönen Tag noch.«

»Dir ebenfalls«, erwiderte der Pfarrer, und ihre Wege trennten sich wieder.

*

Nachdenklich schaute Sebastian Trenker dem Madel hinterher. Auch wenn Tanja vorgegeben hatte, dass es ihr wieder gut ging, so hatte er doch deutlich gespürt, dass sie noch immer Kummer hatte, und zwar nicht zu knapp, und nur nicht darüber sprechen wollte.

Doch das war nicht gut, denn eines hatte der Seelsorger in all den Jahren gelernt, nämlich, dass nur sprechenden Menschen geholfen werden konnte.

Andererseits konnte er auch niemanden zwingen, sich ihm anzuvertrauen. Und aufgedrängte Hilfe war mitunter schädlicher als gar keine.

Der Bergpfarrer erreichte das Haus, in dem sich die kleine Schneiderei und auch die Wohnung der Brüggers befand. Natürlich war er nicht wirklich hergekommen, weil er einige Kleidungsstücke bei der Iris abgeben wollte, das war eher als eine Art Vorwand zu betrachten. Umso etwas kümmerte sich nämlich für gewöhnlich Frau Tappert. Es war gar nicht so leicht, im Pfarrhaus ein paar Sachen zu finden, die eine Ausbesserung benötigten. Bei den ausrangierten Dingen für die Altkleidersammlung war er dann aber schließlich fündig geworden. Doch das musste die Brügger-Iris ja nicht unbedingt erfahren.

In Wahrheit ging es ihm nämlich darum, noch einmal mit der Schneiderin zu sprechen.

Er hatte in den letzten Tagen schon mehrmals ihre Nähe gesucht und sich dabei jedes Mal erkundigt, wie es ihr ging.

»Es muss, Herr Pfarrer, es muss halt«, hatte sie daraufhin immer nur erwidert, doch Sebastian hatte natürlich gespürt, dass es ihr alles andere als gut ging. Und er wusste von seinem Bruder ja auch, woran es lag, bloß wunderte ihn, dass die Iris keinerlei Anstalten machte, mit ihm zu sprechen. Seinem jüngeren Bruder Max hatte sie sich schließlich auch anvertraut.

Aber wahrscheinlich lag das vor allem daran, überlegte der Pfarrer, dass sie gerade von einer Untersuchung kam und mal ihre Worte loswerden musste.

Bisher hatte Sebastian sich zurückgehalten, weil es einfach nicht seine Art war, den Leuten vor den Kopf zu stoßen, aber heute wollte er Iris dennoch auf das ansprechen, was er von seinem Bruder erfahren hatte.

Ihm blieb da einfach keine andere Wahl, denn es ging nicht schließlich nicht nur um sie allein, sondern auch um ihre Tochter, die Tanja. Er fand es einfach nicht in Ordnung, dass das Madel nichts von der Krankheit ihrer Mutter wusste.

Sicher, normalerweise ging ihn das Ganze natürlich nichts an. Iris musste selbst wissen, was sie tat. Aber in diesem Fall hing auch für Tanja viel davon ab, wenn ihre Mutter bald womöglich nichts mehr sehen konnte, musste das Madel sich ganz allein um das Geschäft kümmern.

Das war für jemanden in dem Alter eine nicht zu unterschätzende Verantwortung.

Gerade als der Geistliche nun auf das Geschäft zuging, sah er, wie die Brügger-Iris von innen die Glastür aufschloss. Anscheinend war die Mittagspause gerade vorüber.

Als sie den Pfarrer jetzt durch die Scheibe sah, öffnete Iris Brügger die Tür ganz und grüßte ihn freundlich. »Wollen S’ etwa zu mir, Herr Pfarrer?«, fragte sie.

Sebastian hielt die Tasche hoch. »Ganz recht, ich hätt’ da ein bisserl Arbeit für Sie, sofern S’ nix dagegen haben.«

Da musste sie lachen. »Na, dagegen hab’ ich bestimmt nix einzuwenden, da können S’ sich drauf verlassen. Aber kommen S’ doch bitt’ schön herein, Hochwürden.«

Er nickte, und gemeinsam betraten sie den kleinen Laden. Während Iris hinter die Theke ging, stellte sich der Pfarrer davor und holte die Sachen aus dem Beutel. Kurz zeigte er Iris, was an den Kleidungsstücken gemacht werden musste.

»Das geht in Ordnung, Herr Pfarrer. Reicht’s Ihnen bis übermorgen früh? Ansonsten könnt’ ich’s für Sie natürlich auch schon bis morgen Abend …«

»Nein, nein, das ist net nötig. Das hat keine Eile. Aber ehrlich g’sagt hätt’ ich da noch was anderes mit Ihnen zu besprechen.«

Jetzt seufzte Iris Brügger. »Na, da kann ich mir ja schon fast denken, was Sie zu mir führt. Ehrlich g’sagt hab’ ich mich bereits gewundert, dass S’ mich die ganzen Tage über noch net angesprochen haben. Es geht um das, was ich dem Max erzählt hab’, net wahr?«

Sebastian Trenker nickte. »Ich hoff’, Sie denken jetzt net, dass der Max alles weitertratscht, was man ihm im Vertrauen …«

»Ist schon recht«, unterbrach Iris Brügger ihn. »Ehrlich g’sagt, hab’ ich sogar irgendwie gehofft, dass er mit Ihnen drüber spricht. Wissen S’, ich bin eigentlich niemand, der das Gespräch sucht, wenn einem etwas auf der Seele liegt. Ich mach das lieber mit mir selbst aus. In sich hineinfressen nennt man so was wohl. Aber im Moment …« Sie schlug die Augen nieder. »Ach, Herr Pfarrer, was soll ich groß drum herumreden? Ich weiß einfach nimmer weiter. Hätten S’ vielleicht noch einen Augenblick Zeit für mich? Dann würd’ ich den Laden noch einmal für eine halbe Stunde schließen und uns droben in der Wohnung eine Tasse Kaffee machen.«

»Aber ja doch.« Der Bergpfarrer lächelte. »Deshalb bin ich doch hergekommen.«

Dankbar sah Iris Brügger ihn an, und der Seelsorger war froh, dass sie sich entschieden hatte, Hilfe anzunehmen.

*

»Du bist ja vollkommen runter mit den Nerven«, sagte Leonhard besorgt. »Hast du Ärger gehabt?«

Seufzend nahm Tanja die Tasse mit dem Tee entgegen, den der junge Mann ihr eben gekocht hatte. Die beiden saßen in der Küche des Hofes zusammen, den Leonhards Vater bewirtschaftete. »Was heißt Ärger?«, fragte sie, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte. »Ich hatte halt mal wieder eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter.«

»Ging’s wieder um die Lehre, die du machen sollst?«, hakte Leonhard nach. Es tat ihm in der Seele weh, das Madel in letzter Zeit ständig so niedergeschlagen zu sehen.

Tanja nickte. »Um was wohl sonst? Ich frag mich, warum meine Mutter auch immer wieder mit diesem Thema anfangen muss. Sie sollte doch langsam wissen, dass es dadurch immer nur zu Krach kommt.«

»Sie macht sich halt Gedanken um deine Zukunft. Das machen doch alle Eltern.«

»Ja, schon, aber … Ach, ich weiß auch nicht. Ich will diese verflixte Lehre halt nicht machen, ist das denn so schwer zu begreifen?«

»Aber vielleicht wäre es doch besser, wenn du dir das noch einmal überlegst?«, gab Leonhard zu bedenken. »Ich hab’ dir das ja neulich schon gesagt, dass’s doch sicher net verkehrt wäre, wenn …«

»Fängst jetzt auch schon so an wie meine Mutter?«, fuhr Tanja ihn gereizt an.

»Ich mein’ ja nur. Denn ob du jetzt so im Laden arbeitest oder eine Lehre machst, kommt doch aufs Gleiche heraus, und so hättest hinterher wenigstens was in der Tasche, auch für den Fall, dass du dich danach doch noch um einen Job als Designerin bemühst und …«

»Aber darum geht’s doch gerade, begreift ihr das denn alle net?« Tanja seufzte. »Schau, ich will eben net erst in drei Jahren, wenn die Lehre vorbei ist, Designerin werden, sondern jetzt, verstehst du?«

»Ja, schon, aber du hast doch selbst g’sagt, dass daraus ohnehin nix wird und dass du erst einmal weiter im Laden deiner Mutter arbeiten wirst.«

»Ich weiß, was ich gesagt hab’, aber …« Sie winkte ab. »Ach, wozu bin ich überhaupt hergekommen? Ich hab’ wirklich gedacht, wenigstens du verstehst mich, aber da hab’ ich mich wohl auch getäuscht.«

»Jetzt wirst du aber ungerecht!«, protestierte Leonhard gekränkt. »Ich hab’ dir nie irgendwelche Vorschriften g’macht, und wenn du meine Meinung partout net hören willst, dann frag ich mich, warum du überhaupt hergekommen bist.«

»Das frag ich mich allerdings inzwischen auch!« Hastig stellte Tanja die Teetasse auf dem Küchentisch ab und sprang so heftig auf, dass der Stuhl beinahe nach hinten umfiel. Dann warf sie dem Leonhard noch einen vielsagenden Blick zu und lief ohne ein weiteres Wort weg.

Leonhard lief ihr hinterher und rief auch ihren Namen, doch offenbar wollte sie einfach nicht länger mit ihm sprechen, und so ließ er sie schließlich schweren Herzens ziehen.

*

Woanders verlief das Kaffeetrinken ohne Streit, und zwar in der Wohnung, die sich über der kleinen Schneiderei befand. Dort saßen die Iris Brügger und der Bergpfarrer in der Küche zusammen.

Der Geistliche beobachtete die vierzigjährige Frau. Nervös strich sie mit den Fingern auf der Tischdecke herum, und ihr Atem ging hastig. Es war offensichtlich, dass sie aufgeregt war, und Sebastian wusste natürlich, warum.

»Jetzt beruhigen S’ sich doch erst einmal«, sagte er leise. »Ich denk wirklich, dass ’s Ihnen guttun wird, wenn wir über alles sprechen. Meinem Bruder haben S’ ja bereits g’sagt, dass mit Ihren Augen etwas net in Ordnung ist und …«

»Net in Ordnung?«, fiel sie ihm ins Wort und lachte bitter auf. »Entschuldigen S’, Herr Pfarrer, aber so wie Sie das sagen, klingt das so banal. Das ist es aber leider net.«

»Sondern?«

»Es ist so … Also, ich hab’ schon länger Probleme mit den Augen, und ich renn auch schon seit einer geraumen Weile immer wieder zu einem Augenarzt in der Stadt. Der hat mir auch von Anfang an g’sagt, dass es net besser werden wird, sondern eher schlimmer, wenn auch recht langsam. Es ist halt ein Problem mit den Netzhäuten. Ich trag ja net umsonst eine so dicke Brille, und dass ich net gut gucken kann, ist ja auch allgemein bekannt. Doch jetzt habe ich immer öfter richtige Ausfälle beim Gucken, und deshalb bin ich einmal in der Augenklinik untersucht worden.«

»Mit welchem Ergebnis?«, hakte Sebastian nach.

Iris Brügger hob die Schultern. »Wie es ausschaut, schreitet die Krankheit inzwischen immer schneller voran, und ich muss mich darauf gefasst machen, dass ich in den kommenden Monaten immer schlechter sehen kann. Und außerdem soll ich mich darauf einrichten, haben die Ärzte gesagt, dass ich in etwa drei bis vier Jahren gar nix mehr sehen kann. Oh, Herr Pfarrer!« Sie senkte den Blick. »Es ist ja alles so schrecklich!«

Sebastian ergriff über den Tisch hinweg ihre Hand und sagte: »Es tut mir natürlich sehr leid, dass Sie so krank sind, aber ich bin mir sicher, dass es immer einen Weg gibt. Was sagen denn die Ärzte? Kann net vielleicht eine Operation helfen?«

»Möglich wäre es wohl schon«, antwortete Iris Brügger, nachdem sie sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen aus dem Gesicht gewischt und sich anschließend die Nase geputzt hatte. »Mir wurde aber ganz klar gesagt, dass diese Operation ein hohes Risiko mit sich bringt. Wenn etwas schief geht, könnte ich schon jetzt mein Augenlicht verlieren und nicht erst in ein paar Jahren. Und die Chancen, dass die OP wirklich was bringt, sind auch nicht sehr hoch.«

»Verstehe. Und da möchten S’ wahrscheinlich lieber mit einem Eingriff warten«, schloss der Pfarrer.

Sie nickte. »Ich hab’ mir halt g’dacht, dass ich zunächst einmal abwarte und mich dann, wenn’s wirklich sehr viel schlimmer wird, sodass ich dann auch mit Brille kaum noch was sehen kann, für die OP entscheide. Die Ärzte sagen, das sei in Ordnung, denn wie g’sagt, groß sind die Heilungschancen durch den Eingriff ohnehin net. Aber was mach ich, wenn all das wirklich nix bringt und ich mein Augenlicht ganz verliere? Oder wenn ich zwar noch sehen kann aber net mehr so viel, dass’s ausreicht, um meinen Beruf weiter auszuüben? Ich predige der Tanja schon die ganze Zeit, dass s’ bei mir in eine Lehre geht, damit sie hinterher auch Schneidermeisterin ist und das G’schäft notfalls allein weiterführen kann. Aber das Madel will davon ja nix wissen!«

»Ich gehe davon aus, dass Sie ihr noch nix von der Krankheit erzählt haben?«, erkundigte Sebastian sich.

»Gott bewahr’, nein! Davon soll die Tanja nix wissen, hören S’? Es reicht schon, wenn ich deshalb schlaflose Nächte hab’, da soll das Madel sich net auch noch Sorgen machen.«

»Aber darum geht’s doch gar net«, entgegnete der Geistliche. »Sicher wird die Tanja besorgt sein, sie ist schließlich Ihre Tochter. Aber so eine Krankheit, bei der es sich ja nun net grad um ein x-beliebiges Zipperlein handelt, sollte man in einer Familie net für sich behalten! Irgendwann wird die Tanja es doch ohnehin zwangsläufig erfahren, und was meinen S’, was das Madel dann davon hält, dass S’ ihr all die Zeit nix davon g’sagt haben?«

»Trotzdem … Ich kann das einfach net.«

Sebastian Trenker seufzte. »Ich kann Sie ja sogar verstehen. So etwas ist net einfach. Aber Sie sollten es sich wirklich noch einmal überlegen. Wie soll die Tanja denn sonst verstehen, wie wichtig es Ihnen ist, dass sie eine Lehre bei Ihnen macht?« Er hob die Schultern. »Und ganz davon abgesehen wäre es einfach net richtig, ihr das zu verschweigen. Aber letztendlich können nur Sie selbst das entscheiden.«

»Das heißt, Sie werden dem Madel nix sagen?«, fragte Iris Brügger mit hoffnungsvollem Blick.

»Selbst wenn ich wollte, ginge das im Grunde gar nicht«, erklärte der Pfarrer. »Schließlich unterliege auch ich als Geistlicher in gewisser Weise der Schweigepflicht. Sicherlich kann man hier und da bei Kleinigkeiten auch einmal eine Ausnahme machen, wenn es dem Betroffenen dadurch weiterhilft, aber wenn es um etwas so Wichtiges geht, muss und werde ich das natürlich für mich behalten. Auch wenn es mir net leichtfallen wird, dem Madel mit diesem Wissen gegenüberzutreten, ohne mir etwas anmerken zu lassen«, fügte er hinzu. »Auf jeden Fall sollten Sie es sich noch einmal überlegen, ob Sie Ihrer Tochter net doch die Wahrheit sagen.« Sebastian erhob sich. »So, ich muss mich jetzt aber wieder auf den Weg machen. Haben S’ recht schönen Dank für den Kaffee.«

Er verabschiedete sich und verließ kurz darauf die Wohnung. Als er schließlich unten ins Freie trat, atmete er tief durch. Er konnte nur hoffen, dass Iris Brügger sich besann und ihrer Tochter nicht mehr allzu lange etwas vormachte.

*

Der große dunkelhaarige Mann, der zwei Tage später mit seinem schnittigen schwarzen Cabriolet St. Johann erreichte, passte so gar nicht in diese beschauliche Gegend.

Er war gebürtiger Italiener, sein Name lautete Giovanni Cassandro, und aus reinem Privatvergnügen hätte er sich niemals in einem so kleinen Dorf aufgehalten. Langweilig grüne Wiesen und Wälder, so weit das Auge reichte. Und über allem roch er den durchdringenden Gestank von Kuhmist und spießigem Kleinbürgertum. Giovanni schüttelte sich. Für ihn war es unverständlich, wie sich jemand freiwillig an einem solchen Ort aufhalten konnte. Hier gab es doch nichts als Bauerntrampel und Hinterwäldler!

Entsprechend schlecht war seine Laune, denn statt die nächsten Tage hier zu verbringen, könnte er sich abends in der Großstadt in den angesagtesten Clubs vergnügen.

Dabei wusste er nicht einmal, wie lange er sich tatsächlich hier würde aufhalten müssen. Gut möglich, dass es erheblich länger dauerte als ein paar Tage!

Aber rasch verschlug er diesen Gedanken wieder. Ganz bestimmt würde alles ganz flott über die Bühne gehen. Die Kleine, deren Entwürfe neben ihm in einer Mappe auf dem Beifahrersitz lagen, würde keine Sekunde zögern, mit ihm nach München zu kommen, da war er ganz sicher. Wieso sonst sollte sie ihm die Mappe zugeschickt haben?

Sein Navigationssystem, das natürlich technisch auf dem allerneuesten Stand war, verriet ihm, dass er jetzt bald da sein würde. Er fuhr jetzt noch einmal rechts, anschließend links, und dann hieß es auch schon: »Sie haben den Bestimmungsort erreicht.«

Er schaute nach rechts, dort musste das junge Ding, das ihm die Mappe geschickt hatte, zu Hause sein. Es war ein kleines Haus mit einem Ladenlokal im Erdgeschoss, einer Schneiderei.

Giovanni beschloss, einfach mal dort nachzufragen. Er stieg aus und betrat kurz darauf das Geschäft. Die Türglocke erklang, und eine ältere Frau, die hinter der Ladentheke stand, blickte von einigen Unterlagen auf.

Sonst befand sich niemand im Geschäft.

»Grüß Gott«, sagte die Frau höflich, aber Giovanni entging nicht, dass sie ihn eingehend musterte. »Was kann ich für Sie tun?«

Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Guten Tag und entschuldigen S’ bitte die Störung, aber ich bin auf der Suche nach einer gewissen Tanja Brügger, die hier im Haus wohnen soll.«

Die Frau runzelte die Stirn. Täuschte Giovanni sich, oder wurde sie aus irgendeinem Grund misstrauisch? »Was wollen S’ denn von dem Madel?«, fragte sie.

»Nun, sie hat sich praktisch bei mir beworben, indem s’ mir ihre Mappe hat zukommen lassen. Ich bin in der Modebranche tätig

und …«

»Das hat sich erledigt«, erwiderte die Frau wie aus der Pistole geschossen.

Giovanni blinzelte irritiert. »Erledigt? Wie meinen S’ denn das jetzt, bitt’ schön?«

»Na, ganz so, wie ich’s g’sagt hab’: Die Tanja hat es sich anders überlegt und hat nun bei mir eine Lehre angefangen.«

»Sind S’ da ganz sicher?«

Die Frau stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte ihn herausfordernd an. »Was denken Sie denn? Und jetzt entschuldigen S’ mich bitt’ schön, ich hab’ noch recht viel zu tun.«

Sie wandte sich von ihm ab, und Giovanni verließ ohne ein weiteres Wort den Laden. Er hatte es sich nicht anmerken lassen, aber innerlich kochte er vor Wut. Da war er extra hierher in dieses Kaff gekommen, und jetzt hatte dieses junge Ding es sich anders überlegt?

Nein, das konnte er so keinesfalls hinnehmen! Und das lag nicht mal unbedingt daran, dass er andernfalls den ganzen Weg umsonst auf sich genommen hätte, sondern vielmehr daran, dass diese Entwürfe, die ihm zugeschickt wurden, unglaublich gut waren.

Diese Tanja musste ein wirkliches Talent sein, das hatte Giovanni sofort erkannt. Und das wollte was heißen: Giovanni war nun schon seit vielen Jahren im Modegeschäft tätig, aber so etwas war ihm bislang noch nicht passiert.

Normalerweise hatten junge Leute, die im Bereich des Modedesign arbeiten wollten, nur auf dem üblichen Weg Chancen: Da stand zuerst ein Studium auf dem Programm, dann Praktika bei verschiedenen Labels, und so konnte man dann hinterher eine feste Stelle bekommen. In vielen Fällen half auch eine ordentliche Dosis ›Vitamin B‹ dabei, im ersehnten Beruf Fuß zu fassen. Mit Beziehungen ließen sich so einige Mankos wettmachen, die Erfahrung hatte Giovanni schon vor langer Zeit gemacht. Ein großes Talent bekam so mitunter kein Bein auf den Boden, bloß weil es immer jemanden gab, der wiederum jemanden kannte, der dafür sorgte, dass die ausgeschriebene Stelle einem anderen zugesagt wurde.

Probearbeiten, die einfach so ›auf gut Glück‹ eingesandt wurden, beachtete normalerweise niemand. Auch Giovanni nicht. Eigentlich.

In diesem Fall aber hatte er es doch getan, und das war ein absoluter Glückstreffer gewesen!

Diese Entwürfe hatten ihn sofort begeistert. Ohne zu übertreiben hatte er sofort erkannt, dass diese Tanja eines der größten Talente in diesem Bereich darstellte, das ihm je untergekommen war. Und dass sie nicht einmal studiert hatte, wie dem knappen Lebenslauf zu entnehmen war, hatte er kaum fassen können.

Giovanni hatte die Unterlagen sofort seinem Boss gezeigt, und der war ebenso begeistert gewesen.

»Wenn es Ihnen gelingt, die Person, von der diese Entwürfe stammen, für unser Unternehmen zu gewinnen, ist Ihnen Ihre lang ersehnte Beförderung sicher«, hatte er gesagt. »Dann spielen Sie ab sofort in der oberen Liga mit!«

Giovanni hatte in sich hineingelacht. Er hatte seinem Boss nämlich verschwiegen, dass diese Tanja sich mit dieser Mappe richtig bei ihm beworben hatte. Dadurch stellte es jetzt natürlich ein Kinderspiel für ihn da, sie für die Firma zu gewinnen, für die er seit vielen Jahren arbeitete. Und genauso lange hoffte er auch schon auf den großen Aufstieg, der ihm bislang aufgrund verschiedener Umstände verwehrt worden war.

Doch das würde sich jetzt ändern!

Das hatte er zumindest bis eben gedacht. Und jetzt? Giovanni konnte nicht fassen, was er da eben von dieser Frau zu hören bekommen hatte. Sollte diese Tanja es sich wirklich anders überlegt haben? Unmöglich! Ein junges Talent wie sie konnte doch wohl nicht ernsthaft eine Schneiderlehre einer großen Karriere im Modegeschäft vorziehen!

Giovanni schüttelte den Kopf. Ganz sicher hatte sie wahrscheinlich gar nicht damit gerechnet, wirklich eine Reaktion auf ihre Einsendung zu bekommen. Wenn sie nun hörte, dass ihre Arbeit gefragt war, würde sie wahrscheinlich keine Sekunde zögern und ihre Ausbildungsstelle wieder kündigen.

Zu allererst musste er also mit der jungen Frau sprechen. Er überlegte, ob er sofort noch einmal nach ihr fragen sollte, doch das Knurren seines Magens erinnerte ihn daran, dass er schon seit Stunden nichts mehr gegessen hatte.

So setzte er sich also erst wieder in seinen Wagen und fuhr noch ein paar Meter. Als er schließlich an einer Gaststätte vorbeikam, stand sein Entschluss fest, erst einmal etwas zu essen.

Er hielt seinen Wagen vor dem Lokal an und stieg aus. Ein paar Leute kamen ihm entgegen, und es war offensichtlich, dass sie sich über den Neuankömmling wunderten.

Giovanni konnte ihnen die Frage, die sie sich stellten, praktisch von der Stirn ablesen:

Was der hier wohl will?

*

Normalerweise besuchte Leonhard höchstens abends mal eine Gaststätte, nie jedoch am Tag, heute jedoch war das anders. Allerdings würde er auch nicht allzu lang verweilen, sondern nur ein erfrischendes kühles Radler trinken, was bei der Hitze sicher guttat, und dann wieder zurück an die Arbeit gehen. Auf so einem Hof gab es schließlich nie zu wenig zu schaffen, aber Leonhard brauchte jetzt einfach mal eine Pause.

Im Moment konnte er sich einfach nicht recht auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, und dann musste er an die Tanja denken und daran, dass sie seit ihrem Streit vor zwei Tagen nicht mehr miteinander gesprochen hatten.

Leonhard fühlte sich so, wie es im Moment war, nicht wohl, er hätte am liebsten alles geklärt, denn er wollte nicht, dass etwas zwischen ihm und der Tanja stand. Er meinte es doch auch nur gut mit ihr!

Andererseits wusste er nicht, ob es eine gute Idee war, erneut das Gespräch zu suchen oder ob er besser warten sollte, bis sie etwas von sich hören ließ.

Darüber dachte er jetzt nach, als er auf den ›Löwen‹ zuging. Da fiel ihm ein schwarzes Cabriolet auf, aus dem ein gut gekleideter, ihm unbekannter Mann stieg.

Leonhard runzelte die Stirn. Den Mann hatte er hier noch nie zuvor gesehen, und er sah auch nicht aus, als hatte er vor, in einem kleinen Ort wie diesem Urlaub zu machen.

Was er hier wohl wollte?

Der Bursche zuckte die Achseln. Das ging ihn auch gar nichts an. Dennoch blieb er, während der Fremde in die Gaststätte ging, kurz stehen, um einen näheren Blick auf den Wagen zu werfen. Leonhard war nämlich insgeheim ein großer Autofan, vor allem Sportwagen hatten es ihm angetan, auch wenn er wohl nie die Mittel haben würde, selbst einmal einen solchen Wagen anzuschaffen.

Aber träumen darf man ja ..., sagte er sich und nahm den Wagen ein wenig unter die Lupe. Das Verdeck des Cabrios hatte der Fremde offen gelassen, anscheinend wollte er nicht allzu lange im Wirtshaus verweilen, und so fiel Leonhards Blick auch auf den Beifahrersitz und auf die Mappe, die dort lag.

Scharf sog er die Luft ein. Aber das ist doch die Mappe, die ich … Nein, er schüttelte den Kopf. Doch ein zweiter Blick ließ sämtliche Zweifel schwinden. Es war tatsächlich die Mappe, die er unter Tanjas Namen an das Modelabel geschickt hatte.

Also war dieser Mann ganz zweifelsohne wegen Tanja in St. Johann. Wahrscheinlich wollte er sie kennenlernen, weil ihre Entwürfe ihm gefielen.

Plötzlich war Leonhard ganz aufgeregt. Er hatte zwar gehofft, aber nicht wirklich damit gerechnet, dass seine Mühen mit Erfolg belohnt werden würden, und jetzt war es doch geschehen!

Und mit einem Mal wurde ihm noch etwas anderes klar. Seltsam, dass er sich da vorher noch keine wirklichen Gedanken drüber gemacht hatte, aber jetzt stellte sich ihm die Frage, wie der Fremde reagieren würde, wenn er erfuhr, dass Tanja ihm gar nichts zugeschickt hatte – und in welch peinliche Lage das Madel dadurch geriet!

Jetzt hielt den Leonhard nichts mehr. Er musste so schnell wie möglich zur Tanja und ihr alles erzählen. Zwar hatte er ein bisschen Angst davor, dass sie vielleicht böse auf ihn sein könnte, weil er das alles einfach hinter ihrem Rücken gemacht hatte, aber da musste er jetzt durch.

Sein erster Weg führte ihn natürlich zur Schneiderei ihrer Mutter, aber dort war Tanja nicht.

»Ich weiß auch net, was mit dem Madel in letzter Zeit los ist«, beschwerte sich ihre Mutter. »Ständig ist s’ unterwegs und lässt mich hier mit der ganzen Arbeit allein. Kannst du net mal mit ihr sprechen und …«

Doch den Rest hörte Leonhard schon gar nicht mehr, denn da hatte er das Geschäft auch schon wieder verlassen.

Suchend blickte er sich in alle Richtungen um. Wo sollte er jetzt weitersuchen? Es machte wohl kaum Sinn, den ganzen Ort abzusuchen, Tanja konnte schließlich überall sein.

Doch das Glück schien auf seiner Seite zu sein, denn gerade, als er weitergehen wollte, kam ihm die Tanja entgegen, die wohl auf dem Weg zurück zu ihrer Mutter war.

»Grüß dich, Leonhard«, sagte sie ein wenig schüchtern. »Hör mal, wegen neulich, da wollt ich mich noch bei dir entschuldigen, ich hab’ das net so g’meint und …«

Leonhard winkte ab. »Das ist alles schon vergessen und jetzt gar nimmer wichtig«, unterbrach er sie hastig. »Jetzt muss ich dir erst mal etwas anderes sagen, ich bin nämlich net ohne Grund hier.«

»So?« Verwirrt schaute das Madel ihn an. »Was gibt’s denn, du bist ja ganz aufgeregt. Ist etwas passiert?«

»Net direkt, aber irgendwie auch schon.« Er holte tief Atem. »Hör zu, du hast mir ja vor einer Weile mal ein paar deiner Entwürfe mitgegeben, erinnerst du dich?«

Sie nickte. »Ja, sicher, aber …«

»Ich hab’ von den Entwürfen Kopien gemacht und sie an ein Modelabel geschickt«, ließ Leonhard die Bombe platzen.

Tanja riss die Augen auf. »Du hast – was?«

»Ich weiß, du wirst jetzt sicher net gut finden, dass ich das so einfach hinter deinem Rücken gemacht hab’, und das könnt’ ich ja auch verstehen. Aber du musst wissen, dass ich nur das Beste für dich wollte. Weil’s doch schon so lange dein Traum ist, als Modedesignerin zu arbeiten.« Er zuckte die Achseln. »Tja, und jetzt scheint’s geklappt zu haben.«

»Geklappt? Was soll denn geklappt haben? So red doch schon endlich Klartext!« Plötzlich schien Tanja ganz aufgeregt zu sein, wahrscheinlich hatte sie schon eine Ahnung.

»Na, so genau weiß ich das natürlich auch net«, erwiderte Leonhard. »Aber auf jeden Fall ist jemand nach St. Johann gekommen, der die Mappe dabei hat, die ich unter deinem Namen abgeschickt hab’. Jetzt ist mir natürlich klar geworden, dass es einen dummen Eindruck macht, wenn er dich nachher anspricht und du gar nix von der Sache weißt. Na, da hätt’ ich eigentlich auch eher drauf kommen können, aber das ist ja jetzt auch egal. Jedenfalls hab’ ich dich deshalb gesucht, praktisch, um dich vorzuwarnen, damit du Bescheid weißt.«

Tanja sah ihn noch immer ganz verdattert an. »Moment mal«, sagte sie, »ich versuch g’schwind, das richtig zu verstehen: Du hast also meine Entwürfe kopiert und diese Kopien an ein Modelabel in der Stadt g’schickt? Und von dieser Firma ist jetzt jemand hier in St. Johann?«

Leonhard nickte. »So schaut’s jedenfalls aus. Und … Moment mal, ich glaub, da hinten kommt er schon. Ja, das ist sein Wagen.« Er deutete in die entsprechende Richtung. »Ich denk, es ist bestimmt besser, wenn ich jetzt von der Bildfläche verschwinde. Ich hoff’ nur, du bist net bös’ auf mich, ich hab’ wirklich nur das Beste für dich gewollt und …«

»Böse?« Sie sah ihn kopfschüttelnd an. »Aber ich bin dir doch net bös’. Das, was du gemacht hast, das hätt’ sonst niemand für mich getan!« Rasch stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte dem Leonhard einen Kuss auf die Wange.

Der starrte die Tanja einen Augenblick lang versonnen an, dann machte er sich strahlend auf den Weg zurück zum elterlichen Hof.

*

Derweil beobachtete Tanja, wie der schnittige Sportwagen näher kam.

Es handelte sich um ein Cabriolet, und hinter dem Steuer, das konnte sie nun erkennen, saß ein gut aussehender Mann. Er hatte kurzes schwarzes Haar, sein Gesicht war männlich markant, und auf seiner Nase trug er eine topmoderne und sicher unerschwinglich teure Sonnenbrille.

Er hielt nun direkt neben ihr an und beugte sich über den Beifahrersitz hinweg zu ihr herüber. »Grüß Gott, schöne Frau«, sagte er freundlich lächelnd, »können S’ mir wohl sagen, ob Sie vielleicht die Frau Tanja Brügger kennen?«

Tanja beschloss, sich zunächst einmal ahnungslos zu stellen, obwohl sie innerlich ganz aufgeregt war. »Ja, die kenn ich schon. Was wollen S’ denn von ihr? Und wer sind S’ denn überhaupt?«

Er machte eine abwinkende Handbewegung. »Ach, verzeihen Sie bitte, wo hab’ ich denn bloß meine Manieren? Mein Name ist Giovanni Cassandro. Ich arbeite nämlich für eine Modefirma, und da hätt’ ich gern einmal was Geschäftliches mit der Tanja besprochen.«

»Na, dann tun Sie’s doch einfach.«