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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Das schwerwiegende Missverständnis E-Book 2: Ein schmerzlicher Verzicht E-Book 3: Keine Zeit für Jasmin E-Book 4: Geliebtes Glückskind E-Book 5: Anke, du bist meine Mami! E-Book 6: Die Bewährungsprobe E-Book 7: Sie sind keine unartigen Gören E-Book 8: Zu jung, um Mutter zu ein E-Book 9: Auf dich wartet ein neues Leben E-Book 10: Kinderseelen weinen still
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Seitenzahl: 1440
Das schwerwiegende Missverständnis
Ein schmerzlicher Verzicht
Keine Zeit für Jasmin
Geliebtes Glückskind
Anke, du bist meine Mami!
Die Bewährungsprobe
Sie sind keine unartigen Gören
Zu jung, um Mutter zu ein
Auf dich wartet ein neues Leben
Kinderseelen weinen still
»Mami.« Heiko preßte seine zu Fäusten geballten Hände an den Mund. Es würgte ihn in der Kehle. Er hätte am liebsten geschrien. »Sie muß wiederkommen«, sagte er schließlich mit tränenerstickter Stimme.
Ulf Lenz, der Vater des siebenjährigen Jungen, wandte sich brüsk um. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß das nicht geht?«
»Mami kann doch nicht ewig da unten bleiben.« Jetzt kamen doch die Tränen.
»Heiko, deine Mutter ist tot.« Die Miene von Ulf Lenz war verschlossen und hart. »Wir haben uns doch schon darüber unterhalten. Du kannst dich doch noch an Omas Tod erinnern. Mami ist nur, genau wie sie, beim lieben Gott im Himmel.«
»Aber Mami war doch noch nicht so alt wie die Omi.« Heiko fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Er verstand, was sein Vater sagte, aber er wollte nicht, daß es wahr war. Seine Mutter gehörte doch zu ihm.
»Ich will zu Mami!« Der Junge drängte sich an seinem Vater vorbei und lief bis zum Rand des Grabes, in das man eben den Sarg hinuntergelassen hatte.
»Heiko!« Ulf Lenz machte einige Schritte, dann packte er seinen Sohn unsanft an der Schulter. »Habe ich dir nicht gesagt, daß du dich anständig benehmen sollst?«
»Mami, meine Mami!« Nun schrie der Kleine. Es sah aus, als wollte er sich in das Grab stürzen.
»Wirst du wohl aufhören!« Zornig schüttelte Ulf Lenz seinen Sohn.
»Nicht doch.« Der Pfarrer war herangekommen. »Weine nur, mein Junge. Das erleichtert.«
»Verzeihung, Herr Pfarrer. Heiko ist noch etwas klein. Er begreift noch nicht so recht, was geschehen ist.«
Irritiert sah der Pfarrer den Vater des Jungen an. Ging dieser so sehr in seinem eigenen Schmerz auf, daß er für seinen Sohn kein Verständnis hatte?
»Es ist nicht leicht, wenn man mit dem Tod konfrontiert wird, auch nicht für ein Kind.« Begütigend fuhr der Pfarrer dem Siebenjährigen durch das braune Haar. »Wir wollen jetzt gemeinsam für deine Mutter beten, und dann sprechen wir nochmals miteinander.«
Heiko preßte die Lippen zusammen. Er sagte kein Wort.
Kaum war der Pfarrer an seinen Platz zurückgegangen, zischte Ulf Lenz seinem Sohn zu: »Du hättest dich wenigstens bedanken können, wenn der Pfarrer schon so nett zu dir ist. Ich hoffe, du hältst nun in der nächsten Viertelstunde den Mund.«
Mit großen Augen sah Heiko zu seinem Vater empor. Warum war sein Vati denn so böse zu ihm?
Heiko senkte den Kopf. Seine Augen füllten sich schon wieder mit Tränen.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Die Stimme von Ulf Lenz klang scharf.
Heiko konnte nicht antworten. Er nickte nur.
Gleich darauf fuhr sein Vater ihn erneut an: »Willst du nicht deine Hände falten? Du kannst doch beten, oder?«
Gehorsam bewegte Heiko die Lippen, aber er konnte nicht sprechen. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Es ist für deine Mutter. Etwas lauter«, befahl Ulf Lenz leise.
»Ich… ich kann nicht. Bitte, Papi…« Heiko schniefte auf. »Mutti kann es ja auch nicht hören.«
»Pst, nicht so laut. Du störst schon wieder. Wenn du nicht still sein kannst, dann verlasse den Friedhof.«
Wortlos drehte sich Heiko um.
»Wohin willst du?« Ulf Lenz umspannte so fest den Arm seines Sohnes, daß es Heiko weh tat, aber er verzog sein Gesicht nicht.
»Ich gehe hinaus. Dann kann ich nicht mehr stören.« Heiko sagte es mit gesenktem Kopf. Im Grunde wartete er darauf, daß sein Vater ihn zurückholen würde, denn er sehnte sich nach einem lieben Wort, wäre gern in die Arme genommen worden, aber Ulf dachte gar nicht daran.
»Gut, aber warte beim Tor.« Ulf sah seinen Jungen unfreundlich an, dann ließ er ihn los und wandte sich ab.
Um Heikos Mundwinkel zuckte es. Er wollte etwas sagen, aber sein Vater beachtete ihn nicht mehr. Da drehte sich der Junge abrupt um und hetzte dem Ausgang zu.
Der Friedhofswärter, der gerade in der Nähe des Eingangs beschäftigt war, hob den Kopf. »He, wohin willst du?«
»Fort, weit fort!«
»Allein wird das wohl nicht gut gehen.« Der Mann legte die Schaufel weg und kam heran.
»Bist du nicht der kleine Lenz?« Mitleid schwang nun in seiner Stimme mit.
»Ich heiße Heiko.«
»Heiko, du kannst doch nicht weglaufen.« Der Mann legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Der Herr Pfarrer spricht doch erst die Grabrede.«
»Doch, ich kann.« Heiko schniefte auf. Ein trotziger Ausdruck trat in sein Gesicht. »Mein Papa hat es selbst gesagt.«
»Was hat dein Papa gesagt?« Der Mann hob Heikos Kopf an.
»Papa hat gesagt, ich kann gehen.«
»Aber doch nicht weit fort.«
»Das ist doch egal. Papa mag mich sowieso nicht mehr.«
»Wie kannst du das nur sagen!« Der Friedhofswärter, ein älterer Mann, strich Heiko über das Haar. Ihm tat der kleine Junge, der seine Mutter so unvermittelt durch einen Verkehrsunfall verloren hatte, sehr leid.
»Es stimmt aber«, beharrte Heiko. »Papa schimpft nur immer mit mir. Ich kann ihm gar nichts mehr recht machen.«
»Dein Papa ist nur traurig«, versuchte der alte Mann zu erklären.
Als Heiko verzweifelt den Kopf schüttelte, sagte der Friedhofswärter betont munter. »Komm mit mir, mein Junge. Wir wollen mal sehen, ob ich nicht etwas für dich habe.« Damit stapfte er zum Pförtnerhäuschen hinüber.
Heiko zögerte. Erst als der Mann sich umdrehte und rief: »Na, auf was wartest du denn? Was hast du lieber, Bonbons oder Schokolade?« setzte er sich in Bewegung.
»Ich mag gar keine Süßigkeiten«, sagte Heiko, als der Mann ihm die Tür zum Pförtnerhäuschen aufhielt. »Vielleicht haben Sie aber etwas zum Trinken?«
»Aber klar, mein Junge. Mal sehen, was da ist.« Der Mann öffnete den Kühlschrank. »Milch, Cola, Limo«, begann er aufzuzählen.
»Einen Schluck Limonade, bitte«, sagte Heiko höflich.
»Sofort, bitte gleich«, versuchte der Mann zu scherzen. Er hätte den Jungen so gern aufgeheitert, doch Heikos Gesicht blieb verschlossen.
»Danke.« Heiko nahm das Glas entgegen und leerte es. Dann fingerte er in seiner Hosentasche herum und holte ein Zweieurostück hervor. »Mein Taschengeld«, erklärte er. »Ich habe es mitgenommen. Vielleicht können Sie mir eine Büchse Limo verkaufen. Wenn ich fortlaufe, habe ich sicher bald wieder Durst.«
Der Friedhofswärter erschrak. Er erkannte, der kleine Kerl meinte es wirklich ernst. Er überlegte hin und her, schließlich sagte er: »Das kannst du nicht tun. Da wäre dein Papa sehr traurig.«
»Da irren Sie sich. Papa wäre froh. Jetzt, wo Mami tot ist, will er mich auch nicht mehr haben.«
»So ein Unsinn«, sagte der Mann und schüttelte den Kopf. »Gerade jetzt braucht dein Papi dich.«
»Das stimmt nicht. Er hat mich fortgeschickt. Ich soll beim Tor warten. Aber ich werde nicht warten. Auch ohne Limonade werde ich fortlaufen. Weit fort werde ich laufen, bis ans Ende der Welt.«
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Da würden dir bald die Füße weh tun.« Der Mann füllte Heikos Glas nochmals. Dabei überlegte er, wie er dem Jungen diese Idee ausreden konnte. Er verstand nur zu gut, daß dieser verzweifelt war.
»Ich muß ja nicht alles laufen«, meinte Heiko mit todernstem Gesicht. »Auf der Straße fahren viele Autos. Eins wird mich schon mitnehmen. Es ist mir egal, wohin.«
»Das glaube ich nicht. Alle Autofahrer wissen, daß so ein kleiner Junge wie du nicht allein fortfahren darf.«
»Bei mir ist es ganz etwas anderes«, beharrte Heiko. »Meine Mami ist tot, und Papi hat keine Zeit. Um mich kann sich sowieso niemand kümmern. Glauben Sie mir, es ist besser, wenn ich einfach weggehe. Papi wird darüber nur froh sein.«
Wie kam der Junge nur auf solche Gedanken? Der Friedhofswärter wunderte sich und sagte: »Heiko, ich glaube, darüber müssen wir uns noch unterhalten. Du bist noch zu klein, um solche Entscheidungen zu treffen. Wenn du nichts dagegen hast, dann begleite ich dich zum Tor.«
Heiko überlegte. Er musterte den Mann und fand, er sah so aus, als ob man mit ihm reden könnte. Also erwiderte er: »Mitkommen kannst du ja… ich meine, können Sie«, verbesserte er sich sogleich, »aber viel Zeit habe ich nicht. Ich muß gleich weiter.«
»Dann laß uns einmal zum Tor gehen«, schlug der Friedhofswärter vor. Er dachte an seine beiden Enkel, die beide älter waren als Heiko und in Hamburg lebten. Er war selten dazu gekommen, ernsthafte Gespräche mit ihnen zu führen. Er sah sie höchstens einmal im Jahr. Dieser Junge wartete jedoch auf ein Gespräch. Das spürte er instinktiv.
»Weißt du, Heiko, wenn du fortgehst, dann mußt du unter fremden Leuten leben, und das ist sicher nicht lustig.«
»Mit meinem Papi ist es auch nicht mehr lustig«, kam prompt die Antwort.
»Und was hältst du davon, daß ich mit deinem Papi spreche?«
Heiko hörte gar nicht mehr auf den Mann. Er sah auf das Auto, das eben in seiner Nähe gehalten hatte. Ein Mann stieg jetzt aus und ging auf die andere Straßenseite. Dort befand sich ein Kiosk.
»So ein Auto müßte mich mitnehmen.« Heiko seufzte.
»Das schlage dir gleich aus dem Kopf«, sagte der Friedhofswärter nun energisch. Er fühlte sich inzwischen für den Jungen verantwortlich. »Solche Leute nehmen dich ganz gewiß nicht mit. Das dürfen sie gar nicht.«
Trotzdem starrte Heiko noch immer zu dem Auto hin. Jetzt stieg auch noch eine Frau aus. Sie war dunkelhaarig, groß und schlank. Heiko verschlang sie fast mit den Augen. »Die ist sicher lieb. Sie sieht so aus wie meine Mami. Nicht wahr? Meine Mami war auch so hübsch.«
»Ich glaube fast, deine Mami war noch hübscher.« Der Friedhofswärter zog den Jungen an sich. Er wollte ihn trösten.
Mit einem heftigen Ruck befreite sich Heiko. »Nein, das stimmt nicht. Die da schaut aus wie eine Schauspielerin. Aber lieb war meine Mami schon.« Heikos Augen füllten sich wieder mit Tränen.
Der Friedhofswärter wagte es nicht mehr, nach dem Jungen zu greifen. Auch wußte er nicht, wie er ihn trösten sollte.
Heiko schluckte. »Ich will gar nicht weinen«, versicherte er. »Ich bin doch schon groß.« Er machte ein paar Schritte auf das Auto zu, hielt dann aber an.
»Ich glaube, die mögen Kinder«, sagte er zu dem Friedhofswärter. »Auch der Mann wird sicher nie so böse werden, wie mein Papa jetzt ist. Soll ich fragen, ob sie mich mitnehmen?«
»Heiko, das können sie nicht. Auch wenn sie lieb sind, können sie es nicht. Für sie bist du ein fremder Junge.«
»Sie haben recht. Zu fragen hat keinen Sinn.« Heiko streckte seinen Kopf vor. »Vielen Dank für die Limo. Ich werde dann hier auf meinen Papi warten.«
»Ich habe Zeit. Ich warte gern mit dir.« Der Friedhofswärter hätte dies auch zweifellos getan, aber wenige Minuten später wurde er von einem Friedhofsbesucher angesprochen und mußte diesen zu einem Grab begleiten.
Heiko war das egal. Die Hände am Rücken verschränkt, schlenderte er zu dem parkenden Auto. Das Auto interessierte ihn weniger als der Mann und die Frau, die daraus ausgestiegen waren und nun am Kiosk gegenüber standen und etwas tranken. Heiko ließ sie nicht aus den Augen. Er war überzeugt, daß sie lieb zu ihm sein würden. Vielleicht würde ihn sein Papi auch wieder liebhaben, wenn er nicht mehr bei ihm sein würde? Sicher würde der Papi ihn vermissen, aber damit er ihn vermißte, mußte er zuerst weg sein.
Nachdenklich nagte Heiko an seiner Unterlippe. Er sah, daß der Mann zahlte. Gleich würden die beiden wieder zu ihrem Auto zurückkehren und wegfahren. Das durfte nicht sein.
Ohne weiter zu überlegen, handelte Heiko. Er ging ganz nahe an das Auto heran, sah sich flüchtig um, griff dann blitzschnell nach der Türklinke der hinteren Tür und war erstaunt, als diese aufsprang.
Ein Blick zum Kiosk hinüber. Gleich würden sich der Mann und die Frau umdrehen. Heiko spürte es. Er zögerte nicht länger, sondern schlüpfte ins Auto. Hastig zog er die Tür zu. Vorsichtig hob er dann den Kopf und sah zum Kiosk hinüber. Der Mann und die Frau kamen bereits auf das Auto zu.
Heiko preßte die Lippen zusammen. Dann ließ er sich zwischen Vordersitz und Rücksitz auf den Boden fallen. Er hielt den Atem an, als die Autotüren geöffnet wurden.
*
»Können wir?« Alexander von Schoenecker, er war der Besitzer des Autos, lächelte seiner Frau zu.
Denise lächelte zurück. »Natürlich. Frau Rennert wartet auf mich. Ich muß noch nach Sophienlust, um Bericht zu erstatten.«
Alexander von Schoenecker, ein gutaussehender Mann mittleren Alters, schnitt eine Grimasse. »Jetzt verstehe ich deine Eile. Deshalb hast du nicht einmal Zeit zu einer gemütlichen Tasse Kaffee gehabt. Und da soll ich nicht eifersüchtig werden. Deine Liebe gilt Sophienlust und nicht mir.« Seine Augen blitzten. Man merkte ihm an, daß sein Vorwurf nicht allzu ernst gemeint war. Er liebte seine Frau über alles und war daher stets in Sorge, daß sie sich bei ihrer großen Aufgabe – der Verwaltung des Kinderheims Sophienlust – übernahm.
»Irrtum, mein Lieber. Es ist nur so, daß die Kinder mich brauchen.« Denise von Schoenecker lächelte glücklich. Sie erwiderte die Liebe ihres Mannes von ganzem Herzen.
»Glaubst du etwa, ich brauche dich nicht?« Ehe Denise es sich versah, hatte Alexander nach ihrer Hand gegriffen und diese an die Lippen gezogen. »Ich glaube, ich brauche dich am allermeisten. Wir haben einfach zu wenig Zeit füreinander.« Seine Stimme klang jetzt ernst. »Durch dich hat mein Leben wieder einen Sinn bekommen. Nie hätte ich dies gedacht.«
Denise legte ihre Wange in seine Handfläche. Diese Geste sagte mehr aus als alle Worte. Die beiden waren eine Einheit.
»Es ist schön, wenn uns unsere Aufgabe in die gleiche Richtung führt.«
»Dies sollte viel öfter der Fall sein.« Alexander schenkte seiner Frau noch ein Lächeln, dann startete er den Wagen. Auch er hatte für den Abend noch einiges vor. Er war ein vielbeschäftigter Mann, denn er verwaltete das Familiengut Schoeneich selbst.
Das Kinderheim Sophienlust gehörte Denises sechzehnjährigem Sohn Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick. Es war das Erbe von Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, die bestimmt hatte, daß aus dem alten Herrenhaus ein Heim für elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder gemacht werden solle. Denise verwaltete das Kinderheim für ihren Sohn und verbrachte die meiste Zeit des Tages dort. Auch ihre Kinder, Dominik und Henrik, ihr Jüngster, waren viel in Sophienlust. Denise hatte in Sophienlust zwar viele hilfreiche Hände, wie Frau Rennert, die Heimleiterin, und Schwester Regine, die Kinder- und Krankenschwester, aber sie selbst war der gute Geist von Sophienlust.
Alexander von Schoenecker war zügig gefahren und warf nun einen Blick in den Rückspiegel. Er hatte ein Martinshorn gehört. Jetzt sah er auch den Polizeiwagen, der mit Blaulicht herangeschossen kam. Vorschriftsmäßig drosselte er das Tempo und fuhr an den Straßenrand heran.
»Du, ich glaube, das gilt uns«, sagte er nach einigen Sekunden erstaunt. Der Polizist gab Zeichen und setzte sich dann vor das Auto von Alexander von Schoenecker.
Alexander bremste ab.
»Erforsche dein Gewissen, mein Lieber. Welche Verkehrsübertretung hast du begangen?« fragte Denise.
»Ich bin mir keiner bewußt. Lassen wir uns überraschen.« Alexander kurbelte das Autofenster herab und wartete auf den Polizisten.
»Was ist denn das?« Erstaunt hob Denise den Kopf. Sie hatte das Gefühl gehabt, unterdrücktes Schluchzen zu hören.
Alexander konnte nicht antworten, denn der Polizist war bereits an das Auto herangetreten und grüßte. Er beugte sich etwas vor und sagte: »Entschuldigen Sie, haben Sie nicht vor kurzem bei einem Friedhof gehalten?«
»Bei einem Friedhof?« Verständnislos sah Alexander seine Frau an. »Wir hielten in der Nähe eines Kioskes und tranken dort ein Mineralwasser. Das habe ich ordnungsgemäß bezahlt.«
»Einen kleinen Jungen haben Sie nicht gesehen?« Der Polizist versuchte ins Auto zu sehen.
»Moment!« Denise ergriff den Arm ihres Mannes. »Höre doch! Mir war vorhin schon so, als hätte ich ein Schluchzen gehört.
»Das ist doch unmöglich.« Alexander und Denise drehten sich gleichzeitig um, um nach hinten zu sehen. Da sahen sie den Jungen. Er lag ganz flach auf dem Bauch. Selbst das Gesicht hatte er an den Boden gepreßt.
Auch der Polizist hatte Heiko nun entdeckt. Er öffnete die hintere Tür. »Da ist ja der kleine Ausreißer. Da hat sich der Friedhofswärter also doch nicht geirrt. Er hat uns Ihren Wagen genau beschrieben.«
Heiko sah ein, daß es keinen Sinn hatte zu leugnen. Er kam langsam hoch. Den Blick gesenkt, stammelte er: »Er ist ein Verräter.«
»Einfach in ein fremdes Auto einzusteigen. Was ist dir da nur eingefallen? Du verdienst eine Tracht Prügel«, grollte der Polizist. Die Augen, mit denen er Heiko musterte, blickten alles eher als freundlich.
»Bitte, überlassen Sie das mir«, bat Denise. Sie hatte sofort erkannt, daß der Junge völlig verzweifelt war. Sie wartete die Antwort des Polizisten nicht ab, sondern stieg nach hinten zu Heiko ein.
»Du wolltest also ausreißen?« fragte sie.
Heiko nickte. Noch wagte er es nicht, seinen Blick zu heben.
»Wohin wolltest du?« fragte Denise weiter. Sie streckte ihre Hand aus, und Heiko ließ zu, daß sie ihm über das Haar fuhr. Freundlich lächelte sie dem Jungen zu, dann wiederholte sie ihre Frage.
»Weg, weit weg. Sie fahren doch weit weg?«
Der Polizist streckte seinen Kopf durch das Fenster. »Ich bringe dich jetzt zurück, mein Junge. Das Weitere kann dann dein Vater mit dir klären.«
»Nein, bitte nicht!« Ungestüm warf sich Heiko an Denises Brust und klammerte sich an sie. »Ich will nicht! Ich will bei dir bleiben. Du bist sicher so lieb, wie meine Mami war.«
»Die Mutter des Jungen ist gestorben. Sie wurde heute beerdigt«, brummte der Polizist. Er schien nun doch Mitleid mit dem Kleinen zu bekommen.
»Lassen Sie meine Frau nur machen«, schaltete sich Alexander ein. »Sie versteht es, mit Kindern umzugehen.« Er stieg aus, bot dem Polizisten eine Zigarette an und ging dann mit ihm zu dem Streifenwagen hinüber, in dem der andere Beamte hinter dem Steuer saß. Er wollte seiner Frau die Möglichkeit geben, sich ungestört mit dem Jungen zu unterhalten.
»Ich habe schon Bescheid gegeben, daß wir den Jungen gefunden haben«, meinte der Mann hinter dem Steuer. »Wir sollen ihn zurückbringen.«
Sein Kollege zuckte die Achseln. »Der Junge will nicht. Die Frau beruhigt ihn. Wie ist übrigens Ihr Name?« wandte er sich an Alexander. »Wir müssen ein Protokoll aufnehmen.«
Während Alexander die Angaben zu seiner Person machte, versuchte Denise, Heiko, dessen Namen sie inzwischen erfahren hatte, zu beruhigen. Auch jetzt bewährte sich wieder einmal ihre Gabe, mit Kindern umgehen zu können. Schon nach wenigen Minuten hatte sie Heikos Vertrauen gewonnen.
»Papa mag mich nicht mehr. Er schaut mich immer so böse an. Nur deswegen will ich fort.«
»Und du glaubst nicht, daß du dich irrst?« fragte Denise. »Weißt du, dein Papi ist sicher sehr traurig über den Tod deiner Mami. Da kann er einfach nicht lachen und fröhlich sein.«
»Ich bin auch nicht fröhlich«, sagte Heiko und sah Denise ernst an. »Papi und ich könnten aber zusammen traurig sein.«
Darauf etwas zu sagen, fiel Denise schwer. Hier hatte das Schicksal wieder einmal zugeschlagen. Offensichtlich übersah Heikos Vater in seiner Trauer, daß sein Junge jetzt doppelte Liebe und Fürsorge benötigte.
»Besser wäre es natürlich, wenn ihr zusammen fröhlich wärt. Darüber würde sich deine Mami sicher am meisten freuen.« Denise zog Heiko an sich. »Das ist aber jetzt nicht einfach. Zum Glück bist du ja schon groß und vernünftig. Du kannst deinem Papi helfen, wieder fröhlich zu werden.«
»Papi läßt sich nicht helfen.« Heiko sagte es mit Überzeugung. »Ich wollte ja lieb sein, aber ich kann Papi nichts recht machen. Immer schimpft er, und dann schickt er mich weg. Er will mich gar nicht sehen.«
»Du mußt Geduld haben. In einigen Tagen wird sich das wieder geändert haben.«
»Du… Sie meinen, ich soll zu Papi zurückkehren?« Vertrauensvoll sah Heiko Denise an.
»Das meine ich. Du mußt deinem Papi jetzt zeigen, wie groß und vernünftig du schon bist.«
»Sie sind lieb.« Auf Heikos Gesicht erschien das erste zaghafte Lächeln.
»Willst du nicht du zu mir sagen?« bot Denise ihm an. »Alle Kinder sagen du zu mir. Sie nennen mich Tante Isi.«
»Das klingt lieb. Hast du viele Kinder?«
Denise erzählte Heiko von Sophienlust, dann kam sie wieder auf das Naheliegende zu sprechen. »Jetzt wird es aber Zeit, daß du dich zu deinem Papi zurückbringen läßt. Er wird schon auf dich warten.«
»Er wird sehr, sehr böse sein. Mir wird er auch nicht glauben, wenn ich sage, daß ich lieb sein will.« Heikos Verzweiflung kehrte zurück. »Er wird gleich schimpfen. Dabei bin ich in dein Auto eingestiegen, weil du fast so aussiehst wie meine Mami. Kannst du mich nicht doch mitnehmen? Wenn du schon so viele Kinder hast, dann ist doch dort auch noch Platz für mich. Ich würde wirklich ganz lieb sein.« Heiko kämpfte mit den Tränen. Nur zu gern ließ er zu, daß Denise ihn tröstend in die Arme nahm.
»Heiko, das geht nicht.« Den Jungen liebevoll an sich gezogen, versuchte Denise ihm erneut den Grund zu erklären.
»Ich habe aber Angst. Papi ist nicht mehr so, wie er früher war.«
Denise, die gewohnt war, Kindern zu helfen, und die auch schon öfters mit glücklicher Hand in das Schicksal Erwachsener eingegriffen hatte, entschied sich spontan. »Ich fahre mit dir zurück und spreche mit deinem Papi. Vielleicht erlaubt er dann, daß du uns einmal in Sophienlust besuchst.« Dabei dachte sie daran, daß der Vater des Jungen sicher auch Hilfe nötig hatte.
»Das willst du tun?« Heikos Augen strahlten auf. Impulsiv schlang er seine Arme um Denises Hals. »Jetzt weiß ich, daß du genauso lieb bist wie meine Mami.«
Mit verlegenem Gesicht trat der Polizist wieder an das Auto heran. »Frau von Schoenecker, können wir jetzt? Es wurde bereits per Funk nachgefragt. Herr Lenz scheint sehr ungeduldig zu sein. Sein Sohn ist ja auch direkt vom Begräbnis weggerannt.«
»Papi hat mich weggeschickt«, sagte Heiko.
Der Polizist zuckte die Achseln. Er schenkte Heiko nur einen kurzen bedauernden Blick.
»Wir bringen den Jungen selbst zurück. Nicht wahr, Alexander?« Bittend sah Denise ihren Mann an. »Ich möchte mit Herrn Lenz sprechen.«
»Gut.« Alexander wußte, daß es keinen Sinn hatte, seiner Frau zu widersprechen. Wenn sie es für notwendig hielt zu helfen, dann fügte er sich.
Alexander wandte sich an den Polizisten. »Wir wenden und fahren hinter Ihnen her. Einverstanden?«
»Und der Junge?« Der Polizist war unschlüssig.
»Er kann doch mit uns fahren. Oder willst du in einem Polizeiauto fahren?« Alexander sah den Kleinen an.
Heikos große dunkle Augen blickten ängstlich. »Ich will bei Tante Isi bleiben.«
Alexander lächelte unwillkürlich. Da hatte seine Frau wieder einmal ein Kinderherz erobert. Er nickte dem Polizisten zu, der zu seinem Kollegen zurückging, ein paar Worte mit ihm wechselte und dann zu ihm in den Wagen einstieg.
Wenig später hatten beide Wagen gewendet und fuhren zurück. Denise, die hinten sitzen geblieben war, spürte, wie sich Heiko versteifte.
»Du mußt keine Angst haben. Du wirst sehen, wenn wir uns das nächste mal treffen, werden wir über unsere heutige Begegnung lachen.«
»Und wenn ich dich nicht besuchen darf? Allein kann ich doch nicht kommen, und Papi wird keine Zeit haben. Er muß doch Schuhe verkaufen.«
»Dann komme ich dich besuchen. Du wohnst doch in Wiesbaden, oder?«
»Ja.« Heiko nickte eifrig. »Du kannst mich ganz leicht finden. Wir haben ein Schuhgeschäft. Es ist in der Nähe des Kurparks. Mit großen Buchstaben steht Lenz darüber. Ich wohne direkt über den Buchstaben. Da ist mein Zimmer.«
»Das finde ich sicher«, versicherte Denise. Sie sah hoch, denn ihr Mann hatte angehalten.
Heiko preßte sich enger an Denise. »Das ist mein Vater«, sagte er und schluckte.
Denise sah zu dem Mann hin, der an das Polizeiauto, das vor ihnen gehalten hatte, herangetreten war. Jetzt wandte er den Kopf und sah zu ihnen herüber.
»Dann wollen wir mal.« Denise nahm Heikos Hand und stieg zusammen mit dem Jungen aus.
»Heiko!« Die Stimme von Ulf Lenz klang streng. Mit raschen Schritten kam er heran. »Was hast du nur jetzt schon wieder getan? Du steigst einfach in ein fremdes Auto ein.« Er sah Denise flüchtig an. »Ich bitte für meinen Sohn um Entschuldigung.«
»Das ist nicht nötig. Ich habe von Heiko gehört, daß er seine Mutter verloren hat. Mein Beileid.« Denise streckte Ulf ihre Hand hin.
Sekundenlang war Ulf irritiert. »Danke«, sagte er dann kühl. Flüchtig berührte er Denises Hand. »Hättest du nicht am Tor warten sollen?« wandte er sich sofort wieder an Heiko. »Nun gut, wir sprechen zu Hause darüber.« Er ergriff die Hand seines Sohnes, wollte Heiko einfach fortziehen.
»Nein, nein!« Heiko stemmte sich fest auf den Boden. »Du mußt doch mit Tante Isi sprechen. Tante Isi, bitte, bitte!« Er wandte den Kopf. Tränen rannen ihm über das Gesicht.
»Herr Lenz, haben Sie noch einen Augenblick Zeit? Heiko hatte heute einen schweren Tag.«
»Glauben Sie etwa, ich nicht? Mit wem habe ich überhaupt das Vergnügen?«
Denise stellte sich vor. Sie wollte noch etwas sagen, aber Ulf unterbrach sie. »Entschuldigen Sie, Frau von Schoenecker, aber was Sie sagen, geht mich nichts an. Es tut mir leid, daß mein Sohn Sie belästigt hat.«
»Siehst du, ich habe dir gesagt, daß mein Papi böse ist. Mit ihm kann man nicht sprechen.« Heiko war es endlich gelungen, sich von der Hand seines Vaters zu befreien. Empört sah er seinen Vater an. »Tante Isi ist ganz lieb. Deswegen bin ich auch in ihr Auto eingestiegen. Tante Isi, du mußt mich mitnehmen.«
»Aber Heiko, hast du nicht versprochen, vernünftig zu sein?« Denise fuhr dem Jungen zärtlich durch das Haar. »Verzeihen Sie, wenn ich mich in Ihre Angelegenheit einmische, aber Ihr Junge ist nun einmal in mein Auto eingestiegen.« Man sah Denise an, daß sie sich nicht abweisen lassen würde. Ob Herr Lenz es hören wollte oder nicht, sie erzählte ihm von Sophienlust und davon, daß sie Heiko dorthin eingeladen hatte.
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Ulf steif. »Aber Sie werden sicher einsehen, daß ich im Moment keine Pläne machen kann.«
»Aber Tante Isi darf mich doch wenigstens besuchen?« stieß Heiko hervor. Er konnte einfach nicht länger still sein. Es war genau so gekommen, wie er vorausgesehen hatte.
»Wenn Frau von Schoenecker dazu Zeit findet…« Ulfs Gesicht wurde noch abweisender.
»Bitte, bitte, Tante Isi, du hast es versprochen.«
»Und ich halte mein Versprechen auch.« Denise beugte sich über Heiko und küßte ihn auf die Stirn. »Bis bald, mein Junge! Und denke daran, es ist auch für deinen Papi nicht leicht«, fügte sie leise hinzu.
*
»Wollen Sie nicht doch noch etwas unternehmen?« fragte Ingrid Stephan. Vorwurfsvoll sah sie dabei ihren Chef an.
»Was soll ich denn tun?« Ulf Lenz zuckte die Achseln. »Die Polizei ist verständigt.«
War er wirklich so gleichgültig, wie er tat? Ingrid verstand diesen Mann nicht mehr. Dabei hatte sie ihn bisher stets geschätzt.
Ingrid bemühte sich, ruhig zu bleiben. Nach einigen Minuten wandte sie sich erneut an Ulf und fragte: »Haben Sie denn gar keinen Anhaltspunkt, wohin Heiko gegangen sein könnte?«
»Er war in der letzten Zeit ständig unfolgsam. Ich mußte ihm Hausarrest geben, weil er nie pünktlich von der Schule nach Hause kam.«
»Ihm fehlt die Mutter.«
»Das entschuldigt seinen Ungehorsam nicht. Jetzt sehe ich ein, daß ich nicht streng genug war. So geht es nicht weiter. Wenn er in Zukunft nicht hören will, dann muß er fühlen.«
Ingrid erschrak. Solche Worte hatte Ulf Lenz sonst nie gebraucht. »Ulf, der Junge ist fort! Es kann ihm weiß Gott was zugestoßen sein.« Sie selbst machte sich große Sorgen um das Kind und wollte an die Gleichgültigkeit des Vaters einfach nicht glauben.
Eine Kundin kam in den Laden und Ulf wandte sich ihr, ohne ein Wort zu sagen, zu, bediente sie zuvorkommend. Ingrid verstand das nicht. Nun war es gleich Mittag, und niemand hatte Heiko, seit er am Morgen das Haus verlassen hatte, gesehen. Fest stand nur, daß er nicht in die Schule gegangen war. Ulf Lenz hatte den Schulranzen am Vormittag im Lagerraum gefunden.
Neue Kunden kamen. Ulf Lenz rief seiner Verkäuferin zu: »Ingrid, bitte seien Sie so gut und helfen Sie. Es ist noch nicht Mittag.«
Es war bereits zwölf Uhr, und normalerweise schloß Herr Lenz zu diesem Zeitpunkt seinen Laden. Doch jetzt schien er nicht daran zu denken. Ingrid schluckte einen diesbezüglichen Hinweis hinunter. Sie versuchte, auf die Wünsche zweier Kundinnen einzugehen, begleitete sie bis zur Ladentür und schloß hinter ihnen ab.
»Was ist jetzt los? Ich denke nicht daran, mein Geschäft zu schließen. Mein Sohn ist sieben Jahre alt. Sie erwarten doch nicht von mir, daß ich seine Launen ernst nehme?«
»Launen! Ich verstehe das nicht. Heiko ist kein launisches Kind.« Empört sah Ingrid ihren Arbeitgeber an.
»Sie müssen es ja wissen.« Ulf Lenz sah auf die Uhr. »Mittagspause«, sagte er dann. »Wir öffnen pünktlich um fünfzehn Uhr.«
»Und was wollen Sie inzwischen tun?«
»Ich werde die Lagerbestände nachsehen. Sicher ist wieder einiges zu bestellen.«
»Doch nicht jetzt! Ulf, was ist zwischen Ihnen und Ihrem Sohn vorgefallen?« Ingrid konnte sich diese Frage erlauben. Durch ihren Freund, Florian Becker, hatte sie bisher auch privat mit der Familie Lenz verkehrt. Florian war ein Schulfreund von Ulf.
»Nichts – oder doch! Meine Frau ist vor zehn Tagen tödlich verunglückt, falls Sie das vergessen haben sollten.« Brüsk wandte sich Ulf ab. Er wollte sein Geschäft durch die Hintertür verlassen, aber Ingrid eilte ihm nach und faßte ihn am Arm.
»Bitte, Ulf, denken Sie nach. Vielleicht hat Heiko irgend etwas gesagt? Hat er einen Freund?«
»Darum kümmert sich bereits die Polizei. Sie können sich denken, daß dies alles für mich nicht angenehm ist. Schon nach dem Begräbnis mußte ich Heiko durch die Polizei zurückholen lassen.«
Ingrid wollte Ulf ins Gesicht schreien, daß es nicht um ihn, sondern um den Jungen gehe, aber sie erkannte, daß sie damit nichts erreichen würde. Es sah fast so aus, als hätten sich Ulfs Gefühle mit dem Tod seiner Frau völlig verwandelt. So schluckte Ingrid ihren ersten Zorn hinunter, denn sie empfand Mitleid mit Vater und Sohn.
»Ich möchte gern helfen«, versuchte sie es noch einmal. »Kennt Heiko jemanden, zu dem er hätte gehen können?«
»Ich weiß es nicht. Das hätten Sie meine Frau fragen müssen. Sie hat Heiko ja vergöttert.«
Erstaunt sah Ingrid ihrem Chef ins Gesicht. Meinte er das im Ernst? Diesen Eindruck hatte sie nie gehabt. Im Gegenteil, Ulf selbst hatte seinem Sohn stets viel nachgesehen.
Spöttisch verzogen sich Ulfs Lippen. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen keine andere Antwort geben kann. Mit Heiko konnte man in den letzten Tagen kaum noch reden. Immer wieder hielt er mir diese Tante Isi vor.«
»Sie meinen Frau von Schoenecker?« fragte Ingrid. Da sie und ihr Freund zu den Trauergästen gezählt hatten, war ihnen Heikos damaliges Ausreißen nicht verborgen geblieben. Sie hatte es genausowenig verstanden wie das jetzige Ausreißen.
»Richtig. Die Frau muß Heiko den Kopf völlig verdreht haben. Sie hat ihn eingeladen, und nun bettelte er die ganze Zeit, daß ich ihn nach Sophienlust bringen solle.«
Ingrid horchte auf. Davon hatte sie nichts gewußt.
»Gestern hat er keine Ruhe gegeben, bis ich ihm auf der Landkarte gezeigt habe, wo Wildmoos – zu diesem Ort gehört das Kinderheim – liegt.«
»Ulf, wenn Heiko sich nun allein auf den Weg nach Wildmoos gemacht hat?«
»Lächerlich! Dazu ist er viel zu klein.« Ulf machte eine abwehrende Bewegung.
»Er hat bereits einmal versucht, mit einem Auto wegzukommen«, erinnerte Ingrid ihn. Sie verstand seine Ruhe immer weniger.
»Ich habe ihm strengstens verboten, das nochmals zu tun.« Für Ulf war das Gespräch beendet. Er wollte gehen, aber Ingrid hielt ihn erneut fest.
»Heiko ist ein Kind, Ulf. Wer weiß, was in seinem Kopf vorging. Wenn er unbedingt in dieses Kinderheim wollte…« Ingrid sprach nicht weiter, denn Ulfs Blick war eisig. Unwillkürlich dachte sie daran, wie Heiko zumute sein mußte, wenn sein Vater ihn so ansah.
»Ich hätte ihn schon hingefahren. Ich überlege sowieso, ob ich ihn nicht in ein Heim geben soll. Sehen Sie mich nicht so entsetzt an. Was soll ich sonst mit ihm tun?«
»In ein Heim! Aber da muß es doch noch eine andere Lösung geben. Ich würde mich gern um Heiko kümmern. Er kann doch jederzeit in das Geschäft kommen.« Ingrid konnte ihr Entsetzen nicht verbergen.
»Es ist nur so ein Gedanke. Sie denken also, daß Heiko versucht hat, wieder in ein Auto einzusteigen? Wenn ich ehrlich sein soll, daran habe ich auch schon gedacht.«
»Und Sie haben nichts getan?« Völlig verwirrt sah Ingrid ihren Chef an. Sie verstand ihn immer weniger.
»Sie vergessen, ich habe die Polizei verständigt. Aber bitte, sagen Sie mir doch, was ich sonst noch hätte tun können.«
Ingrid überlegte. Sie hatte sich das bereits den ganzen Vormittag gefragt. »Vielleicht sollten Sie in Sophienlust anrufen«, schlug sie nach einiger Zeit vor.
»Ich weiß nicht, was das bringen soll. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß es Heiko gelingt, bis dorthin zu kommen? Wildmoos liegt im Landkreis Maibach.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Ingrid statt einer Antwort und senkte den Blick.
»Gut, ich werde in diesem Kinderheim anrufen. Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.«
»Ich habe keinen Hunger. Kann ich nicht mitkommen?«
»Wenn Sie wollen…« Ulf Lenz trat zur Seite und ließ Ingrid den Vortritt.
An der Wohnungstür zögerte Ingrid. Seit dem tödlichen Unfall von Sonja Lenz hatte sie die Wohnung nicht mehr betreten. Sie hatte sich um Heiko kümmern wollen, doch Ulf hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß dies nicht nötig sei.
»Gehen Sie nur weiter. Sie kennen sich doch aus«, sagte Ulf. »Was halten Sie von einer Tasse Kaffee? Es wäre nett, wenn Sie uns eine aufbrühen würden.«
»Selbstverständlich.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Ingrid in die Küche. Sie stellte nicht nur die Kaffeemaschine an, sie begann auch das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Sie hatte diese Arbeit fast beendet, als Ulf die Küche betrat.
»Sie haben recht. Heiko scheint wirklich nach Sophienlust zu wollen. Es fehlt die Landkarte, die ich gestern zusammen mit ihm angeschaut habe. Er muß sie mitgenommen haben.«
Ingrid wurde bleich. Doch ehe sie sich dazu äußern konnte, fuhr Ulf mit gleichgültiger Miene fort: »Ich werde nun doch Frau von Schoenecker anrufen müssen. Dieser Gedanke gefällt mir nicht besonders.« Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Küche.
Ingrid spürte eine Gänsehaut. Wieder hatte sie das Gefühl gehabt, einem völlig anderen Menschen gegenüberzustehen. Ein Eispanzer schien sich um Ulfs Herz gelegt zu haben. Ingrid nahm sich vor, alles zu tun, damit dieser wieder zum Schmelzen kam.
Automatisch begann sie Tassen, Zuckerdose und Milch auf ein Tablett zu stellen und trug es hinüber ins Wohnzimmer. Die Tür zu Ulfs Arbeitszimmer war offen. So hörte sie, wie Ulf bat, Frau von Schoenecker sprechen zu können.
Gleich darauf rief er Ingrid zu: »Seien Sie so nett und bringen Sie mir den Kaffee hierher. Ich muß warten. Frau von Schoenecker wird gesucht. Es kann sein, daß sie nicht mehr im Haus ist.«
Ingrid kam und stellte das Tablett auf den Schreibtisch. Fragend sah sie Ulf an. »Was ist mit Heiko?«
»Ich habe noch nicht nach ihm gefragt. Eine Frau Rennert war am Apparat. Sie stellte sich als Heimleiterin vor.« Ulf nahm die Hand von der Muschel, denn am anderen Ende war wieder eine Stimme zu hören.
»Ja, ich bin noch am Apparat… Ich warte… nein, ich möchte mit Frau von Schoenecker selbst sprechen. Wenn dies nicht möglich ist, dann rufe ich später nochmals an.«
Ulf sah zu Ingrid hinüber. Sie machte ihm ein Zeichen, doch er schüttelte nur den Kopf.
Ingrid war nahe daran, ihm den Hörer aus der Hand zu nehmen. Sie hielt die Ungewißheit kaum noch aus. Unwillkürlich atmete sie auf, als sie Ulf sagen hörte: »Guten Tag, Frau von Schoenecker. Mein Name ist Lenz.«
Allem Anschein nach schien sich Frau von Schoenecker an den Namen zu erinnern, denn Ulf lauschte einige Sekunden lang. Dann sagte er: »Bis heute früh ging es ihm noch gut. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Dies ist auch der Grund, warum ich bei Ihnen anrufe. Es tut mir leid, daß ich Sie schon wieder belästigen muß, aber es hat den Anschein, daß Heiko versucht, auf eigene Faust zu Ihnen zu kommen.« Ulf räusperte sich, bevor er fortfuhr: »Es ist mir sehr unangenehm, Frau von Schoenecker. Das können Sie mir glauben.«
Fordernd streckte Ulf jetzt die rechte Hand aus, während er mit der linken den Hörer ans Ohr hielt. Ingrid verstand. Sie brachte ihm eine Tasse Kaffee. Ulf nahm einen Schluck, dann sagte er: »Selbstverständlich ist die Polizei verständigt. Nett, daß Sie helfen wollen, aber Sie können wirklich nichts tun.«
Ulf lauschte nun wieder. Sein Gesichtsausdruck wurde dabei unwillig. »Sobald Heiko gefunden ist, gebe ich Ihnen Bescheid. Falls Sie zuerst etwas hören, bitte ich Sie, das gleiche zu tun. Für den Moment danke ich Ihnen.« Ein kurzer Gruß, und Ulf legte auf.
*
»Nick, ich fahre nach Wiesbaden.« Denise von Schoenecker sah bei diesen Worten ihren sechzehnjährigen Sohn an. »Ich bin nur schnell hergekommen, um das Nötigste einzupacken. Vielleicht muß ich über Nacht bleiben.«
»Vati hat dies schon angedeutet.. Ich habe ihn auf der Koppel getroffen. Deswegen bin ich hergekommen. Kann ich irgend etwas für dich tun?«
»Ich bekomme heute nachmittag Besuch, aber den übernimmt Frau Rennert. Wegen Heiko habe ich inzwischen die Polizei hier verständigt. Vielleicht hat der Junge es geschafft und ist bis hierhergekommen.« Denise seufzte und schloß ihr kleines Köfferchen. »Herr Lenz war nicht begeistert, als ich ihm das mitteilte. Daher habe ich ihm nichts von meiner Absicht gesagt, nach Wiesbaden zu kommen. Ich werde aus dem Mann einfach nicht klug. Fast könnte ich meinen, Heiko hat recht. Er hat nämlich behauptet, daß sein Papi ihn nicht mehr mag.«
»Der arme Junge.« Nick sagte es voll Empörung. »Gerade jetzt würde er Liebe brauchen. Ich bin aber ganz sicher, daß er sie nicht bekommt, sonst hätte er nicht erneut auszureißen versucht.« Mit beiden Händen fuhr sich Nick durch sein schwarzes Haar. »Diesem Herrn Lenz müßte man einmal gründlich die Meinung sagen. Ich hoffe, daß du es tun wirst.«
»Ich weiß nicht…« Denise sah ihren Sohn ernst an. »Du darfst nicht vergessen, Herr Lenz hat seine Frau verloren. Das hat ihn sicher völlig aus der Bahn geworfen.«
»Nein, Mutti, das ist keine Entschuldigung.« Entschieden schüttelte Nick den Kopf. »Er hat ein Kind, und das darf er keine Sekunde lang vergessen.«
Wie stets, ergriff Nick auch diesmal die Partei des Kindes. Er war sehr stolz auf das Kinderheim und handelte auch sehr oft schon selbständig, wenn es darum ging, einem Kind zu helfen. »Du mußt etwas tun«, fuhr er nun fort. »Fest steht, daß dieser Junge unglücklich ist. Er wollte zu dir.«
»Ich werde versuchen, mit Herrn Lenz zu sprechen. Er machte keinen schlechten Eindruck auf mich, auch wenn er sehr abweisend war.«
»Am besten wäre es, wenn du Heiko mitbringen würdest. Bei uns würde er über den Tod seiner Mutter am schnellsten hinwegkommen.«
»Und sein Vater? Nein, Nick, das geht nicht. Auch geht Heiko bereits in die Schule. Ich kann ihn nur wieder einladen, einmal ein Wochenende bei uns zu verbringen.«
»Du wirst es schon richtig machen. Im Moment können wir aber nur hoffen, daß dem Jungen nichts passiert ist. Du rufst doch an, sobald du etwas weißt? Ich werde nach Sophienlust fahren und dort warten.«
Denise konnte nicht antworten, denn die Tür wurde stürmisch aufgerissen. Henrik, das Nesthäkchen der Familie von Schoenecker, polterte herein.
»Mensch, Mutti, du willst fortfahren! Zuerst kommst du nicht zum Mittagessen, und jetzt willst du auch noch stillschweigend verschwinden. Was ist denn hier eigentlich los?« Vorwurfsvoll sah der Neunjährige von seiner Mutter zu Nick hin. »Ich erfahre wohl überhaupt nichts mehr?«
»Ich hätte dich schon noch informiert, Bruderherz«, meinte Nick grinsend. Im Grunde konnte er noch genauso unbekümmert sein wie jeder andere Junge in seinem Alter.«
»Noch! Wann wäre das wohl gewesen?« Henriks graue Augen blitzten. Im nächsten Moment hing er am Hals seiner Mutter. »Mutti, bitte, nimm mich mit«, bettelte er. »Ich habe meine Schulaufgaben schon fast gemacht.«
»Henrik, das geht nicht. Mutti hat es eilig. Sie weiß auch nicht, wann sie zurückkommt«, kam Nick seiner Mutter zu Hilfe. »Es geht um den kleinen Jungen, der sich vor kurzem in Vatis Wagen versteckt hatte. Du erinnerst dich doch noch? Mutti und Vati haben es uns erzählt.«
Henrik nickte. »Was ist mit ihm? Ich finde, er hatte Mut.«
»Er ist wieder ausgerückt«, sagte Nick ernst. »Ob es diesmal wieder so gut geht, kann man noch nicht sagen.«
»Mutti, du mußt ihm helfen.«
»Genau das will Mutti ja tun. Deswegen fährt sie nach Wiesbaden.«
»Prima, Mutti. Auch wenn ich den Jungen nicht kenne, lasse ich ihn schön grüßen.«
»Wichtiger ist, du läßt Mutti endlich los, damit sie fahren kann«, sagte Nick trocken.
»Ich werde sie wohl noch bis zum Auto begleiten dürfen.« Henrik schnitt seinem großen Bruder eine Grimasse, dann schnappte er sich das Köfferchen. »Ich trage es für dich bis zum Auto«, versicherte er.
»Das ist lieb von dir. Du bist schon ein richtiger Kavalier.« Denise fuhr Henrik über den stets etwas wilden Haarschopf. »Dann wollen wir.« Als erste verließ sie das Zimmer.
Henrik folgte ihr auf dem Fuße, warf Nick aber zuvor noch einen triumphierenden Blick zu, den dieser jedoch nicht krumm nahm. Er wußte, daß Henrik sich gern wichtig machte, im Grunde aber sehr hilfsbereit war.
Vor dem Wohnhaus, einem schloßartigen Bau, stand ihr Auto. Sie nahm Henrik ihr Köfferchen aus der Hand und küßte den Jungen.
»Es wird nicht auf mich gewartet. Wenn ich bis zum Abendessen nicht zurück bin, wird gegessen und ins Bett gegangen«, meinte sie.
Henriks Mundwinkel sanken nach unten. »Das kann nicht dein Ernst sein. Ich will doch wissen, was mit dem Jungen ist.«
»Mutti hat versprochen anzurufen«, schaltete sich Nick ein. »Ich werde deswegen den Nachmittag in Sophienlust verbringen. Wenn du nicht mitkommen willst…« Er zuckte die Achseln.
Nick hatte genau den richtigen Ton getroffen. »Natürlich will ich mitkommen. Wir können gleich starten. In Sophienlust haben sie sicher auch schon lange gegessen.« Henrik winkte seiner Mutter, die bereits ins Auto eingestiegen war, zu, dann stob er davon, um sein Fahrrad zu holen.
Denise wußte, daß sie sich um ihre Söhne keine Sorgen zu machen brauchte. Sie hob die Hand zum Gruß und startete.
Denise kam gut voran und hatte in nicht ganz zwei Stunden die Stadtgrenze von Wiesbaden erreicht. Sie fuhr direkt zum Kurpark, stellte dort ihr Auto ab. Heiko hatte recht gehabt. Das Schuhgeschäft Lenz war nicht zu übersehen. Erstaunt stellte Denise fest, daß der Laden nicht geschlossen war. Sie trat ein.
Ulf Lenz, der gerade für eine Kundin Kinderschuhe aus dem Regal holte, sah erst hoch, als Denise dicht vor ihm stand. Er erkannte sie sofort. »Sie müssen mich noch einen Moment entschuldigen, Frau von Schoenecker«, sagte er. Ohne Denise weiter zu beachten, versuchte er, die Kundin zufriedenzustellen. Erst als diese ihren Kauf getätigt hatte, wandte er sich Denise wieder zu.
»Sie hätten sich wirklich nicht extra hierher bemühen müssen. Leider hat die Polizei noch immer keine Spur von Heiko entdeckt. Es ist mir ein Rätsel, wo der Junge steckt. Alle Bekannten und Freunde wurden inzwischen befragt.«
»Ich möchte gern hier sein, wenn der Junge gefunden wird«, sagte Denise.
»Wenn Sie meinen, daß das nötig ist…« Man sah Ulf an, daß er darüber nicht sehr erfreut war. »Bisher bin ich mit Heiko allein zurechtgekommen.«
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Lenz, auch liegt es mir fern, mich in Ihre Angelegenheiten einzumischen, aber da Heiko zu mir kommen wollte, fühle ich mich irgendwie für sein Weglaufen verantwortlich.«
»Damit haben Sie nicht so unrecht. Sie haben Heiko mit diesem Kinderheim einen Floh ins Ohr gesetzt. Es wäre besser gewesen, Sie hätten ihm klargemacht, daß er durch seinen Ungehorsam eine Tracht Prügel verdient hat. Nun, daran kann man jetzt nichts mehr ändert.«
Ingrid kam herbei. Daß diese Frau nicht als Kundin gekommen war, hatte sie gleich gesehen. »Haben Sie etwas von Heiko erfahren?« fragte sie, und in ihrem Gesicht spiegelte sich Hoffnung.
Die Antwort auf diese Frage kam von Ulf.
»Nein. Das ist Frau von Schoenecker. Sie erinnern sich? Kurz nach Mittag habe ich mit ihr telefoniert.«
Ingrid sah die aparte Frau an. Impulsiv sagte sie: »Ich bin froh, daß Sie hier sind. Sie werden für Heiko sicher die richtigen Worte finden. Wie ich hörte, wollte er zu Ihnen.«
Ulf Lenz räusperte sich. »Darf ich Ihnen Fräulein Stephan vorstellen? Sie ist meine Verkäuferin.«
Wie kühl, ja, fast arrogant seine Stimme geklungen hatte. Irritiert sah Ingrid ihren Chef an. Sie und ihr Freund hatten bisher zur Familie gehört. Sie hatten vieles gemeinsam unternommen. Ulf hatte in Florian stets seinen Freund gesehen.
Ulfs Miene wurde etwas freundlicher, als er Ingrid bat: »Können Sie einen Kaffee für uns kochen? Wenn Frau von Schoenecker schon eine so weite Fahrt auf sich genommen hat, möchte ich ihr wenigstens etwas anbieten.«
»Machen Sie sich keine Umstände«, sagte Denise. Ich habe gesehen, daß es gleich gegenüber Ihrem Laden ein Café gibt. Ich könnte…«
Ulf schnitt ihr das Wort ab: »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Bitte, kommen Sie mit hinauf in meine Wohnung.« Kurz wandte er sich an seine Verkäuferin. »Ingrid, Sie sind doch so gut und holen uns auch etwas zum Knabbern?«
Ingrid sah Ulf groß an. Wie sollte sie das tun? Ulf hatte nicht daran gedacht, sein Geschäft zu schließen. Wenn er nicht im Laden war, konnte sie das Geschäft doch nicht verlassen. Da er und seine Frau immer selbst hinter dem Ladentisch gestanden hatten, gab es keine zweite Verkäuferin.
»Ulf, ich würde vorschlagen, Sie schließen für heute das Geschäft«, sagte Ingrid. Sie schlug ihm das an diesem Tag nicht zum erstenmal vor.
Ulf wollte das schon wieder abschlagen, als er ihren eindringlichen Blick verstand.
»Gut. Es ist sowieso gleich Feierabend. Bitte, schließen Sie den Laden und besorgen Sie auch einen Kuchen.« Er zögerte kurz, fügte dann hinzu: »Es wäre nett, wenn Sie bleiben könnten. Ich meine, wenn Sie mit uns Kaffee trinken würden.«
»Selbstverständlich. Ich rufe nochmals in Florians Firma an und gebe ihm Bescheid.«
»Muß das sein?«
Ingrid zuckte zusammen. Ulfs Stimme hatte scharf geklungen. Verständnislos sah sie ihren Chef an, als sie erwiderte: »Ich habe bereits am Vormittag versucht, Florian zu erreichen. Er hat heute auswärts zu tun, sonst wäre er sicher sofort gekommen.«
»Ich wüßte nicht, was er hier hätte tun sollen.«
Diesmal fiel sogar Denise die Schärfe in der Stimme von Ulf Lenz auf. Forschend sah sie ihn an.
Ulf merkte es und erklärte kurz: »Florian Becker ist Fräulein Stephans Freund.«
Ingrid konnte jetzt nicht anders, sie warf ein: »Florian ist ein Jugendfreund von Herrn Lenz. Die beiden haben bereits zusammen die Schule besucht.«
»Dies interessiert Frau von Schoenecker sicher nicht. Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten? Sie entschuldigen, ich gehe voraus.« Damit ging Ulf Lenz auf die hintere Ladentür zu. Bevor Denise ihm folgte, sah sie noch zu Fräulein Stephan hinüber. Es entging ihr nicht, daß diese völlig verwirrt dastand.
*
Munter pfiff Florian Becker die Melodie, die aus dem Autoradio kam, mit. Es war zwar spät geworden, aber er hatte den Fehler der Maschine klären und somit den Auftraggeber zufriedenstellen können. Jetzt freute er sich auf den Abend mit Ingrid. Nur kurz wollte er noch ins Büro sehen. Den schriftlichen Bericht wollte er erst am nächsten Tag diktieren.
Grüßend fuhr er an dem Portier vorbei und parkte direkt vor dem Haupteingang des Betriebes. Mit einem freundlichen Lächeln und einem »Hallo, habt ihr den Tag gut herumgebracht?« betrat er das Büro.
Außer einer Sekretärin arbeiteten noch zwei Kollegen in diesem Raum. Einer davon hob den Kopf und erwiderte: »Du wirst schon dringend gesucht. Gleich, nachdem du weg warst, rief Fräulein Stephan an.«
Florian, der sich gerade hinter seinen Schreibtisch setzen wollte, blieb stehen. Nur ganz selten hatte Ingrid ihn bisher in der Firma, in der er als Ingenieur arbeitete, angerufen. Es mußte also etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein.
Florian mußte nicht fragen. Der Kollege sprach schon weiter: »Der Junge vom Schuhgeschäft Lenz wird gesucht. Du bist doch mit dem Mann befreundet?«
»Was, schon wieder?« Jetzt mußte sich Florian doch setzen. »Hat Ingrid etwas Näheres gesagt?«
»Du solltest nach deiner Rückkehr anrufen«, gab der Kollege Auskunft.
Sofort griff Florian nach dem Telefonhörer.
»Stop!« rief der Kollege. »Laß mich ausreden. Vor ungefähr zehn Minuten hat Fräulein Stephan erneut angerufen. Der Junge wurde noch nicht gefunden. Ich soll dir ausrichten, daß du vorbeikommen sollst. Sie bleibt in der Wohnung von Herrn Lenz.« Der Blick des Kollegen wurde neugieriger. »Du bist doch mit diesem Mann befreundet. Hat er den Tod seiner Frau schon überwunden?«
»Ich kann mir das kaum vorstellen. Es war ein schwerer Schicksalsschlag für ihn. Sonja wollte doch nur zum Supermarkt fahren. Der Lastwagen rammte sie seitlich. Sie war auf der Stelle tot.« Florian starrte sekundenlang vor sich hin. Auch er fragte sich, warum Sonja, ein stets hilfsbereiter, fröhlicher Mensch, so hatte sterben müssen.
»Kanntest du sie gut?« fragte der Kollege weiter. Er hatte einiges munkeln hören.
Florians Gesicht verzog sich unwillig. »Ulf und ich sind alte Schulfreunde. Wir haben schon viel gemeinsam erlebt.« Da er nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte, nahm er seine Notizen aus der Aktentasche und warf sie auf seinen Schreibtisch.
»Sei so gut und sage dem Chef Bescheid, daß die Maschine wieder läuft. Den genauen Bericht diktiere ich morgen. Ich gehe also. Tschüß miteinander!«
Florian machte, daß er aus dem Büro kam. Auch er machte sich Sorgen. Er hatte in den letzten Tagen vergebens versucht, mit Ulf zu sprechen.
Florian stieg in sein Auto ein und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit zu Ulfs Wohnung. Er hatte jedoch Glück, fiel keiner Polizeistreife in die Hände und konnte daher wenig später an Ulfs Wohnungstür läuten.
»Du!« Ulf starrte den Freund fast feindselig an.
Florian wurde unsicher. Was hatte Ulf nur? »Ich wäre früher gekommen, aber ich hatte auswärts zu tun. Ich bin erst vor kurzem zurückgekommen, und da wurde mir von Ingrids Anruf berichtet.«
»Ja, und?« Ulf wich nicht zur Seite.
»Hat man Heiko noch nicht gefunden?«
»Du machst dir wohl große Sorgen um Heiko?« In Ulfs Gesicht wetterleuchtete es.
»Natürlich. Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Nicht, daß ich wüßte. Ich habe bereits Besuch.« Es schien, als wollte Ulf dem Freund die Tür vor der Nase zuschlagen, doch da kam Ingrid in den Vorraum.
»Florian, endlich! Wo hast du nur so lange gesteckt? Die Polizei hat Heiko noch immer nicht gefunden.« Ingrid konnte sich nicht länger beherrschen. Ihre Angst war in der letzten Stunde noch gestiegen. Sie fiel ihrem Freund um den Hals.
Mit unbewegtem Gesicht stand Ulf dabei. Schließlich wandte er sich brüsk um und ging ins Wohnzimmer zurück.
»Was hat er denn?« fragte Florian und hielt Ingrid etwas von sich ab, um in ihr Gesicht zu sehen.
»Das fragst du noch? Ich bin sicher, er ist mit den Nerven völlig fertig. Nur will er das nicht zugeben.« Ingrid, die sich vorher selbst über Ulfs eigenartiges Benehmen geärgert hatte, war nun bereit, ihn zu verteidigen.
»Warum spricht er nicht mit mir?«
»Das wird er schon noch tun. Du darfst nur nicht zuviel erwarten. Er ist heute sehr wortkarg.«
»Er wollte mich nicht in die Wohnung lassen«, stellte Florian fest.
»Da irrst du sicher. Es ist nicht leicht für Ulf. Wahrscheinlich ist er sich auch bewußt, daß er in den letzten Tagen kein guter Vater war.« Ingrid griff nach der Hand ihres Freundes und zog ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihm Frau von Schoenecker vorstellte.
Während Florian sich Denise gegenübersetzte und sich mit ihr über Heiko unterhielt, stand Ulf mit eisiger Miene daneben. »Vielleicht gelingt es dir, eine Erklärung zu finden«, warf er schließlich ein. »Du und Heiko, ihr habt euch ja stets glänzend verstanden.«
Kurz hob Florian den Kopf und sah den Freund an. Er war über dessen bissigen Ton betroffen, sagte aber trotzdem ruhig: »Heiko ist ein lieber Kerl. Ingrid und ich haben ihn immer gern zu Ausflügen mitgenommen.«
»Das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Ulf scharf.
»Aber…« Florian schluckte die weiteren Worte hinunter. Er wollte seinen Freund nicht reizen, auch wenn er die Kälte spürte, die dieser ihm plötzlich entgegenbrachte.
»Es wird immer später. Können wir nicht doch etwas tun?« fragte Ingrid. Auch sie spürte die Spannung.
»Daß sich Florian Sorgen macht, kann ich verstehen, aber warum sind Sie so aufgeregt? Sie haben doch mit Heiko nicht das geringste zu tun.« Ulf sah bei diesen Worten Ingrid an.
Dieser schoß das Blut ins Gesicht. »Ich kenne Heiko doch schon lange. Ich mag ihn sehr.« Mehr wußte Ingrid nicht zu sagen.
»Das ist ein Grund, den ich akzeptiere. Und was ist mit dir, Florian?« Mit spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln wandte sich Ulf dem Freund zu. »Willst du uns nicht deinen Grund nennen?«
»Ulf, ich verstehe dich nicht. Wir sorgen uns wirklich.«
Ulf lachte auf. Selbst Denise tat dieses verzweifelte, aber doch auch spöttische Lachen weh. Man hatte ihr gesagt, daß Florian Becker und Ulf Lenz Freunde seien. Diesen Eindruck hatte sie nicht.
»Ulf, setzen Sie sich doch«, bat Ingrid, nachdem sie ihrem Freund einen bittenden Blick zugeworfen hatte. »Ich koche nochmals Kaffee. Oder noch besser, ich rufe die Polizei an. Vielleicht wurde Heiko inzwischen gefunden.« Sie erhob sich, kam aber nicht dazu, irgend etwas zu tun, denn die Türglocke ertönte.
»Das wird er sein.« Florian sprang auf.
Ulf rührte sich dagegen nicht. Feindselig sah er seinen Freund an.
»Wollen Sie nicht öffnen?« fragte Denise. Auf keinen Fall durfte jetzt ein Streit ausbrechen. Was auch immer zwischen den beiden Männern vorgefallen war, jetzt ging es um Heiko. Sie war hier, um dem Jungen zu helfen.
»Ich erwarte keinen Besuch«, sagte Ulf, dann erhob er sich aber doch, um in den Vorraum zu gehen. Er ließ die Tür offen stehen, und so hörten die Anwesenden, daß er einen Polizisten einließ.
Ingrid wollte hinausgehen, doch Florian hielt sie zurück.
»Bleibe bitte. Wir werden gleich erfahren, was los ist.«
»Warum?«
»Ich habe das Gefühl, es wäre Ulf nicht recht. Merkst du nicht selbst, daß…« Er brach ab. Er konnte seiner Freundin nicht etwas erklären, was er selbst nicht verstand.
»Entschuldigen Sie, welches Verhältnis hat Heiko eigentlich zu seinem Vater?« fragte Denise. Sie mußte fragen, weil sie sonst nicht helfen konnte. Aus dem Benehmen von Herrn Lenz wurde sie immer weniger klug. Sie war sich nicht einmal im klaren darüber, ob er sich um seinen Jungen sorgte.
»Heiko liebt seinen Vater. Ulf war ihm stets ein guter Vater«, sagte Florian, ohne zu überlegen.
Ingrid, die Denises fragenden Blick spürte, konnte dies nur bejahen. »Ulf hatte stets Zeit für seinen Jungen«, fügte sie hinzu.
»Ich kenne Ulf seit meiner Jugendzeit, doch jetzt verstehe ich ihn nicht mehr«, brach es aus Florian heraus.
Denise merkte, daß dies die Wahrheit war. Schweigend sahen sich die drei Menschen wieder an. In die Stille hinein hörte man, wie Ulf den Polizisten verabschiedete. Dann kam er zurück.
»Heiko wurde gefunden«, sagte Ulf ruhig. »Er wird soeben ins Krankenhaus gebracht. Er hat sich auf die Ladefläche eines Lastwagens geschlichen und ist von dort heruntergestürzt.«
»Mein Gott!« Ingrid fuhr sich mit der Hand zum Mund.
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Ulf und nahm Platz. »Heiko hatte Glück. Er hat sich nur die Beine gebrochen. Ich hoffe, das wird ihm eine Lehre sein.«
»Der arme Junge.« Ingrid konnte nicht anders, sie mußte ihrem Herzen Luft machen.
»Diese Ansicht kann ich nicht teilen. Heiko war ungezogen.« Lässig lehnte sich Ulf im Sessel zurück.
»Du willst ihn doch nicht auch noch strafen?« fragte Florian empört.
»Gut, ich überlasse das gern dir.« Ulf kreuzte seine Arme vor der Brust.
»Wie meinst du das?« Irritiert sah Florian den Freund an.
»Du kommst mit Heiko sicher besser zurecht.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Bitte!« Ingrid war hinter ihren Freund getreten. »Wir sind doch alle glücklich, daß Heiko endlich gefunden wurde. Ulf wird jetzt sicher zu ihm ins Krankenhaus wollen.«
»Nein, ich wüßte nicht, warum.«
»Sie wollen nicht zu Ihrem Jungen gehen?« Nicht zum erstenmal an diesem Tag war Ingrid verwirrt.
»Ich sagte es doch schon.«
»Heiko braucht dich jetzt aber«, schaltete sich Florian ein. »Du mußt ihm sagen, daß du ihm nicht böse bist.«
»Das werde ich nicht tun. Heiko war unfolgsam. Ich werde seinen Ungehorsam nicht auch noch unterstützen.«
»Ist das wirklich Ihre Meinung?« fragte Denise.
»Natürlich. Ich werde Heiko erst im Laufe des morgigen Tages aufsuchen. Ich denke, damit wäre alles erledigt. Ich werde in Zukunft dafür sorgen, daß Heiko so etwas nicht noch einmal tut.«
»Ich möchte mit Heiko sprechen«, sagte Denise. »Deswegen bin ich hiergeblieben.«
»Bitte, ich werde Sie nicht daran hindern. Heiko wird ins Marien-Hospital eingeliefert. Dies sagte jedenfalls der Polizist.«
»Ich bringe Sie hin«, erbot sich Florian.
»Das hätte ich mir denken können. Du kannst es natürlich nicht erwarten, Heiko zu sehen. Sie sehen selbst, Frau von Schoenecker, ich bin völlig überflüssig.«
»Das ist doch Unsinn, Ulf! Bitte, fahre du zum Krankenhaus. Heiko braucht dich. Wir alle müssen ihm helfen, über Sonjas Tod hinwegzukommen.«
Ulf fuhr auf. »Nimm Sonjas Namen nie wieder in den Mund. Nie wieder! Merke dir, sonst geschieht etwas.« Drohend baute er sich vor Florian auf. Nur Denise von Schoeneckers Gegenwart hinderte ihn daran, sich auf den Freund zu stürzen.
*
Da Heiko noch im Verbandsraum war, mußten Florian, Ingrid und Denise von Schoenecker in einem kleinen Wartezimmer warten.
Florian brach als erster das Schweigen: »Ich verstehe Ulf nicht. Heiko war früher sein ein und alles. Stets hat er ihm eine Menge nachgesehen. Warum plötzlich diese Strenge?«
»Ulf ist verändert«, gab Ingrid zu. »Vor allem dir gegenüber. Hattet ihr Streit miteinander?«
»Seit Sonjas Tod habe ich kaum mit ihm gesprochen«, antwortete Florian. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann ist mir klar, daß er mir ausgewichen ist.«
»Aber warum sollte er das tun?« Ingrid seufzte.
»Ich werde morgen mit ihm sprechen. Vor allem werde ich ihm auch klarmachen, daß er mehr Verständnis für Heiko haben muß.«
»So, wie es heute aussah, wird er kaum auf dich hören. Ich bin nur froh, daß Frau von Schoenecker hiergeblieben ist. Zu ihr wollte Heiko. Dies glaubt Ulf jedenfalls.«
»Ja, und indirekt gibt er mir die Schuld an Heikos Ausreißen.«
Denise hatte Fräulein Stephan und Herrn Becker beobachtet und war zu der Überzeugung gekommen, daß diese über Herrn Lenz’ Benehmen sehr befremdet waren. Deshalb sagte sie nun: »Ich habe bereits vor zehn Tagen bemerkt, daß das Verhältnis zwischen Heiko und Herrn Lenz gestört ist. Heiko fühlte sich von seinem Vater nicht mehr geliebt. Offensichtlich habe ich vergebens versucht, ihm dies auszureden.«
»Aber warum?« Florian Becker stützte sein Kinn in die Hände. »Das gemeinsame Leid hätte die beiden doch noch fester miteinander verbinden müssen.«
»Wir müssen Ulf Zeit lassen«, meinte Ingrid. »Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn…« Sie sah ihren Freund lange an.
Eine Schwester kam. »Jetzt können Sie zu dem kleinen Lenz gehen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Sie ging voraus und erläuterte dabei: »Wir haben den Jungen in ein Einzelzimmer gelegt. Voraussichtlich ist es ja nur für eine Nacht. Er hat sich beide Beine gebrochen. Sie wurden eingegipst.«
Ein junger Arzt kam ihnen entgegen. Er wandte sich an Florian. »Sind Sie Herr Lenz?«
»Nein, ich bin ein Freund von ihm.«
»Ich hätte gern Herrn Lenz gesprochen«, sagte der Arzt freundlich.
Unwillkürlich tauschte Florian einen Blick mit seiner Freundin, dann erklärte er: »Herr Lenz ist leider verhindert. Er wird im Laufe des morgigen Tages nach seinem Jungen sehen. Wir hätten Heiko jedoch gern gesprochen. Es geht ihm doch sonst gut?«
»Nun, er hat beide Beine gebrochen, aber die Brüche heilen sicher. Sein seelischer Zustand ist schwieriger. Darüber hätte ich mich gern mit Herrn Lenz unterhalten. Wie ich hörte, hat der Kleine erst kürzlich seine Mutter verloren.«
»Das stimmt. Es geschah auf ziemlich tragische Weise.«
»Das hat vermutlich sein seelisches Gleichgewicht durcheinandergebracht. Ich habe das Gefühl, daß er sich vor seinem Vater fürchtet. Daher habe ich ihm auch versprochen, mit seinem Vater zu reden. Auch verlangt er nach einer Tante Isi.«
»Das bin ich.« Denise von Schoenecker trat etwas vor und stellte sich vor. »Ich werde mich um Heiko kümmern.«
»Da wird er sich zweifellos freuen. Ich habe schon überlegt, wie ich Sie erreichen könnte. Heiko sagte, daß Sie nicht in Wiesbaden sind.«
»Ich bin hergekommen, als ich hörte, daß Heiko verschwunden ist«, erklärte Denise.
Der Arzt nickte. Man sah ihm an, daß ihn diese Antwort befriedigte. »Man muß behutsam mit dem Jungen umgehen«, meinte er, »aber dies brauche ich Ihnen sicher nicht zu sagen.«
Der Arzt führte die Besucher den Gang entlang. An dessen Ende war das Zimmer, in dem Heiko lag.