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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 405: Kann ich dir noch vertrauen? E-Book 406: In jener schicksalhaften Nacht E-Book 407: Aufbruch ins Glück E-Book 408: Das Glück lässt auf sich warten E-Book 409: Darf ich dir vertrauen? E-Book 410: Der Traum vom Märchenprinz E-Book 1: Kann ich dir noch vertrauen? E-Book 2: In jener schicksalhaften Nacht E-Book 3: Aufbruch ins Glück E-Book 4: Das Glück lässt auf sich warten E-Book 5: Darf ich dir vertrauen? E-Book 6: Der Traum vom Märchenprinz
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Seitenzahl: 710
Kann ich dir noch vertrauen?
In jener schicksalhaften Nacht
Aufbruch ins Glück
Das Glück lässt auf sich warten
Darf ich dir vertrauen?
Der Traum vom Märchenprinz
»Hallo! Onkel Hans!« Elfie Wenk ließ Koffer und Reisetasche auf den Bahnsteig plumpsen und rannte winkend los, direkt in Hans Wenks ausgebreitete Arme.
Onkel Hans fing Elfie auf und drehte sich mit ihr im Kreis, ehe er sie sanft wieder absetzte. »Mein Gott, Madl! Ich kann dir gar net sagen, wie ich mich freue, dass du nach so vielen Jahren endlich wieder bei uns bist! Und die Sophie erst! Die ist ganz aus dem Häuschen. Gestern Abend hat sie dein Zimmer auf Hochglanz geputzt, dann hat sie im Garten sämtliche Blumen abgeschnitten und in einem Dutzend Vasen auf deinem Nachtkästchen, auf deinem Tisch, auf deiner Kommode und was weiß ich wo sonst noch verteilt. Heute hat sie noch vor dem Frühstück angefangen zu kochen. Die Zutaten musste ich ihr gestern schon besorgen. Sie hat mir eine mindestens zwei Meter lange Einkaufsliste mitgegeben.«
Elfie musste lachen.
Onkel Hans hatte sich überhaupt nicht verändert. Er war noch genauso lustig und übertrieb noch genauso gern, wie früher, als sie die großen Schulferien bei Onkel und Tante in St. Johann verbracht hatte. Es war jedes Mal eine wunderschöne Zeit gewesen. So glücklich, so unbeschwert …
»Ach, Onkel! Du bist so lieb! Und die gute Tante Sophie! Sie macht sich meinetwegen solche Mühe!«, sagte Elfie gerührt, während ihr Onkel sie sachte ein Stück von sich weg schob, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern.
»Blass bist du, Elfie. Und schmal bist du geworden«, stellte er fest. »Aber wir werden dich schon wieder aufpäppeln. In den zwei Sommermonaten, die du bei uns verbringst, wirst du gewiss das eine oder andere Kilo zulegen. Wenn unsere liebe Sophie das net schafft, wer dann: Dampfnudeln, Apfelstrudel, Schweinshaxe, Fleischpflanzerln, Bayrisch Creme …«
Elfie, die in den zurück liegenden Monaten in Frankfurt nie wirklich Appetit gehabt hatte, lief das Wasser im Mund zusammen. »Was gibt’s denn heute Mittag Gutes?«, wollte sie wissen. »Ich meine, wenn Tante Sophie schon seit dem frühen Morgen kocht, muss es ja etwas ganz Besonderes sein.«
»Das will ich meinen. Es gibt …«, legte Onkel Hans los, verstummte aber sofort wieder. »Nein, das sag ich jetzt net«, tat er geheimnisvoll. »Das musst du, wenn du unser Haus betrittst, am Duft erraten. Wenn du es schaffst, gibt’s zur Belohnung ein Begrüßungsschnapserl von meinem Selbstgebrannten.«
Elfie verpasste ihrem Onkel einen leichten Stoß mit dem Ellbogen. »Du bist mir so einer«, grinste sie.
Der Onkel grinste ebenfalls und schubste zurück. »Kann schon sein. Aber jetzt hol ich erst einmal dein Gepäck her und schaff es zum Auto.«
Als er sich Elfies Koffer und Reisetasche griff, ächzte er auf wie ein Gewichtheber. »Was hast du mitgenommen, Elfie? Felsbrocken? Die gibt es hier doch schon zuhauf.« Beim Schleppen tat er so, als würde er in den Knien einknicken.
Es sah so komisch aus, dass Elfie schon wieder lachen musste.
Hans Wenk erreichte schließlich seinen schon reichlich angejahrten Golf und hievte Elfies Sachen hinein.
»Soll ich dir noch ein Eis holen? Wie früher, als das Eis vom Bahnhofskiosk immer der Anfang deiner Sommerferien war?«, schlug er vor, wunderbarer Weise überhaupt nicht mehr außer Atem. »Erdbeere und Vanille zum Beispiel. Die beiden Sorten hast du doch immer am liebsten gemocht.«
Elfie nickte mit leuchtenden Augen. »Ja, Erdbeere und Vanille. Dass du das noch weißt, Onkel Hans!«
Genießerisch schleckend kuschelte sie sich wenig später in den Beifahrersitz und ließ die Häuser von St. Johann hinter der Windschutzscheibe vorüber ziehen.
Gemächlich fuhr Onkel Hans an Kirche, Friedhof und Pfarrhaus vorbei, am Rathaus, an der Schule und am Biergarten des ›Löwen‹.
»Alles noch genauso schön und idyllisch wie früher«, schwärmte Elfie.
»Ja, idyllisch ist es hier schon. Aber mit einer Stadt wie Frankfurt kann St. Johann natürlich net mithalten«, meinte der Onkel.
»Gott sei Dank«, erwiderte Elfie. »Es muss ja auch noch ein paar Fleckerln auf der Erde geben, wo man sich erholen kann. Und wohin man sich zurückziehen kann, wenn einem der Lärm und die Hektik und der ganze Stress zu viel werden.«
»War’s so schlimm in Frankfurt?«, fragte der Onkel mitfühlend.
Elfie zuckte die Schultern. »Viel Arbeit halt. Immer soll man zwei oder drei Dinge gleichzeitig tun. Kaum hat man etwas angefangen, muss es auch schon fertig sein.« Sie seufzte. »An manchen Tagen geht es in der Anwaltskanzlei zu wie in einem Taubenschlag. Von früh bis spät. Fast ohne Pause.«
»Puuh! Das klingt ja furchtbar«, stöhnte Onkel Hans. »Dass ein Anwalt so viel Kundschaft hat, hätte ich mir nie und nimmer träumen lassen. Wozu brauchen all die Leute denn einen Rechtsbeistand? Was mich betrifft, hab ich meiner Lebtag noch keinen gebraucht.«
»Hin und wieder für eine Erbschaftsangelegenheit. Vor allem aber für Nachbarschafts- und Scheidungsprozesse«, gab Elfie Auskunft.
»Aha«, meinte der Onkel nachdenklich. »Lassen sich denn wirklich so viele Ehepaare scheiden?«
»Ja, leider«, antwortete Elfie. »Sehr viele sogar. Ich hab erst neulich eine Statistik gelesen, der zufolge jede dritte Ehe in Deutschland geschieden wird.«
»Jede dritte Ehe? Das kauf ich dir jetzt aber net ganz ab, Elfie!« Hans Wenk schüttelte den Kopf. »St. Johann gehört schließlich auch zu Deutschland. Und wenn ich mich hier im Ort so umschaue … der Andreas und die Marion Trenker, die Reisingers vom ›Löwen‹, meine Sophie und ich …« Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Meine Sophie und ich, wir wären jetzt zum Beispiel die dritten. Aber wegen so einem Blödsinn lassen wir uns doch net scheiden.«
»Du bist wirklich unverbesserlich, Onkel Hans«, kicherte Elfie.
»Ach Madl, was heißt da unverbesserlich. Ich will dich doch bloß ein bissel aufmuntern«, meinte er gutmütig. »Ich glaub, du nimmst all das Negative, mit dem du bei deiner Arbeit unweigerlich in Berührung kommst, viel zu ernst. Du lässt es dir viel zu nahe kommen. Denk immer daran, dass es hier unten im Tal noch lang net kalt ist, bloß weil es ganz droben auf der Wintermaid oder auf der Himmelsspitz schneit.«
»Also wirklich, Onkel. Du und deine Vergleiche …«
In diesem Moment setzte Hans Wenk den Blinker und bog in den kleinen Weg ein, der zur Fremdenpension Wenk hinauf führte. Hinter ein paar hohen Büschen, kam das Haus in Sicht, das noch immer genauso aussah wie früher. Nur über der Eingangstür prangte seit dem frühen Morgen ein großes, von Hand gemaltes Schild, auf dem »Herzlich willkommen, liebe Elfie«, stand.
Elfie bekam feuchte Augen. »Danke, Onkel Hans. Das ist eine ganz, ganz liebe Überraschung...«
»Schön, dass du das sagst, Elfie.« In Hans Wenks Augen blitzte der Schalk. »Wenn auch das Wichtigste fehlt, weil die Sophie in ihrer Schussligkeit vergessen hat, den roten Teppich auszurollen.«
»Dir geb ich gleich eine Schussligkeit.« Wie aus dem Nichts war Tante Sophie aufgetaucht, schickte einen viel sagenden Blick in Hans’ Richtung und schloss dann Elfie so fest in die Arme, als wollte sie sie nie mehr loslassen.
»Weil wir dich nur wiederhaben, Elfie«, sagte sie ein ums andere Mal. »In den nächsten zwei Monaten müssen wir die Zeit anhalten. Dieser Sommer muss ewig dauern.«
»Ja. Ewig und drei Tage«, ergänzte Hans trocken.
»Kümmere du dich lieber um Elfies Gepäck«, versetzte Tante Sophie lachend. »Und ich zeig Elfie schon gleich einmal ihr Zimmer.«
Arm in Arm gingen Elfie und ihre Tante auf das Haus zu, als plötzlich zwei Frauen um die Dreißig durch die festlich geschmückte Eingangstür ins Freie traten.
Die eine, deren lange dunkle Locken fast bis zu ihrer Taille reichten, trug knappe ausgefranste Jeansshorts und dazu ein tief dekolletiertes Oberteil, das unter der Brust geknotet war und den Bauchnabel freiließ. Flipflops an den Füßen rundeten das lässige Bild ab.
Die andere, blond mit einem schicken Kurzhaarschnitt, hatte einen weit schwingenden, fast bodenlangen Rock an. Der Stoff war allerdings so hauchdünn, dass er mehr zeigte, als verhüllte. Und die enge Bluse in Miederform setzte die üppige Oberweite der Blondine gekonnt in Szene.
Elfie wurde beim Anblick der beiden ganz verlegen. Sie hatte spontan das Gefühl, dass die Blicke der Frauen ein wenig mitleidig auf ihrem geblümten Sommerkleid ruhten. Aber vielleicht bildete sie sich das ja auch nur ein.
»Das sind Schwestern, obwohl man es ihnen net ansieht. Melanie und Annabelle Stettner heißen sie. Sie sind vorgestern angekommen«, erklärte Tante Sophie, als die beiden Frauen außer Hörweite waren. »Sechs Wochen wollen sie bleiben. Mindestens.« Verschwörerisch dämpfte die Tante ihre Stimme. »Vor denen ist in St. Johann und Umgebung kein einziger Mann sicher. Sie haben sogar den Hans angebaggert, als er ihnen ihre Koffer auf ihre Zimmer gebracht hat. Einen verheirateten Mann, der ja nun obendrein wirklich nimmer ganz ihr Jahrgang ist!«
»Ich hab gute Ohren, Sophie. Zum alten Eisen zähle ich mich nämlich noch lange net«, murrte Hans Wenk und zog mit Elfies Koffer und ihrer Reisetasche in den Händen betont flott und beschwingt an Sophie und Elfie vorbei.
Im Flur hielt er allerdings inne und baute sich vor den beiden auf. »Und?«, wandte er sich an seine Nichte. »Wonach duftet es aus der Küche?«
Elfie zog ein wenig ratlos die Augenbrauen hoch und schnupperte. »Rindsrouladen«, sagte sie dann siegessicher. »Es duftet nach Tante Sophies wunderbaren Rindsrouladen. Mit Speck, Zwiebeln und Gürkchen gefüllt.«
»Du hast eine Supernase, Madl«, meinte die Tante anerkennend. »Als Beilage gibt es übrigens Kartoffelpüree mit gerösteten Semmelbröseln, als erste Vorspeise eine Wachnertaler Hochzeitssuppe, mit Brätnocken und Pfannkuchenstreifen, und als Nachspeise gibt es eine Bayrische Creme.«
»Aber zuallererst gibt es meinen Selbstgebrannten. Weil die Elfie meine Quizfrage richtig beantwortet hat und ein Schnapserl als erster Preis vereinbart war«, stellte Hans klar.
»Deinen Birnenschnaps, Marke Eigenbau, gibt es frühestens nach dem Essen zur Verdauung«, widersprach Tante Sophie.
Hans Wenk rollte mit den Augen. »Wenn du immer alles besser weißt, Sophie, lach ich mir noch heute eine von den Stettner-Schwestern an«, drohte er. »Ich schätze, es wird die blonde Melanie werden. Oder doch lieber die rassige Annabelle? Vielleicht kann ich mich ja auch net entscheiden und mache einfach beiden den Hof.«
»Wehe, du probierst es! Wenn du das wagst, sind wir geschiedene Leute«, lachte Tante Sophie. »Und jetzt wird erst einmal gegessen.«
*
Elfie schwang sich aufs Fahrrad und trat kräftig in die Pedale. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft bei Onkel und Tante fühlte sie sich so richtig unternehmungslustig. Sie war voller Tatendrang wie schon lange nicht mehr.
Die vergangenen Tage hatte Elfie fast ausschließlich im Liegestuhl im Garten verbracht, hatte sich gesonnt und hin und wieder in einer der Zeitschriften geblättert, die im Aufenthaltsraum für die Gäste auslagen. Sie hatte sich vor allem nach Ruhe gesehnt, aber nun waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt.
Als ersten Ausflug hatte sie sich eine Radtour vorgenommen, die sie zuerst durch St. Johann und dann zu den Nachbarorten Engelsbach und Waldeck führen sollte.
Also war Elfie frühmorgens, gleich nach dem Frühstück, losgezogen. Bei stahlblauem Himmel und einem leichten Wind, der die Hitze dämpfte.
Sie beschloss, zunächst der Kirche einen Besuch abzustatten.
Wie oft hatte sie hier in ihrer Kindheit, zusammen mit Tante und Onkel, den Gottesdienst besucht! Und wie oft hatte Pfarrer Trenker am Ende der Heiligen Messe noch ein paar freundliche Worte mit den Wenks gewechselt und ihr eine Süßigkeit oder ein Bildchen oder sonst eine Kleinigkeit zugesteckt! Nie mehr war ihr seitdem ein so netter Pfarrer begegnet!
Elfie stellte ihr Fahrrad vor dem Pfarrhaus ab und überlegte, ob sie klingeln sollte. Vielleicht war Pfarrer Trenker ja zuhause. Dann konnte sie ihm Grüß Gott sagen und ein paar Worte mit ihm reden. Vielleicht konnte sie ihn sogar bitten, sie auf eine Bergtour mitzunehmen.
Bei ihrem letzten Aufenthalt in St. Johann hatte sie ihn auf die Kandereralm begleiten dürfen. Er hatte ihr bei dieser Gelegenheit eine Menge über die Tiere und Pflanzen der Bergwelt erzählt. Von ihm hatte sie mehr gelernt, als aus manchem Biologiebuch. Und mächtig stolz war sie gewesen, als er eine Abkürzung mit ihr gegangen war, bei der man hin und wieder sogar ein bisschen hatte klettern müssen. Am Tag darauf hatte sie den Weg auf der Wanderkarte gesucht. Er war als mittelschwer bis schwer eingestuft gewesen! Wenn Pfarrer Trenker also noch einmal mit ihr auf die Kandereralm …
Schon hatte Elfie die Hand am Klingelknopf, als sie sie nach einem Moment des Zögerns wieder zurück zog. Sie mochte Sebastian Trenker nicht einfach so stören. Schließlich hatte er bestimmt genug zu tun.
Mit einem Seufzer wandte Elfie sich ab und schritt über den Kiesweg dem Gotteshaus zu. Sie zog die schwere Holztür auf, durchquerte den Vorraum mit den Aushängen und Bekanntmachungen und betrat das Kirchenschiff.
Eine fast feierliche Stille umfing sie. Es duftete nach Weihrauch, und durch die farbenprächtigen Kirchenfenster mit Szenen aus der Bibel fielen Sonnenstrahlen, in denen hell flimmernde Staubpartikel tanzten.
Traumverloren wanderten Elfies Blicke über die Deckenfresken mit Darstellungen aus dem Alten Testament zum Altarraum und zu den Holzbänken vor ihr. Verwundert stellte sie fest, dass die ganze Kirche mit Sträußen aus roten und weißen Rosen geschmückt war. Es sah bezaubernd schön und sehr romantisch aus. Bestimmt fand demnächst eine Hochzeit statt!
Der Gedanke daran gab Elfie einen Stich ins Herz, obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum. Menschen heirateten und ließen sich wieder scheiden. Das war nun mal der Lauf der Welt. Sie erlebte es in Dr. Gärtners Kanzlei täglich. Also nix Besonderes! Und doch …
Entschlossen wandte Elfie ihren Blick ab und ignorierte den festlichen Blumenschmuck. Stattdessen lenkte sie ihre Schritte zur holzgeschnitzten Muttergottesstatue, die sie natürlich kannte, inzwischen aber, im Gegensatz zu früher, verstand Elfie zu würdigen, wie schlicht und doch ausdrucksvoll die Darstellung war, die von einem unbekannten Künstler aus dem 17. Jahrhundert stammte. Magisch angezogen hatte sie sich von der Figur allerdings schon als Kind gefühlt.
Wie oft hatte sie vor dieser Statue gebetet, ihr die typischen großen und kleinen mädchenhaften Sorgen ans Herz gelegt!
Und wie oft hatte sie später der Muttergottes anvertraut, wie sehr sie sich danach sehnte, einen Burschen kennenzulernen, den sie aus ganzem Herzen lieben konnte und dem auch sie alles Glück der Welt bedeutete, aber …
»Ein ganz außergewöhnliches Kunstwerk, net wahr?«, vernahm Elfie plötzlich hinter sich eine warme, volltönende Stimme. Sie drehte sich um und sah in Pfarrer Trenkers lächelndes Gesicht. Welch glücklicher Zufall …
»Ja, Herr Pfarrer, das stimmt. Diese Madonna ist etwas ganz Besonderes. Sie hat mir schon vor zwanzig Jahren gefallen, als ich sie das erste Mal gesehen hab. «
»Vor zwanzig Jahren?« Sebastian Trenker zog überrascht und ein wenig amüsiert die Augenbrauen hoch. »Da müssen Sie ja noch in den Windeln gelegen sein.«
Elfie lachte. »Acht Jahre war ich damals alt. Und durfte zum ersten Mal meine Ferien bei Tante Sophie und Onkel Hans in St. Johann verbringen.«
Sebastian stutzte. Er überlegte einen Moment. »Dann … dann bist du … sind Sie … Elfie Wenk?«
Elfie nickte, während der Bergpfarrer ihr zur Begrüßung die Hand hinstreckte.
»Es hätte wirklich net viel gefehlt, und ich hätte Sie nimmer erkannt, Elfie. Aus Kindern werden Leute, sagt der Volksmund net umsonst.«
Elfie ergriff Sebastian Trenkers Hand und drückte sie warm und herzlich. »Sagen Sie doch bitte weiterhin ‚du’ zu mir, Herr Pfarrer«, bat sie.
»Gern«, freute sich der Bergpfarrer. »Wollen wir net ins Pfarrhaus hinübergehen, Elfie, damit wir uns besser unterhalten können?«
Das ließ sich Elfie nicht zweimal sagen.
Im Pfarrhaus konnte sie auch gleich Sophie Tappert begrüßen, die allerdings etwas länger brauchte, als der Bergpfarrer, bis sie sich wieder an Elfie Wenk erinnerte.
Sie brachte Sebastian und Elfie Kaffee und selbst gebackene Kekse auf die Terrasse, die Elfie so lecker fand, dass sie sich beherrschen musste, um nicht gleich den ganzen Teller leer zu futtern.
»Musst du schon bald wieder fort oder bleibst du länger in St. Johann?«, erkundigte Sebastian sich, als Elfie sich an den Keksen satt gegessen hatte.
»Ich bleibe zwei Monate«, erwiderte Elfie.
»Zwei Monate?«
Sie nickte. »Ich hab in den vergangenen drei Jahren immer nur ein paar Tage von dem Urlaub beansprucht, der mir eigentlich zugestanden wäre. Es war dauernd so viel zu tun, dass ich es einfach net über mich gebracht hab, Dr. Gärtner im Stich zu lassen. Aber irgendwann waren meine Reserven dann eben doch aufgebraucht, und aus dem ganzen Resturlaub ist jetzt halt eine kleine Auszeit geworden.«
»Das ist auch gut so«, lobte Sebastian. »Zur Arbeit gehört die Erholung, die wichtiger ist, als man gemeinhin denkt. Und wo könnte man besser neue Kräfte tanken als in unseren wunderschönen Bergen! Wenn ich ein bissel freie Zeit hab, unternehme ich jedes Mal eine Wanderung. Meistens auf den Kogler oder auf die Kandereralm. Und beim Heimkommen fühle ich mich wieder voller Tatendrang und Arbeitsfreude.«
»Ein paar Bergtouren würd ich auch gern machen«, fühlte Elfie vor. »Aber Onkel und Tante haben leider keine Lust. Im Sommer haben sie das Haus immer voller Pensionsgäste. Sie sind fast den ganzen Tag auf den Beinen und entspannen in ihren seltenen Mußestunden deshalb lieber am Achsteinsee, als beim Wandern und Bergsteigen. Was ich ja gut verstehen kann. Bloß allein …«
» …sollte man sich, wenn man wenig Erfahrung hat, sowieso net auf den Weg machen. Da hast du vollkommen Recht«, führte der Bergpfarrer Elfies Satz zu Ende. »Hättest du Lust, zusammen mit mir ein bissel herum zu kraxeln?«
Elfie klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Das … das wäre wunderbar, Herr Pfarrer. Das wäre die Wucht in Dosen«, jubelte sie.
Sebastian lachte. »Wie wär’s mit der Kandereralm?«, schlug er vor. »Ich hab dem Thurecker-Franz versprochen, dass ich ihm demnächst mal wieder einen Besuch abstatte. Wenn du also Lust hättest, mich zu begleiten …«
»Auf alle Fälle«, antwortete Elfie spontan. »Abgemacht. Ich bin dabei.«
Als sie sich nach einer geschlagenen Stunde von Sebastian Trenker verabschiedete und wieder ihr Fahrrad bestieg, hätte sie die ganze Welt umarmen mögen vor Glück.
In bester Laune radelte sie weiter und hatte mit einem Mal das sichere Gefühl, dass diese Ferien genauso schön werden würden wie die ihrer Kindheit. Oder eher noch viel schöner.
*
Ein Tag am Achsteinsee! Sommersonne und Badevergnügen pur! Voller Vorfreude breitete Elfie ihre Decke auf der Liegewiese aus, rammte den Sonnenschirm, den sie mitgebracht hatte, in den Boden und spannte ihn auf. In seinen Schatten stellte sie den üppig gefüllten Picknickkorb, den Tante Sophie ihr mitgegeben hatte.
In der Mittagszeit würde sie sich über all die Köstlichkeiten hermachen, aber erst einmal wollte sie schwimmen gehen.
Elfie zog ihr Sommerkleid aus, unter dem sie bereits ihren dunkelblauen Bikini mit den weißen und roten Tupfen trug, cremte sich mit Sonnencreme ein und lief zum See.
Das Wasser war angenehm kühl, aber keineswegs von der schneidenden Kälte, die manchen Bergseen eigen war.
Mit einem wohligen Seufzer ließ Elfie sich in die Fluten gleiten, drehte sich auf den Rücken und strampelte mit den Beinen, versuchte sich im Kraulen und im Schmetterling. Ihr Ziel war die Badeinsel, die mitten im See verankert war.
Zu ihrer eigenen Verwunderung erreichte Elfie sie im Nu, obwohl sie schon lange keine weiten Strecken mehr geschwommen und somit ziemlich aus der Übung war.
Sie klomm die eiserne Leiter empor und ließ sich auf die von der Sonne gewärmten Holzplanken fallen.
Vor ihr lag das funkelnde Wasser, dahinter die durch die vielen Badegäste bunt gesprenkelt wirkende Liegewiese. Und über all das erhoben sich majestätisch die Bergriesen, die den See umringten. Elfie hätte jauchzen mögen vor Glück.
Als sie sich satt gesehen und genügend gewärmt hatte, hörte sie den Glockenschlag der vollen Mittagsstunde. Sie beschloss zurück zu schwimmen, dabei sprang sie genau so übermütig wie die anderen jungen Leute kopfüber von der Badeinsel ins kühle Nass.
Wieder an Land machte sie sich sofort über Tante Sophies Picknickkorb her. Sie wollte gerade herzhaft in mit kaltem Braten belegtes Bauernbrot beißen, als ein schrilles Lachen, ganz in der Nähe, sie zusammenzucken ließ.
Elfie sah sich um und entdeckte, dass Melanie und Annabelle Stettner, die beiden Gäste aus der Fremdenpension, sich ganz in ihrer Nähe niedergelassen hatten.
Sie hatten breite, komfortable Liegen mit Sonnendächern aufgebaut, auf denen sie sich räkelten und ihre zugegebenermaßen wohlgeformten Körper in knappen Tangas zur Schau stellten. Und sie waren nicht allein, sondern in Herrenbegleitung.
Ein sportlich wirkender Mittfünfziger, dessen Haare schon leicht ergraut waren, massierte gerade Sonnencreme in die ausgiebig vorgebräunte Haut von Melanies Rücken, dabei drohten seine Hände immer auf Abwege zu geraten, was jedes Mal das affektierte Lachen auslöste.
Der Verehrer, den Annabelle sich geangelt hatte, war deutlich jünger und ebenso rassig wie sie selbst. Um seinen linken Oberarm wand sich ein Schlangentattoo, und seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, desgleichen seine Locken. Von der üppigen Brustbehaarung, in der Annabelle gerade genießerisch kraulte, ganz zu schweigen.
Plötzlich war Elfie der Appetit vergangen. Irritiert legte sie ihr belegtes Brot in den Picknickkorb zurück und griff, um sich abzulenken, nach dem Liebesroman, den sie am Abend zuvor im Kiosk gekauft hatte. Das Coverfoto, ein Liebespaar vor einer Bergkulisse, hatte sie so sehr angesprochen, dass sie einfach hatte zugreifen müssen.
Unwillkürlich fragte Elfie sich, wann sie ihren letzten Liebesroman gelesen hatte. Sie wusste es nicht mehr so recht, aber wahrscheinlich musste es in ihrer Teenagerzeit gewesen sein. In den weit zurückliegenden Jahren, in denen ihr Kopf und ihr Herz noch voller Träume gewesen waren.
Sie schlug das Buch auf, hatte aber noch nicht einmal die erste Seite zu Ende gelesen, als schon wieder das meckernde Lachen erklang.
Als Elfie unwillkürlich den Kopf wandte, sah sie, dass Melanie inzwischen das Tanga-Oberteil ausgezogen hatte und sich unter den lüsternen Blicken des Graumelierten räkelte wie eine Katze.
Der dunkelhaarige ›Latin Lover‹-Typ hatte sich inzwischen mit auf die Liege seiner Liebsten geschmiegt und küsste Annabelle mit endloser Hingabe.
Das durfte doch wohl nicht wahr sein! So etwas mochte vielleicht auf Mallorca, Nizza oder in anderen Strandclubs durchgehen, aber hier in St. Johann … Kein Wunder, dass jede dritte Ehe geschieden wurde, wenn die Menschen dieses lächerliche Geplänkel für Liebe hielten!
Liebe war ein echtes, großes Gefühl. Liebe war gegenseitiges Verständnis, Zusammenhalt in allen Lebenslagen, Treue! Aber diese Werte gab es heutzutage ja gar nicht mehr. Das erlebte sie in Dr. Gärtners Anwaltskanzlei schließlich täglich zur Genüge.
Elfie versuchte, sich wieder in ihren Roman zu vertiefen, doch inzwischen war ihr die Lust gründlich vergangen. Seufzend klappte sie das Buch zu.
Im selben Moment ertönte schon wieder Melanies aufdringliches Gelächter.
Das war ja nicht auszuhalten! In Windeseile packte Elfie ihre Sachen zusammen, um sich einen anderen Platz zu suchen. So weit wie irgend möglich von den Stettner-Schwestern und ihren Liebhabern entfernt!
Erst am anderen Ende der Liegewiese machte sie wieder Halt. Dort entdeckte sie ein ruhiges Plätzchen, das ihr zusagte.
Erleichtert breitete Elfie ein zweites Mal ihre Decke aus, als ein dick aufgeblasener Wasserball sie am Kopf traf. Es tat zwar nicht besonders weh, aber der Schrecken war umso größer.
Elfie entfuhr ein schriller Schrei. Dieser Tag, auf den sie sich so gefreut und der so verheißungsvoll begonnen hatte, schien mit einem Mal wahrlich nicht mehr ihr Tag zu sein.
Schon überlegte sie, ob sie vielleicht besser ganz einpacken sollte, als eine kleine Patschhand sachte ihren Arm berührte.
»Tut mir leid. Ich wollte dir den Ball net an den Kopf werfen. Es ist aus Versehen passiert. Das glaubst du mir doch, oder?« Die Kinderstimme klang ziemlich zerknirscht. »Hast du dir sehr weh getan? Ich mein, weil du so laut geschrien hast.«
Elfie konnte schon wieder lachen.
Sie beugte sich zu dem rothaarigen, sommersprossigen kleinen Mädchen hinunter, das mit großen Augen fragend zu ihr aufsah. »Nein, ich hab mir eigentlich gar net wehgetan. Alles ist gut. Ich bin nur ziemlich erschrocken, weißt du?«
»Ach so.« Die Kleine atmete erleichtert auf und wandte sich zu ihrer Mutter um, die, ein ebenfalls rothaariges Zwillingspaar an den Händen führend, näher kam. »Ich bin so froh, dass die Frau net geschimpft hat«, sagte sie treuherzig. »Du bist mir doch auch nimmer böse, oder?«
Elfie trat einen Schritt auf die dreifache Mutter zu. »Alles halb so schlimm. Die Kleine hat ja nur …«
»Entschuldigung. Die Silvia ist halt ein richtiger Wildfang und …«
Die beiden Frauen verstummten so gleichzeitig, wie sie begonnen hatten. Einen Augenblick lang schauten sie einander erstaunt an, dann fielen sie sich in die Arme.
»Elfie!«
»Bärbel!« Elfie konnte kaum fassen, dass der Tag nun plötzlich doch wieder eine glückliche Wendung nahm. »Ich hab Onkel Hans und Tante Sophie gleich am ersten Tag nach dir gefragt, aber sie konnten mir nur sagen, dass du geheiratet hast und nach München gezogen bist. Und jetzt treff ich dich hier am Achsteinsee, wo wir früher so oft zusammen beim Baden waren. Wenn das keine schicksalhafte Fügung ist …«
»Da hast du recht. Auch ich hab meinen Augen net getraut, Elfie. Ich hab gedacht, du bist jetzt dauerhaft in Frankfurt. Karrierefrau und so.«
»In Frankfurt bin ich schon noch. Das stimmt. Aber was die Karrierefrau angeht … bin ich wohl net ganz so toll, wie du dir das vorstellst.«
»Egal. Du bist also auf Urlaub hier?«
Die Fragen und Antworten flogen hin und her. Nach einer knappen Viertelstunde wusste Bärbel schon eine ganze Menge über Elfies Leben in Frankfurt.
Und Elfie hatte erfahren, dass Bärbel und ihr Mann sich vor kurzem, zusammen mit den Schwiegereltern, ein kleines Haus am Ortsrand von Engelsbach gekauft hatten, in dem sie nun als Großfamilie wohnten. Bärbel hatte es zurück aufs Land gezogen. Ihr zuliebe hatte sich Bärbels Mann an die Grundschule von Engelsbach versetzen lassen, wo zufällig gerade eine Lehrerstelle frei geworden war.
Während Bärbels drei Rangen mit ihren ungestümen Spielen weiter die Liegewiese unsicher machten, nahmen Bärbel und Elfie auf ihrer Decke unter dem Sonnenschirm Platz, um ihre Unterhaltung fortzusetzen, inzwischen war das Auffrischen von Erinnerungen an der Reihe.
»Weißt du noch, wie wir damals im Achsteinsee um die Wette geschwommen sind?«, entsann sich Elfie plötzlich.
»Und ob«, erwiderte Bärbel. »Aber am lebhaftesten erinnere ich mich an die Samstagabende, an denen wir miteinander in den ›Löwen‹ zum Tanzen gegangen sind. Das war doch immer wieder schön. Die Musik von den ‚Wachnertaler Buam’, die vielen jungen Männer, mit denen wir über die Tanzfläche gewirbelt sind …« Auf Bärbels Züge trat ein verträumter Ausdruck. »Du wirst es net glauben, Elfie, aber in dem Jahr, in dem du zum ersten Mal im Sommer nimmer nach St. Johann gekommen bist, hab ich auf dem Tanzabend meinen Robert kennengelernt. Er hat damals noch studiert und ist mit ein paar Freunden in St. Johann gewesen, um Bergtouren zu unternehmen. Da hat die Bande sich das Tanzvergnügen natürlich net entgehen lassen. Und dann ist es gekommen, wie es kommen musste.«
»Schade, dass ich net dabei war und dass ich deinen Robert nie kennengelernt hab«, bemerkte Elfie. Gut gelaunt kramte sie in ihrer Proviant-Schatzkiste und bot Bärbel ein Stück Marmor-Gugelhupf an.
Bärbel warf bei dieser Gelegenheit einen Blick auf den Ringfinger an Elfies rechter Hand. »Du bist net verheiratet, wie ich sehe«, stellte sie fest.
»Nein, ich bin Single. Und ich werde es bleiben bis an mein Lebensende«, gab Elfie im Brustton der Überzeugung zurück.
»Was du net sagst.« Bärbel grinste. »Ich glaub eher, bis dir der Richtige über den Weg läuft.«
»Den Richtigen gibt es net. Der ist nur eine Einbildung, ein Wunschtraum oder was weiß ich. Sonst würden sich net so viele Frauen von dem vermeintlich Richtigen schon ein paar Jahre nach der Hochzeit wieder scheiden lassen.«
Bärbel bedachte Elfie mit einem Blick, als würde sie an deren Verstand zweifeln. »Also mein Robert ist der Richtige für mich. Zu hundert Prozent. Uns kann nur der Tod scheiden. So wie wir es uns bei der Trauung versprochen haben.«
Elfie wurde rot. »Dich und deinen Robert hab ich natürlich net gemeint. Ich …«
»Das weiß ich doch«, fiel Bärbel der Freundin ins Wort. »Sag, gehen wir am Samstagabend in den ›Löwen‹ zum Tanzen? Du und ich? Wie früher?«
»Zum Tanzen? Ist das dein Ernst?«
»Freilich«, nickte Bärbel.
»Und … und dein Robert? Kommt dein Mann mit? Und wo bleiben die Kinder?«
»Nächsten Samstag feiert einer von Roberts Kollegen Junggesellenabschied. Robert ist eingeladen. Und was die Kinder angeht, sind wir schließlich eine Großfamilie. Meine Schwiegermutter kümmert sich gerne einmal einen Abend lang um die Kleinen.«
Elfie zögerte. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, den Tanzabend zu besuchen, andererseits …
»Denk doch net so lange nach! Was gibt’s denn da groß zu überlegen?«, drängte Bärbel. »Oder hast du etwa Angst, dir könnte der Richtige begegnen?«
»Unsinn. Es ist nur …«
»Komm schon, Elfie. Sei kein Frosch. Ich würde mich wirklich riesig freuen.«
»Also gut. Dann am Samstag im ›Löwen‹. Ganz wie in alten Zeiten.«
*
Als Elfie auf den Tanzsaal des Hotels ›Zum Löwen‹ zuging, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Warum sie so aufgeregt war, wusste sie allerdings selbst nicht. Sollte sie vielleicht doch besser wieder umkehren? Dem Andrang nach zu schließen, waren ohnehin alle Tische besetzt. Und wenn Bärbel nicht reserviert hatte …
»Hallo Elfie. Da bist du ja endlich!« Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich Bärbel vor ihr.
Sie trug ein rotes Dirndl mit einer rosengemusterten Schürze. Ihr Haar hatte sie im Nacken zu einem lockeren Chignon zusammengefasst, was ihr ausgezeichnet stand.
Ein wenig unsicher sah Elfie an sich herunter. War das Trachtenkleid mit den Alpenblumen nicht doch ein bisschen zu unauffällig? Und vor allem viel zu wenig figurbetont? Und die offenen Haare …
»Toll siehst du aus«, stellte Bärbel bewundernd fest, als hätte sie die Gedanken der Freundin erraten.
»Wirklich?«
»Aber ja. Und wenn du mir net glaubst, werden sich heute Abend bestimmt jede Menge Männer finden, die dich mit ihren Komplimenten schneller überzeugen werden, als ich es kann.«
»Wenn wir überhaupt noch einen Platz bekommen«, unkte Elfie, die immer noch am liebsten einen Rückzieher gemacht hätte.
»Ich hab reserviert«, triumphierte Bärbel, hakte die Freundin unter und zog sie zum Tanzsaal weiter.
Als die beiden Frauen eintraten, stimmten die Wachnertaler Buam gerade ihre Instrumente.
»Schau, da drüben«, sagte Bärbel und zeigte auf einen Tisch ziemlich nahe an der Bühne.
Elfies Augen folgten Bärbels ausgestreckter Hand. Und blieben an einem jungen Mann hängen, der sich, angespannt in die Runde blickend, zwischen den Tischreihen hindurch schob, als suche er nach jemandem. Er trug einen Trachtenanzug und hatte braune Augen und dunkle Haare.
»Siehst du den Mann im Trachtenanzug?«, fragte Bärbel. »Genau da, wo er jetzt durchkommt, sitzen wir.«
Elfie brachte kein Wort hervor. Unverwandt schaute sie noch immer den jungen Mann an, bis ihrer beider Blicke sich zufällig trafen.
Elfie wurde abwechselnd heiß und kalt, ihre Hände waren feucht, und ihr Puls raste. Erst als der junge Mann sich abwandte, beruhigte Elfie sich wieder.
»Was hast denn? Ist dir net gut?«, fragte Bärbel besorgt.
»Doch, doch. Es war nur grad … Ach, vergiss es.« Elfie ärgerte sich über sich selbst. Sie war doch nicht mannstoll wie die Stettner-Schwestern! Und trotzdem hatte der Mann im Trachtenanzug sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. So etwas durfte nicht wieder vorkommen!
Betont munter folgte sie Bärbel zu den reservierten Plätzen, jeden weiteren Blickkontakt mit Männern tunlichst vermeidend.
Kaum hatten die beiden Freundinnen sich gesetzt, als auch schon eine Bedienung mit der Speisekarte auftauchte und vorab die Getränke aufnahm.
Bärbel bestellte ein Weißbier, und Elfie tat es ihr nach.
»Ich glaub, ich nehm den Schweinsbraten«, sagte Bärbel, während sie die Karte studierte. »Ich hab einen Riesenhunger.«
Elfie war noch unentschlossen und blätterte immer wieder in der Speisekarte hin und her.
Schließlich begannen die Wachnertaler Buam zu spielen.
Die Speisekarte noch in der Hand, bemerkte Elfie aus dem Augenwinkel, wie der Fremde, der sie derart in seinen Bann gezogen hatte, genau auf ihren Tisch zukam.
Elfie legte die Speisekarte weg. Unwillkürlich straffte sich ihre Gestalt. Wenn er vor sie jetzt um einen Tanz bitten würde …
Zu Elfies großer Enttäuschung ging er jedoch an ihr vorbei und forderte stattdessen eine junge Frau auf, die an einem der benachbarten Tische saß …
»Und was darf ich zum Essen bringen?«, riss die Kellnerin Elfie aus ihren Gedanken.
Bärbel bestellte ihren Braten.
»Mir dasselbe, bitte«, plapperte Elfie, ohne bei der Sache zu sein. Ob der Mann im Trachtenanzug aus St. Johann stammte? Kannte er das junge Madel, das er zum Tanzen geholt hatte? Möglichst unauffällig suchte Elfie die beiden auf der Tanzfläche. Es dauerte nicht lang, bis sie sie entdeckte.
Elfie fand, dass sie nicht recht zusammenpassten. Der junge Mann im Trachtenanzug war groß und schlank, seine Partnerin eher klein und füllig. Auch die Tanzbewegungen der beiden sahen alles andere als harmonisch aus. Bestimmt lag es an dem Madel. Dass er ein schlechter Tänzer war, konnte sich Elfie jedenfalls nur sehr schwer vorstellen. Wenn er sie aufgefordert hätte …
»Darf ich bitten?«
Elfie fuhr herum. Halb verblüfft und halb erschrocken schaute sie in das Gesicht des feurigen Lovers, mit dem Annabelle Stettner am Achsteinsee geturtelt hatte. Widerwillen stieg in ihr hoch. Sie musste eine Ausrede finden.
Sie musste sagen, dass sie sich den Fuß verstaucht hatte. Oder dass sie nicht tanzen konnte. Oder dass ihr schrecklich eifersüchtiger Freund jeden Augenblick auftauchen konnte. Oder …
»Tanzen Sie etwa nicht?« Die Augen des ›Latin Lovers‹ blitzten, und sein Lächeln entblößte makellose, blendend weiße Zähne.
Elfie öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen. Wenn sie auch keine Ahnung hatte, was.
»Freilich tanzt sie«, erwiderte in diesem Moment Bärbel an ihrer Stelle. »Sie ist nur manchmal ein bissel verträumt.«
Elfie fiel aus allen Wolken. Bärbel hatte es gut gemeint, das war klar. Sie konnte ja nicht wissen, dass …
Wie eine Marionettenpuppe, die an unsichtbaren Fäden bewegt wird, erhob sich Elfie und stakte neben dem Latin Lover zur Tanzfläche. Als sie merkte, dass ihnen von den anderen Tischen die Blicke folgten, schlug sie sofort die Augen nieder.
Die Wachnertaler Buam spielten einen langsamen Walzer.
Irgendetwas Schnelleres wäre ihr lieber gewesen, aber solange sie mit dem Typ keinen Tango aufs Parkett legen musste …
Als der Dunkellockige seinen Arm um ihre Hüften legte und sie an sich zog, versteifte sich Elfies ganzer Körper.
»Ich hab Sie droben am Achsteinsee gesehen. Und bewundert«, versuchte er, ein Gespräch zu beginnen. »Machen Sie Ferien in St. Johann?«
»Ja. Ich wohne in der Pension Wenk. In der gleichen Pension, in der auch Annabelle Stettner und ihre Schwester wohnen«, antwortete Elfie, so patzig sie irgend konnte.
Die Mundwinkel des Mannes verzogen sich zu einem Grinsen, aber es gelang ihm rasch, seine Belustigung zu unterdrücken. »Ich bin übrigens Markus Müller«, stellte er sich vor. »Ich komme aus Garmisch. Dort betreibe ich ein Fitnessstudio. Wenn ich Freizeit habe, fahre ich oft nach St. Johann. Zum Tanzen und zum Bergsteigen. Schließlich muss sich ein Fitnesstrainer ja auch selber fit halten. Und immer nur an den Geräten zu trainieren, wird auf Dauer langweilig.«
»Kann schon sein«, war alles, was Elfie dazu einfiel. Dann schwieg sie wieder wie ein Stockfisch.
Trotzdem schenkte ihr Markus Müller weiterhin sein strahlendes Lächeln. »Und wie heißen Sie?«, erkundigte er sich. »Oder … lassen Sie mich raten? Was für ein Name passt zu einer so schönen Frau?«
Elfie hätte ihrem Tänzer am liebsten ausgelacht. Ein Latin Lover, der auf feurigen, südländischen Charme machte, Markus Müller hieß und aus Garmisch kam! Das schlug doch dem Fass den Boden aus!
»Wie oft darf ich raten?«, hauchte indessen Markus Müller so dicht an Elfies Gesicht, dass sie seinen scharfen Pfefferminzatem riechen konnte. »Dreimal? Viermal?« Sein Mund kam noch näher. »Und was bekomme ich, wenn ich richtig rate?«
Elfie überlegte fieberhaft, wie sie sich von ihrem Tänzer befreien konnte ohne allzu großes Aufsehen zu erregen, als sie plötzlich eine Hand auf ihrem Arm spürte.
»Darf ich Ihnen Ihre Dame entführen?«
Elfie wäre dem Bergpfarrer am liebsten um den Hals gefallen vor Erleichterung.
Widerwillig gab Markus Müller sie frei.
Sofort übernahm Sebastian Trenker die Führung und tanzte mit Elfie davon, geschickt zwischen den dicht gedrängt tanzenden Paaren hindurch manövrierend.
Als die letzten Töne des langsamen Walzers verklangen, erreichten sie den Tisch an dem Sebastian saß.
»Möchten Sie sich ein bissel zu mir setzen?«, fragte er freundlich und zog für Elfie einen weiteren Stuhl heran.
Elfie nahm Platz und bekam im selben Moment große Augen.
Am Tisch des Bergpfarrers saßen nicht nur die Honoratioren von St. Johann, sondern auch Max Trenker, Sebastians Bruder, und der Mann im Trachtenanzug, beide offenbar in ein hochinteressantes Gespräch vertieft.
Der Bergpfarrer wandte sich ihnen zu und räusperte sich. »Darf ich bekannt machen?«, unterbrach er die Unterhaltung. Er wies auf Elfie. »Das hier ist Elfie Wenk. Sie lebt in Frankfurt und verbringt im Moment ihren Urlaub in der Pension Wenk, bei Onkel und Tante.«
Max Trenker und vor allem der Mann im Trachtenanzug spitzten mit einem Mal förmlich die Ohren.
»Meinen Bruder kennst du vielleicht noch von früher, Elfie«, fuhr Sebastian fort. »Er ist noch immer Polizist hier in St. Johann. Der Herr neben ihm heißt Klaus Burger. Klaus ist ein guter Bekannter von Max. Klaus kommt aus München und hält sich zurzeit genau wie du hier in unserem schönen St. Johann auf. Er wohnt in der Pension ›Edelweiß‹ bei meinem Cousin Andreas und seiner Frau Marion.«
Elfies Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, alle anderen am Tisch könnten es hören.
Der interessante Mann im Trachtenanzug hieß also Klaus und war mit der Familie Trenker bekannt. Und schenkte ihr wie durch ein Wunder mit einem Mal seine volle Aufmerksamkeit.
Fast bedauerte Elfie es, dass gerade jetzt Bärbel auftauchte.
Sie war außer Atem, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich, und presste ihre rechte Hand auf ihr Herz.
»Entschuldigung, Herr Pfarrer! Entschuldigung, Herr Trenker!«, stieß sie hervor und wandte sich dann Elfie zu. »Ich hab dich schon überall gesucht, Elfie. Ich wollte dir nämlich sagen, dass ich heim nach Engelsbach muss. Meine Schwiegereltern haben mich auf dem Handy angerufen. Silvia hat plötzlich Bauchweh bekommen. Der Arzt ist schon unterwegs. Ich muss zu meiner Kleinen. Du … du bist mir doch net bös, wenn ich dich jetzt einfach hier allein lasse?«
Elfie schüttelte den Kopf. »Aber nein, Bärbel. Die Kleine geht vor. Das ist doch klar. Sag ihr recht liebe Grüße von mir und gute Besserung. Ich ruf dich morgen früh an, ob alles wieder in Ordnung ist, okay?«
Bärbel fiel der Freundin um den Hals. »Du bist ein Schatz, Elfie. Wirklich. Vielen Dank für dein Verständnis. Ich hoffe, du amüsierst dich noch ein bissel. Komm dann gut heim.«
Max Trenker nickte Bärbel aufmunternd zu. »Das wird schon wieder mit der Kleinen«, tröstete er. »Bei Kindern ist Bauchweh meistens viel harmloser, als es den Anschein hat. Das weiß ich von unserem kleinen Sebastian. Zu viel Eis, zu viel Schokolade, zu viele Kekse … Und was Ihre Freundin betrifft, hat sie mit Sicherheit noch eine Weile Spaß beim Tanzen. Dafür werden wir schon sorgen.« Er grinste und gab Klaus Burger einen leichten Rippenstoß. »Unser Klaus schwingt sowieso verdammt gern das Tanzbein. Stimmt’s oder hab ich Recht? Und nach Hause eskortieren wir Frau Wenk, wenn es sein muss, mit Polizeischutz.«
Obwohl sie den Tränen nahe war, musste Bärbel nun lachen. »Wenn das so ist, kann ich ja beruhigt losfahren«, sagte sie. »Auf Wiedersehen also und noch einen schönen Abend.« Die letzten Worte rief sie, bereits in Richtung Tür laufend, über die Schulter zurück.
Elfie sah ihr mitleidig nach.
»Tut mir leid für Ihre Freundin. Und für die Kleine«, ließ sich, als Bärbel verschwunden war, Klaus Burger vernehmen. »Wenn Sie trotzdem noch ein bissel tanzen mögen, Frau Wenk, steh ich Ihnen gerne zur Verfügung. Ich werde doch den Max net zum Lügner stempeln.«
Wie auf Kommando begannen in diesem Moment die Wachnertaler Buam wieder zu musizieren.
Elfie wusste im ersten Augenblick nicht, was sie sagen sollte. Aber als Klaus Burger sich erhob, hielt es auch Elfie nicht mehr auf ihrem Stuhl.
Die beiden jungen Menschen gingen aufeinander zu, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, und begannen zu tanzen.
Es war Elfie, als schwebe sie in Klaus Burgers Armen über das Parkett, ohne den Boden zu berühren. Sie fühlte sich leicht, frei und schwerelos wie auf Schmetterlingsflügeln. Und doch spürte sie die Wärme und die sanfte Kraft, die von Klaus Burgers Körper ausging und sie einhüllte in Nähe und Geborgenheit.
Als die Musik der Wachnertaler Buam verstummte und Klaus Burger Elfie behutsam zu ihrem Platz zurückführte, hätte sie nicht sagen können, ob der Tanz Sekunden oder Stunden oder eine Ewigkeit gedauert hatte.
Der ganze restliche Abend verging wie im Rausch.
»Soll ich Sie heimbegleiten, Frau Wenk?«, fragte Klaus Burger schließlich, als der Bergpfarrer und Max Trenker zum Aufbruch rüsteten und auch viele der anderen Gäste sich auf den Nachhauseweg machten.
Obwohl Elfie nicht die geringste Angst davor hatte, allein durch das nächtliche St. Johann zu laufen, nahm sie Klaus Burgers Angebot an.
Gemächlich spazierten sie nebeneinander her, ohne sich auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Und doch kam es Elfie so vor, als würde die laue Nachtluft, die sie umgab, knistern vor Spannung. Und als würde jedes Wort, das sie sprachen, diese Spannung noch steigern. Auch wenn sie sich nur über Belanglosigkeiten unterhielten.
Klaus Burger fragte Elfie, ob die Pension ihrer Tante und ihres Onkels voll belegt war, ob die Gäste nett waren, ob es sich eher um ältere oder um jüngere Leute handelte.
Elfie gab bereitwillig Auskunft. Sie berichtete ihm sogar von den Stettner-Schwestern und ihrem auffälligen Verhalten, wobei sie zu ihrer eigenen Überraschung feststellte, dass der Humor ihres Onkels allmählich auf sie abfärbte.
Jedenfalls musste Klaus Burger während ihrer Schilderung ein paarmal herzlich lachen und wollte gleich noch weitere Anekdoten über die Stettner-Schwestern hören.
Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht, als Elfie und Klaus Burger die Pension Wenk erreichten.
Hinter keinem der Fenster brannte mehr Licht, nur die Hoflampe warf einen matten Schein auf den Platz vor der Haustür.
»Dann gute Nacht. Und schlafen Sie schön«, sagte Klaus Burger. Er ergriff zum Abschied Elfies Hand und hielt sie lange und fest in der seinen.
Einen Moment lang hatte Elfie das Gefühl, er wollte sich ihr nähern und sie küssen. Doch dann streichelte er nur kurz und sachte wie ein Windhauch über ihre Wange, ehe er in der Dunkelheit verschwand.
*
»Und? Wie war’s auf dem Tanzabend? Wie viele Eroberungen hast du gemacht? Wie viele Herzen hast du gebrochen?«, fragte Onkel Hans am anderen Morgen beim Frühstück, während er einen großen Löffel von Sophies selbst gemachter Erdbeer-Rhabarber-Marmelade auf sein Butterbrot tat und fein säuberlich bis zum äußersten Rand verteilte.
Elfie zuckte nur die Schultern, um zu zeigen, wie wenig sie sich aus Männern machte, aber ihr glücklicher Gesichtsausdruck strafte die gleichgültige Geste Lügen.
»Bärbel musste leider schon ziemlich früh gehen«, wich sie aus. »Die kleine Silvia hat plötzlich Bauchschmerzen bekommen, und da hat sie sich natürlich Sorgen gemacht.«
»Das kann ich gut verstehen«, nickte Tante Sophie.
Sie und ihr Mann hatten sich immer Kinder gewünscht, aber es war leider beim Wünschen geblieben. Nach einer Fehlgeburt, die ihr beinahe das Leben gekostet hätte, hatten sie ihren Traum von einer Familie begraben müssen und sich stattdessen Jahr für Jahr an ihrem »Ferienkind« Elfie gefreut.
»Hoffentlich geht es Silvia mittlerweile wieder besser«, meinte Onkel Hans. »Vielleicht solltest du anrufen und dich erkundigen, Elfie.«
»Ist bereits passiert«, erwiderte Elfie, froh über den offensichtlichen Erfolg ihres Ablenkungsmanövers. »Die Kleine ist schon wieder wohlauf. Sie hat gestern Abend vor dem Schlafengehen die Dose gefunden, in der Bärbel die Süßigkeiten wegschließt, und alles auf einmal weggeputzt. Da konnte das Bauchgrimmen ja nicht ausbleiben.«
»Allerdings, denn das Meiste, was gut schmeckt, ist leider nicht gesund«, stellte Hans seufzend fest, tat vier Löffel Zucker in seinen Milchkaffee und biss, Sophies mahnende Blicke ignorierend, herzhaft in sein Marmeladenbrot.
»Wie bist du eigentlich nach Hause gekommen, Elfie?«, erkundigte er sich, als er mit Kauen fertig war.
Elfie nahm sich ein Croissant. »Zu Fuß natürlich. So weit ist es vom ›Löwen‹ bis hierher ja auch wieder net, dass ich gleich ein Taxi hätte nehmen müssen.«
»Nein, das net«, gab ihr Onkel Hans. »Aber stockfinstere Nacht war es allemal. Also zu meiner Zeit hätte ein Mann ein Madl, mit dem er den ganzen Abend getanzt hat, heimbegleitet … « Hans brach ab und rieb sich das Schienbein, weil seine Frau ihm unter dem Tisch einen leichten Fußtritt verpasst hatte.
»Woher willst du eigentlich wissen, dass ich den ganzen Abend mit ein und demselben Mann getanzt hab, Onkel?«, fragte Elfie unschuldig.
»Weil der Mann dich heimbegleitet hat«, platzte ihr Onkel heraus, während er einem neuerlichen Fußtritt geschickt auswich. »Ich hab euch gesehen, wie ihr vor der Haustür gestanden seid. Es hat net viel gefehlt, und er hätte dich abgebusselt. Er hat zwar die Kurve gerade noch gekratzt, aber verdammt knapp war es allemal.« Hans Wenk grinste. »Wobei ich mir net sicher bin, ob ich ihn deshalb für gescheit oder vielleicht doch eher für dumm halten soll.«
Eine Weile herrschte, auf diese Worte hin, verlegenes Schweigen, in der Wohnküche der Wenks. Nur das Ticken der alten Standuhr war zu hören und das Morgengezwitscher der Vögel, das durch das geöffnete Fenster hereindrang.
»Was ist er denn von Beruf?«, wollte Onkel Hans nach einer Weile wissen.
»Das weiß ich net. Danach hab ich ihn net gefragt«, erwiderte Elfie.
»Das hättest du aber tun sollen, Madl«, belehrte sie der Onkel. »Wenn er nämlich keinen guten Beruf hat und net genug Geld verdient, musst du ein Leben lang weiter in deiner Anwaltskanzlei rackern.«
»Nimm net alles für bare Münze, was der Onkel Hans sagt, Madl. Geld ist net alles im Leben«, warf ihre Tante ein. »Hauptsache ein Mann ist lieb und ehrlich und treu. So wie der Onkel Hans. Alles andere ist zweitrangig.«
Der Onkel wollte widersprechen, schwieg dann aber. Immerhin war der Start mit der Fremdenpension, nach dem Tod seiner Eltern, nicht einfach gewesen. Viel mehr als eine Menge Arbeit hatte er seiner Sophie am Anfang nicht bieten können. Und was die vorteilhaften Charaktereigenschaften betraf, die seine gute Sophie ihm unterstellte, hatten sie sich eigentlich erst so richtig mit zunehmendem Alter heraus kristallisiert.
»Der Mann, der mich heimbegleitet hat, heißt Klaus Burger«, bekannte Elfie nun doch Farbe. »Er macht zurzeit Ferien, genau wie ich, und ist in der Pension ›Edelweiß‹ untergebracht. Pfarrer Trenker und er kennen sich, und Max Trenker kennt er auch.«
»Das klingt ja schon einmal gar net schlecht«, stellte Sophie befriedigt fest. »Mit einem Hallodri würden sich Pfarrer Trenker und sein Bruder net abgeben. Da bin ich mir ganz sicher.«
Elfies Blicke wanderten von Tante Sophie zu Onkel Hans und wieder zurück.
»Das hört sich ja an, als ob ihr meinen würdet, dass zwischen mir und diesem Klaus Burger etwas Ernstes sein könnte. Wie kommt ihr denn auf so eine Idee?«, fragte sie. »Bloß weil ich mit jemand getanzt und dieser Jemand mich heimbegleitet hat, ist das doch kein Grund …«
»Nein, wäre es auch net«, fiel der Onkel Elfie ins Wort. »Aber dein verliebter Blick spricht, wie man so schön sagt, Bände. Du musst bloß einmal kurz in den Spiegel schauen, dann wirst du mir Recht geben.«
Elfie kaute an ihrem Croissant. Sie schämte sich ein bisschen vor Onkel Hans, weil er sie so schnell durchschaut hatte.
In der Tat hatte sie die ganze Nacht von Klaus Burger geträumt. Sowohl im Schlaf als auch im wachen Zustand.
Sie hatte sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn er ihr seine Liebe gestand. Wie es sein würde, wenn …
Sie war wie berauscht gewesen, und erst am Morgen war ihr klar geworden, wie verrückt ihre Träume waren.
Klaus Burger hatte nur ihre Hand ein wenig länger gehalten als üblich und flüchtig ihre Wange gestreichelt. Er hatte sie nicht einmal um ein Wiedersehen gebeten. Und das hätte er mit Sicherheit getan, wenn er genauso empfinden würde wie sie selbst. Was hatte dieser Mann an sich, dass er es schaffte …
Das Klingeln des Telefons ließ sowohl Elfie als auch Tante und Onkel aufhorchen.
»Nimm ab, Elfie. Das ist bestimmt für dich«, entschied der Onkel.
»Warum denkst du, dass der Anruf für mich ist?«, fragte sie. »Bestimmt handelt es sich um eine Buchungsanfrage für eines eurer Zimmer.«
Onkel Hans sagte nichts, er hielt Elfie nur wortlos den Telefonhörer hin. Dann wartete er geduldig, bis sie mit ihrem »Ja gerne« und »Danke, ich freu mich ja so«, fertig war.
»Und?«, fragte er, als sie den Hörer wieder aufgelegt hatte.
Elfies Augen leuchteten wie zwei Sonnen. »Er war es tatsächlich. Er hat mich eingeladen. Zu einem Ausflug auf den Kogler«, stieß sie aufgeregt hervor. »Ich hab zugesagt. Ihr habt ja gehört, dass ich zugesagt hab.«
»Freilich haben wir es gehört. Das hast du gut gemacht, Madl«, lobte Onkel Hans. »Gelt Sophie, das hat sie doch prima gemacht, oder?«
*
Unruhig lief Klaus Burger in seinem Gästezimmer in der Pension ›Edelweiß‹ auf und ab. Hin und wieder blieb er am Fenster oder an der Balkontür stehen und schaute hinaus, aber nie für lange Zeit. Es gab im Grunde auch nichts zu sehen draußen. Immerhin war es erst vier Uhr morgens, und über dem Land lag noch eine graue, nebelverhangene Dämmerung.
Für fünf Uhr hatte Klaus Burger sich den Wecker gestellt, aber das war völlig unnötig gewesen. Er hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht und hatte es irgendwann nicht mehr im Bett ausgehalten.
In einer guten Stunde wollte er aufbrechen zum Kogler. Zuvor würde er noch bei der Fremdenpension Wenk vorbeifahren und Elfie abholen.
Ob es richtig gewesen war, sie so spontan zu diesem Bergausflug einzuladen? Mit einem Mal war Klaus sich nicht mehr sicher. Natürlich hatte Elfie Wenk ihm ausnehmend gut gefallen, als er sie vergangenen Samstag auf dem Tanzabend im ›Löwen‹ kennengelernt hatte.
Wie sie plötzlich vor ihm stand in ihrem schlichten, aber wunderbar duftigen Trachtensommerkleid und ihren langen, lockigen Haaren, war ihm das Herz aufgegangen.
Und dann der Tanz, bei dem sie leicht wie eine Feder in seinen Armen geschwebt war, der Nachhauseweg durch das dunkle, nur vom Mond und von den Sternen erleuchtete St. Johann, der Abschied vor der Fremdenpension Wenk … Energisch riss Klaus sich von seinen Träumereien los. Er war nicht zum Träumen in St. Johann.
Elfie glaubte zwar, dass er hier Ferien machte, aber das stimmte nur zum Teil. Zu einem ziemlich kleinen Teil, um genau zu sein. Und im Übrigen hatte er sich nach der herben Enttäuschung mit Erika geschworen, die Liebe erst einmal außen vor zu lassen.
Klaus rieb sich das Kinn. Die Liebe? War es denn Liebe, was er für Elfie empfand? Kopfschüttelnd beschloss er, auf leisen Sohlen hinunter in die Eingangshalle zu schleichen und sich einen Espresso aus dem Automaten zu holen. Der Schlafmangel machte ihn offenbar ganz wirr im Kopf!
Liebe auf den ersten Blick. So etwas gab es höchstens in romantischen Liebesromanen und in kitschigen Kinofilmen. Im wirklichen Leben war Liebe ein Gefühl, das langsam wachsen musste, während man den Partner immer näher kennenlernte. Alles andere führte zu nichts.
Zu nichts und wieder nichts. Das hatte er bei Erika gesehen.
Auf einer Feier bei Freunden war sie ihm vorgestellt worden, und er war ihrer Attraktivität und ihrer enormen erotischen Ausstrahlung sofort erlegen. In den Wochen, die folgten, war er ihr regelrecht verfallen gewesen. Bis sie ihm Hörner aufgesetzt hatte. In seiner eigenen Wohnung. Und ausgerechnet mit Theo, seinem besten Freund.
Energisch wischte Klaus die Gedanken an seine gescheiterte Beziehung beiseite und nippte stattdessen an seinem kräftig gezuckerten, heißen Espresso.
Der starke Kaffee tat ihm gut.
Jedenfalls sah er den Ausflug mit Elfie Wenk plötzlich mit anderen Augen. Wenn er die junge Frau heute, bei Tageslicht und ohne Tanzmusik, wiedersah, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht sein. Die Enttäuschung würde vielleicht ein bisschen weh tun, aber sie würde auch heilsam sein.
Er würde seine ganzen Gedanken wieder auf seine eigentliche Aufgabe hier in St. Johann konzentrieren. Mit Elfie würde er nur so weit Kontakt halten, als es für diese Aufgabe notwendig und nützlich war.
Erleichtert trank Klaus Burger seine Espressotasse leer, als er hinter sich ein leises Geräusch hörte.
»Guten Morgen, Herr Burger! Sie sind schon auf? Haben Sie net gut geschlafen? Oder brauchen Sie irgendetwas?«, vernahm er im selben Augenblick Marion Trenkers Stimme.
Er drehte sich um. »Nein, danke. Ich hab mir bloß einen Espresso geholt. Damit ich richtig fit bin für meine große Tour auf den Kogler heute. Ich … ich hab Sie doch hoffentlich net geweckt.«
Marion Trenker schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Ich bin schon seit einer halben Stunde auf. Ich hab gerade Ihre Lunchpakete hergerichtet und Ihr Frühstück. Wenn Sie möchten, können Sie ins Frühstückszimmer gehen. Dann gibt’s gleich noch mehr Kaffee und etwas zum Beißen, damit nachher die Kräfte für den Aufstieg reichen.«
Bereitwillig folgte Klaus Burger Marion Trenkers Aufforderung.
Er ließ sich ein üppiges Frühstück schmecken und sich anschließend von Andreas Trenker, anhand einer Wanderkarte, noch einmal den Weg erklären, der die schönsten Ausblicke bot.
»Mit dem Wetter haben S’ Glück«, meinte Andreas Trenker. »Gerade vorhin hab ich noch einmal den Wetterbericht im Radio gehört: Kaiserwetter den ganzen Tag. Dazu net übermäßig heiß und also gegen Nachmittag und Abend auch keine Gewitterneigung.«
»Wunderbar«, freute sich Klaus Burger.
Als er kurze Zeit später, Bergschuhe an den Füßen und den mit Marion Trenkers Lunchpaketen gefüllten Rucksack geschultert, ins Freie trat, konnte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie gut es Petrus, der himmlische Wettermacher, mit ihm meinte. Die Nebelschleier waren zwar noch da, aber es war deutlich zu erkennen, dass die Sonne bald die Oberhand gewinnen würde.
Klaus Burger setzte sich in seinen Kombi und machte sich auf den Weg zur Fremdenpension Wenk.
Abgemacht war abgemacht. Auch wenn Elfie es sich möglicherweise anders überlegt hatte. Vielleicht hatte sie auch bedenken bekommen oder die Verabredung vergessen. Vielleicht lag sie noch im Bett und wollte lieber ausschlafen. Vielleicht …
Als der Wegweiser zum Gästehaus in Sicht kam, wurde ihm rasch klar, dass nichts von alldem zutraf. Er brauchte nämlich nicht einmal abzubiegen und bis vors Haus zu fahren.
Elfie stand schon marschbereit unten an der Straße.
Sie trug eine enge blaue Jeans, die ihre zierliche, schlanke Figur betonte, und dazu eine bunt karierte Bluse mit hoch gekrempelten Ärmeln. Um ihre schmalen Hüften hatte sie eine Strickjacke gebunden, und neben ihr auf dem Asphalt stand ein Rucksack, der so voll war, als wäre er für eine mehrtägige Expedition in unbewohntes Gebiet gepackt worden.
Als Elfie Klaus Burgers Auto herankommen sah, winkte sie, nahm den riesigen Rucksack auf und lief dem Wagen ein Stück entgegen.
Elfie erschien ihm noch schöner, als er sie vom Tanzabend her in Erinnerung hatte. Sie war überhaupt die schönste Frau, die ihm je begegnet war.
Er hielt am Straßenrand, verstaute Elfies Rucksack im Kofferraum und öffnete ihr die Beifahrertür.
Als sie schließlich neben ihm saß, hätte er seinen Kopf am liebsten immer wieder zur Seite gedreht, um sie anzuschauen.
»Ich hab mich riesig auf den Ausflug gefreut«, sagte Elfie in überschäumender Natürlichkeit. »Danke, dass Sie mich eingeladen haben, Herr Burger. Ich glaub, dieser Tag wird der schönste, den ich bisher in St. Johann hatte.«
Klaus erwiderte nichts. Die Enttäuschung mit Erika, seine Aufgabe in St. Johann, alles erschien ihm auf einmal belanglos. Weit weg, als gehörte es zu einem anderen Leben. Was zählte, war nur noch Elfies Gegenwart. Und der gemeinsame Ausflug in die Bergwelt, von dem er jeden Moment auskosten würde.
*
Der Bergpfad führte langsam, aber stetig bergan. Teilweise durch Mischwald, dann wieder über freies Gelände, von wo aus man die Aussicht auf eine ganze Kette von Berggipfeln genießen konnte. Die Wege waren sicher und gut begehbar. Andreas Trenker hatte nicht zu viel versprochen.
Trotzdem fragte Klaus, als sie eine gute Stunde gegangen waren, ob es ihr nicht zu viel würde und ob sie nicht eine Rast bräuchte.
Elfie schüttelte lachend den Kopf. Der Kogler war schließlich ein beliebtes Wochenendziel für Bergtouristen aus München, sogar für Familien mit Kindern. »Aber eine Rast könnte trotzdem net schaden. Wenn wir einen Teil von unserem Proviant aufessen, hat das den Vorteil, dass hinterher unsere Rucksäcke nimmer so schwer sind.«
Da konnte Klaus Burger nur zustimmen.
Sie setzten sich, als sie auf eine Lichtung mit einer schönen Aussicht hinaus traten, auf einen Baumstamm, packten ihre Rucksäcke aus und bissen heißhungrig in ihre Semmeln.
»Haben Sie eigentlich schon öfter in St. Johann Urlaub gemacht?«, versuchte Elfie ein Gespräch in Gang zu bringen.
Klaus schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin zum ersten Mal im Wachnertal. Leider bin ich auch noch nie am Wochenende hier oben auf dem Kogler gewesen. Obwohl ich Münchner bin«, schmunzelte er. »Und obwohl ich im Grunde gern in den Bergen herum kraxle.«
»Welche Berge haben Sie denn dann im letzten Urlaub unsicher gemacht?«, fragte Elfie weiter.
»Gute Frage«, grinste Klaus. »Gar keine. Weil ich nämlich schon seit ein paar Jahren net im Urlaub war. So leid es mir getan hat, aber es vertrug sich net mit der vielen Arbeit.«
»Das kommt mir verdammt bekannt vor«, entfuhr es Elfie. »Arbeiten Sie etwa auch in einem Anwaltsbüro?«
Klaus Burger sah Elfie verdutzt an. »Nein«, erwiderte er. »Ich … ich arbeite bei … einem Sicherheitsdienst. Und Sie also bei einem Anwalt?«
Elfie nickte und erzählte von der stressigen Zeit in Frankfurt und von ihrer Freude, nach langen Jahren, wieder einmal bei Onkel und Tante zu sein.
Klaus hörte ihr aufmerksam zu. »Sie sind ein echter Familienmensch«, stellte er fest. »Das gefällt mir. Weil ich selber auch einer bin, das Alleinsein ist net gerade mein Ding. Nur verbringen meine Eltern ihren Ruhestand leider auf Mallorca. Das ist mir für einen Kurztrip ein bissel zu weit und zu teuer.« Er zuckte die Schultern. »Die Großstadt mag ich im Übrigen genauso wenig wie Sie. Auch wenn man München immer wieder als Weltstadt mit Herz bezeichnet, bleibt Stadt halt doch Stadt. Und zubetoniert bleibt zubetoniert.«
Elfie stützte ihren Kopf in ihre Hände und zwinkerte Klaus Burger lächelnd zu. »Ich glaube, wir haben eine ganze Menge Gemeinsamkeiten.«
»Sieht fast so aus«, pflichtete Klaus ihr bei. Und legte in einem plötzlichen Impuls seinen Arm um ihre Schulter.
Elfie zuckte im ersten Moment zusammen, entspannte sich aber sofort wieder. Sich an Klaus’ Schulter lehnend, genoss sie seine Nähe.
Er war ihr, obwohl sie sich noch kaum kannten, mit einem Mal so vertraut, als hätten sie schon viele Jahre Seite an Seite verbracht. Oder als wären sie sich in einem früheren Leben bereits begegnet.
Klaus zog Elfie noch ein bisschen enger an sich. »Wenn wir schon so viele Gemeinsamkeiten haben, verstehe ich eigentlich net, warum wir immer noch Sie zueinander sagen.«
»Ich auch net«, gab Elfie zurück, während sie eine warme Welle von Zuneigung und Glück in sich aufsteigen fühlte.
»Dann müssen wir das eben so schnell wie möglich ändern«, schlug Klaus Burger vor.
»Ja, das machen wir!« Elfie griff sich ihren Rucksack, wühlte eine Weile darin herum und zog dann einen Flachmann heraus. »Wenn wir schon keinen Schampus zum Anstoßen haben, müssen wir halt mit dem Birnenschnaps von meinem Onkel vorlieb nehmen. Er ist zwar net so nobel, aber schlecht schmeckt er auf alle Fälle net.«
Klaus war sofort einverstanden. Er trank einen Schluck aus der Schnapsflasche, die Elfie ihm hinhielt, und reichte sie dann an Elfie zurück, die ebenfalls trank.
»Wunderbar. Das war jetzt schon einmal ein indirekter Kuss, liebe Elfie«, bemerkte er mit einem Augenzwinkern. »Jetzt müssen wir, um das Du zu besiegeln, nur noch einen direkten Kuss folgen lassen.«
Elfie nahm sicherheitshalber einen weiteren kleinen Schluck aus der Schnapsflasche. »Ja, das müssen wir wohl«, sagte sie und schloss die Augen.
Im nächsten Moment spürte sie seine Lippen auf den ihren. Sachte und ein bisschen flüchtig, wie es bei einem Kuss unter frisch gebackenen Duzfreunden üblich war.
Doch ehe Elfie Gelegenheit hatte, enttäuscht zu sein, wurde der Druck von Klaus’ Lippen stärker und leidenschaftlicher.
Elfie öffnete überrascht die Augen, schloss sie aber sofort wieder, weil sich die ganze Welt um sie und Klaus herum schneller und schneller drehte. Ohne zu überlegen, was sie tat, erwiderte sie seinen Kuss mit derselben Intensität.
Fast den ganzen restlichen Weg bis zur Streusachhütte konnte sie an nichts anderes mehr denken als an diesen Kuss, nicht ahnend, dass es Klaus ganz genauso erging.
Beinahe übermütig hüpfte Elfie, an der Hütte angekommen, die Stufen zu der aus Holzplanken gezimmerten Terrasse hinauf und zog Klaus an der Hand hinterher.
Zu Klaus’ und Elfies Freude war die Terrasse, weil es Werktag und der Mittagsandrang bereits vorüber war, nicht allzu voll. Sie konnten sich ihren Platz aussuchen und entschieden sich für einen am Rande liegenden Ecktisch, an dem sie auch zur Kaffeezeit noch halbwegs ungestört bleiben würden.
Vergnügt genossen sie die Sonne, das Essen und ihr Glück zu zweit. Wie schön das Leben doch sein konnte!
Elfie schreckte erst hoch, als sie ein lautes Lachen vernahm, das ihr irgendwie bekannt vorkam.