Ediths Tagebuch - Patricia Highsmith - E-Book

Ediths Tagebuch E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

ine Mutter notiert in ihrem Tagebuch, was sie bewegt: Ihr Ehemann trägt sie auf Händen, Sohn Cliffie brilliert an der Elite-Universität Princeton; die Mädchen und die Firmen reißen sich um ihn. Edith selbst macht Karriere als Journalistin. Das ist die Welt, die sie gerne hätte. Doch was Edith Howland in ihrem Tagebuch notiert, sind Tagträume, ist eine Wunschwelt…

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Seitenzahl: 561

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Patricia Highsmith

Ediths Tagebuch

Roman

Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Ediths Tagebuch

Für Marion

1

Edith hatte sich beim Packen das Tagebuch bis zuletzt aufgespart, hauptsächlich deshalb, weil sie nicht wußte, wo sie es hintun sollte. In einen Karton zwischen Bettwäsche und Decken? In einen der Koffer mit ihren eigenen Sachen? Nun lag es einsam, dick und dunkelbraun auf dem leer geräumten Couchtisch im Wohnzimmer. Die Möbelpacker kamen erst morgen früh. An den Wänden hingen keine Bilder mehr, die Bücherregale waren leer und die Teppiche zusammengerollt. Edith hatte noch an einigen Stellen gekehrt und sich gewundert, wieviel Staub doch unter den Möbeln liegenblieb, selbst bei einer guten Putzfrau wie Priscilla, die ihr auch heute vormittag geholfen hatte. Mittlerweile war es fast fünf. Brett müßte bald zurück sein. Er hatte vor einer Stunde angerufen und gesagt, er werde wohl doch später kommen als geplant, weil er den richtigen Bohreinsatz für seine Black & Decker nicht bekommen habe und es noch bei Bloomingdale’s versuchen wolle.

Heute ist der letzte Tag, dachte Edith, der letzte Abend, den die Familie Howland in der Grove Street verbringen würde, die letzte Nacht. Morgen früh zogen sie um nach Brunswick Corner in Pennsylvania, in ein zweistöckiges Haus mit Rasen drum herum, zwei Weiden davor und ein paar Ulmen und Apfelbäumen dahinter. Dieses Ereignis verdiente wahrhaftig in ihrem Tagebuch festgehalten zu werden. Dabei fiel ihr ein, daß sie nicht einmal den Tag notiert hatte, an dem sie, Brett und Cliffie das Haus in Brunswick Corner gefunden hatten. Sie hatten schon geraume Zeit gesucht, etwa sechs Monate lang. Brett befürwortete den Umzug, da Cliffie inzwischen zehn war. Eine ländliche Umgebung wäre ein Segen für den Jungen und etwas, worauf er ein Anrecht hatte – Platz zum Radfahren, die Möglichkeit, das wahre Amerika zu erleben oder zumindest ein Umfeld, in dem viele Familien schon seit mehreren Generationen lebten, länger als die meisten Familien in New York. Stimmte das überhaupt? Edith überlegte ein paar Sekunden und kam zu dem Schluß, daß es nicht unbedingt stimmen mußte.

»Cliffie?« rief sie. »Hast du deine Schubladen schon ausgeräumt?« Schweigen, wie üblich, bevor er antwortete.

»Ja.«

Ein tonloses Stimmchen. Edith wußte genau, daß er seine Kommode nicht ausgeräumt hatte, obwohl er es selbst hatte tun wollen. Sie ging in sein Zimmer, dessen Tür offenstand, und machte sich fröhlich an die Arbeit. Sie spürte, daß der Umzug Cliffie schwer zu schaffen machte, obwohl er das neue Haus gesehen hatte, davon begeistert war und sich auch darauf freute.

»Da kannst du ja auch nicht vorwärtskommen, wenn du nur dasitzt und Comics liest«, sagte Edith.

Seinen großen verträumten Augen sah sie an, daß er gar nicht las, sondern nur in die Phantasiewelt sprechender Tiere oder Raumfahrer oder irgendwelcher anderen Wesen einzutauchen versucht hatte.

»Es eilt doch nicht, oder?« fragte Cliffie, während er sich mit Schwung wieder aufs Bett hievte. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift »University of California«.

»Nein, mein Schatz, aber wir sollten heute lieber soviel wie möglich erledigen, denn morgen früh fällt noch allerhand Kleinkram an, und die Möbelpacker kommen schon um acht.«

Cliffie gab weder eine Antwort, noch rührte er sich. Edith fuhr fort, seine Pullover achtlos zusammenzufalten und in einen Umzugskarton zu werfen. Dann folgten die Schlafanzüge, zuletzt die Hemden.

»Du solltest dich wirklich freuen, Cliffie. Freust du dich denn nicht, daß du in einem richtigen Haus wohnen wirst – mit einem Garten ganz für dich allein?«

»Doch, schon.«

»Hat denn keiner deiner Freunde gesagt …« Edith versuchte, ein zerknittertes Hemd aus der untersten Schublade zu ziehen, und stellte fest, daß es hoffnungslos festhing. Anscheinend festgeklebt. Mit hellbraunem Klebstoff, wie es aussah. »Was ist denn damit passiert?«

»Hm, keine Ahnung.« Cliffie schob seine Hände in die Hosentaschen und ging mit hängendem Kopf aus dem Zimmer.

Lächelnd richtete Edith sich auf. »So schlimm ist es auch wieder nicht, Cliffie. Kopf hoch! Wir essen heute abend beim Chinesen!«

Dabei war es ein schönes weißes Hemd gewesen, sonst ganz sauber. Hatte Cliffie das absichtlich getan? Womit bekam man Klebstoff raus? Mit heißem Wasser? Edith warf das Hemd in den halbvollen Umzugskarton und setzte ihre Arbeit fort.

»Cliffie? Ist mit Mildew alles in Ordnung?« Ohne die Teppiche auf dem Boden klang ihre Stimme schneidend.

»Ja«, sagte Cliffie, ebenso tonlos wie zuvor.

Edith hatte die Katze zuletzt auf der Heizkörperverkleidung im Wohnzimmer sitzen und aus dem Fenster schauen sehen, als wollte sie einen letzten Blick aus dem zweiten Stock auf die Grove Street werfen. Um sich zu vergewissern, ging Edith ins Wohnzimmer, wo Mildew mit eingezogenen Pfoten am Boden neben dem Sofa saß. Ein ungewöhnlicher Platz für die Katze.

»Mildew«, sagte Edith leise, »du kommst in ein viel hübscheres Haus.« Sie strich der Katze leicht über den Kopf. Mildew schnurrte halb im Schlaf.

Mildew war ein gutes Jahr alt. Edith und Brett hatten sie vom Lebensmittelhändler bekommen, der kein anderes Zuhause für sie finden konnte. Sie hatten sie Mildred getauft, aber Cliffie hatte Mildew daraus gemacht, und nun wurde sie meist so gerufen. Mit ihrer weißen Brust und den weißen Pfoten, im übrigen scheckig mit ein paar schwarzen Flecken, erinnerte sie Edith an die Katzen auf Hogarths Gemälden. Eine Ofenkatze, die die Wärme liebt, dachte Edith. In Brunswick Corner würde sie einen richtigen Kamin haben.

Zur gleichen Zeit starrte Cliffie aus dem Fenster im Elternschlafzimmer. Er spürte, daß sein Herz schneller schlug. Der Umzug war Wirklichkeit, nicht etwas, was er sich nur eingebildet hatte, sonst wären die Teppiche nicht zusammengerollt und der Kühlschrank nicht fast leer gewesen. Cliffie stellte sich oft viel schlimmere Dinge vor, etwa daß eine Bombe unter ihrem Apartmenthaus oder sogar unter der ganzen Stadt explodierte und daß ganz New York in die Luft fliegen und kein Mensch überleben würde. Doch auf einmal empfand er diesen Umzug in einen anderen Staat fast so, als ginge tatsächlich eine Bombe unter seinen Füßen los. Er sah sich in dem ordentlich ausgeräumten Schlafzimmer um, bemerkte den kleinen Reisewecker im Lederetui auf dem Nachttisch seiner Eltern und dachte sofort daran, ihn aus dem Fenster zu werfen. Er stellte sich vor, wie er auf dem Pflaster aufschlug, dank der Lederhülle vielleicht sogar ohne kaputtzugehen, und er stellte sich vor, wie ein Fremder, hoch erfreut über den wertvollen Fund, ihn aufhob und schnell in die Tasche steckte, ehe jemand es bemerkte. Cliffie verspürte das Bedürfnis, etwas zu zerbrechen, das Bedürfnis, es seinen Eltern heimzuzahlen.

Ediths dickes Tagebuch landete schließlich in einem Umzugskarton zwischen zwei zusammengefalteten Bettlaken. Sie mußte diesen und den morgigen Tag gleich bei ihrer Ankunft in Pennsylvania darin festhalten, auch wenn es in dem neuen Haus noch so viel zu tun gab. Zum Glück hatte sie ihr Tagebuch in all den Jahren nicht mit Banalitäten gefüllt, was bedeutete, daß noch mehr als die Hälfte der Seiten unbeschrieben waren. Sie hatte es mit zwanzig, als sie noch aufs Bryn Mawr College ging, von einem Mann namens Rudolf Mallikin geschenkt bekommen; er war um die Dreißig, in ihren Augen ein älterer Mann, und noch heute war es ihr ein wenig peinlich, daß sie sich eine Bibel gewünscht hatte, als er sie irgendwann vor Weihnachten nach einem Herzenswunsch gefragt hatte. Damals hatte Edith ihre metaphysische Phase gehabt – Jakob Böhme, Swedenborg, Mary Baker Eddy und so weiter. Selbstverständlich gab es bei ihr zu Hause eine Bibel – sie stand im Bücherregal ihrer Eltern –, aber sie hatte sich eine schöne, in Leder gebundene ganz für sich allein gewünscht. Da Rudolf sie jedoch mit seinem Geschenk dazu bringen wollte, mit ihm ins Bett zu gehen, erklärte er ihr lachend, eine Bibel sei so ziemlich das einzige, was er ihr nicht schenken könne. Später verstand Edith auch, weshalb. Statt dessen hatte er ein wunderschönes Buch mit leeren Seiten erstanden, die nicht einmal liniert waren, so daß sie es nach Belieben auch für kleine Skizzen oder Landkarten verwenden konnte. Den Einband aus braunem genarbtem Leder zierte ein in Gold aufgeprägtes florentinisches Muster. Das Gold war weitgehend abgeblättert, doch das Leder hatte Edith regelmäßig eingewachst, und dafür, daß sie das Buch seit fünfzehn Jahren hatte, war es noch wenig abgenutzt. In Ediths Augen sah es jetzt edler aus als am Anfang, als es neu war. Sie bewahrte das Tagebuch stets bei ihren persönlichen Sachen auf – beim Schreibmaschinenpapier, dem Lexikon, dem Weltalmanach –, ob sie nun ein eigenes Zimmer zum Arbeiten hatte wie hier in der Grove Street oder in einer Wohnzimmerecke arbeiten mußte. Aber Brett gehörte nicht zu den Leuten, die herumschnüffeln – eine seiner guten Eigenschaften –, und was Cliffie betraf, konnte sich Edith schlicht nicht vorstellen, daß er sich für ihr Tagebuch interessierte.

Sie selbst – Edith mußte lächeln, während sie noch andere Sachen von Cliffie verstaute – blätterte selten in ihrem Tagebuch zurück. Es begleitete sie einfach, und zuweilen half ihr ein Eintrag, ihr gegenwärtiges Leben zu reflektieren und in den Griff zu bekommen. Sie mußte daran denken, wie sie es vor etwa einem Jahr blind aufgeschlagen hatte und angesichts dessen, was sie mit zweiundzwanzig geschrieben hatte, erschrocken war. Bei den Einträgen jüngeren Datums ging es eher um Gemütsverfassungen und Gedanken. Vor mindestens acht Jahren beispielsweise hatte sie etwas geschrieben, woran sie sich noch recht gut erinnerte:

»Ist es nicht ungefährlicher, ja sogar klüger, zu glauben, daß das Leben keinerlei Sinn hat?«

Nachdem sie diesen Satz damals zu Papier gebracht hatte, ging es ihr besser. Eine solche Einstellung hat nichts mit einem trügerischen Schutzschild zu tun, dachte sie, denn es ist eine Tatsache, daß das Leben keinen Sinn hat. Man macht einfach immer weiter, arbeitet weiter, gibt sein Bestes. Die Freude am Leben liegt in der Bewegung, der Veränderung, im Handeln.

Sofern Edith überhaupt ein Problem hatte, war es Cliffie, wie sie sich eingestehen mußte. Er kam in der Schule nicht gut voran. Er gab sich keine Mühe und entwickelte keinerlei Ehrgeiz. Am liebsten hockte er vor dem Fernseher, jedoch ohne aufzupassen, träumte nur vor sich hin und kaute an seinen Fingernägeln. Schlimmer als das Versagen in der Schule war, daß er sich überhaupt nicht mit gleichaltrigen Kindern anfreunden wollte oder konnte. Es gab nichts, was er wirklich gern getan, und niemanden, den er richtig gern gehabt hätte.

Dieser ebenso müßige wie vertraute Gedankengang wurde durch eine körperliche Anstrengung unterbrochen: Sie hob einen Stapel Zeitschriften vom Boden auf, manche schon so alt, daß sich die Ecken aufrollten. New Republic, Commentary. Schlagartig bekam sie ein schlechtes Gewissen, als ihr klar wurde, daß ihr letzter Artikel, ein heftiger Angriff auf McCarthy, 1952 gedruckt worden war, also vor drei Jahren.

Es klingelte an der Haustür.

Unbekümmert drückte Edith auf den Türöffner, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, wer es sein mochte. Sie trat hinaus ins Treppenhaus und schaute hinunter. »Marion?« rief Edith, da sie glaubte, einen Mantelärmel erkannt zu haben.

»Ganz richtig, meine Wenigkeit!« sagte Marion. »Wie geht’s denn so?«

»Es wird schon, danke!«

Marion hatte den Treppenabsatz erreicht. »Ich bringe euch einen Kuchen«, sagte sie lächelnd und ein wenig außer Atem.

»Einen Kuchen! Du bist wirklich ein Schatz! Komm rein, und sieh dir an, wie weit wir schon sind!«

Marion Zylstra, deren Mann Ed Funktechniker war, wohnte in der Perry Street. Sie war sechsunddreißig, kaum älter als Edith. Als Edith den Zitronenpie anschneiden und ihr einen Tee oder Kaffee machen wollte, protestierte sie, weil sie überzeugt war, daß Edith nicht so viel Zeit hatte. Aber sie setzte sich kurz auf die Sofakante.

»Ihr werdet uns fehlen«, sagte Marion. »Wo ist Brett?«

»Ach, er besorgt noch irgendein Teil für seine Black & Decker. Er müßte jeden Augenblick hier sein.« Edith hatte sich eine Zigarette angezündet, setzte sich aber nicht hin, sondern lehnte sich nur an den schweren ovalen Wohnzimmertisch, an dem sie auch aßen, wenn Gäste kamen. »Denk dran, daß es mit dem Bus nur zwei Stunden von Manhattan bis zu uns sind. Ihr müßt euch das Haus so bald wie möglich ansehen. Es gibt auch ein Gästezimmer. Stell dir vor!«

Marion lachte. »Kapitalisten. Ich beneide euch. Aber Ed hängt sehr an seinem Job in New York. Trotzdem finde ich, daß Leute mit Kindern unbedingt eine Zeitlang auf dem Land leben sollten.«

Marion hatte keine Kinder. Sie war staatlich geprüfte Krankenschwester, hatte unregelmäßige Dienstzeiten und verdiente gut. Edith und Brett hatten eine Hypothek auf das Haus in Pennsylvania aufgenommen, da sie alles andere als reich waren, und das wußte Marion auch.

»Ich habe im Moment ein bißchen Luft, Edie, falls ich irgendwas tun kann. Ed arbeitet von Mitternacht bis acht, also schläft er jetzt.«

»Du bist ein Engel, aber … Brett und ich kommen mit dem Rest schon zurecht. Er meint, die meisten Leute würden nicht annähernd soviel selber machen wie wir, sondern alles den Möbelpackern überlassen. Sogar die zerbrechlichen Sachen. Aber ich mache gern möglichst viel selber. Habt ihr vielleicht Lust, heute abend mit uns essen zu gehen? Wir gehen zum Chinesen an der Fourth Avenue.«

»Hmm«, sagte Marion ausweichend. Sie mußte ihrer Mutter schreiben, und möglicherweise meldete sich noch ein Patient, falls eine andere Krankenschwester heute abend keine Zeit für ihn hatte.

In dem Moment wurde ein Schlüssel ins Schloß gesteckt, und Brett kam herein – schlank, lebhaft, lächelnd. Er trug ein altes Tweedsakko, einen Rollkragenpullover und eine ausgebeulte graue Flanellhose. Sein glattes schwarzes Haar war kurz geschnitten, und er wirkte jungenhaft, solange man die Krähenfüße in der trockenen Haut um die Augen nicht bemerkte. Er trug eine Brille mit runden Gläsern und schwarzem Gestell.

»Marion! Sei mir gegrüßt!«

»Hallo, Brett! Ich habe nur kurz vorbeigeschaut, um einen Kuchen zu bringen und euch alles Gute zu wünschen.«

»Ein Kuchen«, sagte Brett, während er auf Edith zuging und sie wie immer, wenn er nach Hause kam, auf die Wange küßte. Dann wandte er sich Marion zu. »Wirklich eine gute Tat. Warum fangt ihr zwei nicht an? Mit dem Kuchen, meine ich.«

»Marion hat nicht soviel Zeit«, sagte Edith.

Marion stand auf.

»Seht bloß zu, daß ihr Zeit habt, uns zu besuchen, Ed und du«, sagte Brett.

Marion versprach es, und Edith versicherte ihr, sie würde schon dafür sorgen, daß sie kamen, auch wenn das Haus noch nicht ganz fertig war. Die Zylstras hatten es noch gar nicht gesehen, sondern kannten es nur von ein paar Fotos, die Brett gemacht hatte.

»Hoffentlich fühlst du dich in deinem neuen Job wohl, Brett.«

»Na ja. Es ist der Trenton Standard«, sagte Brett mit leichtem Unbehagen. »Daß das weniger Geld bedeutet, kann ich jetzt schon sagen.«

»Wem sagst du das.« Marion lachte, und dann war sie auch schon weg.

»Was ist das denn?« fragte Edith flüsternd, nachdem sie ein Knurren gehört hatte, das nichts Gutes verhieß.

Brett folgte ihr durch den Flur ins Schlafzimmer.

»Cliffie?« rief Edith. »Was ist los?«

Cliffie robbte vom Doppelbett und stand auf. Unter einem blauweißen Daunenberg tauchte, taumelnd und hustend, die Katze auf und sprang kraftlos auf den Boden.

»Wolltest du sie ersticken?« fragte Edith hastig, und plötzlich stieg ihr Zornesröte in die Wangen. »Und ob du das wolltest!«

»Schon gut, Edith, ich …« Brett war ebenso erbittert wie Edith, beherrschte sich aber. Er hatte vor langer Zeit beschlossen, es in kritischen Situationen Edith zu überlassen, mit Cliffie fertig zu werden, denn zum einen wollte er vermeiden, daß Cliffie durch elterliche Strenge Narben davontrug, zum anderen wußte er recht gut, daß er rasch die Geduld verlor. Genaugenommen hatte er die Geduld mit Cliffie längst in unverantwortlichem Maß verloren.

Sprachlos starrte Edith die Katze an, bis sie sich vergewissert hatte, das diese nicht ernsthaft verletzt war; dann sah sie ihren Sohn an.

Cliffies Miene war, wie üblich in solchen Situationen, ausdruckslos, unbeteiligt und ziemlich gelassen, so als würde er sich insgeheim sagen: »Was hab ich denn schon getan?«

Edith war sehr bewußt, daß sie und Brett das Knurren der Katze unter der Daunendecke womöglich gar nicht gehört hätten, wäre nicht eine kurze Stille eingetreten, nachdem Marion die Tür hinter sich zugezogen hatte. Zwei Minuten später, und Mildew hätte tot sein können.

»Sie hat unter der Decke geschlafen«, sagte Cliffie achselzuckend. »Das kann ich doch nicht wissen.«

Edith und Brett wechselten einen finsteren Blick.

Brett strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er darauf hinweisen, daß sie im Moment genug um die Ohren hatten, auch ohne die Sache weiter zu verfolgen.

Als Cliffie hinausging, ließ Edith die Schultern sinken und rief ihm nach: »Wasch dir die Hände und das Gesicht, Cliffie. Wir gehen bald zum Essen.« Dann sagte sie leise zu Brett: »Der Umzug bringt ihn ganz durcheinander.«

»Hm, mag schon sein. Dabei sah es so aus, als wäre er ganz wild auf das Haus.«

»Hast du heute bekommen, was du wolltest?«

Brett lächelte. »Ja, klar.«

Sie gingen zu Fuß zu dem chinesischen Restaurant. Es war ein schöner Septemberabend. Allmählich begann es zu dämmern, und die leichte Kühle in der Luft kündigte den Herbst an. Edith war glücklich bei dem Gedanken an die bevorstehende Arbeit in dem neuen Haus, zu der natürlich auch das Schreiben gehörte. Sie und Brett spielten mit dem Gedanken, eine Zeitung ins Leben zu rufen, die sie Brunswick Corner Bugle oder Voice oder so ähnlich nennen wollten, ein vierseitiges Blättchen zunächst, mit einer Leserbriefecke, einem Leitartikel, den sie oder Brett als die Herausgeber schreiben würden, und lokalen Anzeigen, um das Ganze zu finanzieren. Eine gesunde liberamerikanische Einstellung mit leichtem Linksdrall. Edith setzte große Hoffnungen darauf. Brunswick Corner war nicht spießig, dort lebten nicht überwiegend reiche und ältere Leute. Es war reizvoll genug, um Touristen anzulocken, und besaß einige zwischen 1720 und 1740 errichtete historische Gebäude, sogenannte Herrschaftshäuser, und eine erkleckliche Anzahl Geschenkeläden. Viele der Einwohner fuhren täglich nach New York oder Philadelphia zur Arbeit.

Womöglich aßen sie heute zum letztenmal bei Wah Chum zu Abend. Das Essen war gut und preiswert, so daß sie nach Herzenslust schlemmen konnten: gebratenen Reis und Sojasoße, Shrimps und Reiskuchen, dazu gratis Glückskekse, die Cliffie über alles liebte.

»Du bereust es doch nicht, daß wir umziehen, Brett? Ich meine, du hast doch keine Zweifel, oder?« fragte Edith, denn immerhin war es ihre Idee gewesen.

»Lieber Himmel, nein! Ich bin absolut dafür. Auch wenn …« Brett hielt inne, um sich noch Bohnensprossen auf den Teller zu tun.

Edith wartete.

»Ich habe heute nachmittag bei Onkel George vorbeigeschaut. Gar nicht weit von Bloomingdale’s entfernt. Er meinte, er beneidet uns. Wollte wissen, wie viele Zimmer wir haben. Als ob ich ihm das nicht gesagt hätte!«

»Vermutlich würde er gern bei uns wohnen«, sagte Edith.

Cliffie stöhnte, das erste Geräusch, das er machte, seit er sich auf sein Essen gestürzt hatte.

»Er hat so was angedeutet«, sagte Brett.

Edith sagte nichts. Der alte Onkel – er war mindestens siebzig – bereitete Brett etwas Sorgen. Er hatte Rückenprobleme. Was genau los war, konnte bisher kein Arzt feststellen, aber er hatte Schmerzen und lebte von seinem Krankengeld in einem kombinierten Alten- und Pflegeheim in den East Sixties. Edith wurde den Verdacht nicht los, daß er simulierte, auch wenn Siebzigjährige natürlich das Recht hatten, sich zur Ruhe zu setzen und sich sogar krank zu stellen, wenn sie es sich leisten konnten. George war mehr oder minder bettlägerig, konnte jedoch, wie sie von Brett erfahren hatte, noch selbständig auf die Toilette gehen. George Howland, früher ein erfolgreicher Anwalt in Chicago und New York, hatte nie geheiratet und war wohlhabend; ein ordentliches Sümmchen, so hatte er behauptet, würde eines Tages an Brett gehen – verbrieft war das allerdings nicht, soweit Edith wußte.

»Und was hast du gesagt?« fragte sie schließlich und lächelte ein wenig.

»Na ja, ich habe ziemlich ausweichend geantwortet. Er hat sich über die Kosten des Heims beklagt. Und daß er sich langweilt und so weiter.«

»Wenn er genug beiseite gelegt hat, warum gibt er es dann nicht aus?« fragte Edith. »Er könnte in ein besseres –«

»Genau!« rief Cliffie dazwischen. »Er könnte gleich mit einem Rad für mich anfangen. Ich hätte wirklich nichts gegen ein Rad!«

»Du kriegst ein Rad, aber nicht von Onkel George«, sagte Brett und wischte sich die Lippen an der Serviette ab, die er straff zwischen den Händen hielt. Plötzlich begann er zu grinsen und klopfte seinem Sohn auf den Rücken. »Kopf hoch, Cliffie. Wir werden in Pennsylvania ein schönes Leben haben. Vielleicht gehen wir auch fischen. Vielleicht haben wir sogar selber ein kleines Boot und segeln damit auf dem Delaware herum. Was hältst du davon?«

Als Edith an diesem Abend im Bademantel ins Schlafzimmer ging, fiel ihr plötzlich ein Traum ein, den sie vor kurzem gehabt hatte. In diesem Traum hatte sie die Kühlschranktür zugemacht, während Mildew den Kopf hineinsteckte, und der Katze den Kopf abgeschnitten. Entweder war sie ohnmächtig geworden oder hatte nicht gemerkt, was passiert war, denn später sah sie die Katze im Traum ohne Kopf im Haus umherlaufen, und als sie zum Kühlschrank stürzte und die Tür aufmachte, befand sich der Kopf der Katze drinnen und fraß gerade die Hühnchenreste auf und alles andere auch. Mildew steckte häufig den Kopf in den Kühlschrank, so daß Edith sie mit dem Fuß wegschieben mußte, bevor sie die Tür zumachte. Würde Cliffie eines Tages Mildew die Kühlschranktür auf den Kopf knallen und behaupten, es sei ein Unfall gewesen? Edith ertappte sich dabei, daß sie die Zähne zusammenbiß. Nichts war passiert. Gar nichts. Doch in ihrem Traum war es geschehen, und sie hatte es getan.

2

Edith saß an ihrem Arbeitstisch – einem glatten Türblatt auf Böcken –, der so stand, daß er möglichst viel Licht durch das Erkerfenster bekam. Das gut vier Meter breite Fenster ging nach Norden und war von weißen Gardinen umrahmt, so durchsichtig, daß man die Weiden und das Grün der Buchsbaumhecken sah, und nun bewegte eine sanfte Brise ihren Saum. Es war ein schöner Novembernachmittag. Seit fast zwei Monaten wohnten sie nun hier.

An der Wand gegenüber Ediths Arbeitstisch hing, genau über der Sitzbank, ein gerahmtes Zitat von Thomas Paine, das sie sehr gern mochte.

… In solchen Zeiten wird die Gesinnung der Männer auf den Prüfstand gestellt. Der Sonntagssoldat und der Schönwetterpatriot drücken sich in der Stunde der Entscheidung vor dem Dienst am Vaterland; doch wer JETZT standhält, macht sich um seine Mitmenschen verdient. Die Tyrannei ist, genau wie die Hölle, nicht leicht zu bezwingen.

Die amerikanische Krise

Edith hatte Cliffie von Tom Paine erzählt, dem Korsettmacher englischer Abstammung, der Journalist geworden war und mit seinen Worten die nicht immer kampfbegeisterten Freiwilligen in Washingtons Armee angefeuert hatte – jener Armee, der die Nation ihr Dasein verdankte. Sie und Brett waren mit Cliffie nach Philadelphia gefahren, hatten ihm die gesprungene Glocke gezeigt, die die Unabhängigkeit eingeläutet hatte, und sich auch sonst bemüht, ihn mit seinem Heimatstaat vertraut zu machen, zu dem auch das Schlachtfeld von Gettysburg gehörte.

Nun lag das Tagebuch aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. Im letzten Monat hatte sie geschrieben:

Unser Haus in Brunswick Corner – ich würde es gern Peace nennen – ist so wunderbar, wie ich gehofft hatte. Die späten Tomatenstauden im Garten, ein Geschenk der Johnsons, tragen noch immer. Jeden Tag geht es einen kleinen Schritt vorwärts mit dem Haus. B. verhandelt mit einer Druckerei in Trenton für unsere neue Zeitung, die wir voraussichtlich The Bugle nennen werden. Die Menschen hier sind recht freundlich, v.a. die Johnsons, politisch im gleichen Lager wie wir. Gert J. gibt mir Tips für den Garten u. kommt hin und wieder gegen halb sechs auf einen Drink.

B. mag seinen Job. Weniger Streß, weniger Geld, aber es ist Zeit, daß er anfängt, das Leben zu genießen.

Diese Zeilen waren hastig hingeworfen. Ein paar Tage zuvor – Cliffie ging bereits in die neue Schule – hatte Edith geschrieben:

C. wurde heute beschuldigt, einen Fußball aus der Turnhalle gestohlen zu haben. Der Lehrer rief an und wollte wissen, ob ich ihn irgendwo gesehen hätte. Ich verneinte, versprach aber, das Haus zu durchsuchen. Habe nichts gefunden. Bezweifle nicht, daß C. ihn geklaut u. vielleicht irgendeinem Jungen gegeben hat, der gar nicht in seine Schule geht. Heute abend weicht C. ständig aus. Beschwerte sich ärgerlich, er würde zu Unrecht beschuldigt. B. und ich sind unschlüssig, ob wir anbieten sollen, den Ball zu bezahlen. B. geniert sich, meint, wir sollten den Dingen ihren Lauf lassen, bis wir was Genaues wissen. Zu dumm, daß C. von Anfang an alles verpatzt.

Edith starrte auf die erst halb beschriebene rechte Seite ihres Tagebuchs und rieb sich die Stirn. Inzwischen sorgten sie und Brett dafür, daß Cliffie an zwei oder drei Abenden in der Woche Mathematik büffelte, nach wie vor sein schlechtestes Fach. Einer von beiden setzte sich dann mit ihm hin, versuchte, es möglichst kurzweilig für ihn zu machen und darauf zu achten, daß die Sitzung immer weniger lang dauerte als eine volle Stunde, so daß Cliffie jede gewonnene Minute wie ein Geschenk empfinden mußte. Die Englischlehrerin und der Geographielehrer hatten ihnen in einem höflichen Schreiben mitgeteilt, daß Cliffie regelmäßig ohne Hausaufgaben in die Schule komme; von Edith zur Rede gestellt, behauptete Cliffie, er habe nichts aufgehabt. Edith war froh, daß sich die Lehrer die Mühe machten, ihr nach zwei Monaten zu schreiben. In New York hätte sich bestimmt niemand darum gekümmert. Angesichts der Tatsache, daß Cliffie ganz offensichtlich gelogen hatte, holte Brett mit der Hand aus, als wollte er ihn schlagen. Aber dazu kam es nicht.

Seufzend griff Edith zum Füller. Sie wollte nicht aufschreiben, was ihr durch den Kopf ging, fühlte sich aber, da sie ehrlich sein wollte, dazu verpflichtet. Widerstrebend blätterte sie acht oder zehn der kräftigen weißen Seiten zurück und las:

7. Nov. 1954

Die Leute in New York behaupten, Politik interessiere sie nicht. »Was kann ich denn schon ausrichten?« – Genau diese Einstellung wollen die Regierungskreise in Amerika fördern und tun es auch. Die Nachrichten sind kurz und knapp, gefiltert und tendenziös. Der »Aufstand« in Guatemala hätte uns weit mehr interessiert, wenn die dortigen Lebensumstände geschildert und die Machenschaften der United Fruit Company aufgedeckt worden wären – im Rundfunk wie im Fernsehen. Man sollte überall in Amerika Debattierclubs einrichten, die sich mit den Kräften beschäftigen, die hinter den Kulissen wirksam sind. Jahrzehntelang (seit 1917) hat man uns eingebleut, wir sollten den Kommunismus hassen. In jeder Nummer bringt Reader’s Digest einen Artikel über die Ineffizienz aller verstaatlichten Einrichtungen, zum Beispiel die medizinische Versorgung. Die amerikanischen Medien servieren uns aus dem Zusammenhang gerissene, unausgewogene Nachrichten – Schnipsel ohne Hintergrund. Wie kann so etwas »interessant« sein? Wer versucht, solche Debattierclubs ins Leben zu rufen, wie B. und ich sie uns vorstellen, wird als Kommunist abgestempelt. Wenn im Radio oder im Fernsehen ein Russe zitiert wird, ertappe ich mich schon im voraus bei dem Gedanken: »Wahrscheinlich stimmt ohnehin nicht, was er sagt, warum also hinhören?« Und wenn schon ich so empfinde, wie mag es dann den anderen gehen? Dabei waren die Kommunisten (die Russen) von 1936 bis 1939 tatsächlich die einzigen, die die richtige Erklärung für den Spanischen Bürgerkrieg geliefert und Gründe für das Verhalten der USA, Deutschlands, Frankreichs etc. genannt haben; und der Beweis dafür waren Hitlers und Mussolinis zunehmende Macht und der Zweite Weltkrieg.

Seitdem aber hatte Edith Mein Katalonien und 1984 von George Orwell gelesen. Verrat, Verrat.

Dieser Gedanke hob ihre Stimmung keineswegs, doch nun griff sie entschlossener zu ihrem Füller – einem Esterbrook mit Tintenkolben, den sie nach wie vor lieber mochte als den Parker, den Brett ihr im vergangenen Oktober zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie schrieb:

9. Nov. 1955

Erwarte B.s Rückkehr aus NY mit Onkel George. Er wird bei uns wohnen, jedenfalls eine Zeitlang. Bin gespannt, was ich in einem Jahr über ihn schreiben werde, denn wie es scheint, ist kein Ende abzusehen; ich glaube nicht, daß G. in näherer Zukunft stirbt. Er ist 73 oder 74, und in dieser Familie werden alle alt. Ich bin ziemlich sicher, daß er einiges an Fürsorge benötigt. C., schon jetzt voller Ablehnung (hat keinen Funken Mitgefühl!), sagte: »Bildet der sich vielleicht ein, wir sind ein Altersheim oder so was?« Sollte sich G. als untragbar erweisen, habe ich natürlich das Recht, es B. zu sagen. Schließlich hat G. genug Geld, um in ein ordentliches Pflegeheim zu gehen. B. zufolge will er uns etwas geben, wieviel genau, weiß ich nicht. Wenn ich

Sie hielt inne. Über das sanfte Brummen eines draußen vorbeifahrenden Autos und das ferne Rufen eines Kindes hinweg hatte sie das näher kommende, für sie relevantere Knattern des Chrysler gehört, der in die Kieseinfahrt bog. Sie vergewisserte sich, daß die Tinte des soeben Geschriebenen getrocknet war, schraubte den Füller zu, schloß ihr Tagebuch und schob es in die rechte hintere Schreibtischecke. Sie musterte sich kurz in dem Spiegel, der an der Wand hing. Kaum Lippenstift, aber das spielte keine Rolle. Ihr Haar war ganz passabel; sie fuhr sich mit den Fingern von unten durch die weichen rötlichbraunen Locken.

Mit ihren sechsunddreißig Jahren war Edith gut in Form. Ihr Körper war muskulös, was hieß: Sie hatte kräftige Schultern und einen ziemlich flachen Bauch. Hin und wieder bildete sie sich ein, ein paar Pfunde zugenommen zu haben, doch die wurde sie binnen weniger Tage ohne große Mühe wieder los. Sie hatte hellbraune Augen – fast in der gleichen Farbe wie ihr Haar –, und ihre Wimpern wirkten künstlich betont, was ihr ein fröhliches, aufgewecktes Aussehen verlieh, wie sie fand. Darüber war sie ganz froh, weil sie durchaus nicht immer fröhlich und aufgeweckt war und es als angenehm empfand, wenigstens so auszusehen. Ihr Gesicht war eher eckig, ganz anders als das ihrer Mutter und ihres Vaters, vielleicht das Erbe ihrer irischen Großmutter, von der Edith eine Daguerreotypie besaß. Brett hatte einmal gesagt, sie sehe aus wie ein Mädchen, das man ansprechen und mit dem man reden könne. Diese Bemerkung bezog sich auf ihre allererste Begegnung – Brett inmitten einer Schar linker Studenten von der Columbia University, die Bryn Mawr im Frühjahr 1942 besuchten. Zu der Zeit machte er gerade ein Graduiertenstudium an der Journalistenschule. Und er steckte voller Energie und Begeisterung! Warum mußte sie ausgerechnet jetzt an all das denken? Edith gab ihrem Haar den letzten Schwung und wandte sich vom Spiegel ab.

Jetzt kam es auf einen heiteren Empfang an, und den wollte sie George bereiten. Mit Tee oder einem anderen Getränk, auf das er Lust hatte. Sie erinnerte sich, den alten Herrn drei- oder viermal gesehen zu haben, ein paarmal in seiner New Yorker Wohnung, dann vor über einem Jahr einmal im Pflegeheim.

Es war kurz vor fünf. Edith trat auf die überdachte Veranda, von der man über ein paar Stufen geradeaus in den Garten und seitlich zur Einfahrt gelangte. George, der vorn neben Brett saß, trug einen karierten Bademantel, und Edith verspürte einen Anflug von Mitleid, das sofort durch den Verdacht gedämpft wurde, daß er möglicherweise eine Schau abzog. »Hallo, George!« rief sie, als Brett ihm die Beifahrertür öffnete. »Herzlich willkommen!«

»Hi, Liebchen«, sagte Brett. »Hilfst du mir ein bißchen mit Georges Sachen? Ist Cliffie da?«

»Er ist mit ein paar Jungs spazierengegangen – oder wollte sich Sodawasser holen, ich weiß es auch nicht. Wie geht es dir, George?« Auf dem Rücksitz lagen außer einem großen Koffer noch ein paar Reisetaschen.

»Nicht allzu schlecht, danke der Nachfrage, Edith. Es ist nett von euch, mich aufzunehmen, wirklich.« Er hustete und preßte die letzten Worte mühsam hervor. Sein Gesicht war bleich und ausdruckslos, der Kopf kahl bis auf einen grauen Haarsaum. Er war ziemlich groß und ziemlich korpulent.

Brett war ihm beim Aussteigen behilflich und geleitete ihn die Stufen hinauf. George ging gebückt, als hätte er Schmerzen. Edith hielt sich in der Nähe, um jederzeit einen Ellbogen nehmen zu können, aber Brett machte seine Sache anscheinend gut. George trug schwarze Schuhe, keine Socken und unter dem Bademantel einen Schlafanzug. Edith empfand den Anblick seiner nackten, blaugeäderten Knöchel als geradezu unanständig.

»Geschafft. Danke, Brett, alter Junge«, sagte George.

Sie ließen George auf dem Sofa im Wohnzimmer Platz nehmen und brachten dann das ganze Gepäck in den Flur. Edith verkündete, sie werde jetzt Tee machen, und Brett trug den Koffer und eine Reisetasche die Treppe hinauf. Edith hatte beschlossen, George im kleinen Schlafzimmer unterzubringen und nicht im eigentlichen Gästezimmer mit dem Doppelbett, das Brett ihm eigentlich hatte überlassen wollen. Gelegentlich kamen Gäste übers Wochenende, die Zylstras zum Beispiel, und für solche Gelegenheiten wollte Edith das große Gästezimmer haben. So gab sie eben ihr Näh- und Bügelzimmer auf.

Sie servierte im Wohnzimmer den Tee, dazu Zimtbrötchen und Zitronenkekse aus einem erstklassigen Geschäft in der Stadt, das sich Cookie Jar nannte und noch so altmodische Zutaten wie Butter verwendete. George lobte die Zimtbrötchen und langte tüchtig zu.

»Wie geht es deinem Rücken zur Zeit?« erkundigte sich Edith, da sie die Frage für zulässig hielt und annahm, daß George vielleicht ganz gern über sein Leiden sprach.

»Wenn ich das nur wüßte, meine Liebe«, antwortete George. »Auf den Röntgenaufnahmen ist gar nichts zu sehen, und die Ärzte können den Finger nicht auf den wunden Punkt legen, obwohl sie weiß Gott genügend herumbohren. Haha! Tut einfach verdammt weh, der Rücken.«

»Gestürzt bist du aber nicht, oder? Ich habe vergessen, was …«

»Nein, nein. Ich weiß noch, daß ich einen Koffer gehoben habe, von einem Freund, den ich zum Grand Central gebracht habe – das war vor Ja-ahren, neunzehnhundertfünfzig oder so –, und peng! – einen Tag später hatte ich einen steifen Rücken, der immer schlimmer wurde.«

»Aber gehen kannst du zumindest«, sagte Edith, wobei sie deutlich artikulierte, weil George etwas schwerhörig war.

»Wenn ich den Stock nehme, schon. Manchmal jedenfalls. Aber ich komme zurecht.« George hatte große, intelligente dunkelbraune Augen, glänzend wie auf einem gefirnißten Gemälde.

Doch zum Abendessen kam Bretts Onkel nicht nach unten. Edith hatte seine Wäsche, seine Pullover und alles andere in der kleinen Kommode verstaut, die sie für ihn leer geräumt hatte, und seine Hosen und Sakkos in den Schrank gehängt. In allen Zimmern im Haus gab es Einbauschränke, die Edith als Segen empfand, zumal man in einem hundert Jahre alten Haus keineswegs einen solchen Komfort erwarten durfte. Brett war hinaufgegangen, um George zum Essen herunterzuholen, aber sein Onkel lag bereits im Bett und fragte, ob es ihnen etwas ausmachen würde, ihm ein Tablett zu bringen. Brett trug das Tablett samt einer Götterspeise als Nachtisch und einer Tasse Kaffee hinauf.

»Was meinst du, ob er wohl alle seine Mahlzeiten im Bett einnehmen will?« fragte Edith, als Brett zurückkam.

»Menschenskinder, ein Invalide! Vielleicht auch noch mit Bettpfanne?« fragte Cliffie und kreischte begeistert über seine witzige Bemerkung.

»Sei still, Cliffie!« sagte Edith.

»Keine Ahnung«, sagte Brett. »Ich weiß auch nicht mehr als du.«

Edith seufzte und dachte, Brett hätte ruhig danach fragen oder diesen wichtigen Punkt klären können. Cliffie hörte aufmerksam zu. Kein guter Zeitpunkt, um sich nach Georges Finanzen zu erkundigen. Plötzlich schämte sich Edith wegen ihrer Gefühllosigkeit. Ob sie heute einfach erschöpft war? Vielleicht. Und obendrein hatte sie ihre Tage. »Cliffie?«

»Ja?« Seine braunen Augen, kaum dunkler als ihre eigenen, waren schräg auf sie gerichtet.

»Ich möchte, daß du deinem Onkel George gegenüber höflich bist – deinem Großonkel George. Hast du verstanden?«

Cliffie nickte. »Ja, Mom.«

Nach dem Abendessen half Brett in der Küche mit, was häufig vorkam. Es war eine gute Zeit, um in Ruhe zu reden, während das Geschirr klapperte und Cliffie sich vor den Fernseher verzogen hatte.

»Er hat angeboten … na ja, er will uns sechzig Dollar im Monat geben«, sagte Brett, der einen Teller nach dem anderen abtrocknete und dabei stärker klapperte als sonst.

Das reichte gerade fürs Essen, kalkulierte Edith. »Hmm, wie nett.«

»Ich glaube eigentlich nicht, daß er knickrig ist.«

Edith hätte gern gefragt, was er bisher für das Heim bezahlt hatte, wollte aber nicht kleinlich erscheinen. Doch immerhin gab es die Bettwäsche zu bedenken und die Wäscherei, sofern er seine Hemden gebügelt haben wollte. Doch vor allem würde Edith jene stillen Stunden von Montag bis Freitag vermissen, in denen Cliffie und Brett außer Haus waren. Sie war gern allein. Da kamen ihre Gedanken besser ins Fließen.

»Hör zu, Liebchen, wenn es nicht funktioniert, geben wir ihm einen zarten Wink, einverstanden?« Brett küßte Edith hinter das linke Ohr. »Ich verspreche es dir.«

Edith wollte nicht rundheraus sagen, daß es eher nach einem Daueraufenthalt aussah. »Na gut. Wenn er genug Geld hat, um anderswo zu wohnen … und das hat er ja anscheinend …«

»Genau.«

»Wie hat er es denn angelegt? In Aktien?«

»In festverzinslichen Wertpapieren, glaube ich. Daraus hat er regelmäßige Einkünfte.«

Edith wollte baden und dann ins Bett gehen und lesen, aber George war im Badezimmer. Sie sah das Licht unter der Tür. Im Bad war es totenstill. Edith nutzte die Gelegenheit, um nachzusehen, ob in Georges Zimmer alles in Ordnung war, und stellte fest, daß Brett das Tablett nicht hinuntergetragen hatte, obwohl er nach dem Abspülen hinaufgegangen war, um mit George zu plaudern. Edith hob das Tablett vom Boden auf. George hatte alles aufgegessen.

Plötzlich kam ein kräftiger Rülpser aus dem Bad, und Edith mußte lächeln und einen Moment lang sogar herzhaft lachen.

In den folgenden Tagen stellte sich heraus, daß George zu den Mahlzeiten durchaus hinuntergehen konnte, aber je nach Laune auftauchte oder nicht. Jedenfalls schien sein Rücken an den Tagen, an denen er ein Tablett ans Bett wollte, nicht schlimmer zu sein als an den Tagen, an denen er zwei oder drei Mahlzeiten unten einnahm. Zum Frühstück zog er sich nie an, sondern kam in Bademantel und Schlafanzug, und zum Abendessen gelegentlich auch.

Als die Johnsons an einem Samstagabend zum Essen kamen, zog er sich allerdings an, und obwohl er krumm und steif dasaß wie immer, redete er viel und fühlte sich sichtlich wohl in ihrer Gesellschaft. Da er mit Ende Zwanzig als Repräsentant seiner Anwaltskanzlei in Paris gearbeitet hatte, wußte er amüsante Anekdoten zu erzählen. Gert und Norman Johnson wohnten in Washington Crossing, etwa zehn Meilen entfernt. Norman arbeitete freiberuflich als Innenarchitekt, Gert war Malerin und Werbegrafikerin und hatte auch eine Zeitlang als Journalistin in Philadelphia gearbeitet. Die beiden hatten drei Kinder – das älteste war zwölf – und nicht viel Geld. Edith schätzte sie wegen ihrer bohemehaften Lebensweise – in ihrem Haus herrschte das reinste Chaos –, ihres Sinns für Humor und ihrer linken Ansichten. Ihr Vorschlag, einen Debattierclub ins Leben zu rufen, der sich einmal in der Woche bei ihr oder bei sonstjemandem traf, war bei Gert auf offene Ohren gestoßen. Sie hatte sofort ihr Haus als Treffpunkt angeboten, und Edith war mit einer Interessentin hingegangen. Sie hieß Ruby Maynell, und Edith hatte sie, genau wie Gert, im Lebensmittelladen von Brunswick Corner kennengelernt. Gert hatte eine junge Witwe aus Washington Crossing eingeladen und noch eine andere Frau, die aber nicht erschienen war. Edith machte ein paar Themenvorschläge, über die sie dann etwa zwanzig Minuten lang diskutierten; dann schweifte das Gespräch ab. Für solche Zusammenkünfte brauchte man eben doch einen Moderator. Aber man konnte ja jederzeit einen neuen Versuch starten, und das hatte Edith auch vor. Der Drucker in Trenton, den sie mit dem Bugle beauftragen wollten, hatte angeboten, auch Handzettel für ihre Diskussionsrunden zu drucken. Genau das brauchten sie, regelmäßige Zusammenkünfte mit zwanzig oder mehr Teilnehmern, Männern und Frauen. Gert meinte, wenn sie ein Diskussionsforum mit jeweils mindestens zwölf Personen zustande brächten, würde man ihnen den Rathaussaal von Brunswick Corner zur Verfügung stellen – samt Heizung und einer Menge Klappstühlen.

Die Johnsons hatten auf Ediths Anregung hin Derek mitgebracht, ihren Ältesten. Derek ging in eine andere Schule als Cliffie und machte sich recht gut, zur großen Verwunderung seiner Eltern vor allem in Mathematik und Physik. Er war schlank, hatte aschblondes, leicht gewelltes Haar, eine lange Nase und einen durchdringenden Blick. Den hatte er nun wie ein Maler, der sich ein Gesicht einprägen möchte, um es später wiederzugeben, auf George Howland gerichtet, der ihm gegenüber am Tisch saß. Schließlich sagte George: »Hast du außer deinem fotografischen Blick auch ein fotografisches Gedächtnis, mein Junge?« George gluckste und sah Edith an. »Ich glaube fast, er macht eine Daguerreotypie von mir.«

George war, wie Edith bemerkt hatte, für manche Dinge sehr empfänglich, für andere nicht.

Gert fühlte sich durch die Bemerkung veranlaßt, ihrem Sohn einen Blick zuzuwerfen.

Derek errötete. »Tut mir leid.«

»So ist es schon besser.« Auf Gerts pummeligem Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus, als sie Edith ansah.

Das Abendessen bestand aus saftigen Spareribs mit Barbecue-Sauce. Norms Finger glänzten vor Fett. Er hatte sich zwar rasiert, war aber nachlässig gekleidet wie immer: kariertes Holzfällerhemd, ungebügelte Hose, kein Sakko. Nur Derek und Gert hatten sich feingemacht, und Gert sah mit ihrem indischen Rock, der weißen Bluse und fünf Zentimeter langen Filigranohrringen großartig aus.

»Also, wo sind wir stehengeblieben?« fragte Norm, während er einen Knochen abnagte. Seine Sprechweise war, wie Edith inzwischen mitbekommen hatte, typisch für Pennsylvania.

»Bei Eisenhower – daß er nichts, aber auch gar nichts gegen McCarthy unternommen hat«, sagte Gert in dem gleichen schleppenden, eintönigen Tonfall. »Erst Senator Ralph Flanders aus Vermont hatte den Mumm, etwas gegen diesen Mistkerl zu unternehmen. ›Wenn Eisenhower nichts tut, dann eben ich‹, hat Flanders damals gesagt. Wenn du dich erinnerst, Norm.«

»Hört, hört!« sagte Norm und legte die abgenagte Rippe weg. »Du hast recht, mein Herzchen, du hast immer recht.«

Edith fühlte sich wohl bei dieser Unterhaltung, obwohl sie für Gert und sie, die vor Wochen darüber geredet hatten, nichts Neues brachte. Edith hatte fast drei Martini getrunken, und in ihren Ohren begann es wohlig zu summen. Derek erschien ihr an diesem Abend recht hübsch. Und er war gut in der Schule! Wenn Cliffie sich doch auch so am Riemen reißen würde! Die beiden waren keine zwei Jahre auseinander. Vielleicht würde sich durch die Pubertät …

»Ich wollte dich fragen, ob ihr uns für einen Monat hundert Dollar leihen könntet?« Gert war jetzt bei Edith in der Küche und half ihr, die Reste wegzuräumen und das Geschirr zum Spülen aufzustapeln.

Zuvor hatten sie Kaffee getrunken, und die Männer saßen im Wohnzimmer. Edith wollte nichts versprechen, ohne Brett zu fragen. Oder waren das nur Ausflüchte? Aber im Moment hatten sie wirklich kein Geld übrig.

»Es ist wegen Norms Zahnarztrechnung«, fuhr Gert fort. »Sein Vater hat versprochen, sie zu bezahlen, und das wird er auch, aber der Zahnarzt in Trenton macht Druck. Wir schulden ihm mehr als hundert« – Gert lachte freimütig –, »aber hundert werden ihn erst mal zum Schweigen bringen, und von Norms Vater müßten wir in knapp vier Wochen ein paar hundert bekommen.«

»Was dagegen, wenn ich Brett frage?« sagte Edith freundlich in einem verschwörerischen Tonfall, für den sie sich sofort schämte.

»’türlich nicht!« sagte Gert. »Ich weiß, wie es ist. Vor allem jetzt, wo ihr … Bretts Onkel am Hals habt.«

»Na ja, er steuert schon was zu seinem Unterhalt bei.«

Als Edith ihren Mann in der Küche allein erwischte, sagte sie ihm, worum Gert sie gebeten hatte.

»Kommt nicht in Frage. Fang ja nicht damit an«, sagte Brett.

»Na gut.« Es Gert zu sagen, blieb selbstverständlich ihr überlassen.

»So wird man seine Freunde schnell los«, sagte Brett. »Eine alte Weisheit, aber da ist was dran. Tut mir leid, Liebchen. Sag ihr, daß wir zur Zeit selber allerhand zusätzliche Ausgaben haben.«

Edith bereitete sich innerlich darauf vor.

»Ehrlich gesagt«, bemerkte Brett leise über die Schulter, als er die Küche verließ, »ich möchte wetten, daß die beiden ringsherum Schulden haben. Das sähe ihnen ähnlich.«

Vermutlich hat er recht, dachte Edith. Aber sie selbst hätte ihnen das Geld wahrscheinlich geliehen und es später, wenn sich herausstellte, daß sie es nicht mehr zurückbekam, womöglich bereut.

Als Edith im Flur auf Gert stieß, die gerade etwas aus ihrem Mantel holte, sagte sie mit verlegener Miene: »Brett hat nein gesagt. Es geht im Moment einfach nicht, Gert. Tut mir wirklich sehr leid.«

»Ach, ist schon gut.« Gert lächelte so entspannt, als sei nichts geschehen. »Wo sind denn die Jungs abgeblieben? In Cliffies Zimmer?«

»Wahrscheinlich. Wenn sie nicht hier sind.« Edith stellte sich Dereks Verblüffung beim Anblick von Cliffies Zimmer vor, das aussah wie das eines Sechsjährigen: überall Comics, auf dem Boden ein Schlachtfeld mit lauter Spielzeugsoldaten. Edith folgte Gert mit erhobenem Kopf ins Wohnzimmer. Beide tranken, für Edith ungewohnt, zum Abschluß ein Glas teuren Chartreuse (die Flasche hatten sie bestimmt schon ein Jahr), und Edith zündete sich eine Zigarette an.

»Wie lange wollen Sie hierbleiben, George?« fragte Norm aus seinem Sessel, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Edith horchte interessiert auf.

»Ach, das weiß ich nicht. Wohl nicht so lange, wie ich willkommen wäre. Haha! Es ist recht nett hier bei meinem Neffen und seiner Frau, solange ich nicht allzusehr im Weg bin.«

Edith bot allen noch einmal Kaffee an, den sie heute in der silbernen Kanne servierte, einem Geschenk ihrer Großtante Melanie.

Die Jungen kamen aus Cliffies Zimmer. Edith hoffte, daß sie sich verabredet hatten. Vielleicht zum Radfahren. Die Jungen, mit denen Cliffie sich sonst abgab, waren jünger als er, was einfach absurd war. Es lag nicht etwa daran, daß Cliffie der Anführer sein und den Ton angeben wollte, sondern daß seine Altersgenossen ihn langweilig und kindisch fanden.

Gerade als Edith Derek für den nächsten Samstag zum Mittagessen einladen wollte, sagte Gert: »Übrigens nimmt Derek jetzt Klarinettenunterricht. Ist das nicht allerhand?« Es hörte sich an, als hätte Derek die Sache selbst in die Hand genommen, was wahrscheinlich auch zutraf.

»Wie schön!« sagte Edith. »Wo denn?«

»Aach.« Derek schüttelte verlegen den Kopf. »In Washington Crossing. Es ist Gruppenunterricht, und wir sind zu dritt. Aber es ist … interessant.«

»Hast du denn eine eigene Klarinette?« fragte Edith.

»Ich zahle sie in Raten ab.«

»Von seinem Taschengeld«, sagte Norm.

»Und das gibt’s nur sehr unregelmäßig«, warf Derek ein.

»Kein Kommentar«, sagte Norm, »sonst sorgen wir dafür, daß du dir im Sommer einen Job suchst – wie die reichen Kinder.«

George erhob sich umständlich. »Muß ins Bett, Edith. Bin müde. War ausgezeichnet, das Essen.« Auf seinen Stock gestützt, wandte er sich zum Gehen.

Derek, der gleich neben ihm am Boden saß, stand auf. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

Cliffie, der ebenfalls am Boden saß, rührte sich nicht, sondern beobachtete George wie ein Tier im Zoo, das ihn nichts anging und auch nicht sonderlich interessierte.

»Nein, nein. Nacht, alle miteinander«, sagte George.

Brett begleitete George zumindest pro forma aus dem Zimmer und die ersten Stufen hinauf.

George kam ganz gut allein zurecht, wenn er sich Zeit ließ. Seine Wangen waren noch bleicher als bei seiner Ankunft, aber schließlich war er auf Ediths und Bretts Vorschlag, sich draußen auf dem Rasen in einen Liegestuhl zu legen, nicht eingegangen und hatte bisher nicht einen einzigen Spaziergang gemacht.

Die Atmosphäre war deutlich entspannter, nachdem George nach oben gegangen war.

»Im Grunde lebt er doch richtig bei euch, oder?« fragte Norm.

»Könnte man so sagen«, meinte Brett.

»Was tut er denn den ganzen Tag?« fragte Gert.

»Liest ziemlich viel«, sagte Edith. »Ich hole ihm ständig neue Bücher aus der Bücherei. Und unsere Bücher sind auch noch da. Zum Teil liest er sogar Cliffies Enzyklopädien. Außerdem schläft er viel.«

»Und geht er auch mal zum Arzt?« wollte Gert wissen.

»Nein, sein richtiger Arzt ist in New York, und vermutlich werde ich ihn einmal in der Woche, am Samstag, nach Trenton fahren müssen, weil sein New Yorker Arzt die Berichte dorthin schickt. Die Unterlagen, meine ich.« Brett holte tief Luft. »Sie wollen nachschauen …«

»Es ist der Rücken, nicht wahr?« fragte Gert.

»Ja, sie versuchen es mit Pal … Palpation«, sagte Brett auf seine ernsthafte Art, und aus irgendeinem Grund mußten alle lachen. Cliffie am lautesten.

3

Der Tag fing schlecht an. Mit der Post kam ein von ihr selbst adressiertes und frankiertes braunes Rückantwortkuvert. Es enthielt ihren Artikel »Warum wird Rotchina nicht anerkannt?«, den sie an den New Republic geschickt hatte. Man schrieb ihr zurück:

Ihre beiden früheren Beiträge sind uns noch in guter Erinnerung, aber dieser hier eignet sich im Moment vor allem deshalb nicht für uns, weil Ihr Hauptargument in einem bereits fest eingeplanten Artikel behandelt wird. Wir danken Ihnen jedoch, daß Sie an uns gedacht haben …

Früher hatte Edith eine Agentin gehabt, Irene Dougal in der West Twenty-third Street. Aber zur Zeit schrieb sie so wenig, daß ihr ein Agent nicht gerechtfertigt erschien, und viel hatte Irene ihr ohnehin nicht genützt. Edith hatte auf eigene Faust ebensoviel verkauft, nämlich vier Artikel, also stand es vier zu vier; außerdem nahm die Agentin zehn Prozent. Edith hatte seit langem keinen brieflichen Kontakt mehr mit Irene Dougal.

Es war Mitte Dezember, und jenes Wochenende im November, an dem sie aufs Geratewohl in Pennsylvania herumgefahren waren, schien endlos weit zurückzuliegen. Edith hatte die Quickmans, die nebenan wohnten, gefragt, ob sie nach George sehen und dafür sorgen könnten, daß er sich selbst seine Mahlzeiten richtete, die Edith so gut wie möglich vorbereitet und in den Kühlschrank gestellt hatte. Frances Quickman hatte auch Mildew gefüttert. Edith, Brett und Cliffie verbrachten eine Nacht in einem Motel in der Nähe von New Holland und eine zweite in Lancaster im Amish-Land. In einem verstaubten alten Antiquitätengeschäft an der Straße hatte Edith ein halbes Dutzend Pennsylvania-Dutch-Kuchenteller aus feuerfestem hellgrünem Glas gekauft, das Stück für fünfzig Cent. Außerdem hatte sie eine handbemalte Kommode für nur acht Dollar entdeckt, und der Inhaber war so nett gewesen, sie ihr in der Woche darauf vorbeizubringen. Edith hatte sie im Gästezimmer aufgestellt. Sie war beige und mit ganz entzückenden blauen und weißen Blümchen bemalt.

Während Edith an diesem Morgen ihre hausfraulichen Pflichten erledigte, hinter dem Haus T-Shirts, Jeans und Schlafanzüge zum Trocknen aufhängte, rief sie sich ins Gedächtnis, daß sie sich geschworen hatte, ihre Einstellung gegenüber George zu ändern. Falls er zu einem Dauergast werden sollte, wäre es verheerend, innerlich damit zu hadern. Unter Umständen könnte er sogar ein Gewinn sein, wenn sie »es recht bedachte«, wie Mary Baker Eddy es formuliert hätte. Womöglich übte er sogar einen guten Einfluß auf Cliffie aus, wenn sich die beiden erst besser kannten. George war ein erfolgreicher Anwalt gewesen, hatte seine Examen bestanden und sein Leben alles in allem gemeistert. Selbst jetzt beim Lesen ging er methodisch vor: in den letzten drei Wochen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Cliffie brauchte etwas Struktur, und Brett verbrachte nicht annähernd genug Zeit mit ihm. Edith beschloß, mit George über Cliffie zu reden.

Ihre zweite, ebenso wichtige Überlegung war die, daß sie, was Cliffie betraf, alles etwas leichter nehmen wollte. Ihn daran zu erinnern, daß er es nie bis aufs College schaffen würde, wenn er sich nicht zusammenrisse, damit erreichte sie gar nichts. Cliffie wollte durchaus aufs College gehen, und zwar nach Princeton. Zugegeben, dieser Gedanke war Edith schon früher durch den Kopf gegangen, aber er hatte nie lange vorgehalten. Immer wieder gewannen Ärger und Ungeduld die Oberhand, so daß sie ihn am liebsten geschüttelt hätte (was sie nur zwei- oder dreimal wirklich tat), und dann fing die alte Leier und das Genörgel wieder von vorn an. Doch jetzt, wo George im Haus war, könnte sich vielleicht etwas ändern. »Hoffnung keimet immerdar«, dachte sie und lächelte bitter über sich selbst.

»George?« rief sie fröhlich auf halbem Weg nach oben. »Möchtest du heute mittag ein Tablett?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, Edith – ja.«

»In Ordnung! In zehn Minuten.«

Sie machte für sie beide Hühnchensandwiches mit Kopfsalat, einem Hauch Majonnaise und in Scheibchen geschnittenen gefüllten Oliven, legte ein paar Tomatenschnitze auf beide Teller und trug das Tablett hinauf. Gläser und eine Litertüte Milch nahm sie auch mit.

»Ich dachte, ich leiste dir ein bißchen Gesellschaft«, sagte sie, »wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich nicht, warum sollte ich? Ist mir ein Vergnügen.« George stemmte sich in den Kissen etwas hoch und legte sein Buch beiseite.

Edith stellte ihm das Tablett auf den Schoß und behalf sich selbst mit einem Stuhl, den sie als Ablage heranzog. Sie schwiegen eine Weile, während sie aßen, dann rückte Edith ohne Umschweife mit ihren Gedanken heraus. »Ich habe mir überlegt, George, daß du vielleicht einen guten Einfluß auf Cliffie ausüben könntest.«

»Wie das denn?«

»Na ja, weil du außerhalb der Familie stehst. Ich meine … natürlich bist du Bretts Onkel, aber für Cliffie bist du jemand Neues. Du bist ein Mann, der in seinem Beruf erfolgreich war, du hast dein Leben in die Hand genommen, du weißt, wie man arbeitet – ich meine, solange du gearbeitet hast.«

»Haha!« lachte George trocken mit weitgeöffnetem Mund, dann fragte er freundlich: »Wie meinst du das, daß ich einen guten Einfluß ausüben könnte? Ich war nie ein Heiliger, mußt du wissen.«

»Aber du bekommst doch wohl mit, daß Cliffie sich nirgends richtig dahinterklemmt. Er ist nicht motiviert, er sieht keine Veranlassung, irgend etwas zu tun. Manchmal reicht es nicht mal dazu, daß er sich morgens anzieht oder zum Beispiel ein Modellflugzeug fertigbaut, das er angefangen hat.« Edith hielt bewußt inne, denn wenn es um Cliffie ging, hätte sie ewig weiterreden können.

Doch George schien darauf zu warten, daß sie fortfuhr.

»Ich weiß nicht, ob Brett mal mit dir darüber gesprochen hat, aber Cliffie macht uns Sorgen, seit er zwei oder drei ist. Dumm ist er nicht. Sein IQ ist eigentlich ganz passabel, habe ich mir sagen lassen. Aber schon als Kind schien es ihm Spaß zu machen, nicht das zu tun, was wir von ihm wollten – zum Beispiel lesen zu lernen, bevor er in die Schule kam. Es ist, als wäre er nur halb am Leben – obwohl das auch nicht ganz stimmt.«

»Hmm«, sagte George, während er den Kopf genüßlich in die Kissen drückte und zur Decke hinaufschaute. »Für mich ist er schlicht und einfach ein moderner Junge. Ein Produkt unseres Fernsehzeitalters. Er ist passiv geworden, und wie wir alle wird er mit Informationen bombardiert, die ihn verwirren oder amüsieren und von denen er genau weiß, daß er sie nicht beeinflussen kann – jetzt nicht und später auch nicht. Der ideale Anwärter für den Wohlfahrtsstaat oder wie immer man das in Europa nennt.«

Edith mußte daran denken, daß sie vor ein paar Jahren über Cliffie so ziemlich dasselbe, wenn auch mit anderen Worten, in ihr Tagebuch geschrieben hatte. »Einmal haben wir sogar versucht, das Fernsehen drastisch einzuschränken«, sagte Edith. »Aber es hat nicht funktioniert. Cliffie hat so geschmollt …«

George reagierte nicht darauf. Er hustete und griff nach einem zusammengeknüllten Taschentuch. Er hatte Papiertaschentücher, bevorzugte aber die aus Stoff.

»Ich frage mich, wo wir Fehler gemacht haben.« Edith lachte kurz auf. Sie merkte, daß sie George dazu bringen wollte, etwas Positives über Cliffie zu sagen, irgendeine noch so belanglose lobenswerte Eigenschaft anzuführen.

»Die Zeit ist aus den Fugen geraten«, sagte George. »Unser Jahrhundert ist kein Jahrhundert für Helden.«

»Ich rede von Zivilcourage. Vielleicht wird es mit der Pubertät … Du weißt schon …« Jetzt war sie in Fahrt, egal, was dabei herauskam. Sie enthüllte dem selbstsüchtigen, nervtötenden George ihre geheimsten Gedanken, denn wenigstens war er ein neuer Zuhörer, der ihr mindestens soviel Aufmerksamkeit schenkte wie Brett. »In der Pubertät erfolgt ja häufig ein richtiger Schub, das Leben bekommt einen Sinn, und man verspürt eine bestimmte Neigung, und sei es nur … nur die, Schmetterlinge zu sammeln oder Modellschiffe zu bauen.«

George betrachtete sie herablassend. »Die Pubertät bedeutet, was immer sie bedeutet. Vielleicht daß man das andere Geschlecht bewußter wahrnimmt.«

»Ich meine«, sagte Edith, während sie den zweiten Stuhl ein Stück wegschob und sich wünschte, sie hätte eine Zigarette, »du weißt doch, was man von Künstlern sagt: daß jedes Kind bis zur Pubertät ein Künstler ist und das mit der Pubertät dann verlorengeht, während der wahre Künstler in dieser Phase Kraft schöpft, Zielstrebigkeit entwickelt und weitermacht.«

»Zeigt Cliffie denn irgendein künstlerisches Interesse?«

»Nein.« Edith lächelte.

Danach schwiegen beide. Ob George gleich eindösen würde? Zwar sah er Edith nicht an, aber seine halb geschlossenen, blutunterlaufenen Augen mit den Tränensäcken erinnerten Edith an einen alternden Jagdhund. Sie schaute weg.

»Ich frage mich nur manchmal, ob er da jemals rauskommt, ob er aufwacht«, sagte Edith. »Und Brett auch.«

George sagte noch immer nichts. Edith spürte sein Schweigen, spürte seinen Blick, der jetzt auf ihr ruhte. Es war, als wollte George sich nicht weiter dazu äußern, um sie nicht zu verletzen. Dann sagte er: »Ist Brett mit seinem Job in Trenton wirklich zufrieden? Gefällt ihm das Leben hier?«

Einen Moment lang empfand Edith seine Worte als Beleidigung. »Das Leben? Ja, schon. Er sagt zwar, daß die Atmosphäre nicht so lebendig ist wie in New York bei der Trib. Denn das meiste, was der Standard druckt, ist von anderen Zeitungen übernommen. Aber die Bezahlung ist gar nicht so übel. Übrigens wollen Brett und ich eine eigene kleine Zeitung herausgeben – vielleicht hat er dir davon erzählt. Den Brunswick Corner Bugle. Für die erste Ausgabe peilen wir Weihnachten an, und finanziert wird sie zum Teil durch Anzeigen, die wir in den Geschäften hier akquiriert haben.« Edith lächelte. »Das ist auch der Grund, weshalb in letzter Zeit das Telefon häufiger klingelt. Anzeigenkunden. Oder es ist Gert, die mir mitteilt …« Aber Edith war gar nicht sicher, ob George das Telefon hören konnte. Sie wußte, daß er nichts für ihre und Bretts politische Aktivitäten übrig hatte, sie beide für blauäugige Kinder hielt, die zwangsläufig scheitern mußten. Aber schließlich war auch Thomas Paines Amerikanische Krise eine kleine Artikelserie gewesen, und welche Auswirkungen hatte sie gehabt!

»Ist das Leben hier eigentlich billiger als in New York? Ich denke doch«, sagte George unvermittelt.

»Wäre es schon, wenn wir nicht so viele Ausgaben für das Haus hätten. Du weißt ja, wie es am Anfang ist, die vielen zusätzlichen Anschaffungen …« Edith redete, ohne nachzudenken. Sie fühlte sich peinlich berührt, in gewisser Weise fast gedemütigt, und während sie aufstand und die Teller aufs Tablett stellte, sagte sie: »Ich geh jetzt mal wieder. Unten gibt’s viel zu tun.«

»Liebe Edith, würde es dir furchtbar viel ausmachen, mir eine Tasse heiße Ovomaltine zu bringen?«

»Jetzt?«

»Ja, bitte. Ich glaube, es wäre genau das Richtige zum Einschlafen. Ich habe eine schlimme Nacht hinter mir. Der Rücken – diesmal die rechte Seite, sonst tut es ja in der Mitte weh.« Als Edith mit dem Tablett hinunterging, schwor sie sich, einen elektrischen Wasserkocher zu besorgen, damit George sich selbst hin und wieder etwas zu trinken machen konnte. Vielleicht bekam sie einen für ihre Rabattmarken. Sie hatte sie zwar für ein neues Dampfbügeleisen gesammelt, aber ein Wasserkocher war jetzt eindeutig wichtiger. Sie setzte das Tablett härter als sonst auf dem Küchentisch ab und goß den Rest Milch zum Erhitzen in ein Stielpfännchen.

Ihre Gedanken flogen in alle Richtungen davon, während sie ärgerlich die Ovomaltine-Dose herunterholte und sich einen Löffel schnappte. Seit wann war George der liebe Gott, selbst wenn er ein paar recht scharfsinnige Bemerkungen über Cliffie gemacht hatte? Sie glaubte nicht, daß Cliffie ein hoffnungsloser Fall war, aber genau das hatte George ihr zu verstehen gegeben. Weshalb hatte er zum Beispiel nie geheiratet? War vielleicht mit ihm etwas nicht in Ordnung? Edith konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann mit Mitte Dreißig nicht heiratete, wenn er es sich leisten konnte, wo es doch so bequem war, eine Frau zu haben, die einem alles mögliche abnahm. Wenn George eine Frau hätte, wäre er zum Beispiel jetzt nicht hier. Er sah besser aus als die meisten Männer, und bestimmt hatte er sein Leben lang ziemlich gut verdient. Daraus schloß Edith, daß er egozentrisch war oder grobe Fehler im Umgang mit Frauen gemacht hatte oder vielleicht unfähig war, Liebe und Zuneigung für einen anderen Menschen zu empfinden. Als sie die Ovomaltine hinauftrug, diesmal auf einem anderen, kleineren Tablett, war ihr elend zumute, weil sie fürchtete, George zuviel anvertraut zu haben. Jetzt fühlte sie sich ihm gegenüber verletzlich und kam sich irgendwie klein vor. Obwohl er hier in ihrem Haus war, spielte sie die Dienstmagd.

Zehn Minuten später jedoch ging es ihr wieder deutlich besser. Marion und Eddie Zylstra wollten an Weihnachten zu Besuch kommen und mindestens drei Tage bleiben. Am Freitag, also übermorgen, würde Brett die ersten Exemplare des Bugle mitbringen, vierhundert Exemplare insgesamt, und ihn anschließend in kleinen Stapeln im Lebensmittelladen, beim Eisenwarenhändler und im Drugstore auslegen – eine angenehme Art, Zeitungen auszutragen.

Die erste Ausgabe wurde kostenlos verteilt, danach sollte das vierseitige Blättchen fünfzehn Cent kosten. Edith hatte sich große Mühe gegeben, mit ihrem Leitartikel den richtigen Ton zu treffen, und ihn mit Gert Johnson durchgesprochen. Er beschäftigte sich im wesentlichen mit einem Gesetzentwurf in Harrisburg zur Anhebung der Schulsteuern, derzeit ein heißes Thema in der Region. Der letzte Absatz, dem eine Aufzählung etlicher Punkte voranging, lautete:

Zwei Zuzügler aus New York, Brett und Edith Howland, wünschen ihren neuen Freunden und Nachbarn und sämtlichen Lesern des Bugle frohe Feiertage!

Edith legte eine Platte mit Brahms-Walzern (op. 39