Eigentlich mag ich dich - Kikki Oskar - E-Book
BESTSELLER

Eigentlich mag ich dich E-Book

Kikki Oskar

0,0

Beschreibung

Wanda begleitet als Kamerafrau das deutsche Skisprung-Team und filmt die Sportler in ihrem Alltag. Ein absoluter Traumjob! Einzig Star-Athlet Anton verhält sich ihr gegenüber respektlos. Sie hält selbstbewusst dagegen, sodass zwischen ihnen regelmäßig die Fetzen fliegen. Aber da ist auch diese Anziehungskraft, die beide nicht verleugnen können. Wird Wanda es schaffen, Antons eingefrorenes Herz aufzutauen, wenn ihre starke Fassade doch nur ihre eigenen Narben verbirgt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 380

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




KIKKI OSKAR

Eigentlich

mag ich dich

SIBOST Verlag

Sabrina Bomke & Michael Sindija

Neuheikendorfer Weg 123 A24226 Heikendorfwww.sibost-verlag.de

Lektorat & Korrektorat: Gedankengut

Covergestaltung: D-Design Cover Art

EBook-Erstellung: Florian Koßmann

ISBN 978-3-9826264-8-2

© SIBOST Verlag 2024

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.Kein Teil dieses Werks darf ohne schriftliche Erlaubnis der Autorin in irgendeiner Form reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Danksagung

Über die Autorin

Prolog

Anton

Der Tod ist unvermeidbar. Ob du es willst oder nicht: Jeder wird irgendwann einmal sterben.

Auch du.

Du kannst so vorsichtig wie möglich sein. Ernähre dich gesund und treibe viel Sport. Aber der Tod verfolgt dich ständig, unabhängig von deinem Lebensstil. Er ist wie ein Assassine, der auf den richtigen – oder auch falschen – Moment wartet.

Dass ich jedoch heute mit dem Thema Tod konfrontiert werde, hätte ich nicht gedacht.

Ich spüre mich nicht. Spüre meinen ganzen Körper nicht. Keine einzige Gliedmaße. Es ist, als wäre mein Geist anwesend, doch irgendwo, in irgendeiner Dimension, hat er meinen Körper verloren und irrt nun ziellos durch die Welt.

Ich erinnere mich an nichts. Meine Gedanken sind wie ein schwarzes Loch, das alles wie mit einem Strohhalm angesogen hat. Ich weiß nicht, was ich zuletzt getan habe oder mit wem ich unterwegs war.

Eine beißende Leere hallt in meinem Gehirn, prallt von der einen zur anderen Seite. Dieser Druck, der so leise, aber doch so schmerzhaft ist, zieht quälend langsam durch meinen Kopf.

Mein Lebensinstinkt setzt ein und ich versuche zu sehen, erkenne aber nichts anderes als das tiefe Schwarz, das über mir schwebt wie die dunkelste Finsternis. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.

»Hallo? Können Sie mich hören?« Eine tiefe männliche Stimme ertönt, doch es klingt, als würde diese Stimme weit entfernt sein. Vielleicht kommt sie aus einem Radio oder dem Fernseher. Sie ist viel zu weit weg, als dass ich reagieren würde.

Stechende Kopfschmerzen setzen ein, zucken in Blitzgeschwindigkeit durch mein Gehirn bis in die Augen.

Poch. Poch. Poch.

Alles in mir wehrt sich. Dieser plötzliche Schmerz überfährt mich wie ein Zug. Immer wieder. Bis ich einen schmerzerfüllten, verzweifelten Schrei nicht mehr unterdrücke.

Poch. Poch. Poch.

»Ich brauche hier Hilfe. Kommt jemand?« Die Stimme hat sich keinen Meter bewegt und klingt immer noch weit entfernt.

Schwere Schritte kommen näher. Etwas wird klirrend auf den Boden gelegt. Etwas aus Metall?

»Platzwunde am Kopf. Sofort die Blutung stillen.« Ich höre wieder die tiefe, kratzige Stimme des Mannes.

Scheiße, ich glaube, ich habe den Fernseher angelassen. Irgendeine Notarzt-Serie läuft bestimmt im Hintergrund …

Ich will mich winden, meine Augen dazu zwingen, sich zu öffnen. Ich will endlich wieder etwas sehen und mir selbst bestätigen, dass ich entspannt zu Hause auf dem Sofa liege.

»Hören Sie mich jetzt?«

Spricht der Mann mit mir?

Ich will antworten, doch mein Mund bewegt sich nicht. Meine Gesichtsmuskeln sind schlaff, als würden sie nicht mehr zu mir gehören.

»Stabile Seitenlage. Wann kommt die Feuerwehr?«

»Müsste jede Sekunde da sein.« Ich vernehme eine weibliche Stimme. Sie klingt melodisch, beruhigend.

Ich sammele all meine Konzentration, bündele sie und fokussiere mich auf meine Augen. Voller Willenskraft reiße ich sie auf, sehe endlich wieder etwas. Erst verschwommen, dann immer klarer. Als hätte jemand von jetzt auf gleich das Licht in einem abgedunkelten Raum eingeschaltet.

Blaulicht.

Nachthimmel.

Sanitäter, die an mir arbeiten.

»Können Sie jetzt antworten?«, fragt der Mann mit der tiefen Stimme wieder.

»Ja.« Ich zucke bei diesem einzigen schmerzhaften Wort zusammen. Meine Stimme ist belegt. Ein riesiger Kloß im Hals legt meine Stimmbänder lahm.

Etwas Schleimiges tropft in mein Auge und brennt unaufhörlich. Ich zucke zusammen, während ich es mit meinem Handrücken wegwische.

Rote Flüssigkeit.

Blut.

Sirenen lenken mich von diesem unerklärlichen Anblick ab. Aus dem Augenwinkel erkenne ich die Feuerwehr, die ihren Wagen parkt und einen Löschschlauch herausholt.

Doch was brennt überhaupt?

Plötzlich schleicht sich der Geruch von geschmolzenem Gummi in meine Nase. Beißt sich in mir fest wie eine Zecke.

»Können Sie mir sagen, ob noch jemand bei Ihnen im Fahrzeug war?« Der Sanitäter mit der tiefen Stimme hockt nun neben mir und drückt etwas gegen meine Stirn.

Urplötzlich wird mir speiübel, Magensäure steigt auf und brennt in meiner Speiseröhre. Als hätte mir jemand in die Magengrube getreten. Und das nicht nur einmal.

Jetzt erinnere ich mich.

Kapitel 1

Wanda

Hamburg, Deutschland

Mit aufgeblasenen Wangen gebe ich alles, um dem Unterrichtsgeschehen zu folgen, aber meine Gedanken kreisen zu sehr um Jasper. Und warum er mich verlassen hat …

Arsch.

Die Nachricht, die vor einigen Tagen bei mir, zerriss mich. Mein Herz, meine Gefühle und das wenige Selbstbewusstsein, das ich seit dem Beginn unserer Beziehung gesammelt hatte.

Wie eine Seifenblase zerplatzte die Liebe, von der ich hoffte, dass sie die einzig Wahre war.

Jasper:Wenn du dich selbst nicht akzeptierst, färbt das auf mich ab. Ich möchte eine Freundin haben, die sich selbst liebt. Ich kann das nicht mehr.

Arsch-Arsch.

Der Drang, diese fiese Nachricht immer wieder durchzulesen, ist ekelhaft, aber ich kann nicht anders. Kann und will nicht glauben, dass Jasper das wirklich geschrieben hat.

Die Abneigung mir selbst gegenüber hängt vielleicht auch damit zusammen, dass er jedes Wochenende ohne mich feiern geht und andauernd mit irgendwelchen Frauen, mit denen ich mich natürlich vergleiche, fotografiert wird.

Und dabei ist Jasper nicht einmal berühmt. Er sieht nur gut aus.

Zu gut.

Seine ständigen Flirtereien haben mich verrückt gemacht. Immer mehr hatte ich an mir selbst gezweifelt und seine niveaulosen Kommentare haben mir dabei nicht geholfen.

»Narben sind nichts Schlimmes. Stell dich nicht so an«, sagte er zu mir. Andauernd. Als hätte ich nur etwas Spinat zwischen den Zähnen gehabt.

Arsch-Arsch-Arsch.

»Was mich nun besonders interessiert: Wo werden Sie nach der Ausbildung arbeiten?«, fragt mein Produktionstechniklehrer Herr Krause in die Runde. Wie sein Nachname es witzigerweise beschreibt, hat er krauses graues Haar, das innerhalb der letzten drei Jahre einiges an Dichte verloren hat.

In einem Monat feiern wir unseren Abschluss und ich kann es kaum erwarten, diese Schule hinter mir zu lassen und ins Berufsleben einzusteigen.

Ich schürze neugierig die Lippen und lasse den Blick durch den Raum wandern. Vorbei an sämtlichen Schränken, an denen Spinnweben hängen. Das grelle, nahezu grüne Licht der Deckenlampen verschönert dieses heruntergekommene Klassenzimmer im Kellergeschoss erst recht nicht.

»Freiwillige vor.« Herr Krause tippt mit seinen Fingern auf dem Pult herum, zeigt seine Ungeduld. Dass er von unserer fehlenden Motivation am Ende der Ausbildung genervt ist, ist unübersehbar. Seine Halsschlagader schwillt an, wie immer, wenn er Stress hat.

Ich seufze, zücke mein Handy und lege es auf den Schoß.

Wanda:Steve, es ist so weit. Ich muss allen sagen, dass ich bald arbeitslos bin!

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum. Hoffe auf eine schnelle Antwort meiner besten Freundin.

Prompt sehe ich, dass sie tippt.

Steve:Sag es, wie es ist. Sie hatten keinen Platz für dich. Sparen Geld durch die Anstellung von Azubis, die Dummköpfe.

Wanda:Ich weiß nicht … Sind irgendwelche Briefe für mich angekommen? Einladungen zu Vorstellungsgesprächen?

Um der Katastrophe entgegenzuwirken, habe ich einige Bewerbungen abgeschickt, doch aus irgendeinem Grund noch keine Antworten bekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe die Ausbildung umsonst gemacht …

Steve:Nope. Du hättest nicht in dieses emotionale Loch nach dem Kündigungsschreiben fallen sollen. Dann hättest du vielleicht schon einen neuen Job.

Wanda:Hätte, hätte, Fahrradkette.

»Also, ich werde bei den Silverlight Studios anfangen. Ich freue mich so sehr darauf, endlich Kinofilme begleiten zu dürfen«, erzählt Ida voller Freude, während ihre Stimme von Wort zu Wort immer mehr quietscht.

Ich kann ihr überhebliches Gehabe nicht mehr hören …

Die Silverlight Studios sind die Produktionsfirma in Deutschland. Wenn man dort einen Arbeitsplatz sicher hat, bekommt man überdurchschnittliches Gehalt und extra Urlaubstage. Ein Traum.

Hätte ich meine Kündigung nur früher bekommen. Dann wäre meine Bewerbung auch bei ihnen gelandet …

Wanda: Da ist sie wieder. Die Geschichte von den Silverlight Studios. Langsam kann ich sie auswendig.

Steve: Du bist nur neidisch :D

Wanda:Hör auf, mich zu durchschauen! :D

Natürlich möchte ich die Klassenbeste sein.

Natürlich möchte ich Ida in allem schlagen.

Und natürlich möchte ich den coolsten Job von allen haben und in irgendwas erfolgreicher sein als meine Kollegen und Kolleginnen. Immerhin haben sie schon makellose Haut, von der ich nur träumen darf.

Aber ich habe bald gar keinen Job mehr und wenn es schlecht läuft, muss ich zurück zu meinen Eltern ziehen.

»Ich ziehe nach Ibiza und werde DJ.« Mein Sitznachbar Jonas grinst Herrn Krause, dessen Blick kaum zu deuten ist, an.

Irgendeine Mischung aus Überraschung und Wut.

»Wow. Das ist … toll, Jonas«, sagt er durch das gekünsteltste Lächeln, das ich jemals gesehen habe. Wenn Herr Krause weiterhin so breit lächelt, bekommt er noch einen Krampf.

Langsam lenkt er seinen Blick auf mich und sieht mich abwartend an.

Shit. Jetzt bin ich an der Reihe.

Eine panische Gänsehaut überrollt mich wie ein Tsunami. Ich schüttele mich, streiche über meine Oberarme.

Ich will keine Niederlage eingestehen.

Idas herausfordernder Blick lastet schwer auf mir und ihre strahlendblauen Augen formen sich zu Katzenaugen. Die Nase ist gerümpft und lässt sie aussehen wie ein böses Kaninchen, dem die Karotte geklaut wurde.

Bei diesem Gedanken unterdrücke ich ein Prusten.

»Wanda?«, fragt mein Lehrer.

Ich hebe die Augenbrauen. Komme zurück ins Hier und Jetzt. Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl herum.

»Ach, ich?« Ich versuche, Zeit zu schinden. »Ich … Ich werde etwas ganz Besonderes machen. Bei meinem jetzigen Betrieb bleibe ich nicht, weil ich ein sehr cooles Angebot bekommen habe. Aber ich darf leider noch nichts erzählen. Das ist alles top-secret.«

Ich möchte mich selbst ohrfeigen. Diese Notlüge auszusprechen, ist ein Fehler. Das weiß ich jetzt schon.

Idas Kinnlade klappt herunter. Ihre Kaninchennase ist wie verflogen. Das Gerücht – oder auch den Fakt –, meine Firma hätte mich rausgeschmissen, habe ich gerade wie eine Seifenblase zerplatzen lassen.

»Oh. Ich hoffe, du darfst am letzten Schultag weitere Details offenlegen. Das klingt höchst interessant.« Herr Krause nickt mir zu. Ich glaube, sein verkrampftes Grinsen hat sich entspannt.

Ich presse automatisch meine Lippen aufeinander und zwinge mir ein Lächeln ab.

Während er meine anderen Klassenkameraden befragt, fällt in meinem Inneren ein Kartenhaus zusammen.

So unauffällig wie möglich tippe ich wieder auf meinem Handy herum.

Wanda:Ich hab Mist gebaut. So richtig.

Steve:Schon Schulschluss? Wo hast du dein Auto jetzt gegen gefahren? Eine Kuh?

Unweigerlich fange ich an zu lachen und kaschiere dies mit einem gespielten Hustenanfall. Vor kurzem habe ich mein Auto auf einem riesigen Stein geparkt und musste vom Abschleppdienst heruntergezogen werden. Das mit der Kuh wäre gar nicht abwegig.

Wanda:Schön wär’s. Ich habe der ganzen Klasse, inklusive Ida, erzählt, ich hätte einen Top-Secret-Job, der besser als alle anderen wäre. Dabei hab ich gar nichts! Nada! Wie reite ich mich da jetzt raus?

Steve:Manchmal zweifle ich an deiner Intelligenz. Warum musst du dich immer mit allen messen? Hör auf, so neidisch zu sein!

Weil ich endlich mal irgendwo überlegen sein möchte. Wegen etwas Gutem im Mittelpunkt stehen möchte …

Schnaufend wende ich den Blick vom Display ab und schaue gedankenverloren Richtung Tafel. Als würde dort die Antwort auf all meine Probleme stehen, die dieses drückende Gefühl in meinem Magen auflöst.

Wanda:Liebe Stephanie, du bist meine beste Freundin. Hilf mir und hör auf, die Klügere zu spielen! Reite mich aus der Scheiße!

Steve:Wenn du aufhörst, mich bei meinem richtigen Vornamen zu nennen …

Grinsend schaue ich auf mein Handy. Ich sehe Steve förmlich auf dem Sofa liegen. Mit einer großen Furche auf ihrer Stirn, die immer tiefer wird, je öfter ich sie Stephanie nenne.

Wanda:Ja. Ich schwöre. Und nun hilf mir!

Steve:Ich denk mal drüber nach.

Als Frisörin in einem schicken Salon hat meine Freundin viele Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen in Hamburg. Vielleicht kann sie etwas ausrichten.

Während einige Klassenkameraden immer noch von ihren Plänen berichten, fängt mein Kopf an zu rauchen. Ich muss unbedingt eine Lösung finden. Auf keinen Fall will ich mich vor der Klasse – und vor allem vor Ida – blamieren.

Kapitel 2

Anton

München, Deutschland

»Wow, was für eine schöne Wohnung.« Die namenlose Blondine – Shit, ich sollte nächstes Mal besser zuhören – schlendert an mir vorbei und schaut sich im Flur um. Dabei wackeln ihre hohen Absätze bei jedem Schritt, zeigen die Menge Drinks, die wir schon gemeinsam hatten.

Vielleicht war es etwas zu viel Alkohol.

Aber nur etwas.

Ich stehe hinter ihr und verweile in der teuer riechenden Birnen-Parfüm-Wolke, die sie hinter sich herzieht. Die Schlüssel lege ich auf einen kleinen weißen Schrank im Eingangsbereich und ziehe meine schwarzen Sneakers aus.

Die moderne Beleuchtung meines Flurs hüllt die weißen Wände und Möbel mit seinem warmen Deckenlicht in einen goldenen Schein.

»Was für eine Aussicht!« Die Stimme der Frau kommt aus meinem Wohnzimmer. Wahrscheinlich schaut sie aus einem meiner bodentiefen Fenster, aus denen man die Isarvorstadt im seichten Laternenlicht erstrahlen sieht.

Seit einigen Jahren wohne ich in München und bin in dieser Stadt mehr als glücklich. Als Skispringer ist der Wohnort praktisch. Von hier aus komme ich gemütlich zu vielen Wettkampfstationen, ohne hunderte Kilometer fahren zu müssen.

Ich brauche den Trubel und die vielen Menschen in dieser Stadt, um mich nicht in meinen Gedanken zu verlieren. Seit fast einem Jahr will ich meine Vergangenheit hinter mir lassen und Ablenkung scheint dafür die beste Medizin zu sein.

»Soll ich dir den Balkon zeigen?«, rufe ich durch die Wohnung. Ich schwanke über die Türschwelle zum Wohnzimmer.

Dort entdecke ich … Katja? Kathrin? Ich weiß es wirklich nicht mehr, konzentriere mich nur auf ihre verschwommene Silhouette.

In dem Club, in dem wir bis vor einer halben Stunde waren, habe ich einige Drinks bestellt und den Abend genossen. Mit verschiedenen Frauen war ich auf der Tanzfläche und bin mit ihnen auf Tuchfühlung gegangen, bis mir diese wunderschöne Blondine ins Auge gesprungen ist. Lange Beine, ein kurzes schwarzes Kleid, das ihre Rundungen gekonnt umspielt, und für mich wie Geschenkpapier aussieht. Geschenkpapier, das ich bald achtlos von ihr reißen werde.

Eine Mischung aus Alkohol und Softgetränken schießt aus meinem Magen, sammelt sich in meinem Mund. Abrupt bleibe ich neben dem Esstisch stehen und schlucke alles gequält herunter.

Ich will jetzt nicht kotzen.

Ich will diese Blondine in mein Bett bekommen und meine Sorgen vergessen.

Sie öffnet die Balkontür und tritt in die abgekühlte Nachtluft, die nun in den Wohnbereich strömt. Eine Gänsehaut prickelt auf meinen Oberarmen, lässt mich unwillkürlich erschaudern.

Meine Begleitung lehnt sich an das metallene Geländer und betrachtet die Stadt, die vor uns liegt. Nur wenige Menschen sind um diese Uhrzeit auf den Straßen unterwegs. Diese ungewöhnliche Leere hüllt München in eine angenehme Stille ein. Nur die Straßenlaternen und der Mond schenken uns gedimmtes Licht, doch das reicht aus, um die Rückenansicht der Blondine zu betrachten. Eine schmale Taille und ein Po, in den ich zu gern kneifen würde.

Mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht trete ich nach draußen und stolpere über die einzige Stufe, die mich von einer heißen Nacht trennt. Überstürzt poltere ich nach vorn und fange ich mich in letzter Sekunde, bevor ich mit den kalten Fliesen Bekanntschaft gemacht hätte.

»Hier könnte ich für immer bleiben.« Die Blondine legt den Kopf schief. Ihre Haare, die glatt auf den Schultern liegen, wehen in der leichten Brise.

Nein, du bleibst nur heute Nacht. Dann werden wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen.

Langsam schreite ich von hinten an sie heran und lege meine

Hände an ihre Taille. Als wäre sie eine zerbrechliche Vase, streichle ich über ihre Rundungen und versuche, meinen Kopf auszuschalten.

Der Alkohol zeigt seine Wirkung und benebelt meine Sinne, doch meine Gedanken kreisen immer noch um Lina. Seit vielen Monaten.

Es fühlt sich mit dieser Frau nicht so an wie mit ihr. Es wird sich niemals mehr so anfühlen. Ich werde nie wieder dieses freie Gefühl verspüren, das ich mit ihr hatte. Diese Leichtigkeit. Das Lebensgefühl. Freude. Pure Freude.

Niemand wird Lina je ersetzen.

Trotzdem trete ich einen Schritt näher an meine Begleitung heran und drücke mein Becken gegen ihren Po. Zuckend atme ich ein, als hätte ich mich verbrannt, aber auf eine schöne, aufregende Weise. Mein Körper kann immer etwas mit einem guten Hintern anfangen.

Meine Mitte zuckt verlangend, will mehr. Mehr von dieser Frau. Den Kopf lasse ich auf ihre linke Schulter gleiten und kreise mein Becken.

Sie seufzt leise und lehnt sich nach hinten. Wieder steigt mir ihr Parfum in die Nase und erinnert mich abermals daran, dass sie nicht Lina ist. Ihren lieblichen Duft werde ich nie wieder riechen. Das blumige Parfum, das sich mit ihrem eigenen Geruch vermischte. Eine einzigartige Note, die nun für immer verloren ist.

Meine Augen presse ich fest zusammen, als könnte ich so die herzzerreißenden Erinnerungen verdrängen. Meine Erinnerungen an diesen schrecklichen Unfall, für den ich mir immer noch die Schuld gebe.

Nein, der Unfall, an dem ich tatsächlich schuld bin. Ich kann es nicht mehr leugnen. Ich war der Auslöser. Das wusste ich immer tief im Inneren.

Sorgen fressen sich in mein Herz, durchlöchern es mit Messerstichen, die mich für immer an diesen schrecklichen Tag erinnern sollen. Mein persönliches Gefängnis sind.

Die Blondine dreht sich um. Mit ihren blauen Augen funkelt sie mich im dämmrigen Licht an und lässt meine Sorgen-Seifenblase zerplatzen. Ein zaghaftes Lächeln umspielt ihre vollen Lippen, über die sie wie in Zeitlupe mit ihrer Zunge fährt.

Scheiße, worüber wird ihre Zunge in den nächsten Minuten noch fahren?

Mein erregter Geduldsfaden platzt. Ohne darüber nachzudenken, lege ich meine Lippen auf ihre. Streiche zart mit der Zunge über ihren süßen, klebrigen Lipgloss. Sie seufzt erregt in meinen Mund, als sie ihre Hände in meinen dunkelblonden Haaren festkrallt und mich näher an sich heranzieht.

Mein Körper reagiert auf ihre bestimmende Art. Eine geballte Kraft versammelt sich in meiner Mitte und will mehr Platz. Mehr Freiraum, um zumindest für die nächsten Minuten nur Anton zu sein. Der normale Anton ohne schreckliche Vergangenheit. Der Anton, der kein Star-Athlet ist.

Ich bin froh, mich einfach nur hingeben zu müssen. Mein Herzschlag beschleunigt sich und meine Ohren rauschen, als hätte mich jemand unter Strom gesetzt.

Während meine Hände endlich zu ihrem Hintern wandern, ziehe ich die Frau mit mir und befördere sie auf die große Sonneninsel, die in einer Ecke auf dem Balkon steht.

Wir fallen rückwärts hinauf. Ein Schrei gemischt mit einem Lachen entweicht aus ihrer Kehle.

Die Blondine schnurrt wie eine Katze, als ihre Finger über meinen Brustkorb streifen. Akribisch fährt sie jeden Bauchmuskel nach, der sich unter dem dünnen Stoff des T-Shirts abzeichnet.

Ich schließe gelassen die Augen und warte sehnsüchtig auf die heißen nächsten Minuten.

Ungeduldig zupft sie an meinem schwarzen Shirt. Ich erhebe mich, damit sie es über mich streift und achtlos zur Seite wirft.

»Heiß«, flüstert sie mit kratziger Stimme und nimmt sich Zeit, wieder mit ihrem Zeigefinger über meine Bauchmuskeln zu fahren. Aber dieses Mal ohne lästigen Stoff dazwischen. Haut an Haut.

Als Skispringer bin ich durchtrainiert und weiß, wie gut ich bei den Frauen ankomme. Mit meinen Muskeln punkte ich immer. Sie sind wie eine persönliche Eintrittskarte und erleichtern es mir, jemanden zu finden, der mich ablenkt.

Meine Hände schiebe ich unter ihr Kleid und ziehe es weit hoch, damit sich meine Begleitung locker auf meinen Schoß setzen kann. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als ich ihren festen Po zu fassen bekomme und ihn genüsslich knete. Seufzend schließe ich die Augen und lehne den Kopf nach hinten. Suche wieder nach dieser gedanklichen Zone, in die ich schlüpfe, wenn ich abschalte.

Meine Bewegungen an ihrem Hintern sind wie automatisiert, schleichen sich Richtung Mitte, die verdammt heiß unter meinen Fingerkuppen prickelt. Ich weiß genau, wie ich diese Frau verrückt mache.

Mein Herz schlägt schnell. Viel zu schnell. Als würde ich oben auf der Schanze sitzen und kurz davor sein, von meinem Trainer abgewunken zu werden. Der Nervenkitzel, der mich beim Springen verfolgt, verfolgt mich auch beim Sex.

Ich liebe es. Gerade als ich den Reißverschluss meiner Hose öffnen und meiner Begleitung meine volle Pracht, die sich gierig gegen den Jeansstoff drängt, präsentieren möchte, sucht sich das Gemisch aus Alkohol und Softgetränken wieder einen Weg durch meine Speiseröhre. Ich verharre in meiner Position und konzentriere mich in meinem Zustand darauf, alles herunterzuschlucken und zu verdrängen.

Die Blondine bemerkt meine Starre und schaut mich mit ihren großen blauen Augen an. »Was ist los?«

Ich kann nicht antworten, sonst würde mein Erbrochenes direkt in ihr Gesicht schießen, also schüttele ich nur meinen Kopf und presse die Lippen so fest wie möglich aufeinander.

Sie verzieht den Mund, als hätte ich eine Tarantel im Gesicht und klettert von meinem Schoß. »Geht’s dir gut?«

Endlich schlucke ich alles hinunter und atme zitternd durch. Das ist gerade noch mal gutgegangen, aber ich muss mich Richtung Badezimmer bewegen. Schnell. Lange bleibt der Alkohol nicht mehr in mir.

»Du musst gehen«, sage ich nun und presse die Lippen danach wieder schlagartig aufeinander. Speichel sammelt sich in meinem Mund, kündigt das Erbrechen an.

»Was? Wir waren doch gerade dabei, uns-«

»Nein. Geh. Sofort.« Ich rolle mich so langsam wie möglich von der Sonneninsel und nehme die Blondine an die Hand. Eilig schiebe ich sie Richtung Wohnungstür und öffne sie.

»Mir geht’s nicht gut. Auf Wiedersehen.«

Oder auch nicht.

Die Frau zieht ihre Augenbrauen zusammen. Diese eisblauen Augen strahlen nun nicht mehr so sehr wie draußen auf dem Balkon.

»Was für ein Arsch bist du eigentlich? Nimmst mich mit nach Hause und servierst mich mitten drinnen wieder ab?« Ihre Stimme hallt durch das Treppenhaus.

Schnell lege ich einen Finger auf meine Lippen.

»Was? Soll ich leise sein?« Ihre Stimme wird immer lauter. Das Echo schmerzt in meinen Ohren. »An alle, die jetzt zuhören: Anton Mayr ist ein Arschloch!«

»Sei leise.«

»Und ich dachte, du wärest ein guter Kerl.« Mit diesem Satz dreht sich die Blondine um und torkelt die Treppenstufen hinunter.

Ein guter Kerl. Das wäre ich gerne gewesen.

Ich stehe wie angewurzelt zwischen Hausflur und meiner Wohnungstür und lehne den Kopf gegen den kalten Türrahmen. Ein Schmerz zieht durch meinen Körper, als würde eine unsichtbare Macht mein Herz ergreifen und quälend langsam zerdrücken.

Ich weiß, ich habe alles verbockt. Nicht nur den Sex mit der Blondine, sondern einfach alles. Das komplette letzte Jahr habe ich verbockt und kassiere dafür nun die Quittung.

Wenn ich nur diesen einen Fehler nicht gemacht hätte … Wenn ich Lina doch irgendwie gerettet hätte.

Ich vernehme ein leises Quietschen zu meiner Rechten. Die Wohnungstür neben mir wird geöffnet und Frau Sonderburger lugt durch einen kleinen Spalt.

Mit dem seidenen Bademantel und den grauen Haaren, die in einem perfekten Dutt zusammengebunden sind, sieht es nicht so aus, als hätte sie bereits geschlafen. »Anton, was ist hier los?« Ihre Stimme ist leise und gefasst. Jedoch macht sie sich Sorgen. Die große Falte zwischen ihren dünnen Augenbrauen verrät sie.

Meinen Kopf drehe ich weiter zu ihr. Trotzdem lasse ich ihn gegen den Türrahmen gelehnt, weil ich irgendeine Unterstützung brauche. Mein Mageninhalt ist ruhig, rumort nicht mehr in mir, seitdem mein Date verschwunden ist.

»Nichts«, nuschele ich.

Sie schüttelt den Kopf und tritt in den Hausflur hinein. »Das klang aber gerade anders. Warum ist das junge Mädchen so wütend aus deiner Wohnung gestampft?«

Wenn Frau Sonderburger mit mir redet, fühlt es sich oft an, als würde ich mit meiner Oma reden. Sie müssten ungefähr im gleichen Alter sein, auch wenn Frau Sonderburgers Haut viel jünger aussieht.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und fühle mich wie ein kleines Kind, das erklären muss, warum es Streit hatte.

»Anton?«

Mein Inneres will mir einen Ruck geben, mir heftig in den Rücken treten und ihr alles erzählen. Aber ich bin nicht bereit.

Ich seufze leise. »Ich war feiern und habe sie zu mir nach Hause mitgenommen. Wir … Wir waren gerade dabei … und dann …«

»Musstest du an Lina denken?«

Ein unsichtbares Messer rammt sich in meine Brust. Ohne Vorwarnung. Mit voller Wucht. Mein Körper krampft, die Finger grabe ich wie ferngesteuert in meine Oberarme hinein.

Da ist er wieder. Dieser Schmerz, den ich vergessen wollte. Der Schmerz, der zu gern mitten in der Nacht auftritt und mir den letzten Schlaf raubt.

Es ist eine Sache, an Lina zu denken. Aber es ist eine andere Sache, wenn jemand ihren Namen laut ausspricht. Das macht ihren Tod so real.

»Das habe ich mir schon gedacht.« Frau Sonderburger redet nicht auf eine besserwisserische Weise, sondern eher mit einem traurigen Unterton. Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist die einzige Person im Universum, die mich wenigstens ein bisschen versteht. »Du vermisst sie. Das ist etwas ganz Natürliches und gehört zum Heilungsprozess. Mir ging es doch genauso, als ich Hermann verlor.« Sie atmet laut aus. Die sonstige Röte, die meine Nachbarin so jung und frisch aussehen lässt, ist verschwunden.

Vor zwei Jahren verstarb ihr Ehemann. Lina und ich kümmerten uns seither um sie. Als der Unfall geschah, war Frau Sonderburger die Erste, die ich anrief. Nicht mein Kumpel Rupert, nicht meine Eltern. Es war sie. Ich wusste, dass ich Mist gebaut hatte und wollte mich ihnen und ihrer Enttäuschung nicht stellen.

»Es wird einfach nicht besser. Es wird immer schlimmer«, flüstere ich. Mein Mageninhalt stößt wieder auf, doch dieses Mal weiß ich nicht, ob es der Alkohol ist oder die Erinnerung an den schlimmsten Tag meines Lebens. »Ich habe das Gefühl, ich sterbe von innen nach außen.«

»Vielleicht solltest du dich mehr auf dich konzentrieren, Anton. Weniger Frauengeschichten und Alkohol. Mehr Selbstliebe.«

»Du liest zu viele Ratgeber.« Schützend verschränke ich die Arme vor der Brust, starre auf die weißen Fliesen vor mir.

»Und die tun mir gut.« Kleine Falten legen sich um Frau Sonderburgers graue Augen. »So, es ist spät. Leg dich ins Bett und schlaf deinen Rausch aus, ja? Ich lege dir morgen früh zwei Brötchen vor die Tür.«

Langsam komme ich in Bewegung und verlasse meine verkrampfte Position. »Okay. Danke. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Anton.«

Wir verlassen den Hausflur und begeben uns in unsere Wohnungen.

Mit einem schmerzenden Herzen lehne ich mich von innen gegen die Tür und schließe die Augen.

Ich will Lina nicht vergessen. Niemals. Aber ich muss irgendwie weiterleben und darf nicht ewig mit einem gebrochenen Herzen leben. Sie hätte das bestimmt nicht gewollt.

Kapitel 3

Wanda

Hamburg, Deutschland

An diesem regnerischen Samstag ich bin froh, heute keine Pläne zu haben. Die Sorge über meine Lüge liegt mir so schwer im Magen, dass ich mich auf keine Aktivität hätte konzentrieren können.

Die Tomatensoße auf dem Herd neben mir blubbert vor sich hin wie meine Gedanken. Ich stehe wie in Trance in Steves und meiner Küche. Meine Sicht verschwimmt und holt mich wenigstens für kurze Zeit aus meiner Misere heraus.

Ein besonderer Job? Als Mediengestalterin? Was könnte ich machen?

Filmindustrie? Ist nichts Besonderes.

Social Media? Mainstream.

»Das riecht fantastisch.« Steve betritt die Küche und wirft ihre Handtasche achtlos in eine Ecke.

Ich erwache aus meinen tiefen Gedanken und schiebe die Sorgen beiseite wie Hausaufgaben, die ich nicht erledigen möchte. »Danke. Kannst du die Auflaufform aus dem Schrank holen?«

»Klar.« Sie hüpft zu mir und kramt im Schrank herum. »Was beschäftigt dich? Ich rieche deinen Unmut bis hierher.«

Wie von Zauberhand erscheint die Auflaufform neben mir auf der Arbeitsplatte. Schmollend schaue ich zu meiner Freundin. Sie legt den Kopf schief und sieht mich eindringlich an. Ihre dunkelbraunen Locken liegen perfekt auf den Schultern, als würde sie aus einem Shampoo-Werbespot kommen und mir das neueste Produkt mit Super-Doppel-Mega-Serum verkaufen wollen.

»Steve, ich weiß nicht, was ich machen soll.« Die Unterlippe schiebe ich dabei immer weiter nach vorne wie ein kleines Kind. »Meine dumme Lüge frisst mich auf.«

»Geht es um den Job? Ich werde mich heute Abend mal umhören. Vielleicht kennt jemand jemanden, der jemanden kennt und so weiter.«

»Das wäre ein Traum, ist aber unrealistisch. Ich will meine Niederlage nicht eingestehen.«

»Dann hättest du von Anfang an nicht so verbissen sein sollen. Dein Job soll dich glücklich machen. Nicht andere.« Steve stupst mit dem Zeigefinger gegen meine Nase.

»Wenn das nur so einfach wäre …« Genervt nehme ich den Topf von der Herdplatte, puste dabei eine verlorengegangene Haarsträhne von meiner Wange. »Wie war die Arbeit?«, frage ich, während ich abwechselnd Nudelplatten und Soße in die Auflaufform gebe.

Steve stellt den Backofen an. »Ganz okay. Ein paar Männerhaarschnitte und bei einer Kundin durfte ich ein blondes Balayage machen. Das sah Hammer aus. Hab ich auf Instagram gestellt.«

»Dann guck ich da nachher mal rein. Könntest du meine blonden Strähnen auch bald nachfärben? Für einen Freundschaftspreis von … einer Lasagne?« Ich lege mein bestes Lächeln auf.

Wenn ich bald keinen Job mehr habe, kann ich mir einen Frisörbesuch nicht mehr leisten. Nicht einmal eine Fahrt mit der S-Bahn zum Frisör wäre drin …

»Eine Lasagne?« Steve zieht ihre braunen Augenbrauen nach oben und stemmt die Hände in die Hüften. Sie könnte gerade genauso gut meine Mama sein.

»Und Nachtisch! Ein Eis!« Flehend falte ich die Hände.

»Okay, okay.« Sie lacht. Weiß bestimmt, wie verzweifelt ich bin. »Ist abgemacht. Aber nur, weil ich dich so gern hab, ja?«

»Danke dir.«

Als die Lasagne im Ofen ist, setzen wir uns an den kleinen Esstisch in der Ecke der Küche.

Ich zähle die orangenen Blumen auf unseren Fliesen ab. Will mich auf etwas anderes konzentrieren als auf meine Job-Lüge und den dazugehörigen sozialen Untergang.

»Irgendwann klebe ich diese hässlichen Dinger über.« Ich streiche über die Fliesen. Ein leichter Staubfilm zeichnet sich auf meinen Fingern ab, den ich in meiner Jogginghose abwische. »Igitt. Und ich muss Staubwischen.«

»Ich treffe mich heute Abend mit Vera im Q5. Wie sieht’s aus? Kommst du mit?«

Mit zusammengepressten Lippen schüttele ich den Kopf. Mein Herz ist zu besorgt für eine Party. Ich kann nicht ausgelassen feiern, wenn mein Leben auf einer Lüge basiert. Mein Brustkorb zieht sich zusammen wie ein trockener Schwamm. Ich realisiere erst jetzt, was für einen riesigen Mist ich gebaut habe. Nicht nur die Lüge, nein. Ich bin bald arbeitslos in einer verdammt teuren Stadt. Und ich habe nicht viele Rücklagen. »Ich will lieber in Selbstmitleid versinken.«

Steve seufzt, ergreift meine Hand. »Wanda, wir werden eine Lösung finden. Und wenn nichts mehr geht, darfst du halt am Tag deines Abschlusses immer noch nichts über deinen mysteriösen Job verraten. Du musst es deiner Klasse und Ida doch nicht erzählen. Du musst nichts beweisen.«

»Sie werden aber weiter nachhaken. Auf Social Media oder wenn man sich mal über den Weg läuft …«

Und mein Ego wird auch nachhaken. Für den Rest meines Lebens wird es mich daran erinnern, nicht das erreicht zu haben, was ich wollte. Nicht die Beste in irgendwas zu sein.

»Na gut, ich habe es versucht«, sagt Steve mehr zu sich selbst als zu mir. Sie spielt an ihrem Riemchenarmband. »Also liegst du heute Abend in deinem Bett und schaust Grey‘s Anatomy?«

»Genau. Mit einem riesigen Becher Karamelleis auf dem Schoß.« Ich zwinge mir ein Lächeln ab, aber meine Freundin schüttelt nur den Kopf.

»Wir finden eine Lösung, du Nudel.«

Am Abend sitze ich auf dem Bett in meinem Zimmer. Der Laptop steht vor mir auf der Bettdecke und summt erschöpft vor sich hin. In eine Wolldecke gekuschelt und mit meinem Eisbecher in der Hand schaue ich meine Serie.

»Warum sucht Christina ihren verdammten Schuh? Die haben Wichtigeres zu tun«, nuschele ich zwischen zwei Löffeln Eis und zeige dramatisch Richtung Bildschirm, als würde ich mich mit irgendjemandem unterhalten.

Als das Schuh-Drama noch weitergeht, stelle ich das Eis auf den Nachttisch und zücke mein Handy. Schnell durchforste ich die Stellenanzeigen. Aber ich entdecke nur neue Anzeigen von Kunststoffherstellern und Kleidungsmarken. Das ist alles nichts Besonderes.

Ach, Mann.

Es wäre eine Genugtuung, einen Job ohne Steves Hilfe zu finden, aber das ist Wunschdenken. Sie ist einfach viel zu überzeugend und aufdringlich. Darauf springt jeder an. So hat sie ihren Job in diesem trendigen Salon bekommen.

Glückspilz.

Und ich darf in meinem WG-Zimmer versauern und mich über meine Lüge ärgern.

Während ich mir die Anzeige vom Kunststoffhersteller doch noch einmal ansehe – obwohl sich alles in mir sträubt –, schiebt sich eine Push-Benachrichtigung in den Vordergrund.

Jasper1998 hat einen Beitrag gepostet.

»Auch das noch.«

Natürlich habe ich vergessen, die Benachrichtigungen auszustellen, als wir uns trennten. Damals fand ich es süß, über jeden Post von Jasper informiert zu werden. Jetzt wird mir bei dieser Benachrichtigung nur noch übel.

Jasper1998:Party mit meinen Girls.

Mir wird sogar mehr als übel. Ich möchte kotzen. Im Strahl.

Es ist mir ein Rätsel, wie ich mich auf so ein Arschloch einlassen konnte. Die Demütigung und das Bodyshaming, das ich in unserer Beziehung aushalten musste, haben mich fertiggemacht. Diese ständigen Kommentare zu meinem Körper waren wie Würmer, die sich immer weiter in mich hineingefressen hatten. So weit, bis sie an meinem Gehirn ankamen und mir pausenlos zuflüsterten, dass ich nicht gut genug wäre.

Einige dieser Würmer leben immer noch in mir und wollen einfach nicht ausziehen.

Kapitel 4

Anton

München, Deutschland

Tatsächlich finde ich am nächsten Morgen eine Papiertüte mit zwei Vollkornbrötchen vor der Tür. Frau Sonderburger hat ihr Wort gehalten und ich bin dankbar, so eine nette Nachbarin zu haben.

Ich habe viele Bekannte, doch wenige enge Freunde. Das ist mit meinem Job als Skispringer nicht anders zu lösen. Ich kann nicht wie viele andere jedes Wochenende feiern gehen. Ich habe Trainingspläne, die ich einhalten muss. Im Winter bin ich kaum erreichbar, weil wir fast jedes Wochenende einen Wettkampf haben. Und wenn das nicht der Fall ist, muss ich trainieren.

Deshalb nutze ich die Zeit außerhalb der Saison, um mein Leben zu leben. Partys, Frauen, Alkohol, Abschalten. Einfach das Leben, das ich versuche, aufrecht zu erhalten, genießen.

Ich ignoriere die dröhnenden Kopfschmerzen, die bei jedem Schritt einem Presslufthammer ähneln, und schlendere durch die lichtdurchflutete Wohnung.

»Alexa, mach das Radio an.«

Ich bin immer wieder stolz darauf, Gäste herumzuführen und ihnen zu zeigen, was ich erreicht habe und was ich mir nun leisten kann. Ich habe damals klein angefangen und hätte niemals damit gerechnet, eines Tages von meinem Lieblingssport leben zu können.

Ich mache es mir am Esstisch gemütlich, während ich meine Brötchen mit Avocado und Käse belege. Der Kaffee läuft mit einem Brummen von meinem Vollautomaten in eine kleine Tasse und hüllt den Wohn- und Essbereich mit einer angenehmen Kaffeenote ein. Die Sonne kriecht langsam hinter den wenigen Wolken am Himmel hervor und strahlt durch die hellen Vorhänge. Der Raum leuchtet förmlich, gibt mir dieses entspannte Sommergefühl.

Mein Handy vibriert laut auf dem Glastisch und zeigt eine neue Nachricht an.

Rupert:Jooo, nimmst du mich nachher mit zum Lehrgang?

Mist. Das ist heute.

Am Nachmittag treffen wir Athleten uns für einen zweitägigen Lehrgang mit unserem Trainer Johann.

Ich hole meinen Kaffee und setze mich zurück an den Tisch.

Anton:Ja, kann ich machen. Ich habe aber starke Kopfschmerzen …

Rupert muss nicht wissen, woher die Kopfschmerzen kommen. Manchmal ist es mir unangenehm, ihm von meinen Abenden zu erzählen. Er teilt meinen Lebensstil nicht unbedingt.

Rupert:Hab’ ich mir irgendwie schon gedacht. Die Fotos im Internet sprechen Bände.

Autsch. Wer hat denn schon wieder Fotos von mir veröffentlicht?

Rupert:Soll ich dich sonst abholen? Ich kann früher losfahren, damit wir rechtzeitig ankommen.

Ich gebe mich geschlagen, schicke einen Daumen-nach-oben-Emoji zurück und widme mich wieder meinem Frühstück.

Rupert ist ein guter Kerl. Einige Dinge, die ich anstelle, stören ihn, doch er versucht, trotzdem für mich da zu sein und mich zu unterstützen. Er weiß, dass ich es nicht immer leicht habe und ist seit dem Unfall ein noch aufmerksamerer Freund geworden. Er ist neben Frau Sonderburger einer meiner engsten Vertrauten.

Als ich den letzten Bissen meines Brötchens kaue, öffne ich Instagram, um nach den besagten Fotos von letzter Nacht zu suchen, aber so weit komme ich gar nicht. In meinen Direktnachrichten finde ich eine wütende Mitteilung. Die Vorschau zeigt mir nur die Worte »Du dummes Arschloch«.

Mit angehaltenem Atem drücke ich drauf und lese sie mir durch.

Oh.

Das ist wohl die Blondine von letzter Nacht.

Meine Hände umschließen krampfhaft das Handy. So sehr, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Alles in mir spannt sich an, will meine gebündelte Trauer herauslassen. Aber das lasse ich nicht zu und knalle das Handy abrupt auf den Tisch. Ich stehe schnell auf, als wäre der Stuhl urplötzlich heiß geworden und schaue zur Wanduhr gegenüber. Rupert wird in vierzig Minuten vor meiner Wohnung stehen.

Eilig gehe ich ins Schlafzimmer und packe meine Tasche. Einige T-Shirts hole ich aus der Kommode, genauso wie ein paar Shorts. Als ich meinen Sprunganzug aus dem Kleiderschrank hole, ertönt eine Nachricht aus dem Radio, die sich wie ein Echo bis in mein Schlafzimmer schleicht.

»Stau auf der A9 Richtung Norden. Bitte umfahren Sie diese Strecke gründlich. Gerade findet ein Feuerwehreinsatz statt. Ein Auto steht in-«

»Alexa! Radio aus!«, schreie ich.

Sofort stellt die KI die Nachrichten aus.

Mein Herz hämmert heftig in der Brust, die kurz davor ist, zu explodieren. Ein Druck, so schwer wie Tausend Elefanten, legt sich auf meinen Oberkörper und will mich zerquetschen. Mir all meinen Sauerstoff rauben.

Erinnerungen suchen mich heim. Blaulicht. Der Geruch von geschmolzenem Gummi.

Ein Schrei.

Mein Schrei, als ich sehe, was geschehen ist.

Kapitel 5

Wanda

Hamburg, Deutschland

Nach meinem Grey’s-Anatomy-Marathon betrete ich am nächsten Morgen die Küche und finde eine gut gelaunte Steve am Esstisch vor. Lächelnd beißt sie in ihr Brötchen und wippt auf dem Stuhl auf und ab, als sie mich entdeckt.

»Guten Morgen.« Grummelig lasse ich mich auf den Stuhl gegenüber von ihr fallen.

Obwohl sie diejenige ist, die feiern war, scheine ich heute der Miesepeter zu sein.

»Guten Morgen, Wanda. Schlecht geschlafen?«

Mit einem lauten Seufzer lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte knallen. »Vielleicht. Ich konnte einfach nicht mit der Serie aufhören. Der Flugzeugabsturz war zu spannend.«

Und dann noch die Sorgen um meinen nicht vorhandenen Job …

»Es wundert mich, dass du erst bei der achten Staffel bist.«

»Erst? Ich habe vor vier Monaten mit der Serie angefangen. Das ist eine sehr gute Leistung.« Ich schaue in die Tüte des Bäckers, nehme mir das letzte Brötchen, schneide es auf und belege es mit Käse. »Wie war die letzte Nacht? Was habt ihr gemacht?«

Steve lehnt sich zurück und nimmt einen Schluck ihres Kaffees. »Wir haben im Club einige Kerle kennengelernt und mit ihnen gequatscht. Nichts Ernstes, keine Sorge.«

»Du brauchst trotzdem mal einen Freund.« Eigentlich sollte das ein stiller Gedanke sein, doch irgendwie ist er mir doch herausgerutscht. Ich presse meine Lippen aufeinander.

Ich würde mich so sehr für Steve freuen, wenn sie in einer Beziehung wäre. Ein starkes Gegengewicht würde ihr guttun.

Meine Freundin will gerade einen weiteren Schluck Kaffee trinken, als sie in der Bewegung verharrt. »Themenwechsel. Also, ich bin gestern nicht weitergekommen wegen deines Jobs.«

Das wäre zu schön gewesen. Sie kann nicht immer meine gute Fee in Not sein.

»Ach, Mann.« Mir fällt ein Brötchenkrümel aus dem Mund.

Steve schaut mich mit gerümpfter Nase an. »Es tut mir leid. Ich habe wirklich alles und jeden gefragt.« Sie kratzt sich am Hinterkopf und grinst. »Eines muss ich dir aber noch erzählen: Gestern war da so ein Kerl im Club, der hatte ein Hotdog-Kostüm an. Ich weiß gar nicht, wie er vom Türsteher reingelassen wurde.« In ihren Augen sammeln sich Tränen. Wie jedes Mal, wenn sie kurz davor ist, zu prusten. »Warte, ich suche kurz sein Profil. Wir haben gestern miteinander getanzt. Du musst dir das ansehen.«

Ich lege das Brötchen auf dem Teller ab und warte darauf, dass meine Freundin mir den Typen zeigt. Sie dreht ihr Handy in meine Richtung. Auf dem Display entdecke ich einen Mann mit schwarzem Haar und einer ausgeprägten Kinnpartie, der in einem lächerlich übergroßen Hotdog-Kostüm steckt. Jetzt ärgere ich mich doch, gestern Abend nicht dabei gewesen zu sein.

»Witzig, oder?« Steve grinst immer noch.

»Ja, da kann ich dir nur zustimmen.« Ich zwinge mir ein zartes Lächeln ab und esse mein Käsebrötchen genüsslich, während Steve weiter durch Instagram scrollt.

Vielleicht muss ich diese ganze Lüge über Bord werfen und mich einfach bei diesem Kunststoffhersteller bewerben. Es ärgert mich und kratzt ungemein an meinem Ego, aber arbeitssuchend will ich nach Beendigung der Ausbildung auch nicht sein.

Steves Faust landet auf dem Küchentisch. Der Teller vor mir scheppert, das Messer stimmt klirrend mit ein. Ich schrecke hoch, lasse den Rest meines Brötchens fallen. Noch ein Schlag auf den Tisch. Steve hat ein breites Grinsen im Gesicht.

»Wanda! O mein Gott! Ich könnte eine Lösung haben!«

Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Ich setze mich aufrechter hin, lehne mich ein wenig über den Esstisch. »Was? Schieß los!«

»Alle sagen immer, Instagram sei Zeitverschwendung.«

»Aber? Hör auf, mich auf die Folter zu spannen!« Jeglicher Muskel in mir spannt sich an. Wenn Steve eine Idee hat, ist sie meistens gut …

»Ich habe mir gerade die Stories vom Hotdog-Typen angesehen und schau mal, was er repostet hat.« Steve hält mir das Handy hin und ich reiße es ihr schnell aus der Hand.

Ich schaue mir den Beitrag mit angehaltenem Atem an. Überfliege die weißen und hellblauen Schriften, die verkünden, dass jemand gesucht wird, der mit einer Kamera und einem Schnittprogramm umgehen kann.

»Der Deutsche Skiverband? Sind die für die Skipisten zuständig?« Ich bin nicht die Richtige für diesen Job. Ich habe keine Ahnung vom Skifahren. Oder von Schnee generell.

Steve zuckt die Schultern. »Geh mal auf deren Profil. Vielleicht steht da noch mehr zur Stellenanzeige.«

Tatsächlich komme ich über den Link im Profil zur offiziellen Website und lese mir die Anzeige nun genauer durch. Trotzdem bin ich kritisch. Sie suchen nicht explizit nach einer Mediengestalterin. Jeder, wirklich jeder, könnte sich auf diesen Job bewerben. Deshalb habe ich die Anzeige wohl selbst nicht gefunden.

»Ich weiß nicht.« Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, nestele an Steves rosa Handyhülle.

Warum mache ich die Ausbildung, wenn ich danach nicht einmal als Mediengestalterin arbeite? Dann wäre doch alles für die Katz gewesen.

»Was stört dich an der Anzeige?«

»Das Gehalt. Die werden bestimmt unterdurchschnittlich bezahlen. Wesentlich weniger als andere Firmen.« Und da zerplatzt die Traumblase, die sich langsam aufbauen wollte.

»Weil sie keinen Mediengestalter suchen.«

Ich nicke und mein Herz wird schwer. Als hätte die Gravitation in diesem Raum schlagartig zugenommen und würde mich dem Erdboden zum Fraß vorwerfen.

Der Job beim Skiverband wäre auf jeden Fall etwas Besonderes, aber ist er überhaupt für mich Sportmuffel geeignet? Wir Norddeutschen kennen keinen Schnee.

Akribisch studiere ich die Stellenanzeige ein weiteres Mal. »Sie suchen jemanden, der die deutschen Skispringer für eine Saison begleitet. Ich habe noch nie Skispringen gesehen«, beschwere ich mich und lasse das Handy auf den Tisch gleiten. »Wir leben in Hamburg. Das Wort Ski befindet sich nicht in unserem Wortschatz.«

Also werde ich sowieso keine Chance haben. Ich weiß nichts über diesen Sport.

Steve nimmt ihr Handy, steht auf und hockt sich neben mich. Sie scheint immer noch von der Idee überzeugt zu sein. »Schau mal, du bekommst eine Vergütung und sie kommen für den Aufenthalt und die Verpflegung auf.«

Meinen Blick lasse ich nun wieder auf das Display gleiten. An sich ist das ein gutes Angebot und ich könnte ein bisschen was erleben und reisen. Trotzdem weiß ich nichts über den Sport und werde keine Begeisterung verkaufen können. Im Lügen bin ich anscheinend nicht gut.

»Da hast du deinen besonderen Job, Wanda.«

»Und wenn ich etwas zum Skispringen gefragt werde?«

»Dann müssen wir uns eben mit dem Thema beschäftigen. Heute ist Sonntag und wir haben keine Pläne. Perfekt.«

Warum ist diese Frau nur so überzeugend?

Dass ich mich mal einen kompletten Tag mit dem Thema Skispringen auseinandersetzen würde, hätte ich beim Aufstehen noch nicht gedacht.

Also decken Steve und ich den Esstisch ab, setzen uns ins Wohnzimmer und durchforsten das Internet nach diesem Sport. Wikipedia-Einträge, YouTube-Videos, Instagram. Wir werden zu kleinen Stalkern, aber wenn Steve eines gut kann, dann ist es, Menschen im Internet ausfindig zu machen. Sie ist besser als das FBI.

Wir lesen uns Zeitungsartikel durch, in denen über die vergangenen Wettkämpfe berichtet wird, und stellen fest, dass das deutsche Team kaum Erfolge zu verzeichnen hat. Dieser Anton Mayr scheint der Einzige aus unserer Nation zu sein, der innerhalb der letzten Jahre auf einem Podium war.

Am Abend betritt Steve unser Wohnzimmer mit zwei Tassen in der Hand, aus denen Dampf aufsteigt. Ich sitze mit meinem Laptop auf dem dunkelgrauen Sofa und schaue eine weitere Folge Grey’s Anatomy. Meine schwarze Jogginghose und den grauen Hoodie vom Tag habe ich gegen einen blauen Zweiteiler getauscht.

»Zeit für Kakao!« Steve setzt sich neben mich. Die beiden grauen Tassen stellt sie auf den Couchtisch. »Und Zeit für deine Bewerbung!«

»Nein!« Ich fühle mich nicht bereit, eine Bewerbung zu verfassen, in der ich falsche Begeisterung schildere. Nach den vielen Videos, die ich über das Skispringen gesehen habe, habe ich Angst vor diesem Sport bekommen und mich von dem Wort Begeisterung immer weiter entfernt. Die Sturz-Zusammenfassungen auf YouTube machen es nicht besser und zeigen, wie gefährlich der Sport eigentlich ist.

»Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Wanda Leferre und seit Jahren ein riesiger Fan des Skispringens«, beginnt Steve vorzutragen, während sie nach ihrer Tasse greift.

»Lüge!«, unterbreche ich sie mit einem kleinen Lächeln und nehme mir ebenfalls meinen Kakao.