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Sechs Sonderlinge aus der tiefsten Provinz erobern mit einem Einfall die größten Städte. In seinem neuen Roman entführt Andreas Hillger in ein Absurdistan, das überall liegen kann und uns gerade deshalb nur allzu bekannt vorkommt. Was im längst geschlossenen Dorfgasthaus am Rande des Kohleabgrunds entstand, war anfangs nur eine Schnapsidee. Hier im äußersten Osten stehen die Leben auf der Kippe, deswegen sind die meisten schon gegangen. Da aber verirrt sich ein Fremder in die Dorfkneipe, in der allnächtlich nach Sonnenuntergang die seltsamen Kerle beieinanderhocken: Liebig, der Major und die anderen. Der Fremde hat eine Idee, die alles verändern wird. Die Soleier, die in Berliner Kneipen im sogenannten Hungerturm auf dem Tresen standen, werden als Soul-Eye zum Hype der Hipster. Wie aber erreicht man das mit einem simplen Rezept aus Großmutters Küche? Indem man eine Geschichte zur Legende verklärt und die einfache Zubereitung zum komplizierten Ritual überhöht – multikulturelle und absurd aufwendige Varianten inklusive. Der Roman spielt einen sagenhaften Erfolgszug durch, lässt Neider, Nachahmer und Nachtgestalten aufmarschieren, setzt seine Männerrunde vom Rande immer neuen Stresstests aus, bis sie in ihrer unverhofften Zukunft auch noch von der eigenen Vergangenheit eingeholt werden. "EI_LAND" ist ein funkensprühender Roman, der mit hintersinnigem Humor vom Fluch des Fortschritts und vom Segen des Stillstands erzählt.
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Seitenzahl: 219
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Andreas Hillger
Roman
Erste Auflage 2021
© Osburg Verlag Hamburg 2021
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
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durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle
Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-255-5eISBN 978-3-95510-264-7
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Kapitel XLI
»Du bist jetzt da draußen in der bunten Stadt,Kritzelst wirre Träume auf ein leeres Blatt,Faltest sie zusammen und schickst sie zu mir.Ich kann dir nicht folgen. Hier ist mein Revier!«Drei Schwestern, »Hart an der Kante«
Als das Schicksal in unsere gute Stube geweht wurde, hockte ich wie immer in meinem toten Winkel. Schräg links vor mir beugten sich Liebig und der Major am Stammtisch über ihr Schachbrett, in der entgegengelegenen Ecke des Schankraumes zerhackte Herbert mit dem monotonen Klacken seines Zigarettenstopfers die Zeit. Flüchtig streifte mein Blick den hageren Werner, der neben dem Kachelofen fette Lettern und körnige Beweisfotos aus alten Zeitungen schnitt und seine Beute sorgfältig zu kleinen Haufen ordnete, bevor er die untauglichen Überreste zerknüllte und in einem blauen Müllsack versenkte. Hinter dem Tresen polierte Joachim gleichmütig die Biertulpen, auf dem stummen Bildschirm über ihm schnappte eine hübsche Hiobsbotin wie ein Fisch hinter Glas.
Träge waberten Rauchschwaden um den Kronleuchter aus verkeilten Geweihen, der vergilbte Girlanden eines längst verflossenen Karnevals noch immer wie Tentakel zu den holzgetäfelten Wänden ausstreckte. Im Raum stand jenes einvernehmliche Schweigen, das sich nur einstellen will, wenn längst alles von allen gesagt worden ist und jeder sein Quantum Trost in greifbarer Nähe weiß. Einzig Krabat knurrte gelegentlich wohlig im Traum und rollte sich hinter Liebigs Stuhl in eine bessere Lage.
So hätte es bleiben dürfen, ja müssen, wenn nicht plötzlich die Wirklichkeit hereingestolpert wäre. Just in jenem Moment, als Liebig mit seiner schwarzen Dame den weißen Läufer auf halber Diagonale schlagen wollte, flog die Kneipentür auf, und der Wintersturm blies einen Unbekannten herein.
Der Fremde stemmte sich gegen das Gestöber und umklammerte die Klinke, bis er Wind und Flocken ausgesperrt hatte. Dann klopfte er sich die weißen Schulterstücke vom Mantel und schlug die Hacken zusammen, um seine Schuhe vom Schnee zu befreien. »Guten Abend!«
Liebig konnte den plötzlich hellwachen Krabat gerade noch am Halsband packen, Joachim zog den feuchten Putzlappen mit einem Ruck aus dem Glas: »Geschlossene Gesellschaft!« Der Eindringling wischte mit einem Ärmel über die Stirn: »Aber da draußen steht doch …!«
Kopfschüttelnd unterbrach ihn unser Wirt: »Zimmer frei? Schon lange nicht mehr. Und schon gar nicht bei diesem Wetter!« Herbert nickte verhalten, der Major bekräftigte zackig: »Genau!« Werner legte die Schere beiseite, ich drückte meine Kippe aus und lehnte mich zurück. Aller Augen waren auf den Störenfried gerichtet.
»Entschuldigen Sie, aber das ist ein Notfall«, sagte er, während er sich die Handschuhe von den Fingern zupfte und am Schal nestelte. »Ich habe mich verfahren, jetzt steckt mein Wagen in einer Wehe fest. Und Empfang kriegt man in dieser Einöde ja auch nicht. Also könnte ich bitte – Sie haben hier doch sicher Festnetz?«
Joachim blickte kurz in die Runde, dann griff er unter den Tresen. »Na gut. Wenn wir Sie so wieder loswerden.« Der alte Apparat klirrte empört, als er auf die Platte gewuchtet wurde.
»Das ist – oh, vielen Dank!« Irritiert betrachtete der zufällige Gast das Gerät, als handle es sich um einen seltenen archäologischen Fund. Dann zog er eine Karte aus seiner Brieftasche und pickte mit spitzem Finger in das untere Ende der Wählscheibe.
»Sie müssen schon den Hörer abnehmen, sonst wird das nichts.« Der Major grinste Joachim an, als sei ihm ein besonders guter Scherz geglückt.
»Ja, natürlich. Wie dumm von mir …«
Während der Fremde weiter mit dem Telefon kämpfte, das unter seinen ruckartigen Bewegungen auf dem feuchten Tresen immer wieder verrutschte, besah ich ihn mir näher. Der dunkelblaue Mantel war viel zu dünn, um den eiskalten Wind abzuhalten, seine schwarzen Slipper hatten gegen den hohen Schnee wohl wenig ausrichten können – und auch der zur Schlinge gewundene Schal wirkte eher modisch als nützlich. Seine rotgefrorenen Ohren hielten eine runde Hornbrille, deren Gläser in der Wärme beschlagen waren und die er deshalb über die Stirn auf die kurzgeschorenen blonden Haare geschoben hatte. Er war wohl tatsächlich weit vom Wege abgekommen und hatte sein Ziel meilenweit verfehlt. In unserer Gegend und Gemeinschaft würde er jedenfalls ganz sicher keinen Platz finden.
»Wolter! Konrad Wolter!« Die Verbindung stand, und seine Stimme klang plötzlich selbstsicher entschlossen. »Mitgliedsnummer?« Er las Ziffern von einer Scheckkarte ab, dann wartete er kurz. »Ich brauche dringend einen Abschleppwagen. Ich stecke im Schnee, ungefähr einen Kilometer von … Moment!« Herr Wolter legte seine Rechte auf die Sprechmuschel und sah Joachim fragend an. »Wie heißt das hier?«
»Čorny Mlýn«, knurrte der Wirt, »Schwarzmühl. Ist aber schwer zu finden.«
Wolter wiederholte den deutschen Namen, die Antwort vom anderen Ende der Leitung erboste ihn hörbar: »Erst morgen? Alle Fahrzeuge im Einsatz? Wofür zahle ich denn dann? Hier kann ich unmöglich … also schön. Dann aber pünktlich um zehn. Keine Minute später! Ich warte am Wagen. Und die Nacht stelle ich Ihnen in Rechnung.« Er knallte den Hörer auf und wandte sich wieder an Joachim. »Sie haben es ja gehört, heute komme ich hier nicht mehr weg. Könnten Sie wohl eine Ausnahme … Sie müssen mir helfen!«
»Gar nichts muss ich. Hat ihr Auto keine Heizung? Und die Sitze lassen sich doch sicher umklappen?«
Jetzt war es Liebig, der dem Wirt mit heiserem Falsett in die Parade fuhr. »Das kannst du nicht machen! Bei dem Sturm jagt man doch keinen Hund auf die Straße. Nicht wahr, mein Großer?« Beruhigend tätschelte er das drahtige Fell des Riesenschnauzers.
»Willst du mir etwa sagen, was ich unter dem Dach meines Hauses zu tun oder zu lassen habe?« Joachim schnaubte verächtlich und stellte das Telefon wieder an seinen angestammten Ort.
»Dann schläft er eben bei mir!« Alle starrten mich an, am meisten aber wunderte ich mich selbst über den spontanen Einfall. »Genügend Platz habe ich ja.« Vielleicht suchte ich meine Rolle als Friedensrichter im schwelenden Streit, vielleicht war mir auch nur die selbstherrliche Pose des Wirts peinlich. »Aber erst nach Ausschankschluss.« Ich hob mein leeres Glas prüfend gegen das Licht, schraubte den Verschluss von der Flasche und goss mir nach. Dann verschränkte ich die Arme vor der Brust, als hätte ich soeben ein schwerwiegendes Urteil gefällt, das keinen Widerspruch duldet.
Wolter trat an meinen Tisch: »Das ist sehr freundlich. Gestatten Sie, dass ich Ihnen so lange Gesellschaft leiste?«
Schlagartig änderte sich die Temperatur im Raum: Joachim grinste schief, Liebigs Dame schlug endlich den Läufer des Majors, Herbert stopfte neuen Tabak in leere Hülsen und Werner griff wieder zu seiner Schere. Alle stellten ihr äußerstes Desinteresse an unserem Zwiegespräch zur Schau und ließen mich so als Verräter erscheinen, der von ihnen zu Recht mit Verachtung gestraft wurde. Zwar war auch Liebig dem Wirt ins Wort gefallen, mit meinem unbedachten Angebot aber hatte ich den stillen Frieden nachhaltig in Gefahr gebracht.
Der Urheber der Unruhe schien diese Spannung nicht zu spüren: »Ich heiße …«
»Wolter, ich weiß. Das war ja nicht zu überhören.«
Er nickte. »Und wie ist Ihr Name, wenn ich das direkt fragen darf?«
Seine unerschütterliche Höflichkeit steigerte meine Wut auf mich selbst und nötigte mir zugleich eine Antwort ab: »Hagen Siegfried. Meine Eltern hatten einen eigenartigen Sinn für Humor.«
Wolter lächelte und streckte mir die Hand entgegen. »Angenehm! Sagen Sie, Herr Siegfried, kommt der Wirt hier an den Tisch – oder muss man sich selbst bedienen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das läuft anders. Joachim hat längst keine Schanklizenz mehr, streng genommen ist das gar kein Gasthaus. Hier sorgt jeder selbst für seine Ration, der Wirt schließt bloß die Tür auf und heizt den Ofen. Wir zahlen nur für den Tisch und die Gläser – eine Art Korkengeld, auch wenn keiner von uns Wein trinkt. Liebig hat seine Milch, Herbert und Werner bleiben bei Bier, der Major und ich bevorzugen Schnaps. Aber alles nur für den Eigenbedarf, verstehen Sie? Ich hätte da höchstens Wasser für Sie … aus der Leitung.«
Wolter hatte verwundert zugehört. »Und Speisen? Ich habe seit Stunden nichts gegessen!«
In meine Antwort mischte ich geheucheltes Mitleid. »Die Küche bleibt schon seit Jahren kalt – seitdem Joachim die Frau weggelaufen ist. Dafür dürfen wir hier rauchen, so viel wir wollen.« Ich nahm eine Zigarette aus meinem Etui und hielt es Wolter hin. »Nehmen Sie! Das betäubt den Hunger!«
Er lehnte dankend ab. »Aber da vorn, auf dem Tresen – in dem Glas mit der braunen Brühe?« Mit dem Daumen deutete er über die Schulter.
»Ach so, die Soleier. Die sind ja eigentlich gar keine richtige Mahlzeit, eher ein Imbiss. Schließt den Magen und steigert den Durst. Liebig füttert dafür die Hühner, Werner setzt die Lake an. Landeier für Landeier gewissermaßen – ein bisschen lokale Folklore.«
Wolter flüchtete sich in Sarkasmus: »Was ist das hier? Das Ende der Welt – oder die Pforte zur Hölle?«
Jetzt musste ich grinsen. »Die einen sagen so – die anderen so. Wir nennen es Island, weil es so abgelegen und so still ist. Wie das kleine Sibirien bei Welzow, nicht weit von hier. Fast menschenleer, unwirtlich, hart am Abgrund. Aber warten Sie, ich hole Ihnen Eier.«
Widerwillig füllte mir Joachim eine Flasche mit Wasser und stülpte ein makellos poliertes Glas über ihren Hals. Dann stellte er Pfeffer, Salz und Senf, Essig, Öl und Worcestersauce auf ein Tablett. Schließlich fischte er im Trüben und holte zwei Eier heraus, die er neben Messer und Löffel auf eine Untertasse legte. »Geht aufs Haus«, knurrte er, als er mir das kärgliche Mahl herüberschob.
Ich balancierte die Last zum Tisch, Wolter sah mir dankbar entgegen. »Gut – oder zumindest besser als nichts.« Er kratzte die brüchige Schale mit den Fingernägeln herunter, streute reichlich Salz über das marmorierte Eiweiß und stopfte sich das Ganze mit einem Mal in den Mund.
»Halt, was machen Sie denn da?« Ich schaute ihn vorwurfsvoll an. »So isst man doch kein Solei!« Mit geübter Hand schälte ich das zweite Exemplar, dann halbierte ich es längs und hob mit dem Löffel den hart gekochten Dotter heraus. In die Höhlung strich ich eine Messerspitze Senf, dann träufelte ich Öl und Essig darüber und vollendete die Mischung mit drei Tropfen der dunklen, würzigen Sauce. Nachdem ich das Eigelb wieder eingefügt hatte, krümelte ich Salz und Pfeffer auf die Schnittfläche. »So, jetzt ist es perfekt!«
Wolter hatte seinen Brocken inzwischen zerkaut und heruntergespült, jetzt griff er nach der angebotenen Hälfte. Kurz verzog sich sein Gesicht, als sich der Geschmack am Gaumen ausbreitete. Er schluckte, dann sagte er: »Interessant. Wirklich aromatisch. Aber lohnt denn der Aufwand für diesen Happen?«
Wer so fragte, hatte den Sinn des Ganzen nicht verstanden. »Es ist ein Ritual, die Veredlung des Einfachen. Fast alle Zutaten sind, für sich genommen, alltäglich, die Summe aber ist mehr als ihre einzelnen Teile. Ein Bisschen Alchemie, wenn Sie so wollen. Bisschen großgeschrieben, wie Häppchen. Probieren Sie es – das wirkt sehr beruhigend.«
Während Wolter mit Messer und Löffel hantierte, schaute ich zu den anderen Insulanern hinüber. Die Schachspieler hatten die Farben getauscht, nachdem Liebig – wie eigentlich immer – als Sieger vom Brett gegangen war. Herbert nahm gerade einen kräftigen Schluck aus der Pulle, Werner untersuchte mit seiner Lupe ein anscheinend besonders interessantes Fundstück. Jeder war in seinen Trott zurückgekehrt, Krabat zuckte im Schlaf mit den Läufen, als würde er einen Hasen jagen. Der Eindringling schien tatsächlich fast vergessen, nur Joachim starrte weiter finster vor sich hin.
Plötzlich sah ich die vertraute Runde mit den Augen des Fremden. Wie mussten wir ihm erscheinen? Als Desperados oder Eremiten? Aussteiger oder Sitzenbleiber? Ich ließ Schnaps durch die Kehle fließen, schenkte nach und prostete Wolter zu. »Auf Ihr Wohl! Aber halt – Sie haben ja nur Wasser!« Er hatte den Rest seines Soleis gegessen, jetzt trank er aus und hielt mir das Glas hin. »Wollen Sie das ändern? Ich heiße übrigens …«
»Konrad, schon klar. Dann kommen Sie mal mit, Wolter. Das war hier nämlich die letzte Runde.«
»Wer noch geh’n kann, sucht das Weite,Wer noch bleibt, kann nicht mehr geh’n.Unser Kurs führt in die Pleite,Und kein Ausweg ist zu seh’n.«Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«
Der kurze Weg zu meinem Haus dauerte diesmal ungewöhnlich lange. Der frisch gefallene Schnee erschwerte ohnehin jeden Schritt, zugleich aber musste ich Rücksicht auf meinen Begleiter nehmen, der keuchend gegen den schneidenden Wind kämpfte. Unser Abschied aus dem Wirtshaus war beschleunigt worden, nachdem ich Wolter vom Selbstgebrannten eingeschenkt hatte. Joachim war wutschnaubend an unseren Tisch gestürmt, hatte etwas von Regeln und Hausrecht gefaselt und mit ausgestrecktem Arm auf die Tür gedeutet. Der Rest der Runde hatte sich abermals in Schweigen gehüllt, nur dem Major war ein gehorsam gebelltes »Jawoll!« über die Lippen gekommen.
Nun stapften wir schweigend nebeneinander her und ich fragte mich abermals, warum ich mir diesen Klotz ans Bein gebunden hatte. Unser Atem flockte in der eisigen Luft, die den angenehmen Rausch schlagartig vertrieb und so mein Bollwerk gegen die unwillkommenen Träume zerstörte. Doch trotz der Ernüchterung musste ich im Dunkeln ein wenig stochern, ehe ich das Schlüsselloch fand. Wolter nahm seine Brille ab und rieb die schmelzenden Flocken von den Gläsern. »Schön haben Sie es hier, Hagen!«
War das ironisch gemeint? Ich hatte den Flur kaum verändert, seitdem ich eingezogen war. Die alte Tapete, die hölzernen Garderobenhaken, das abgewetzte Schuhregal … lediglich die vergilbten Familienfotos und das gestickte Blumenbild hingen nicht mehr am angestammten Platz, nur Nägel über helleren Rechtecken erinnerten an den Wänden noch an sie.
Der Korridor war mir lediglich als Schleuse zur Außenwelt erschienen, auf die man keine verlorene Leibesmüh als Maler oder Tapezierer verschwenden musste. »Geben Sie mir Ihren Mantel! Und lassen Sie die Schuhe ruhig an.«
Ich schob Wolter in die alte Wohnstube, die ich mit weitaus größerem Aufwand in mein Arbeitszimmer verwandelt hatte. Die klobige Schrankwand war den vollgestopften Bücherregalen gewichen, der Schreibtisch stand unter dem Fenster, und neben zwei alten Holzstühlen bot ein durchgesessenes Sofa Platz. Alles wollte den Anschein gehobenen Geistes und konzentrierter Tätigkeit erwecken, den ich mir selbst freilich längst nicht mehr abkaufen konnte. Hastig schob ich verstaubte Papiere zusammen, die auf der Couch gestapelt lagen. »Machen Sie es sich bequem. Ich bin kurz in der Küche.«
Aus dem Kühlschrank griff ich mir Käse und Speck, dann legte ich die fetten Stücke zusammen mit einer Packung Pumpernickel neben ein Messer auf das Schneidebrett. Mit festem Griff köpfte ich eine weitere Flasche Apfelbrand und brachte das Nachtmahl zu meinem Besucher. Er saß auf dem Sofa, ich setzte mich auf einen der Stühle ihm gegenüber. »Greifen Sie zu!«
»Was hat es denn nun mit dieser seltsamen Versammlung auf sich?«, fragte Wolter mit vollem Mund. »Und wie sind Sie da hineingeraten – zwischen den Dicken im Blaumann und den Dürren im Dreiteiler?« Seine knappe Beschreibung der zentralen Randgestalten amüsierte mich.
»Das sind zwei Fragen auf einmal, Konrad. Eine zu viel. Fangen wir am Ende an. Der Dicke, den Sie in seiner Gegenwart übrigens nie so nennen sollten, ist Liebig. Ich habe keine Ahnung, ob er wirklich so heißt, doch der Name passt perfekt. Kennen Sie Liebigs Fleischextrakt? Ist ein wenig aus der Mode gekommen, aber genau wie er – reine, bis auf das Äußerste eingekochte Muskeln, braun und zäh. Und außerdem hat er sich von oben bis unten tätowieren lassen wie ein wandelndes Album für jene Sammelbilder, die man früher mit der Paste für die Brühen bekam. Liebig saß vor der Wende im Knast, wegen versuchter Republikflucht – und als er entlassen wurde, war die Republik schon vor ihm geflohen. Das hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen. Jetzt spielt er Schach mit dem Major, der ihn einst bewacht hat – und gewinnt dabei immer. Werner, den Hageren, hat es ebenfalls aus der Kurve getragen. Der war mal Chemiker, ein hoher Bonze im Kombinat. Dann kam die Einheit und mit ihr der Knick. Job weg, Frau weg, Haus weg. Jetzt wohnt er auf seiner alten Datsche und buchstabiert sich mit Leim und Schere krude Theorien zusammen. Er lebt in seiner eigenen Welt, Zutritt verboten. Aber immerhin weiß er noch genau, wie man Alkohol destilliert. Der Schnaps, den wir gerade trinken, ist von ihm.« Ich goss großzügig nach und schnitt mir eine dicke Scheibe Speck ab. »Dann hätten wir da noch Herbert, der uns alle mit Zigaretten versorgt – ein einfacher Mann, früher Lokführer, jetzt Frührentner. Und Joachim, den Sie ja schon ausgiebig kennengelernt haben. Der ist eigentlich gar nicht so übel, aber mit seiner Lizenz hat er auch die Lust am Leben verloren. Jetzt thront er hinter dem Tresen wie ein König ohne Land. Und wir tun ihm zuliebe so, als wären wir seine Untertanen.«
Konrad hob sein Glas. »Ein lustiger Hofstaat! Lauter Narren, aber niemand, der lacht. Lang lebe der König!« Übermütig stürzte er den Branntwein hinunter, verschluckte sich und musste husten.
»Vorsicht! Das Zeug ist gefährlich. Werner hat sich das halbe Hirn und drei Viertel seines Magens damit weggesoffen, ehe er aus therapeutischen Gründen auf Bier umsattelte. Nehmen Sie ein Stück Schwarzbrot, das lindert die Wirkung.«
Als er wieder zu Atem gekommen war, fragte Wolter: »Aber welche Rolle spielen Sie in diesem Spiel? Sie gehören doch nicht hierher!«
Ich zwirbelte eine Haarsträhne zwischen meinen Fingern – eine Marotte, in die ich mich in Momenten der Verlegenheit flüchtete. »Dazu später. Zunächst müssen Sie mir erzählen, was Sie um diese Zeit in unsere gottverlassene Gegend verschlagen hat. So spät durch Nacht und Wind?«
»Und immer ist es hektisch,Hier gibt man niemals Ruh,Die Menschen sind elektrischUnd mit der Nacht per du.«Drei Schwestern, »Berlin, Berlin«
»Da muss ich ein wenig ausholen. Geboren im Berliner Westen, dann über die offene Grenze in den Osten abgehauen. Wilde Zeiten waren das, Nächte im Tacheles auf Stühlen aus geklauten Mercedes-Radkappen, Tage auf einer abgewetzten Matratze in der Mainzer Straße. Irgendwann haben mir meine Eltern ein Ultimatum gestellt – Zehlendorf oder Friedrichshain, Lacoste oder Lederjacke. Ich bin zu Kreuze gekrochen, erst nur zum Schein, dann aus wachsender Überzeugung. Als Anwalt wollte ich meine alten autonomen Freunde gegen das System verteidigen, dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen … aber als ich mit dem Studium schließlich fertig war, hatte es sich längst weitergedreht. Ich flüchtete mich in eine Agentur – zunächst als Justiziar, später dann als Texter. Denn was ist schließlich ein Plädoyer gegen einen Slogan? Leben im Lift und im Loft, aufwärts immer, abwärts nimmer. Alle machten irgendwas mit Medien, after work traf man sich zur Party … die alten Besetzer, die inzwischen längst Besitzer waren. Verzeihen Sie, wenn das ein bisschen zu sehr nach Klischee klingt, aber genauso ist es gewesen.« Konrad hatte sich in Hitze geredet, er lockerte seine Krawatte und beugte sich vor. »Könnte ich jetzt vielleicht doch eine Zigarette …? In Erinnerung an die alten Zeiten?«
Ich reichte ihm das Etui und gab Feuer. »Irgendwann bin ich dann wieder falsch abgebogen. Es gab keinen Grund, aber immerhin einen Anlass: Angelique, Tänzerin aus Frankreich, die mir bei einem Event in einer malerischen Industrie-Ruine über den Weg lief. Wir hatten den Abend für einen großen Kunden ausgerichtet, buntes Licht auf nackten Ziegelmauern, Cocktails und Canapés, Smooth Jazz und ein paar Testimonials – das gewohnte Programm, natürlich ganz exklusiv. Zwischen den üblichen Verdächtigen, den Windigen und Wichtigen wirkte sie wie ein Fremdkörper, der seinen Platz sucht. Und ich wollte, dass sie ihn bei mir findet – diese dunkle Gazelle, ungezähmt und flink, gelenkig und … aber ich will Sie nicht mit Altherren-Fantasien langweilen. Angelique war nach Berlin gekommen, um als Performerin Karriere zu machen. Ihre makellose Erscheinung erwies sich dabei allerdings eher als Hindernis. Ihr fehlte der Defekt, der Riss in der spiegelglatt polierten Fassade. Brüchig wurde diese perfekte Glasur nur dann, wenn sie nach irgendwelchen Castings schluchzend in meiner Wohnung saß, mit bebenden Schultern und verlaufenem Lidstrich. Schließlich ließ ich mich von ihrer zunehmenden Verzweiflung zu einem Fehler verleiten: Ich wollte sie mit einer eigenen Compagnie zur exquisiten Marke aufbauen, zum neuen strahlenden Star am Himmel über Berlin. Heute weiß ich, dass es kaum eine bessere Methode gibt, um in kurzer Zeit viel Geld zu verbrennen.« Wolter machte eine wegwerfende Handbewegung, bei der die Asche seiner erloschenen Zigarette zu Boden fiel. »Oh, Pardon!«
Er bespeichelte eine Fingerkuppe und versuchte, den grauen Wurm vom Teppich zu tupfen. »Lassen Sie nur. Erzählen Sie weiter!« Ich war ungeduldig.
»Viel mehr bleibt da nicht zu sagen. Man soll sich eben nicht von seinen Gefühlen leiten lassen – selbst dann, wenn sie aufrichtig sind. Ich kündigte meinen Job, wühlte mich Tag und Nacht durch Formulare und Verträge, plauderte auf Premieren und Vernissagen mit Künstlern und Kuratoren. Dass ihr Interesse weniger unseren Konzepten als vielmehr dem Koks und der Kohle galt, begriff ich leider zu spät. Im Grunde habe ich am Ende teuer erkauft, was Angelique aus eigener Kraft nicht erkämpfen konnte. Die miserablen Kritiken für ihre Shows buchte ich unter blanker Missgunst, den Jubel der Claqueure hingegen nahm ich für bare Münze. Denn natürlich fanden wir das Publikum, das wir verdienten – selbstverliebte Szenegänger, die sich vor Vorstellungen mit verlogenem Überschwang begrüßten und danach das vorsätzlich in schäbigem Look belassene Foyer in ihren Catwalk verwandelten. Dass sich auch meine Femme fatale bewusst mit Tänzern umgab, die eher schön als begabt waren, erkannte ich erst, als wir vor leeren Reihen spielten. Die Karawane der Eitlen war bald weitergezogen, echte Kenner der Kunst aber mieden unsere oberflächlichen Shows. Mit schwindender Kraft stemmte ich mich gegen das Unvermeidliche, doch mit meinen letzten Reserven kam mir auch die Liebe abhanden. Angelique kehrte heim nach Paris und ließ mich auf einem Berg von Schulden allein sitzen. Eine Rückkehr in die Agentur wäre mir wie das Eingeständnis meines Versagens erschienen, also beschloss ich, mich abermals neu zu erfinden. Der rettende Einfall kam mir in einer Markthalle: Das Geld liegt auf dem Feld, primitive Ware bringt bei raffiniertem Einsatz den höchsten Gewinn. Seither fahre ich als Stellvertreter für Bio-Bürger über die Dörfer, als Makler des guten Geschmacks und Gewissens. Das Geschäft läuft bestens, vor allem mit alten Sorten, Mangold und Amarant, Violette Möhre und Rote Bete. Die Mangalica-Schweine und Galloway-Rinder natürlich Nose to Tail, Freilandhaltung und Trockenreifung garantiert. Im Grunde bin ich meiner Passion treu geblieben: Ich wecke Sehnsüchte wie einst in der Agentur und bereite ihnen die Bühne wie danach im Theater. Allerdings erzählen nun Obst und Gemüse von Herkunft und Heimat: An der Pastinake soll noch Acker kleben, eine kleine Druckstelle veredelt jede Bratbirne – radikal, regional, saisonal. Der Kunde darf anonym bleiben, die Waren aber haben klingende Namen: Geflammter Kardinal und Rheinischer Krummstiel, Siberian Tiger und Taiwan Teardrop, Bamberger Hörnchen und Rosa Tannenzapfen … pure Poesie, die auf der Zunge zergeht. Und auf keinen Fall die ewig gleichen Farben und Formen, abgewaschen, ausgewogen und eingeschweißt. Jede Frucht ein Einzelstück. Man ist schließlich, was man isst: blassgelb oder dunkelrot, steinschwer oder federleicht! Pro Gramm ist Programm! Anfangs hatte ich meinen eigenen Stand, inzwischen versorge ich nur noch handverlesene Restaurants. Und weil die glühenden Salamander dort auch im Winter heißhungrig sind, stecke ich nun im Schnee. Das ist der Stand der Dinge – mein Leben im Schnelldurchlauf.«
»Wer will hier den Herrscher machen?Wer kann noch für Morgen sorgen?Uns Beladenen und SchwachenHoffnung auf die Zukunft borgen?«Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«
Am Anfang hatte ich ihm noch aufmerksam zugehört, inzwischen aber war mein Interesse erloschen. Mich ärgerte Konrads marktschreierische Eitelkeit, seine allzu genau gesetzten Pointen waren mir suspekt. Er hatte diese Geschichte wohl schon oft erzählt und ihre Wirkung immer weiter verfeinert, nun klangen die schlagfertigen Sätze wie vielfach gedroschene Phrasen. Und gerade weil ich solche Floskeln selbst mühelos beherrschte, wollte ich mich damit nicht abspeisen lassen …
»Aber nun Sie!« Wolters Frage riss mich aus meinen Gedanken. »Sie sind hier doch kein Eingeborener, oder?«
Ich goss uns noch einmal ein, obwohl ich wusste, dass wir das morgen bereuen würden. »Um das zu verstehen, müssen Sie zunächst begreifen, was in Schwarzmühl vor sich geht. Alles hat mit der Kohle zu tun, diesem Fluch und Segen. Als hier vor fast zweieinhalb Jahrhunderten die ersten Flöze gefunden wurden, galt das schwarze Gold den Sorben schon als Geschenk des Teufels. Und wenn man sich heute umsieht, kann man dem kaum widersprechen. Die ganze Gegend ist von der braunen bröseligen Blumenerde abhängig, auf der man hier die Blütenträume von Arbeit und Wohlstand züchtet – weiße Wolkenfahnen über Kühltürmen, nimmersatte Kessel und Turbinen, das Labyrinth der Rohre und Gleise … und natürlich die Maschinengiganten mit ihren kraftstrotzenden Armen und riesigen Zähnen, mit monströsen Schaufelrädern und Eimerketten. Doch diese Bilder kennen Sie ja selbst.« Konrad nickte.
»Ist Ihnen aber auch schon aufgefallen«, fuhr ich fort, »dass hier selbst Ortsnamen nach Pest und Tod klingen? Carna Plumpa, Schwarze Pumpe! Herz der Finsternis! Erst nur ein Gasthof mit einer Pferdetränke, die im Dreißigjährigen Krieg wohl als Warnung vor der Seuche schwarz angestrichen wurde. Dann wachsende Kolonie an einer Reichsstraße – und zuletzt ein Moloch mit Kraftwerken und Kokereien, Brikettfabriken und Gaswerken. Von Tausenden genährt und unersättlich wuchernd wie ein Geschwür, das seine Metastasen tief in die Erde treibt.«