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Ab in die kanadische Wildnis: Mit dem Bau eines Blockhauses beginnen Nicole Lischewski und ihr Freund Chris ein neues Leben. Es gilt, mit Elchen und Bären gute Nachbarschaft zu halten und sich aus Garten, Wald und See weitgehend selbst zu versorgen. Die subarktischen Winter, in denen die Autorin monatelang ganz allein ist, bedeuten extreme Isolation. Im Notfall ist Hilfe für Mensch und Hund dann lediglich per Hubschrauber erreichbar und das nur bei gutem Wetter während der wenigen Stunden Helligkeit. Das Polarlicht, Bären auf Elchjagd, Tiere wie ein verletzter Rabe und auch der Eisgesang des gefrierenden Gletschersees bereichern das einfache Dasein, das sich im Laufe der Jahre immer enger und vielschichtiger mit der Natur des hohen Nordens verwoben hat.
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Seitenzahl: 393
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Nicole Lischewski
EIN BLOCKHAUS IN DER EINSAMKEIT
Kanadas Wildnis als Lebensweg
IMPRESSUM
Ein Blockhaus in der Einsamkeit
Kanadas Wildnis als Lebensweg
Nicole Lischewski
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
© 2015360° medien gbr mettmann | Nachtigallenweg 1 | 40822 Mettmann
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Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.
Redaktion und Lektorat:Andreas Walter
Satz und Layout:Serpil Sevim
1. digitale Auflage:Zeilenwert GmbH 2015
Bildnachweis:Alle Fotos stammen von Nicole Lischewski und Chris Below
ISBN: 978-3-944921-19-8
Hergestellt in Deutschland
www.360grad-medien.de
Für die Wildnis
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Teil 1: Aufbruch in die Wildnis
Lebensfragen
Die Suche nach dem Paradies
Ab in die Wildnis
Hausbau auf Wildnisart
Wettkampf gegen den Winter
Teil 2: Leben in der Einsamkeit
Allein
Der Unglücksrabe
Meine Nabelschnur zur Welt
Im eisigen Griff der Kältewelle
Bin ich noch normal?
Der erste Zweibeiner
Der dem Wolf pfeift
Die 92-Prozent-Rate
Der Sommer lässt grüßen
Der Grizzlykampf durchs Eis
Bären auf Elchjagd
Pilgerfahrt
Unter Menschen
Wie ein Stück Treibholz
Eine Freundin zu Besuch
Jagdzeit
Eine Sorge kommt selten allein
Ungeplantes Wiedersehen
Wieder allein
Danksagung
In den Bergen außerhalb von Atlin
Außerhalb von Atlin, an einem Nachmittag im Herbst 2003.
„Warum ziehen wir nicht raus in die Wildnis?“, fragte Chris.
In die Wildnis? Mir fielen sofort lauter Gründe dagegen ein. Ausweichend schaute ich aus dem Fenster auf das herbstbunte Bergtal und den Wildbach. Schon lange war der Nordwesten British Columbias unser Zuhause, ein Landstrich der Größe Österreichs, der von keinen fünfhundert Seelen besiedelt war – und diese drängten sich in einem einzigen Dorf zusammen, als wollten sie sich in der Weite von Bergen, Flüssen und Seen nicht verlieren.
„Aber ich hab doch die Wildnis schon vor der Haustür!“, protestierte ich. „Den Bären, der mir jeden Herbst den Zaun vom Hühnerauslauf niedertrampelt. Und im Winter manchmal Karibus gleich beim Haus – außerdem die Biberburg unten am Bach.“ Selbst Chris, der nicht so weit außerhalb von Atlin wohnte wie ich, hatte öfter Elch- und Bärenverkehr auf seinem Grundstück.
Chris träumt vom Leben in der Wildnis
„Na ja – aber du lebst hier immer noch an einer Straße“, sagte er triumphierend. Fast hätte er sich auf meiner Kommode, die als Sitzbank diente, ins Leere zurückgelehnt – doch kein Sturz nach hinten beendete das Thema. Erwartungsvoll sah Chris mich an.
Was gab es eigentlich groß zu diskutieren? In der Schublade unter ihm lagen meine Formulare für eine Weidenpacht, denn zusätzlich zu den Hühnern, die im Herbst vom Bären besucht wurden, wollte ich mir endlich Milchziegen und ein Pferd anschaffen. Außerdem hatte ich vor, eine kleine Jugendherberge aufzumachen und Gemüse für die Selbstversorgung anzubauen. Es steckte so viel harte Arbeit in diesem Grundstück, das ich noch keine zwei Jahre lang besaß. Lauter langgehegte Träume waren gerade dabei, Wirklichkeit zu werden. Das sollte ich einfach alles aufgeben? Und für was – für Chris und noch mehr Bären?
„Klar geht die Schotterstraße das Tal hoch.“ Fieberhaft überlegte ich, wie ich ihm dieses Hirngespinst am besten ausreden konnte. Wir verbrachten beide gerne Zeit im Busch, gingen wandern und paddeln. Chris wusste natürlich auch, dass ich mich danach erkundigt hatte, einmal einen Winter in einer abgelegenen Blockhütte im Wald zu verbringen. Aber das hieß noch lange nicht, dass ich jetzt mein gesamtes Leben ändern wollte. „Ich habe doch auch keinen Strom, Telefon oder fließend Wasser! Und immer wieder Tiere in der Gegend.“
Chris runzelte die Stirn. „Aber das lässt sich doch gar nicht vergleichen – in der Wildnis wären wir ganz abgeschnitten, keine Straße, keine Nachbarn bis auf Bären, Karibus und Wölfe. Da wären wir völlig auf uns gestellt! Nur wir zwei, ganz allein … “
Ich sah ihn zweifelnd an. Wir waren noch keine zwei Jahre zusammen und Chris war ein extrovertierter, sozialer Mensch; kein Eigenbrötler wie ich. Erst in Atlin hatten wir uns kennengelernt, obwohl wir fast zeitgleich ausgewandert waren: Ich drei Tage, nachdem ich meinen Diplomabschluss als Sozialpädagogin gemacht hatte, und Chris, als er mit Ende Zwanzig eine Kanadierin geheiratet hatte. Uns gefiel die unbevölkerte Weite dieser Gegend, die legere und unkomplizierte Art der Menschen. Träumer und Idealisten, Ureinwohner, Exzentriker und gescheiterte Existenzen – aus ihnen setzt sich die Bevölkerung des Yukon und nördlichen British Columbia zum Großteil zusammen.
Chris und ich waren grundverschieden und hatten auch noch nie zusammen gewohnt. Wie sollte das gutgehen irgendwo im Wald, wo man ständig beisammen war und keinen andern Menschen zum Reden hatte? Dann fiel mir ein schlagendes Argument ein: Wir konnten uns einen Umzug in die Wildnis gar nicht leisten. Ich hatte nicht einmal genügend Geld, um mein eigenhändig gebautes Häuschen innen fertigzustellen, geschweige denn, mir mit Chris ein neues Grundstück zu kaufen.
Nicoles selbstgebautes Haus
„Und wie willst du das alles finanzieren?“, spielte ich meine Trumpfkarte aus. „Sollen wir etwa jedes Mal ein Buschflugzeug chartern, wenn wir irgendwohin wollen, oder uns ein Boot und Schneemobil kaufen? Außerdem müssten wir in der Wildnis ja auch von irgendwas leben. Wie sollen wir da denn Geld verdienen?“ Als Wildfeuerwacht für die Forstbehörde würde er wohl kaum weiter arbeiten können. Und ich wäre gezwungen, mit meiner Arbeit für eine lokale Umweltschutzgruppe aufzuhören, obwohl sie mir wichtig war und Spaß machte. Das kam gar nicht in Frage.
Chris war von meinen Einwänden nicht weiter beeindruckt. Er wedelte mit der Hand, als ließen sich die Argumente leicht verscheuchen. „Ja, ach, das würden wir eben sehen müssen! Irgendwie geht das bestimmt, da bin ich mir hundertprozentig sicher.“
Mein Blick schweifte wieder zum Fenster. Er war doch so gern unter Menschen – noch ein gutes Argument. „Und unsere Freunde? Die würden wir dann nur noch alle Jubeljahre sehen.“
„Stephen würde uns sicher besuchen kommen und Heidi bestimmt auch. Würdest du nicht jemanden in der Wildnis besuchen wollen? An irgendeinem entlegenen Fluss oder See in den Bergen?“
Ja, schon. Ich sah ihn an und seufzte. Grundsätzlich war ich einem Leben im Busch nicht abgeneigt, aber es würde bedeuten, so vieles aufzugeben. Hätte er mir diese Frage nicht ein paar Jahre früher stellen können?
Den ganzen Herbst und Winter hindurch brachte ich in strategischen Momenten immer wieder meine Argumente gegen ein Leben in der Einsamkeit vor. Fast gegen meinen Willen regte sich in mir allerdings zunehmendes Interesse für Chris' Idee, je mehr wir darüber redeten. Etwas in mir verlangte seit Jahren nach einer engeren Beziehung zur Natur, in der ich eine aktiv Beteiligte sein konnte und nicht nur Zuschauerin blieb; nach Wildnis, die man täglich statt nur am Wochenende am eigenen Leib erfuhr. Wo der nächste Nachbar nicht ein Mensch war. Selbst nach acht Jahren in Kanada und hier im entlegenen Atlin fehlte mir etwas an meinen Begegnungen mit Wildtieren – ich hatte keinen wahren Bezug zu ihnen. Ich fand sie zwar beeindruckend und schön, aber ich kannte ihr alltägliches Leben, ihre Umwelt nicht von innen heraus, sondern hauptsächlich aus Büchern, Dokumentarfilmen und Statistiken sowie kurzen, zufälligen Begegnungen.
Wonach ich suchte, war ein ganzheitlicheres Naturverständnis, das sich nicht in den Details der Photosynthese verlor. In den Mythen der Taku River Tlingit, der Ureinwohner dieser wilden Gegend, lagen andere, Jahrtausende alte Weisheiten verborgen: Der Rabe, der die Sonne brachte; der Bär, dessen Seele der des Menschen am ähnlichsten ist; Gletscher, die lebendig waren. Aber konnte man heutzutage überhaupt noch erahnen, was es damit auf sich hatte und wie man als Mensch mit der Umwelt verwoben ist?
Der Atlin Mountain liegt dem Dorf gegenüber
Wie wäre es, überlegte ich mit zunehmender Begeisterung, wenn man sich dem zyklischen Rhythmus der Jahreszeiten überließ? Könnten wir über die Jahre hinweg mit der Wildnis verwachsen, nachdem das Blockhaus gebaut und uns die Umgebung vertraut geworden war, sodass wir nicht mehr nur an der Oberfläche unserer menschenleeren Nachbarschaft kratzten? Denn es war kein Kurzzeitabenteuer, das Chris im Sinn hatte. Sondern die Wildnis als Lebensweg.
Mein Herz raste, als ich meinen Entschluss schließlich in Worte fasste. „Okay. Lass uns nach einem Stück Land suchen.“
Hier wollen wir leben
Tagish Lake, im Sommer 2004.
Ein Regenschauer tüpfelte die graublaue Wasseroberfläche und löschte die Berge am Südende des Tagish Lake aus, als wären die spitz gezackten Gipfel nur eine Illusion gewesen. Eng schmiegt sich der See, der zu den Quellgewässern des Yukon River gehört, an die Ausläufer des Küstengebirges: Keine sechzig Kilometer hinter den Bergen liegt schon das Salzwasser des Nordpazifiks.
In dunklen Schleiern löste sich der Regen aus den Wolken und wehte auf uns zu. Selbst das Motorengebrumm der Rubber Ducky, unseres antiquierten Schlauchboots, klang jetzt gedämpft. Meine drei Hunde hatten sich philosophisch auf unserer Campingausrüstung zusammengerollt, mit der das kleine Boot randvoll bepackt war – sie fanden die Suche nach einer neuen Heimat nur in den Momenten interessant, wo es an Land ging.
„Können wir nicht näher ans Ufer da hinten ran?“, fragte ich und zerrte die Ärmel meiner Regenjacke über die Hände hinunter. Die Inseln, zwischen denen Chris das Zodiac-Schlauchboot hindurchsteuerte, waren definitiv zu winzig für ein permanentes Zuhause. Ein Robinson-Dasein wäre zwar romantisch, aber wenn man für jeden Spaziergang erst das Boot ins Wasser lassen müsste? Mein Blick tastete die Steilfelsen des Seeufers ab – auch nicht ideal, irgendwo da oben zu bauen. Dann müsste man jedes Mal bergsteigen, wenn man Wasser vom See hochholte. Ich schaute wieder auf die Landkarte, deren Plastikschutzhülle mit Regentropfen gesprenkelt war, und seufzte.
Suche nach dem Paradies am Tagish Lake
Neben einer geschützten Bucht wollten wir außerdem einen Platz, der eine schöne Aussicht und auch im Winter genügend Sonnenschein bot, und der in einem leicht zu durchwandernden Mischwald gelegen war, denn Pfade oder Straßen gab es hier nirgendwo. Erstaunlich, wie selten ein Ort, der uns gefiel, diese vier Kriterien erfüllte: Vom Yukon Territory aus waren wir nun fast 80 Kilometer weit den See hinuntergefahren und hatten bisher bloß zwei Plätze gefunden, die wir als potenzielle Grundstücke in Betracht zogen. Wir wussten nicht, ob es uns gelingen würde, ein Stück Land vom Staat zu pachten oder kaufen – die Erfolgsaussichten waren gering. Aber einen Antrag auf öffentliches Land zu stellen war unsere einzige Chance, denn von Privatleuten zu kaufende Wildnisgrundstücke waren unerschwinglich.
„Wir brauchen eine gute Bucht fürs Boot“, rief Chris über den Motorlärm. „An einem flachen Ufer könnten wir's bei Sturm auch mit der Seilwinde an Land ziehen, aber bei Steilfelsen geht gar nichts.“
„Laut Karte kommen gleich ein paar Buchten.“ Das Problem war nicht nur das Anlanden mit der uralten Rubber Ducky, deren Schlauchkammern ständig Luft verloren und sich bereits wieder flau anfühlten. Falls wir hier irgendwo Land bekommen konnten, würden wir permanent auf ein Boot angewiesen sein – hoffentlich etwas Seetüchtigeres als das vierzig Jahre alte Zodiac, das Chris und ein paar Freunden gehörte.
Eine von wilden Himbeersträuchern und Zitterpappelwald gesäumte Bucht öffnete sich zu meiner Rechten. Nach den unnahbaren Steilfelsen machte sie einen heimeligen, freundlichen Eindruck. „Lass uns doch hier mal gucken!“
„Aber da ist eine Biberburg! Das Wasser könnte man gar nicht trinken.“
„Ist die denn noch bewohnt?“ Der Bau aus Schlamm und Baumstümpfen war halb zerfallen und keine frisch angenagten, belaubten Äste trieben im Wasser. „Komm, wir schauen einfach mal – und wir müssen sowieso dringend die Rubber Ducky neu aufpumpen.“
Kaum, dass der Kiel über Sand schrappte, sprangen Blizzard, Koyah und Silas an Land.
„So, dann mal los.“ Chris vertäute das Boot und zwinkerte mir zu. Hinter den im Unterholz stöbernden Hunden stapften wir den Hang in Richtung Süden hoch, die dutzendste potenzielle Grundstücksbegehung mit den enthusiastisch wedelnden Vierbeinern als Maklerteam. Hagebuttensträucher leuchteten beerenrot, und plötzlich öffnete sich der Wald auf eine Wildblumenwiese. Ein dunkles Band Fichten säumte das Ende der Wiese ein, über der ein herber Geruch von feuchter Erde hing. Durch die Bäume glitzerte das Wasser.
„Wow, ist das schön hier!“ Hand in Hand schlenderten wir über die Wiese und suchten uns einen Weg den Hang hinunter, bis wir am steinigen Seeufer standen. Es hingen keine Regenschleier mehr über dem Wasser: Vereinzelte Sonnenstrahlen, die durch die Wolken fielen, tasteten sich über die Gletscher, Berggipfel, den See und kleine Inseln. Atlin und die nächste Straße schienen unerreichbar fern, lagen hinter zwei großen Gletscherseen, Bergen und einem reißenden Wildwasserfluss verborgen.
Blumenwiese mit Indian Paintbrush
Meine Kehle war wie zugeschnürt vor so viel wilder Schönheit. Im Gegensatz zu den beiden anderen Plätzen, die mir auch nicht schlecht gefallen hatten, wusste ich sofort: Das hier war, wonach wir suchten! Alles fühlte sich richtig an: Die Mischung aus bunten Wildblumen, offenen Wiesen und Wald, und selbst der raue See wirkte durch die gekrümmte Uferlinie und Inseln kleiner und einladender. Ich räusperte mich: „Also, eine bessere Aussicht finden wir nirgendwo! Und Wintersonne hätten wir hier auch, da ist ja Richtung Süden kein einziger großer Berg im Weg. Dazu noch die kleine Bucht … “
„Ich weiß nicht … “ Chris drehte sich um und musterte den Wald. „Zum Spazierengehen ist der Pappelwald ja eine feine Sache, aber mit dem Holz können wir doch kein Haus bauen!“
Immer dachte er so gottverdammt praktisch! Holz für den Hausbau könnten wir doch von überall her holen. Ich konnte meine Augen kaum von den scharfen Bergzacken und dem schön geschwungenen Hochtal im Südosten losreißen. „Wenigstens müssten wir nicht erst roden, hier gibt es so viele freie Flächen. Und da hinten wachsen doch lauter Fichten.“
„Die paar? Das reicht nicht, oder wenn, müssten wir sie alle abholzen und dann wären sie weg.“
„Vielleicht sind ja weiter oben im Wald noch mehr. Oder wir holen das Bauholz vom andern Ufer.“ Das war dicht mit Nadelwald bewachsen.
„Ob wir für die andere Seite eine Holzschlaglizenz kriegen würden, weiß ich aber nicht.“
Da war sie wieder, die Realität, die sich mit der romantischen Vorstellung von unberührter kanadischer Wildnis biss. Nicht nur, dass man für alles vom Plumpsklo bis zum Feuerholz eine Genehmigung braucht: Was auf der Landkarte wie Natur im Urzustand aussieht, da keine Straßen und Orte eingezeichnet sind, ist in Wirklichkeit mit einem komplizierten Netz von industriellen Pachtverträgen, Trapperkonzessionen, Landrechten der Ureinwohner, Naturschutzgebieten und Jagdarealen für Trophäenjäger bedeckt.
Während große Flächen öffentlichen Landes, die theoretisch dem kanadischen Volk gehören, für Öl- und Erdgasbohrungen, Bergwerke und Kahlschläge freigegeben werden, ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, ein kleines Stückchen Land vom Staat zu kaufen oder auch nur zu pachten, um dort ein bescheidenes Leben zu führen. Sicher ein Grund dafür, dass es heute nur noch wenige Menschen gibt, die ein Blockhüttenleben abseits der Zivilisation führen – die Regierung hat es so gut wie unmöglich gemacht. Selbst Trapper dürfen in den meisten Gegenden nicht ganzjährig auf ihrer Konzession leben.
„Wir können ja das Zelt hier aufschlagen und ein paar Tage hierbleiben“, unterbrach Chris meine Gedanken. „So toll finde ich den Platz jetzt nicht, aber wir können uns ja mal genauer umgucken.“
Der Swanson Galcier am Südende des Tagish Lake
Ich gab ihm einen Kuss und grinste. Dich, mein Freund, werde ich schon noch rumkriegen!
Und so war es auch.
„Aber ich hab doch keine Ahnung, wie viel Chilisoße du im Jahr verdrückst!“ Ich warf den Kuli auf den Tisch meines Atliner Häuschens. „Da musst du halt selbst drauf achten.“
„Was ist der Sinn von zwei separaten Essenslisten? Kochen und essen wir dann jeder für sich?“, empörte sich Chris.
„Quatsch. Aber du isst immer nur Fleisch, Kartoffeln und Karotten.“
„Und du nur Spaghetti!“
„Eben. Also müssen wir doch beide genügend von dem einkaufen, was wir am liebsten essen, damit wir abwechslungsreich kochen können – so, dass es beiden von uns schmeckt!“ Unser Wildnisvorhaben trieb immer seltsamere Blüten: Neben dem Papierkrieg mit der kanadischen Bürokratie auf unseren Landantrag hin waren wir nun damit beschäftigt, nicht nur die Vor- und Nachteile von den Schneemobilmodellen in unserer Preisklasse (derer zwei) abzuwägen, sondern auch, Toilettenpapier, Salz und Käse abzuzählen. Denn häufige Einkäufe würden bald der Vergangenheit angehören. Daher galt es, Antworten auf Fragen zu finden, mit denen man sich im normalen Leben noch nie auseinandergesetzt hat: Wie viel Seife, Mehl und Kaffee verbraucht man eigentlich im Jahr?
Einkaufen für 9 Monate
„Mir ist das zu doof, alles abzumessen.“ Chris starrte auf meinen Zettel. „Ich mach das Pi mal Daumen, das klappt schon.“
„Na gut, also du kaufst Pi mal Daumen ein.“ Ich liebte Listen. Sie vermittelten ein Gefühl von Kontrolle und sahen nach Taten aus, ohne dass man eigentlich viel machte. „Ich hab bei mir jetzt einfach überall zehn Prozent mehr draufgeschlagen, weil wir beim Bauen bestimmt essen wie verrückt.“ Außer einige Monate lang meine Kassenzettel vom Supermarkt zu sammeln, hatte ich drei Wochen lang darüber Buch geführt, was ich in welcher Menge aß. Es waren tatsächlich erschreckend viele Spaghetti.
„Ich muss bestimmt viel hin und her fahren, um das ganze Werkzeug und Baumaterial rüberzuschaffen. Wenn dann irgendwas fehlt, kann ich es ja noch besorgen.“
„Ja schon, aber für den Winter müssen wir auf jeden Fall genug Essen und Hundefutter dahaben. Von November bis … März? Dann können wir auf jeden Fall mit dem Schneemobil übers Eis, oder?“
„Schon im Februar. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, planen wir am besten von allem so viel ein, dass es uns von Oktober bis Juni reicht, wenn die Seen wieder offen sind – es kann ja auch sein, dass das Eis schlecht ist. Dann wären wir von Oktober bis zum Sommer abgeschnitten.“
Ich starrte Chris an und dann auf meine Liste. Ein achtmonatiger Spaghettivorrat? „Können wir denn so viele Vorräte überhaupt lagern?“
„Es wird halt eng werden“, grinste er. „Aber wenn wir alles stapeln, passt das schon in unsere Cabin.“
Unsere Cabin … immer gesetzt den Fall, dass wir den Behördenkrieg gewannen und tatsächlich auf das wunderschöne Stück Land am Tagish Lake umsiedeln konnten. Im Dorf kursierten bereits wilde Gerüchte: unser Landantrag sei illegal; wir würden von einer Umweltschutzorganisation finanziert; wir seien Grundstücksspekulanten oder hätten vor, von Sozialhilfe zu leben und den Staat auszunehmen. Die schnöde Realität war wesentlich weniger spannend.
Während die Mühlen der Bürokratie im Schneckentempo mahlten, vertrieben wir uns damit die Zeit, auf dem Papier das erste Blockhaus unserer Wildnisjugendherberge zu entwerfen: Den Gemeinschaftsraum mit Küche und Schlafraum im Loft. In den Folgejahren wollten wir noch ein Schlafhaus bauen und schließlich unsere eigene Blockhütte. Meinen ursprünglichen Plan, in Atlin eine Jugendherberge aufzumachen, hatten wir nun an den Tagish Lake verpflanzt und erhofften uns daraus eine Einnahmequelle. Mein Leben bestand inzwischen fast nur noch aus Hoffnung, hatte ich das Gefühl.
„Aber die Hunde schlafen ja auch alle mit im Haus“, wandte ich ein. „Dann sind wir zwei Leute, drei große Hunde und Vorräte für etwa acht Monate, inklusive Hundefutter, in einer gut fünf mal vier Meter großen Blockhütte!“
„Mit Loft.“
„Na ja, wenigstens haben wir keine Möbel.“ Auch ein Vorteil: Ich hatte es nie geschafft, mehr Mobiliar als eine Kommode und einen Futon anzusammeln, und Chris besaß hauptsächlich Gummistiefel. Viel wichtiger war sowieso, dass wir bereits über den Großteil der benötigten Werkzeuge verfügten, beide mit der Kettensäge umgehen konnten und Erfahrung im Hausbau hatten.
„Das geht schon alles.“ Chris' Mantra, das ich mittlerweile auch ständig vor mir hinsagte. „Und das mit dem Boot kriegen wir auch hin. Sobald Atlin Lake zugefroren ist, werde ich den Fluss ablaufen und mir eine Karte machen. Bei Niedrigwasser im Winter sehe ich ja, wo das Fahrtwasser ist und wo die größten Steine liegen.“
„Und dann weißt du im Sommer, wenn die Steine alle überspült sind, trotzdem noch, wo du lang musst?“
„Das seh ich doch am Wasser, und ich merke mir ja auch Orientierungspunkte am Ufer. Es würde uns einfach so viel Strecke sparen, wenn wir vom Tagish Lake über den Atlin River ins Dorf gelangen können, statt jedes Mal ganz ins Yukon Territory hoch- und dann auf der Straße die 130 Kilometer wieder nach Atlin runterfahren zu müssen.“
Der Fluss ist sehr flach, reißend schnell und mit gefährlich großen Findlingen bestückt. Nur wenige Bootsfahrer trauen sich daher den Atlin River hinunter, aber Chris hatte in seiner Zeit als Guide Wildwassererfahrung gesammelt. „Dann brauchen wir also bloß ein richtiges Boot.“
Der Altlin River verbindet die zwei Seen
Und Geld. Chris besaß immerhin eine eiserne Reserve, aber ich konnte mich einfach nicht entscheiden, ob ich mein Atliner Grundstück verkaufen sollte. Ich hing mit ganzem Herzen daran und hatte hier meine ersten eigenhändig gebauten Häuschen errichtet. Doch was würde ich noch davon haben, wenn ich gar nicht mehr hier lebte? Die Vorstellung, das Stück Land zu verkaufen, drehte mir den Magen um, aber es schien kein Weg daran vorbei zu führen. Wenn ich es nur vermieten würde, wäre es nicht genügend Geld. Sollte ich meine alten Träume für den neuen Wildnistraum verkaufen?
„Vor allem brauchen wir endlich die Bewilligung, dass wir das Land überhaupt haben können!“
Unser Zeltlager aus dem Winter dient uns während des Bauens als Unterkunft
Atlin, Mitte Juni 2005.
„Das hat eine Heizung?“, fragte ich noch einmal nach.
Der hagere Rentner, dessen Jetboot wir probefuhren, nickte und zeigte auf die Lüftungen in der Armatur. Seine faltige Hand hob und senkte sich mit den leichten Wellen, über die das Boot hinwegflog. Kleine Flecken Sonnenlicht funkelte durch die Scheiben hinein und irrlichterten durch den Innenraum. „Hier. Man kann sie so einstellen, dass es die Scheibe anbläst oder auch nach hinten geht.“
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