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"Ein Doc aus der Eifel", das ist Dr. Franz-Josef Zumbé, Landarzt auf dem Hochplateau im Dreiländereck der Bistümer Aachen, Köln und Trier. Er ist Eifeler von Geburt und aus Überzeugung, theologisch und medizinisch zweigleisig gebildet, ein Schlitzohr und Eifeler Platt schwadronierender Menschenfreund der Marke "hart, aber herzlich". In diesem Buch erzählt Dr. Franz-Josef Zumbé im Dialog mit dem Journalisten und Diakon Manfred Lang köstliche Episoden, Anekdoten und Schmonzetten, die er in fast 40 Jahren mit seinen Patienten erlebt hat. Beide Autoren haben sich für diesen wunderbaren Erzählband immer wieder getroffen - und dabei tiefen Einblick in die Eifeler Seele gewonnen. Das angeblich "krummbeinige, diebische Bergvolk" erweist sich als überaus liebenswürdiger Menschenschlag mit dem beneidenswerten Talent, das Leben und auch die Krankheit nicht tierisch ernst zu nehmen. Man neigt weder zur Wehleidigkeit, noch zur Hypochondrie und nimmt die Unebenheiten des Lebens eher gleichmütig und humorvoll zur Kenntnis. Vor dem Lesen wird gewarnt: Als Nebenwirkung ist Lachen bis an die Schmerzgrenze möglich ...
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Seitenzahl: 256
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Manfred Lang &Dr. Franz-Josef ZumbéEin Doc in der Eifel
Manfred Lang &Dr. Franz-Josef Zumbé
Originalausgabe© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf KrampTitelzeichnung: © Anna LangPrint-ISBN 978-3-95441-280-8E-Book-ISBN 978-3-95441-285-3
Für meine EnkelJakob und Joshua
Ich freue mich, liebe Leser, dass mir auf meine alten Tage vergönnt ist, Ihnen dauerhaft einen Teil aus dem Schatz meiner Erinnerungen als Eifeler Landarzt überlassen zu können. Ich freue mich, wenn Sie mit mir eine Zeitreise unternehmen in die Anfänge meiner Landarztlaufbahn auf den zugigen Höhen dieses Landstrichs und mitkommen auf Hausbesuche zu den unverwechselbaren, kernigen und liebenswerten Menschen dieses Mittelgebirges, das gar nicht so rau ist, wie man ihm nachsagt.
Danken möchte ich allen, die in meinem Leben und in diesem Buch vorkamen und vorkommen, meinen Mitarbeitern, meinen Patientinnen und Patienten, meinen Eltern und Verwandten, meinen Dorfgenossen im Geburtsort und im Ort meiner Praxis, der mir längst zum Heimatort geworden ist.
Dann Manni Lang, der mich auf dem Weg in meine Erinnerungen als Gesprächspartner und erfahrener »Buchmacher« begleitet hat, seiner Redaktionsvolontärin Steffi Tucholke für Redigier-Tätigkeiten, seiner Tochter Anna Lang für die Zeichnungen und Sabine Steffens vom KBV-Verlag für Layout und die Produktion.
Angefangen hat alles damit, dass mir mein Sohn und nunmehriger Landarztkollege Benedikt mit seiner Frau Polina eine in rotes Leder gebundene dicke Kladde schenkten mit dem Hinweis »tolle, scribe!« (»Nimm und schreibe«) – in Anlehnung an die Vita des Hl. Augustinus »tolle, lege« (Nimm und lies). Das war schon damals mit dem Hinweis verbunden, nicht zu trocken, sondern herzlich und heiter aus dem reichhaltigen Fundus eines langen Landarztlebens zu erzählen.
Ermuntert und bestärkt wurde ich durch Manni Lang, bekannter Journalist, Buchautor und Diakon, mit dem mich die gemeinsame Herkunft vom Fuß des Mechernicher Bleibergs ebenso verbindet, wie unser Interesse an Theologie und Eifeler Mundart: »Wer schriev, der bliev ...« Wir haben uns am Kamin, aber auch anderenorts Geschichten, Episoden und Witze erzählt – unter Wahrung von Würde und Schweigeplicht.
Einiges davon haben wir zu Papier gebracht, d. h. in den PC getippt. Diese Beschäftigung ohne Papier und Tinte ist für mich noch immer eine Sisyphos-Arbeit. Ohne die technische Unterstützung meines Sohnes Damian wäre ich vermutlich verzweifelt. Er hatte mit mir in dem kurzen Zeitraum mehr Arbeit als ich mit ihm, da er sich mit der mir lieben lateinischen Sprache abmühte.
Ganz umfassender Dank gilt meiner lieben Frau Agne, nicht nur fürs Zuhören und Korrigieren der Geschichten, sondern vor allem dafür, dass sie mich unruhigen Geist seit über vier Jahrzehnten erträgt und aufopferungsvoll unterstützt. Dies bezieht sich nicht nur auf mein Leben als Landarzt, sondern auch auf den nahezu gleichen Zeitraum in der berufspolitischen Arbeit.
Dies geschah in ihrer ruhigen Art neben ihrem Bemühen um unsere Familie, neben dem gesamten Organisatorischen, das eine große Landarztpraxis mit zahlreichen Mitarbeiterinnen erfordert und neben ihrem eigenen Beruf, den sie über 40 Jahre, davon 36 am Hermann-Josef-Kolleg in Steinfeld, als Studienrätin ausübte.
Tondorf/Eifel im Dezember 2015Dr. Franz-Josef Zumbé
Wir hatten wiederholt beruflich miteinander zu tun, Dr. Franz-Josef Zumbé und ich. Er als Chef der Kassenärztlichen Vereinigung, als »oberster Medizinmann« im Eifelkreis Euskirchen, ich als Lokalredakteur der Kölnischen Rundschau und später des Kölner Stadt-Anzeiger.
Ich interviewte ihn mehr als ein Dutzend Mal für die Zeitung. Es ging um neue Belegärzte am Kreiskrankenhaus, das Praxensterben in den Höhenlagen und ungerechte politische Vorgaben und Krankenkassenentscheidungen. Vor allem ging es ihm darum, die medizinische Versorgung der Eifeler Landbevölkerung sicherzustellen.
Franz-Josef Zumbé hatte was zu sagen – im doppelten Sinne. Er redete, was Hand und Fuß hatte, oder besser »Kopf und Arsch«, wie der Eifeler es nennt, also mit Geist auf verlässlicher Grundlage. Zumbé hatte auch im übertragenen Sinne etwas zu »kammellen«: Nachdem er zum Kreisstellenvorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung in der Nachfolge von Dr. Egon Wegmann gewählt worden war, bemühte sich der Strempter Bäckersohn aus streng katholischem Hause zielstrebig und mit großer Selbstverständlichkeit um die Belange der Kassenärzte – nicht nur im Kreis Euskirchen.
Dass er »was zu sagen« hatte, nahm ihm keiner übel, ganz im Gegenteil, denn der Arzt, der sich im ersten Studium mit Philosophie und Theologie beschäftigte, haute zwar kräftig auf die Pauke und im übertragenen Sinne auf die Kriegstrommel für seinen Berufsstand, aber nicht in eigener Sache, aus eigenem Interesse oder auf eigene Rechnung. Zumbé vertrat seine Leute und trat dafür anderen auf die Füße und hin und wieder auch in die Gesäßpartie.
In unseren Zeitungsinterviews waren die Rollen klar verteilt: Frajo Zumbé redete und ich hörte zu, ab und an eine mehr oder weniger kluge Frage dazwischen werfend. Was ihn nicht sonderlich beeindruckte und schon mal gar kein Jota vom Pfad dessen abweichen ließ, was er sich zu sagen vorgenommen hatte. »Frajo« Zumbé teilte mit und teilte aus. Politiker und Verbandsfunktionäre bekamen ihr Fett weg. Streitbar war und ist er unermüdlich auf der Suche nach dem Wie und Wo, jüngeren Arztkolleginnen und Kollegen schmackhaft zu machen, in der Eifel eine Landarztpraxis zu betreiben.
Ein hoffnungsloses Unterfangen, sollte man im Nachhinein meinen. Es sei denn, man ist selbst Landarzt mit Leib und Seele und hat auch um sich herum allerlei Kollegen und sogar die Hälfte des eigenen Nachwuchses, einen von zwei Söhnen, davon zu überzeugen vermocht, in der Eifel zu bleiben und sich dort redlich, aber ohne faire wirtschaftliche Gegenleistung um einen ganz besonderen Patientenschlag zu kümmern.
Das krummbeinige, diebische Bergvolk, das zu sein böse Zungen den Eifelern dieses Landstrichs nachsagen, neigt weder zur Wehleidigkeit noch zum Hypochondrismus, aber zur Selbstmedikation und zum strikten Nichtbefolgen ärztlicher Ratschläge. Seine Schlitzohrigkeit ist ebenso sprichwörtlich wie seine Herzlichkeit. Man kennt sich und man hilft sich, und sieht sich gegenseitig bereits auf große Entfernungen kommen.
Man ist also stets auf der Hut – auch vor angeblichen Autoritäten. Mit solchem Volk umzugehen, ist nicht jedermanns Sache, und entspricht auch nicht jedes Arztes Standesdünkel, da man in der Eifel nicht automatisch als »Doktor« auch als Halbgott in Weiß anerkannt wäre. Akzeptanz erwirbt man sich bei den Töchtern und Söhnen der Berge nicht durch Schein, sondern durch Sein.
In der Eifel geht es allerdings nicht um die ganz besondere Leichtigkeit des Seins, wie sie den mediterraneren Gemütern an Rhein und Mosel zugeschrieben wird. Im Hügelland zwischen diesen Flussläufen hat das Sein mehr Gewicht. Das liegt an der Bodenhaftung. Die Lebensart ist nicht so filigran wie beim Rheinländer der Niederungen, der Humor ist oben derber als an den Flussufern. Man muss die Leute zu nehmen und – zumal als Arzt – zu behandeln wissen, dann hat man bei ihnen »gewonnen«.
Frajo Zumbé fiel das nicht schwer. Er war – und ist – einer der ihren, aufgewachsen am Mechernicher Bleiberg, theologisch und medizinisch zweigleisig gebildet und lebenslang fortgebildet. Er ist selbst ein Schlitzohr und Eifeler Platt schwadronierender Native Speaker. Frei nach dem Motto »Verzäll mir nix, äver sach me alles« weiß er mit seinesgleichen umzugehen: Mach mir nichts vor, aber sage mir alles, also, wo dich der Schuh wirklich drückt.
Frajo Zumbé und ich wurden uns irgendwann während der 30 Jahre, in denen wir uns immer wieder im Abstand mehrerer Jahre zu den eingangs erwähnten Zeitungsinterviews trafen, über ein Projekt abseits der kassenärztlichen Tagespolitik unausgesprochen einig: Irgendwann würden wir uns an mehreren langen Winterabenden am Kamin treffen, und dann würde Frajo Zumbé Manni Lang seine Geschichten und Anekdoten aus der langen Lebenspraxis eines Eifeler Landarztes erzählen.
Das heißt, Zumbé würde reden und reden und Lang zuhören, mehr oder weniger kluge Fragen dazwischen werfen. Nun, geneigte Leserinnen und Leser, freuen Sie sich auf die nachfolgenden Kapitel: Es ist so weit, das Projekt ist gereift. In den Wintern 2012 auf 2015 haben wir zusammengesessen, nicht immer am Kamin, aber immer zusammen mit Menschen dieses Landstrichs. Sie sind während unserer Gespräche gleichsam zu uns herein gekommen wie ins Zumbésche Sprechzimmer und wir waren viel auf Hausbesuchen zu ihnen unterwegs. Kommen Sie einfach mit uns. Zum Beispiel zu »Kroofs Hein«, auf den Dr. Franz-Josef Zumbé ganz zu Beginn seiner ärztlichen Laufbahn traf.
Ich war noch taufrisch, um nicht zu sagen feucht hinter den Ohren. Meine Approbation lag gerade hinter mir, und der Anzug, den ich aus diesem Anlass getragen hatte, befand sich noch in der Reinigung. Ich war vollgestopft mit theoretischem Wissen und voller Enthusiasmus, hatte aber nur wenig mehr als gar keine Ahnung, als ich meine erste Vertretung in einer großen Landarztpraxis antrat.
Ich war zu der Zeit Vollassistent in einem Düsseldorfer Krankenhaus. Vertreten sollte ich während meines ersten dreiwöchigen Klinikurlaubs einen netten, aber gestressten Kollegen, den ich aus früheren Tagen kannte. Meine anfänglichen Bedenken, ob ich der Aufgabe gewachsen sei, zerstreute er mit dem Hinweis, ich könne mich jederzeit an den bereits älteren, aber gewiss stets hilfsbereiten Kollegen Willem in der einige Kilometer entfernten Nachbarpraxis wenden. Wo sollte das Problem sein? »Du schaffst das schon!«
Was sollte ich erwidern? Nichts. Ich bin Altruist – und mein überschießendes Helfersyndrom hatte mir längst die Lippen versiegelt und die Hände gebunden. Außerdem hatte ich Mut zur Lücke – und so fand ich mich nach telefonischer Anfrage des altbekannten Kollegen zur verabredeten Zeit im Auto auf der Fahrt zur angegebenen Landarztpraxis.
Inzwischen hatte ich mir auch zurechtgelegt, dass ich keineswegs uneigennützig handelte, sondern vielmehr wertvolle Fronterfahrung im Hinblick auf eine eigene Praxisgründung oder Praxisübernahme sammeln konnte, und für die man zu der Zeit, wenn ich mich recht entsinne, acht Wochen Vertretungszeit nachweisen musste. Nach all den Jahren Theorie stand mir Praxis bevor. Ich näherte mich ihr in freudiger Erwartung.
Ich wurde vor der Landpraxis bereits mit Ungeduld erwartet. Der werte Kollege hatte seinen Familienbus beladen mit Reisegepäck, Ehefrau, Kinderschar und Berner Sennenhund. Alles war abfahrbereit. Ich hatte kaum Zeit, meinen Wagen zu parken sowie Koffer und Taschen vor die Praxistür zu stellen, da brauste mein lieber Kollege, das Fenster herunter kurbelnd, auch schon vom Hof und an mir vorbei. Er winkte und rief mir zu: »Nur Mut. Denk an Willem!«
Da stand ich nun, ich armer Tor, drinnen Praxis, ich davor ... ohne Erfahrung in praktischer Medizin und dem üblichen Tagespensum eines Landarztes, aber mit Mut zur Lücke und viel Gottvertrauen. Willem wird ja helfen.
Aber daraus wurde nichts. Pustekuchen, Totalausfall, Rohrkrepierer: Der Nothelfer aus der Nachbarpraxis entpuppte sich als »Schwaadlappen« reinsten Wassers, wie der Rheinländer handlungsunwillige Dauerredner nennt. Die fachliche Hilfe durch Willem blieb vollständig aus. Dabei suchte ich seinen Rat, gleich am Sonntag nach meiner ersten Praxiswoche. Ich suchte ihn in seiner Wohnung auf, wir machten Konversation, während der ich viel aus seinem Leben erfuhr, aber keine Antwort auf meine brandaktuellen Fragen bekam.
Willem hatte eine Menge erlebt und eine Menge mitzuteilen, aber das hatte nur rudimentär mit Medizin zu tun. Er schien sich nur in einem Drittel seiner Lebenszeit mit der praktischen Landarzttätigkeit beschäftigt zu haben. Sein ganzes Herz und zwei Drittel seiner Energie gehörten dem Waldbau.
Statt meinen Zettel mit vielen fachlichen Fragen abzuarbeiten, dozierte Willem selbstgefällig über Baumpflanzungen, Durchforstungsarbeiten, Borkenkäferbekämpfung und seine neu erworbene Stihl-Motorsäge, die er am liebsten noch an dem Sonntag zusammen mit mir angeworfen und ausprobiert hätte.
Als ich ungeduldig abwinkte und auf meine fachlichen Fragen zurück kam, die die Praxis in der vergangenen Woche aufgeworfen hatte, wurde Willem seinerseits etwas nervös. Ihm fielen plötzlich »terminliche Gründe« ein, warum er jetzt nicht näher auf meine Anfragen eingehen könne. Er habe sowieso »leider nur eine halbe Stunde Zeit« gehabt, und die sei nunmehr, »ach, wie die Zeit vergeht ...«, soeben verstrichen.
Mit einem Klaps auf die Schulter und freundlichen Worten, fand ich mich flugs vor die Haustür geschoben: »Nur Mut, junger Freund, Sie packen das schon.«
Ich habe es »gepackt«, tatsächlich. Alles ist gut gegangen. Wie man es nimmt: In den drei Wochen ist kein einziger Todesfall eingetreten. Im Gegenteil: Es gab sogar zahlreiche Heilungen. Ob durch meine Hand oder mein Zutun blieb offen. Etliche Male und zu meinem eigenen Erstaunen waren Selbstheilungskräfte am Werk. »Per viam naturalis«, würde ich heute sagen. Das heißt in unserer Eifeler Muttersprache »efach esu«, einfach so, ohne ärztliche Fremdeinwirkung.
Zum ersten Mal ganz alleine an der medizinischen Front, ohne Chefarzt, Oberarzt oder doch wenigstens einen älteren erfahreneren Mit-Assistenten an der Seite, machte ich die Erfahrung des berühmten Chirurgen Hans Killian: »Sub umbra dei«, hinter uns steht der Herrgott. Natürlich hatte ich als gläubiger Mensch, der ich trotz 11 Semester Theologie stets geblieben bin, einen besonderen Sensus für diese Zusammenhänge, die ich in nahezu vier Jahrzehnten immer wieder bestätigt fand. Wer heilt, hat recht.
Die drei Wochen Landarzt-Vertretung waren nicht meine erste Berührung mit dem dörflichen Milieu Eifeler Provenienz. Ich komme selbst vom Dorf und wuchs im Schatten des Mechernicher Bleibergs in einem soziologischen Mischgebiet aus Bergarbeitern und kleinbäuerlichen Landwirten auf. Aufgewachsen bin ich in einer Bäckerfamilie und wir waren das, was man landläufig gut katholisch nennt. Im verwandtschaftlichen Umfeld gab es Priester und Ordensleute. Auch mein Weg schien in diese Richtung vorgezeichnet.
Ich kam nach Aachen ins Internat, besuchte ein kirchliches Gymnasium, studierte an der Jesuiten-Hochschule St. Georgen in Frankfurt und danach in Bonn Philosophie und Theologie, bevor ich mich dem Medizinstudium zuwandte. Ich lebte also lange in den Städten Aachen, Frankfurt, Bonn und Düsseldorf, aber mein Dorf und seine Leute, auch den Zusammenhalt unter ihnen, und, bei allen Schattenseiten, die es auch gab, ihre gegenseitige Solidarität in wirtschaftlich nicht auf Rosen zugebrachten Nachkriegsjahren, sind ein Teil meiner eigenen Identität geworden.
Umso größer war der Schreck in den drei Wochen Landarztvertretung, wie sich mir dort neben durchaus bekannten Nuancen dörflichen Zusammenlebens auch ziemlich erbarmungswürdige und leider auch, Gott sei‘s geklagt, niederträchtige Umstände offenbarten.
Damals hatte ich keine Ahnung, aber heute weiß ich, dass man als Hausarzt tiefere Einblicke in das Leben der Menschen gewinnt als irgendwer. Nichts Menschliches bleibt einem fremd, nichts allzu Menschliches erspart – ob man will oder nicht. Da ist selbst der Pastor besser dran, zumal außerhalb des Beichtstuhls.
Der Landarzt erfährt mehr, als ihm lieb ist. Innerhalb und außerhalb der Sprechstunde, von Patientinnen und Patienten über sie selbst, vor allem aber über andere, Ehegatten, Kinder, Kegel, Vorfahren, Nachbarn, ganze Nachbardörfer, vorgeblich Missgebildete und Missratene, vom Pfad der Tugend abgewichene, verderbte und hin und wieder auch beneidenswerte Charaktere.
Auf Eifeler Platt hören sich die Einleitungsformeln solcher vor dem Hausarzt gemachten Privatoffenbarungen ungefähr so an: »Der hätt mich ..., datt hätt oss ..., wat mir net alles für der jedoohn hann ..., könnt Ihr datt ens mengem Mann saache ... äver saaht nett, datt ich jett jesaaht hann ..., saach, hüer enns ..., watt ich üch noch saache wollt ...«
Als junger Arzt haben mich weitschweifige Geschichten familiärer Art mehr beschäftigt als heute. Jetzt ahne ich oft schon, was kommt, wenn Herr X, vor allem aber Frau Y das Sprechzimmer betritt. Umständlich und erst nach einer ausgiebigen Ouvertüre kommt man endlich zur Sache: »Datt hann ich üch noch net jesaaht.« Oft treffen mich ein vorwurfsvoller Blick und die Worte: »Ihr hatt ens nie Zitt für ene.« Das kostet Zeit und Nerven, aber nach einigen Tagen Urlaub vermisse ich diese scheinbar dialogisierenden Monologe schon wieder.
Das Leben als Landarzt ist widersprüchlich. Was man im Laufe der Jahre lernen muss, ist interessiert guckend wegzuhören. Sonst reicht die Kraft an manchen Tagen nicht für die Vormittags-Sprechstunde aus. Wobei ich nach dem Zenit meiner Landarztjahre sagen muss, dass auch Ärzte nervtötend sein können für Patienten, vor denen sie sich hinter unverständlichem Vokabular und dünkelnder Standesfassade verbergen wollen. Zumal aber auch für andere Kollegen, die sich gegenbenenfalls mit ihren Befunden herumschlagen müssen.
»Watt hätt der Orthopäde dann jesaat?« »Datt lääsch am Verschleiß.« Ach so. Das arthrotische Kniegelenk ist eine Folge von Verschleiß. Wer hätte das gedacht?! Genau so gut hätte der Kollege ausrichten lassen können: »Datt lääsch am Wedde.« oder »Datt kööm von de Wechseljohre.«
Meine Standard-Rückfrage zu solchen Diagnosen lautet »Mie nett?« Die Antwort gebe ich ungefragt stets selbst: »Datt hääv ich de och saache könne.« Wobei ich es für eine Patientin etwa dramatisch fände, kämen alle drei Ursachen für das schmerzende Knie zusammen: Verschleiß, Wetter und Wechseljahre.
Was eine Drei-Wochen-Vertretung, die normalerweise als Assistent im Krankenhaus wirkt, nicht einmal ahnen kann, ist das Erfolgsgeheimnis guter Haus- und Landärzte. Man muss seine Patienten kennen, wissen wie sie sind, was sie denken, wie sie ticken. Man darf nicht nur auf das hören, was sie sagen, sondern muss ein Gespür dafür entwickeln, was sie meinen.
Dazu gehören auch die familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse, die Soziologie des persönlichen Umfelds und des Arbeitsplatzes. Liegen die krankmachenden Ursachen im psycho-sozialen Bereich? Ist der Chef ein Muffkopf, herrscht Mobbing in der Familie? Wie oft würde dies das therapeutische Vorgehen erleichtern.
Wobei wir endlich bei Kroofs Hein wären, auf den Sie in meiner Erzählung nun schon längere Zeit warten. Aber das ist normal. Wir Landärzte kommen – wie unsere Patienten – vom Hölzchen aufs Stöckchen. Wir müssen bei der HNO-Untersuchung eben auch an Ursachen aus anderen Fachgebieten denken. Und während wir untersuchen, fragen, forschen und bohren, befinden sich unsere Patienten, wenn auch nicht mehr im Wartezimmer, so doch häufig in einer inneren Warteschleife, von der man zunächst nicht ahnt, wohin sie einen führen wird.
Das Stichwort »Arbeitsplatz« führt mich deshalb nicht auf direktem Wege zu Kroofs Hein, sondern zunächst zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit und für Katholiken nebenbei zum Festtag des Heiligen Josef, Schutzpatron der Arbeiter. Nicht zu verwechseln mit seinem Festtag als Pflegevater Jesu. Denn das ist der 19. März.
Nun, der Festtag »Josef, der Arbeiter« und damit der 1. Mai fielen in meine allererste Landarzt-Vertretungszeit in jenem größeren Dorf, das mir neben mir bekanntem Dorfmilieu auch die Abgründe der ländlichen Lebensweise drastisch vor Augen führen sollte.
Um es vorwegzunehmen: Hein hatte weder das Schießpulver, noch die Arbeit erfunden. Auch sonst hatte er offenkundig wenig gemeinsam mit dem Pflegevater Jesu und seiner fürsorglichen Art. Bei Hein brauchte sich der Arzt keine Sorgen um die Beschaffenheit des Arbeitsplatzes und den damit eventuell verbundenen belastenden Faktoren zu machen.
Hein war, wie mir glaubhaft versichert wurde, noch nie einer Arbeit nachgegangen, auf die die Begriffe »regelmäßig« und »ordentlich« zugetroffen hätten. Er lege stets Wert auf sein Äußeres, sei immer tipp-topp gekleidet und das volle dunkle Haupthaar mit nur wenigen grauen Strähnen sei immer mit jeder Menge »Wellaform« oder »Fit« frisiert und gestylt.
Alles in allem eine Art Gentleman, so nahm auch ich Kroofs Hein wahr, als ich ihm persönlich am Sonntag nach dem 1. Mai das erste Mal begegnete. Der 1. Mai, als »Tag der Arbeit« von den Nazis für ihre Propagandazwecke instrumentalisiert, war 1889 auf dem internationalen Arbeiterkongress in Paris zum Ruhe- und Feiertag für die Arbeiter erklärt worden. In der Eifel blieb es auch, wenigstens für die meisten, ein katholisches Fest mit Frühmesse, Hochamt und allem drum und dran, eben das Fest für Josef, den Arbeiter.
Hein, der Nicht-Arbeiter, so wurde mir berichtet, habe an diesem Tag einen dunkelblauen und mit weißen Nadelstreifen durchsetzten Zweireiher getragen; ein etwas älteres Modell mit weit ausgestellten Hosen, dazu ein weißes Hemd und eine rot geblümte Krawatte. Hein schritt rauchend auf den Kirchplatz zu, vornehm mit Zigarettenspitze. Wie ein letztes kleines Rauchopfer, zog er noch einige Male kräftig an seinem Glimmstängel, dann schien er das Gotteshaus betreten zu wollen.
Das Geld für seinen doch recht stattlichen Zigarettenkonsum wie überhaupt für sein geordnetes, wenn auch bescheidenes Leben brachte in der Hauptsache seine Frau Loni nach Hause. Sie hatte neben einer Vollzeitbeschäftigung in der nahe gelegenen Dosenfabrik noch ein, zwei Putzstellen. Als Zubrot hielt und verkaufte man Kaninchen, was in der Nachkriegszeit gang und gäbe war. Die »Lappöhrchen« brachten das ein oder andere Gröschelchen ein.
Mir wurde glaubhaft versichert, dass die bienenfleißige Loni ihren Lebemann trotz seiner Abneigung gegen fast jegliche Art von Arbeit herzlich liebte. Nun, immerhin in dem bescheidenen Haushalt griff Hein Loni unter die Arme, und auch sonst wo hin. Und das tat, wie an diesem Maifeiertag offensichtlich wurde, Hein keineswegs nicht nur bei seiner Loni.
In der Mainacht waren drei Dorfjungen unterwegs gewesen, um an den Häusern ihrer heimlich verehrten Dorfschönheiten Maibäume aufzustellen oder zu stecken. Dieser Brauch ist auch heute noch weit verbreitet. Es gilt durchaus als normal, dass sich die Jünglinge für das Aufstellen erforderliches Garten- und Arbeitswerkzeug wie Axt und Säge sowie Leitern aus Garagen und Gartenhäuschen der Nachbarschaft ausleihen.
Dabei stießen unsere drei Jünglinge in jener Nacht auf das dezent mit Kerzen beleuchtete Gartenhaus von Koofs Hein, in dem sich ein großes Sofa und auf ihm, außer Hein, auch dessen Nachbarin Anna befanden. Sie zunächst unter ihm, wobei es aussah, als mache Hein Liegestütze, aber dann wechselten beide Position und Stellung in einer so atemberaubenden Weise, dass sich die Dorfjungen ihre Nasen am Gartenhausfensterchen platt drückten.
Das, was die Jungen gesehen hatten, war schon Stunden später Dorfgespräch. Nur Koofs Hein ahnte natürlich nichts. Vornehm, aus einer Zigarettenspitze rauchend, schritt er auf den Kirchplatz zu, wo die Männer standen, die immer da stehen. Hein zog noch einige Male kräftig am Glimmstängel, also wolle er vor der Messe ein letztes Rauchopfer darbringen.
Das Murmeln der Männer, die man den »Kirchenvorstand« nennt, weil sie immer da draußen stehen, statt zeitig reinzugehen ins Gotteshaus, verstummte. Stattdessen schickten die Mitglieder dieses Gremiums Hein an diesem ersten Maimorgen ein kollektives Grinsen entgegen. Es entstand eine Kunstpause. Dann sagte einer der Männer: »Morje Hein, wie öss et, häste joot jeschloofe?«
Natürlich, warum sollte Hein nicht gut geschlafen haben? Was sollte die Frage? Ein anderer mit Häme in der Stimme: »Küste och jett bedde?« Hein, wohl etwas überrascht von so viel Beachtung seiner Person, antwortete freundlich: »Morje Männ, alles paletti.« Dann zunächst wieder fragende Blicke von allen Seiten und beredtes Schweigen. Schließlich die Fragen, auf die alle gewartet hatten – bis auf Hein: »Watt mäht ejentlich Ann, wenn me su frore daasch? Häste et lang net mie jeseehn?«
Wie es seiner Nachbarin Anna gehe, ob er sie lange nicht mehr gesehen hatte? Aha, daher wehte der Wind! Die Frage traf Hein wie ein Blitz. Er zuckte zusammen und machte auf dem Absatz kehrt. So schnell habe man seit Olims Zeiten niemanden aus dem Schatten eines Kirchturms verschwinden sehen.
Ich habe mir solche selbst erlebten Episoden immer notiert, natürlich wegen der Wahrung der Schweigepflicht in abgeänderter Form. Als ich jetzt die Notizen über jenen 1. Mai und Kroofs Heins voraufgegangene Kamasutra-Übungen zur Hand nahm, kam mir der Gedanke, dass die Szene vor der Kirche typisch für das dörfliche Miteinander war. Indirekt, heranpirschend, andeutend. Jeder weiß Bescheid, aber keiner spricht es aus. Jedenfalls nicht in Klartext.
Das, was Frajo Zumbé da erzählt und feststellt, ist Bestandteil eines ausgefeilten dörflichen Kommunikationssystems, das den vor unlösbare Probleme stellt, der sich nicht damit auskennt. Ich erzähle ihm und Ihnen gerne die Geschichte von Ulrich Mehler, einem Professor für Altgermanistik und Mittellatein, den es vor Jahrzehnten in die Eifel verschlagen hat und der seine eigenen Erfahrungen mit Eifeler Dorfkommunikation machte.
Viele hatten ihn gewarnt: »In der Eifel haben die Pflaumenbäume Augen.« Richtig: Im engen Zusammenleben im Dorf bekommt man viel mit, sehr viel mehr als in der anonymen Stadt. Und manches ist dabei, was sehr persönlich ist und einen bestimmt nichts angeht. Die Eifeler reagieren darauf mit ihrem System: »Du bist zwar da, aber ich sehe dich nicht!«
Sie sehen zwar alles, aber sagen es nicht, jedenfalls nicht immer und schon mal gar nicht in aller Deutlichkeit. Manches wird »über«-sehen, und jeder weiß, dass es da ist. »Das ist nicht das Schlechteste«, konstatiert Uli Mehler, »denn es macht Zusammenleben auf engem Raum möglich: Ich sehe deinen Kochtopf, aber ich gucke nicht hinein.«
»Offiziell jedenfalls nicht«, wirft Frajo Zumbé lachend ein: »Im Dorf kennt man sich und steht häufiger zusammen und hat dann auch aus dieser Mischpoke heraus den Mut, auf den Busch zu klopfen.« Das heißt für ihn, frei nach Peter Weber aus Wershofen, man fragt niemals direkt, auch wenn man gerne Details hätte: »Hast du heute Nacht mit deiner Nachbarin geschlafen?« Sondern: »Könnte es sein, dass ich dich, als ich zufällig durchs Fenster ›spingste‹, mit deiner Nachbarin Anna, sagen wir mal, beim Frühstück gesehen habe?«
Die drei jungen Burschen, die in der Mainacht lautlos an Heins Gartenhäuschen schlichen, kamen in der Absicht, sich bei ihm Axt und Säge auszuleihen. Beim Näherrobben an die vor dem Gartenhäuschen stehende Bank, auf der Hein so gerne saß und Zeitung las, während seine Loni sich durch Gartenarbeit fit hielt, gewahrten sie durch das Fensterchen Kroofs Hein als Angehörigen der Spezies »Homo Näckepensis« auf Anna. Bevor morgens in der Frühe der Hahn dreimal krähte, war dies Ereignis im Dorf rund – ohne dass die Dinge konkret beim Namen genannt worden wären.
Ich kann das nur bestätigen. Um es mit Ulrich Mehlers Worten einzuflechten: »Das dörfliche Informationssystem ist hochsensibel und reaktionsschnell. Es ist uns bis heute unbegreiflich: Wie funktioniert das, dass man gerade aus Köln nach Hause gekommen ist, und das ganze Dorf weiß, dass man da ist? Soviel wir wissen, geht es ohne Telefon und Fußmelder, aber es funktioniert hundertprozentig. Nur wie?«
Noch eine andere Sache funktioniert bei Eifelern reibungslos: Terminabsprachen. Große Diskussion, wann machen wir was, wer kommt dahin und wer ist für was zuständig. Mehler: »Aber wie werden diese Termine gemacht? Wie werden sie ausgehandelt? Durch Sprechen jedenfalls nicht, mittlerweile verstehe ich den Dialekt nämlich ziemlich gut.«
Geheime Absprachen, Handzeichen? »Es muss an der alten Tradition liegen. Nicht jeder der ungeliebten Preußen früherer Jahre musste ja unbedingt alles mitkriegen. Man wehrte sich, so gut es ging auf seine Weise. Wenn dä Driever denkt, denkt och der Äesel ...«
Sein Musikverein spielt die Messe im Chor der Kirche, aber Mehler läuft auf die Empore. Großes Grinsen beim Kirchenchor, während unten die Musiker sich am Altar aufstellen.
Ergibt Punkt drei der Eifeler Lebensweise: Indirektheit, Andeuten, Du weißt ja schon Bescheid, wie immer; aber wie geht »immer« für einen, der nicht im Dorf groß geworden ist? Das muss er lernen. Nur: Wie macht man das?
Zum Beispiel so: Große Einladung zu Silvester. Mehler wieder mal vollkommen überrascht. Frage der Ehefrau: »Wer hat dich denn eingeladen?« »Na, der Michel.« »So, und wie heißt der?« »Michel.«
»Und weiter?« »Keine Ahnung, Michel.« »Wo wohnt der denn?« »Das hat er mir nicht gesagt, hier leben doch nur 300 Leute, die kennen sich alle.« »Und du, du weißt es aber nicht.« Womit Uli Mehlers Frau Ruth recht hatte.
Der Professor berichtet: »Am Silvestertag zogen wir los, feierlicher Anzug, Schlips, Kragen, Kleid, wie gewohnt von früher. Wie lange waren wir nicht mehr eingeladen worden! Pullen unter dem Arm. Durchs Dorf. Kein Mensch draußen. Wo wohnt denn nur der Michel?«
Um es kurz zu machen: »An dem Silvestertag haben wir ihn nicht mehr gefunden. Es war so ungeheuer peinlich. Aber er hat uns unsere Entschuldigung sogar geglaubt, als ich sie, Monate später, im »Eifler Hof« beichtete. Sie stimmte ja auch, aber für einen Eifler war sie doch vollkommen unbegreiflich. Wie konnte jemand im Dorf nicht wissen, wo der Michel wohnt? Heute wissen wir es. Das ist nur ein kleines Beispiel für etwas, das wir überhaupt nicht kannten: Gastfreundschaft und Offenheit. Die Eifler Gastfreundschaft hat uns mehr als einmal umgeworfen – »umgeworfen« in verschiedener Hinsicht ..., aber das soll hier nicht erörtert werden.«
»Apropos Eifeler Gastfreundschaft«, wirft an dieser Stelle mein Freund Franz-Josef Zumbé ein: »Auch hier gilt bekanntlich die zu Beerdigungszwecken in Liedform gefasste christliche Erkenntnis ›Wir sind nur Gast auf Erden‹. Aber wenn sich so ein Dauergast anschickt, die Eifelerde zu verlassen, dann ist der Landarzt meist nicht der Einzige, der am Krankenlager steht.«
Und dann eröffnet der Mann, den sie in den »Highlands« meist »de Dokte« nennen, einen Exkurs übers Erben, Eifeler Originale und die Kunst des Hausbesuchs. Er beginnt mit einem gereimten Gag aus Gymnasialtagen ...
Ein Krokodil sprach: »Ich habe geerbst. Ein Onkel mütterlicherseits hat gestern Nacht gesterbst.« Da sprach zu ihm der Pelikan: »Das heißt, er ist gestorben. Ich finde du hast die Wüstensprache vergewaltigt und verdorben.« Da sprach zu ihm das Krokodil: »Ich finde, du bist kleinlich, und überdies noch ein Pedant und kränkst mich gern wahrscheinlich. Was nützt es dir, wenn du stirbst, verstehst du’s nicht zu erbsen und musst anstatt dein Onkel stirbst an seiner Stelle sterbsen.« (Von einem mir nicht mehr bekannten Dichter.)
Nicht nur für mich selbst, auch für die jungen Ärztinnen und Ärzte, die zur Aus- und Weiterbildung in meiner Praxis mitarbeiteten, waren Hausbesuche Pflicht. Sie waren nicht immer ein Vergnügen, besonders dann nicht, wenn es hieß: Hausbesuch bei Kathrin. Meist war das am späten Nachmittag oder erst in den Abendstunden der Fall – in der Hoffnung, dass mit diesem keineswegs wegen akuter Beschwerden fakultativen, sondern vielmehr alle zwei Wochen obligatorischen Hausbesuch das Tagwerk des Landarztes einigermaßen abgeschlossen wäre.
Wir hatten zu der Zeit weder Europiepser, noch Handy – was allerdings auch heute in dieser mit Funklöchern durchsetzten Gegend nicht viel bringt – und damals auch nicht geholfen hätte, weil Kathrin gar kein Telefon besaß, über das man fernmündlich Erkundigungen zum akuten Gesundheitszustand hätte einholen können. Also mussten wir hin. Bei Wind und Wetter.
Erschwerend kam hinzu, dass man nur über einen sehr steinigen Feldweg zu dem abgelegenen alten Gehöft gelangte, der aus lauter Schlaglöchern mit zum Teil kraterähnlichen Ausmaßen zu bestehen schien.
Kathrin hatte in der ihr eigenen Bescheidenheit darum gebeten, dass sie ärztlicherseits stets erst am Abend besucht würde: »Dann hann ich mich jett rejiert.« Was heißen sollte: Dann habe ich den dreckigen Arbeitskittel und die Stiefel ausgezogen, mich gewaschen und trage eine saubere Schürze und kann mich der Menschheit zeigen.
Ich bin ihrer Bitte gerne nachgekommen. Wie sollte Kathrin in ihrem fortgeschrittenen Alter auch alleine zur Praxis kommen? Sie war schon fast 80 Jahre, als wir uns kennenlernten. Mit dem Traktor? Bei Eis und Schnee? Selbst über abkürzende Feld-, Wald- und Wiesenwege waren sieben Kilometer zu bewältigen, über die Hauptstraße, die wir mit dem Pkw benutzten, noch viel weiter.