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Seine Mum hat Joe beigebracht, dass er nur zum Polarstern hinaufsehen und ihm seinen Weihnachtswunsch entgegenschicken muss, dann wird er wahr. Doch jetzt ist sie tot, und Joe vermisst sie. Aber manchmal spürt er sie an seiner Seite, sie hört ihm zu, wenn er mit ihr spricht, da ist er sich ganz sicher - obwohl ihm niemand glaubt. Und dieses Weihnachtsfest möchte er nichts mehr, als dass sie noch einmal eine richtige Familie sind. Ob ihm der Polarstern auch diesen Wunsch erfüllen kann? "Wunderbar warm voller liebenswerter, lebendiger Charaktere" Fiona Walker "Herzerwärmend, witzig und magisch … ich habe sogar ein paar Tränen vergossen!" Sun
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Seitenzahl: 536
Zum Buch:
Die Erkenntnis trifft Livvy hart: Sie ist tot! Doch warum ist sie noch hier, und wer ist dieser unverschämte räudige Kater, der ihr ständig schlaue Ratschläge erteilt? Nur langsam kommen die Erinnerung und das Verstehen. Livvys Mann Adam hat eine Affäre, sie selbst hatte einen Unfall, und jetzt hängt sie in der Zwischenwelt fest, gemeinsam mit dem Kater – Malachi, ihrem Geisterführer. Er zeigt ihr, wie sie Adam auf sich aufmerksam machen kann, doch Livvy will mehr – sie will ihre Familie wiederhaben. Und plötzlich scheint sie tatsächlich die Chance zu erhalten, ihr altes Leben zurückzubekommen …
„Herzerwärmend, witzig und magisch … ich habe sogar ein paar Tränen vergossen!“
Sun
Zur Autorin:
Julia Williams wuchs mit sieben Geschwistern im Norden Londons auf und studierte in Liverpool. Nach einigen Berufsjahren im Verlagswesen widmet sie sich inzwischen ganz dem Schreiben. Während des Studiums lernte sie ihren Mann David kennen. Mit ihm und den vier gemeinsamen Kindern lebt sie mittlerweile in Surrey.
Julia Williams
Ein ganz besonderer Weihnachtswunsch
Roman
Aus dem Englischen von Sonja Sajlo-Lucich
IMIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der englischen Originalausgabe:
Make a Christmas Wish
Copyright © Julia Williams 2015
erschienen bei: Avon an Imprint of HarperCollinsPublishers Ltd.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: any.way, Hamburg; Cordula Schmidt / Barbara Hanke
Redaktion: Christiane Branscheid
Titelabbildung: shutterstock
ISBN eBook 978-3-956-49924-1
www.mira-taschenbuch.de
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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Für meine Lieblingszwillingsschwester
Virginia Mofatt,
meine erste Leserin und größte Unterstützerin.
War auch wirklich höchste Zeit… xxx
Was tut eine Mutter?
Eine Mutter kocht.
Eine Mutter holt mich von der Schule ab.
Eine Mutter hält Nachmittagsschlaf.
Eine Mutter ist immer da.
Als ich noch klein war, hat meine Mum mir gesagt, ich soll nach dem hellsten Stern am Himmel suchen und dann meinen Weihnachtswunsch aussprechen, der wird dann nämlich wahr.
Der hellste Stern am Himmel ist der Polarstern, der die Reisenden nach Hause führt.
Heute Abend habe ich durch mein Teleskop gesehen und mir etwas zu Weihnachten gewünscht.
Vielleicht kann der Polarstern ja meiner Mum leuchten und sie wieder nach Hause bringen.
Dann können wir wieder eine Familie sein.
ERSTER TEIL
Auf dem Asphalt des Parkplatzes komme ich zu mir. Irgendwie fühle ich mich sehr benommen und verwirrt. Ich erinnere mich noch an das Auto und an den jungen Burschen hinter dem Steuer … und an diesen fürchterlichen Schmerz, der durch meinen Kopf geschossen ist. Ich sehe auch die ganzen Leute, die um mich herumstehen, aber ansonsten weiß ich nicht mehr viel. Das Ganze musste schon Stunden her sein, denn inzwischen ist es dunkel, und ich bin allein. Ich verstehe auch nicht, wieso ich noch hier bin. Haben sie mich etwa einfach liegen lassen? Wieso hat man mich nicht ins Krankenhaus gebracht? Sehr seltsam. Ich fühle in meinen Taschen nach meinem Handy. Ich muss unbedingt Adam, meinen Mann, anrufen. Er macht sich bestimmt Sorgen, wo ich bleibe. Und Joe, unser Sohn, wird inzwischen völlig aufgelöst sein. Da fällt mir wieder ein … Aus irgendeinem Grund war ich wütend auf Adam, kann mich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern, weshalb. Und mein Handy kann ich auch nirgends finden. Ich muss es wohl verloren haben, als der Wagen mich angefahren hat.
Der. Wagen. Hat. Mich. Angefahren.
Ich stutze, muss erst einmal die Logik des Ganzen verarbeiten. Wenn dieses Auto mich angefahren hat, wieso bin ich dann nicht verletzt und habe keine Schmerzen? Und wie kommt es, dass ich noch immer hier bin? Und weshalb ist es so dunkel?
Oh nein …
Als ich erfahre, dass meine Frau schwer verletzt im Krankenhaus liegt, stehe ich gerade vor meinem Büro und führe zum x-ten Mal das gleiche Gespräch mit Emily. Ich möchte vermeiden, dass alle hier in der Firma erfahren, was los ist. Ich bin wirklich nicht stolz darauf, wie geheimnistuerisch ich in den letzten Monaten geworden bin.
„Wie ist sie dahintergekommen?“, flüstert Emily nervös.
„Ich weiß es nicht“, antworte ich. „Das ist auch nicht mehr wichtig.“
„Es ändert alles“, sagt sie.
Ich seufze. „Ja, das ist mir klar. Andererseits – irgendwann musste sie es ja herausfinden. Ich wünschte nur, sie hätte es von mir erfahren.“ Ich weiß auch nicht … ich hatte es ihr in den letzten Monaten so oft sagen wollen. Mein Familienleben hat sich unaufhaltsam mehr und mehr aufgelöst. Ehrlich gesagt, ich hätte mir nie vorstellen können, dass es einmal so schlimm wird. Während dieser Zeit ist Emily mir zum einzigen Lichtblick im Leben geworden. Aber hätte ich überhaupt den Mut gefunden? Und dann ist da ja auch noch unser Sohn Joe. Was um alles in der Welt wird es dem Jungen antun? Schuldgefühl und Elend haben sich inzwischen fest in meinem Magen eingenistet. Wir haben in der Vergangenheit ja schon so einige miserable Weihnachtsfeste hinter uns gebracht, aber dieses Jahr wird mit Sicherheit allem die Krone aufsetzen.
„Adam, da sind Sie!“ Marigold, meine Assistentin. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Sie redet so schnell, dass ich kaum verstehe, was sie sagt. „Es tut mir so leid, Adam … aber Sie müssen sofort zum Krankenhaus fahren. Es ist ein Unfall passiert … Livvy ist schwer verletzt.“
„Was?“ Noch immer bin ich mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden habe. „Emily, ich muss gehen. Eine Livvy-Krise.“
„Beeilen Sie sich.“ Marigold wird immer hektischer. „Sie ist in der Notaufnahme.“
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mein erster Gedanke ist, dass Livvy vermutlich mal wieder eine Show abzieht. Das ist ihre bevorzugte Art, Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber als ich dann tatsächlich jemanden aus dem Krankenhaus am Telefon habe, erfahre ich, dass sie wirklich in einen schweren Unfall verwickelt wurde. „Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass ihr Zustand äußerst kritisch ist“, sagt mir der Arzt. „Ich muss Ihnen dringend raten, so schnell wie möglich herzukommen, Mr. Carmichael.“
Ich kämpfe kurz mit mir, ob ich Joe abholen soll oder nicht. Aber wenn die Dinge wirklich so schlimm stehen, wie man mir sagt … ob Joe mir je vergeben wird, wenn ich ihn nicht mitnehme? Letztendlich hole ich ihn mitten aus dem Unterricht seiner sechsten Klasse. Als wir beide im Krankenhaus ankommen, sagt man uns nur, dass auf der Intensivstation alles versucht wird. Wir werden in einen Warteraum für Angehörige geführt, was nichts Gutes erahnen lässt. Mein Puls rast, mir ist übel. Keiner klärt uns auf, es gibt keine genaueren Informationen, jeder flüstert nur. Und in mir wächst das beklemmende Gefühl, dass wir uns auf das Schlimmste gefasst machen müssen.
Langsam kommt alles wieder zurück. Ich weiß, dass ich zwei Wochen vor Weihnachten auf dem Weg war, um die Weihnachtseinkäufe bei Lidl zu erledigen. In mir brodelte es ungestüm, denn ich hatte gerade herausgefunden, dass Adam, Adam, mein wunderbarer Ehemann, mir untreu war. Ich meine, natürlich haben wir unsere Probleme, und schon seit einiger Zeit spüre ich, dass er mehr und mehr auf Distanz geht, aber … Adam und fremdgehen? Ich weiß wieder, wie wütend und schockiert ich war. Da arrangiere ich alles für ein schönes Weihnachtsfest für uns, und er vergnügt sich derweil mit einer anderen?
Während ich aus dem Wagen ausstieg, plante die eine Hälfte meines Hirns bereits das aufwendige Weihnachtsessen für uns, während die andere Hälfte eine stinkwütende Nachricht an Adam formulierte. Adam, du verdammter Mistkerl! Wie konntest du nur? So viel zum Thema Multitasking. Aber ich weiß auch, wie und wieso er das konnte. Über die Jahre habe ich ihm wohl genug Grund dafür geliefert.
Ich war so wütend, dass ich nicht darauf geachtet habe, wohin ich gehe. Ohne auf den Verkehr zu achten, trat ich auf die Straße. Genau in diesem Moment fuhr ein Wagen auf mich zu. Der Fahrer war gerade siebzehn. Sein Vater war mit ihm hierhergekommen, um ihn auf ungefährlichem Gelände ein wenig üben zu lassen. Doch der arme Kerl geriet wohl in Panik, als er mich plötzlich vor sich auftauchen sah, und statt auf die Bremse zu treten, muss er das Gaspedal erwischt haben. Noch immer sehe ich sein schreckverzerrtes Gesicht hinter der Windschutzscheibe, bevor mir selbst klar wurde, dass er frontal auf mich zugebraust kam. Und ich konnte nichts tun, um ihn aufzuhalten.
Der Aufprall tat nicht einmal weh, als der Wagen mich an der Seite erwischte, ins Schlingern geriet und in eine Reihe von Mülltonnen rauschte. Ich flog durch die Luft und landete mit dem Kopf voran auf der langen Reihe von Einkaufswagen. Wären sie nicht gewesen, wäre ich wahrscheinlich mit blauen Flecken und vielleicht noch ein paar Knochenbrüchen davongekommen. So jedoch schlug ich mit dem Kopf auf einen der Wagen auf, was einen Schädelbasisbruch zur Folge hatte.
So ein Glück konnte auch nur ich haben.
Der Schmerz, den ich in diesem Moment spürte, war entsetzlich. Schon in der nächsten Sekunde scharte sich eine kleine Menschenmenge um mich. Alle starrten auf mich hinunter, der Junge, der den Wagen gefahren hatte, jammerte lautstark: „Oh Gott, was habe ich getan?“
Ich hörte noch das heulende Martinshorn, dann wurde alles um mich herum schwarz. Das Allerletzte, was ich wahrnahm, kurz bevor ich in die Dunkelheit abdriftete, waren die Töne von Simply Having A Wonderful Christmas Time, das aus einem nahe gelegenen Laden erklang. Einfach großartig, nicht wahr?
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Trage. Licht schien mir von oben direkt in die Augen. Ich musste mich in irgendeinem Transporter befinden, der wohl mit riskantem Tempo durch die Stadt raste. Von irgendwoher kam eine Stimme: „Livvy, bleiben Sie bei mir, bleiben Sie wach!“ Doch ich konnte nicht, ich verlor erneut das Bewusstsein.
Das nächste Mal, als ich aufwachte, schwebte ich wie durch einen Traum. Ich konnte nicht erkennen, wo ich mich befand, aber wenn ich nach unten blickte, dann sah ich eine Menge Leute in hellgrauen Overalls mit Gesichtsmasken. Sie alle standen um einen Körper auf einem OP-Tisch herum … Ich muss sagen, das Ganze war mir mehr als unheimlich. Was ging hier eigentlich vor?
„Jetzt!“, sagte jemand, und der Körper da auf dem Tisch zuckte. Mehr passierte nicht.
Der Mann mit dem Defibrillator in der Hand schüttelte stumm den Kopf, und irgendjemand anders sagte: „Zeitpunkt des Todes … vierzehn Uhr fünfzehn.“
Einer nach dem anderen trat langsam von dem Tisch mit dem Körper zurück. Monitore wurden abgestellt, Tropfnadeln herausgezogen, Schläuche eingerollt … In diesem Augenblick wurde mir jäh bewusst, dass ich auf mich selbst hinuntersah.
Was war hier gerade passiert, fragte ich mich still.
Ich kann doch nicht … Oder? Nein, das ist sicher nur irgendein seltsamer Traum. Gleich werden Adam und Joe zu mir kommen, und dann wache ich auf, und alles ist wieder in Ordnung.
Joe sage ich, dass ich uns etwas Heißes zu trinken hole. Ich verlasse den Warteraum und gehe als Erstes zum Schwesternpult, um zu fragen, ob es Neuigkeiten gibt, aber niemand kann mir Genaueres mitteilen. Als ich mit der wässrigen heißen Schokolade für Joe und einem lauwarmen Kaffee für mich in den Warteraum zurückkomme, höre ich, wie zwei Krankenschwestern sich flüsternd darüber unterhalten, wie lange man versucht hat, die Frau in der Notaufnahme zurückzuholen. In mir schrillen alle Alarmsirenen. Oh Gott, was passiert hier nur? Noch vor wenigen Minuten habe ich mir den Kopf zerbrochen, wie ich Livvy unter die Augen treten und ihr beibringen soll, dass ich sie verlassen werde, und jetzt … jetzt bin ich in einem schrecklichen Albtraum gefangen. Ganz gleich, wie unglücklich wir miteinander waren … ich habe nie gewollt, dass Livvy etwas zustößt. Ich fühle mich, als würde ich am Rand eines gähnenden Abgrunds stehen. Ich habe keine Ahnung, wie es mit der Zukunft weitergehen soll.
Schuld, Reue und überwältigende Trauer wollen mich mitreißen, aber um Joes willen muss ich mich zusammennehmen. Als er mich jedoch schüchtern fragt, ob mit seiner Mum alles wieder in Ordnung kommt, habe ich ihm keine Antwort zu bieten.
„Ich weiß es nicht, Joe“, sage ich und nippe an dem schalen Kaffee. Mir ist übel vor Angst und panischer Unruhe. Nein, Livvy darf einfach nichts Schlimmes zugestoßen sein. Unmöglich.
Doch es ist nicht unmöglich. Sobald die Krankenschwester das Zimmer betritt, weiß ich es. Sie braucht es nicht einmal auszusprechen.
Ich bilde mir ein, die Worte „Es tut mir so leid“ zu hören, aber sicher bin ich mir nicht. Joe wiegt sich unablässig vor und zurück. Als ich ihn in die Arme schließen will, stößt er mich weg, und dann höre ich diesen unsäglich gequälten Schrei.
Es dauert einen Moment, bevor mir klar wird, dass ich derjenige bin, der den Schrei ausgestoßen hat.
Von irgendwoher kommt ein Schrei, und ich fühle mich, als zerre mich jemand aus dem Raum, in dem ich momentan bin, bis ich in einem anderen schwebe. Ein kleiner weißer Raum, in dem eine Krankenschwester sich zu einem völlig erschüttert wirkenden Adam setzt und zu ihm und Joe sagt: „Es tut mir so leid.“
Joe wiegt sich apathisch vor und zurück, ich kann seine Angst und seinen Schmerz fühlen. Ich will zu ihm gehen, doch ich komme nicht an ihn heran. Der Schmerz wogt in großen Wellen von ihm aus, sie rollen an mich heran. Einen solchen Schmerz habe ich bisher noch nie erlebt. Ohne etwas dagegen tun zu können, fange auch ich an zu klagen und zu weinen. Dann sehe ich, wie Adam zusammensackt und seine Haltung verliert. Ich kann in seinen Kopf schauen, lese seine Gedanken, die sich wirr überschlagen. Nur einer sticht klar und deutlich heraus: Es tut ihm unendlich leid, und er liebt mich sehr. Was immer er mir auch angetan hat … mich zu verlieren ist ein hoher Preis, den er dafür bezahlt.
Plötzlich werde ich in einen langen dunklen Tunnel gezogen. Ich wehre mich und schreie immer wieder: „Lass mich zurück! Ich muss wieder zurück!“
Es hilft nichts. Die Dunkelheit verschlingt mich, und dann ist da nur noch Nichts.
Und jetzt hier auf dem Parkplatz. Im Dunkeln höre ich diese Stimme direkt neben mir. „Scheint, als wäre der Groschen endlich gefallen.“
Vor Schreck wäre mir das Herz stehen geblieben, wenn ich noch eines hätte, das stehen bleiben könnte. Argwöhnisch sehe ich mich um, kann in der Dunkelheit aber nichts erkennen.
„Oh mein Gott, ich bin also wirklich …“
„Ich fürchte, ja“, sagt die Stimme regelrecht fröhlich.
„Tot?“
„Mausetot“, kommt es von der Stimme.
Das wird immer bizarrer.
„Und wer sind Sie?“, frage ich.
„Ein Freund.“ Es ist mehr ein Schnurren, nicht unbedingt dazu geeignet, mich zu beruhigen.
Ich sehe mich auf dem leeren Parkplatz um. Ich kann nicht glauben, dass ich noch immer hier bin. Ich stehe doch, ich fühle mich wie immer. Wie kann ich da tot sein?
„Völlig normale Reaktion“, sagt die Stimme. „Aber daran ist nicht zu rütteln, du bist definitiv den Weg alles Irdischen gegangen.“
Sollte dann nicht irgendwo ein Chor von Engeln oder zumindest eine Art Begrüßungskomitee auftauchen? Ich meine, wenn ich schon sterbe, sollte ich dann nicht auf der anderen Seite offiziell aufgenommen werden?
„So funktioniert das hier nicht“, kommt es selbstgefällig von der Stimme zurück, und ich muss zugeben, dass mir der Besitzer derselben immer unsympathischer wird.
„Warum bin ich dann noch immer hier?“, will ich wissen.
„Lass mich einen Moment überlegen … wo soll ich anfangen …? Du bist noch immer hier, weil du noch nicht bereit bist, auf die andere Seite überzuwechseln.“
„Was soll das denn heißen?“ Ich gehe sofort in Angriffsstellung. „Wozu soll ich hier noch länger herumlungern? Wenn ich tot bin, dann würde ich jetzt bitte gerne dorthin kommen, wo ich in Frieden ruhen kann.“
„Ich will es mal lässig im Fachjargon ausdrücken … du hast da noch ein paar lose Enden zu verknoten.“
„Allerdings! Genau das habe ich!“, begehre ich auf. „Das ist doch lächerlich. Ich will wieder zurück zu meinem Mann und meinem Sohn. Die beiden brauchen mich. Ich will mit einem Vorgesetzten sprechen!“
„Ich fürchte, du wirst mit mir vorliebnehmen müssen“, erwidert die Stimme geduldig. „Deine Einstellung sollte dir übrigens bereits ein Hinweis sein.“
„Hinweis? Worauf? Mit meiner Einstellung ist nichts verkehrt. Ich bin ein netter, freundlicher Mensch. An mir ist auch nichts verkehrt.“
„Nun, als Erstes drängt sich die Frage auf, weshalb du immer so wütend und verärgert bist.“
Natürlich plustere ich mich sofort auf. Schon so lange schleppe ich diesen Groll mit mir herum, dass ich manchmal gar nicht mehr weiß, worüber ich mich überhaupt aufrege. Das sagt Adam schon seit Jahren zu mir, und immer war ich der festen Überzeugung, dass er eindeutig übertreibt. Jetzt allerdings, allein auf einem leeren Parkplatz im Dunkeln, anscheinend tot und nur mit einer körperlosen Stimme als Gesellschaft, beginne ich zu denken, dass Adam vielleicht recht gehabt haben könnte. In meinem Innern gibt es einen dunklen Teich, in dem sich die Wut all der Jahre angesammelt hat. Übrigens ein Ort in mir, dem ich tunlichst fernbleibe. Aber das werde ich dieser Stimme nicht auf die Nase binden.
„Wer sind Sie überhaupt?“, frage ich also stattdessen noch einmal, und zu meiner Verblüffung schlendert ein etwas struppig aussehender schwarzer Kater heran und springt auf eine der Mülltonnen.
„Nenn mich Malachi.“ Der Kater dehnt sich ausgiebig und fährt dabei die Krallen aus. „Ich bin dein spiritueller Führer in der Zwischenwelt.“
Nein, beruhigen tut mich das wirklich nicht. Dieser Sturz auf den Kopf muss mir mehr zugesetzt haben als bisher angenommen. Ich halluziniere, eindeutig. Ich bilde mir ein, tot zu sein und mich auf dem Kundenparkplatz eines Supermarkts mit einem Kater zu unterhalten. Nur noch ein Augenblick, und ich wache im Krankenhausbett auf, Adam und Joe werden mit besorgten Mienen an meiner Seite sitzen, und dann wird alles wieder normal werden. Ganz bestimmt.
„Gut, das reicht jetzt, das ist nicht mehr lustig“, sage ich. „Ich werde jetzt gehen.“
„Versuch’s ruhig.“ Dieser Malachi ist keineswegs beeindruckt. „Ich kann dir schon jetzt sagen, dass du nicht weit kommen wirst. Du wirst mir genau zuhören und dich entsprechend verhalten müssen. Nur weil du tot bist, heißt das nicht, dass du die Regeln ignorieren kannst.“
„Ich kann einfach nicht tot sein“, jammere ich. „Das passiert alles nicht wirklich.“
„Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, aber … du bist tot. Toter geht’s nicht. Und überhaupt … in deiner Situation … wieso sollte es da ungewöhnlich sein, sich mit einem Kater zu unterhalten? Eigentlich ist das hier nicht meine wahre Gestalt, aber im Moment ist das wohl das Praktischste. Ich habe es auch schon als Stadtstreicher versucht, aber dann werde ich immer von irgendeinem übereifrigen Ordnungsbeamten verscheucht. Als Katze ist man da wesentlich unauffälliger. Niemand wundert sich, wenn eine Katze nachts um die Mülltonnen streicht. Aber worum es eigentlich geht … ich bin hier, um dir zu helfen.“
„Wieso?“, will ich misstrauisch wissen.
„Weil es mein Job ist.“ Der Kater seufzt frustriert. „Offen gestanden, meist lässt sich mit meinen Klienten wesentlich einfacher arbeiten.“
„Was soll das denn schon wieder heißen?“, brause ich auf.
„Am besten fangen wir gleich damit an, das Chaos, das du aus deinem Leben gemacht hast, aufzuräumen.“
„Ich habe kein Chaos aus meinem Leben gemacht!“, protestiere ich. „Mein Leben hat mir gefallen. Und ich würde es wirklich gern wieder zurückhaben.“
„Tja, dafür ist es nun zu spät“, sagt Malachi. „Aber wenn du möchtest, können wir noch ein paar Dinge in Ordnung bringen. Wir sollten mit deiner Vergangenheit anfangen.“
„Und wenn ich nicht möchte?“ Ich habe es mir immer zum Vorsatz gemacht, nie zurückzublicken und mich dann auch noch zu fragen, ob ich es anders hätte machen können. Darüber kann man nämlich glatt den Verstand verlieren, wenn Sie mich fragen.
„Auch gut“, erwidert der Kater. „Ich kann dir nämlich nicht eher helfen, bevor du dir nicht helfen lassen willst. Solange du nicht gewillt bist, mir zuzuhören, wirst du hier feststecken, bis du bereit bist, den nächsten Schritt zu tun.“
„Diesen Unsinn höre ich mir nicht länger an“, empöre ich mich. „Jeden Moment muss ich aufwachen, und dann werde ich feststellen, dass das Ganze nur ein idiotischer Albtraum war.“
„Deine Entscheidung“, schnurrt der Kater. „Dann kannst du ja weiter hier auf die Mülltonnen aufpassen. Sag mir Bescheid, wenn du so weit bist. Ich habe nämlich Besseres mit meiner Zeit anzufangen.“
Ein Mal kurz mit dem Schwanz geschnippt, und er ist verschwunden. Jetzt bin ich allein, schwebe über dem Lidl-Parkplatz, festgehalten an dem Ort, an dem ich gestorben bin.
Emily Harris war sich nicht sicher gewesen, ob sie zu Livvy Carmichaels Beerdigung gehen sollte oder nicht. Adam würde natürlich nicht mit ihr reden können, aber sie wollte trotzdem da sein. Wollte versuchen, ihm so ein wenig Halt zu geben, ihn zu unterstützen. Sie hatte ihm eine kurze Nachricht geschickt, um ihn wissen zu lassen, dass sie kommen würde, doch er hatte nicht geantwortet. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Seit jener schrecklichen Nacht, in der er sie angerufen und ihr erzählt hatte, was vorgefallen war, hatten sie kaum miteinander gesprochen. Und sie verstand ihn – mehr oder weniger. Adam musste jetzt für Joe da sein, und dabei hatte sie nichts verloren. Ihr war aber auch klar, dass das, was sie miteinander gehabt hatten, vielleicht für immer vorbei sein könnte. Livvys Tod machte sie zutiefst traurig. Niemand verdiente es, so zu sterben – nicht einmal die Rivalin, die Adam über Jahre hinweg so maßlosen Kummer zugefügt hatte. Doch jetzt, da Livvy nicht mehr war, hatte Emily nicht die geringste Ahnung, wie es mit ihr selbst und Adam weitergehen würde. Vielleicht war er ja nur mit ihr zusammen gewesen, weil es so schwer für ihn war und er Trost gebraucht hatte. Vielleicht würde ihre Liebe jetzt hinter dieser schrecklichen Tragödie einfach verblassen. Das wäre elendig und erbärmlich, aber es gab nichts, was sie dagegen unternehmen könnte.
Emily blieb hinten in der überfüllten Kirche stehen. Die Trauer war nahezu greifbar, und Emily fühlte sich niedergeschlagener, als sie es je in ihrem Leben gewesen war. Die arme Livvy. Dass sie so früh und auf eine so schreckliche Art hatte gehen müssen. Der arme Joe. Der arme Adam. In dieser Situation war jeder arm zu nennen.
Die Orgel setzte ein. Der Herr ist mein Hirte. Die Trauergemeinde erhob sich. Emily sah Adam. Seine Schultern hingen herab, und er hielt den Kopf gesenkt. Mit leerem Blick starrte er geradeaus, als er Joe mit einer Hand auf der Schulter durch den Mittelgang hinter dem Sarg herführte. Der Junge wirkte völlig am Boden zerstört. Die grazile blonde Frau an Joes anderer Seite musste Livvys Mutter sein, Felicity. Die drei stützten sich gegenseitig, und Emilys Gefühl, hier nichts verloren zu haben, wurde immer größer. Fast hätte sie sich umgedreht und wäre geflohen, aber in diesem Moment kam Adam an ihr vorbei und hob den Kopf, warf ihr kleines mattes Lächeln der Dankbarkeit zu. Er sah so traurig und bedrückt aus, Emily wünschte, sie könnte jetzt an seiner Seite sein.
Die Trauerzeremonie verging wie in einem Nebel. Felicity stellte sich ans Mikrofon und hielt eine Rede, etwas darüber, dass der Tod nicht das Ende sei. Sie wirkte gefasst, und Emily spürte den Kloß in der eigenen Kehle. Die Erinnerung an die Beerdigung ihrer Mutter überfiel sie plötzlich, sie konnte Felicity nur für ihre Haltung bewundern. Emily brachte nicht mehr als erstickte Schluchzer hervor, und die Frau dort vorn musste die eigene Tochter zu Grabe tragen und brach dennoch nicht zusammen. Dafür brauchte man viel Kraft.
Adam las einen Text über die Liebe vor. Den Kopf über das Blatt gesenkt, ohne einen Blick auf die Trauergemeinde, konzentrierte er sich ausschließlich darauf, jedes Wort über die Lippen zu bringen. Emily merkte ihm an, wie viel Beherrschung es ihm abverlangte. Sie wünschte, sie könnte an seiner Seite sein, ihm Trost spenden. Und dann trat Joe an das Pult und sagte schlicht: „Meine Mum war die Beste. Sie hat sich um mich gekümmert, und jetzt ist sie nicht mehr da. Sie fehlt mir.“
Danach blieb in der Kirche kein Auge trocken. Während der restlichen Messe waren immer wieder Schluchzer zu hören. Sobald die Andacht vorbei war, ergriff Emily schnellstmöglich die Flucht. Familie und Freunde würden der Beisetzung beiwohnen und danach auf einer privaten Trauerfeier zusammenkommen, und da hatte sie ganz bestimmt nichts zu suchen.
Die Trauergäste scharten sich um Joe, Adam und Felicity, und Emily nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt zu ihrem Wagen zu gehen, der ein Stück weiter die Straße hinunter geparkt stand. Sie hatte erledigt, weshalb sie hergekommen war. Zwar hatte sie das, was sie und Adam zusammen hatten, immer für etwas Besonderes gehalten, aber Livvys Tod änderte alles. Ja, ihre Rivalin war fort, aber sicher nicht so, wie sie es sich gewünscht hatte. Würde Adams Liebe zu ihr stark genug sein, um über die Trauer hinwegzukommen? Jetzt blieb Emily nichts anderes, als abzuwarten und darauf zu hoffen, dass Adam zu ihr zurückkommen würde.
Als sie die Fahrertür aufschloss, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
„Emily, warte.“
Adam. Die Versuchung, die Arme um ihn zu schlingen, war riesig, aber Emily beherrschte sich.
„Ich wollte dir danken“, sagte er, als er vor ihr stand. „Es bedeutet mir sehr viel, dass du gekommen bist.“
„Es war doch selbstverständlich, dass ich komme“, erwiderte sie leise. „Wie … wie geht es dir?“
„Nicht sehr gut.“ Und ja, er sah müde und mitgenommen aus.
„Du solltest wieder zurückgehen.“ Sie fühlte sich nicht wohl. „Man wird sich sicher fragen …“
„Ich glaube nicht, dass das noch einen Unterschied macht.“
„Du musst an Joe denken“, erinnerte sie ihn.
„Ich weiß“, sagte Adam. „Emily … du verstehst doch, nicht wahr? Joe hat jetzt absoluten Vorrang für mich. Und … nun … es ist durchaus möglich, dass wir uns in den nächsten Monaten nur selten, falls überhaupt, sehen können. Ich will, dass du weißt, es liegt nicht daran, dass ich dich nicht sehen möchte.“
„Oh Adam. Natürlich verstehe ich das“, erwiderte sie.
Beiden standen die Tränen in den Augen.
Emily warf einen Blick zu der Trauergemeinde hinüber, die sich langsam auflöste. „Du musst wieder zurück, Adam“, sagte sie. „Wenn du mich brauchst … du weißt, wo du mich findest.“
„Ich melde mich“, sagte er.
„Wenn du so weit bist.“ Aber wer konnte schon wissen, wann das war?
„Es ist mir ernst …“ Er stockte. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber … kannst du bitte auf mich warten?“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon. Emily stieg in ihren Wagen und fuhr nach Hause. Sie fragte sich, ob sie Adam je wiedersehen würde. Sie hoffte es, wünschte es sich mehr, als sie sich je etwas gewünscht hatte.
Schon lange fühle ich mich wie in einem zähen Nebel, habe jegliches Zeitgefühl verloren, bin mir nicht sicher, wohin die Tage, Nächte und Monate verschwinden. Ich kann auch an niemanden herankommen, den ich liebe, wenigstens um zu sehen, ob es ihnen gut geht. Ab und zu macht sich ein seltsames Gefühl in mir breit. Zum Beispiel zur Zeit meiner Beerdigung, da konnte ich spüren, wie aufgewühlt und traurig Joe war. Manchmal glaube ich auch, dass Adam mit mir zu reden versucht, aber das klingt dann immer wie ein altes Radio, das keinen Sender mehr findet. Es kommt von so weit entfernt, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob es wirklich Adam ist. Ich spüre nur diesen unerträglichen Schmerz und die Trauer um einen Verlust. Da gab es doch noch etwas, das ich tun sollte, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, was das war …
Bis … in einer kalten Winternacht ein Schneesturm über meinen Parkplatz fegt und ich plötzlich ganz deutlich Joes Stimme in meinem Kopf höre. Mehr als nur das … ich spüre auch seine maßlose Verwirrung.
„Wird Emily jetzt meine neue Mum, Dad?“
Wer zum Teufel ist Emily? Und wieso sollte Adam nach einer neuen Mum für Joe suchen?
„Nur über meine Leiche“, stoße ich zischelnd aus, und plötzlich ist es, als würde das Schneegestöber mich von meinem Parkplatz wegreißen und davontragen.
„Was zum …?“ Ich stehe mitten in meinem Wohnzimmer, ohne auch nur die geringste Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Zwar bin ich verwirrt, aber auch begeistert. Endlich bin ich von diesem verdammten Parkplatz weggekommen. Ich sehe mich um, und da sind Adam und Joe … und eine hübsche dunkelhaarige Frau, die ich nicht kenne, auch wenn sie mir irgendwie bekannt vorkommt. Zusammen schmücken sie den Weihnachtsbaum.
Eine fremde Frau in meinem Haus. Zusammen mit Adam. Und Joe. Was, um alles in der Welt, geht hier vor?
Wutentbrannt ist viel zu harmlos ausgedrückt! Voller Rage stürme ich auf die dunkelhaarige Frau in meinem Wohnzimmer zu.
„Wer, verflucht, sind Sie?“, schreie ich sie an. „Was haben Sie hier zu suchen? In meinem Haus, in meinem Leben?“
Ich will, dass sie sich zu Tode fürchtet. Ich will eine Reaktion von ihr sehen. Doch außer, dass sie leicht erschauert und sagt: „Seltsam, wo zieht’s denn hier plötzlich?“, passiert nichts.
Mist! Noch nicht einmal richtig spuken kann ich! Dabei will ich doch nur, dass Adam und Joe mich sehen, dass sie wissen, ich bin hier. Dass sie mich wieder zurückhaben wollen, so wie ich sie zurückhaben will.
„Oh, jetzt hör schon mit dem Selbstmitleid auf.“
Malachi ist also doch nicht weg. Gut.
„Hättest du mir vor einem Jahr nicht die kalte Schulter gezeigt, könnte das alles inzwischen längst erledigt sein. Sie brauchen dich, und du brauchst sie. Nur vermutlich nicht so, wie du dir das denkst.“
„Was meinst du damit?“ Warum muss Malachi immer in Rätseln reden?
„Es gibt da Dinge, die du in Ordnung bringen musst.“
„Wovon redest du überhaupt?“ Wenn ich könnte, würde ich wohl vor Wut rot anlaufen.
„Das weißt du wirklich nicht? Komm, ich zeige es dir …“
Mit einem Ruck werde ich wach, und zwar in einem lebendigen, atmenden, menschlichen Körper. Ich hatte schon vergessen, wie gut sich das anfühlt. Sehen und fühlen und tasten und schmecken können … Moment, das hier kenne ich doch. Ich sehe mich um. Ich sitze in einem Krankenhausbett, neben mir ein Babybettchen, in dem mein Neugeborenes schläft. Liebe durchflutet mich … Hormone? Endlich ist mein Baby da, nach all den fehlgeschlagenen Anläufen. Mein Wunderkind.
Aber wo ist Adam? So lange haben wir uns dieses Kind schon gewünscht, so viel haben wir durchgemacht, und jetzt ist er nicht hier?
Dann fällt es mir wieder ein. Die Wehen haben zu früh eingesetzt, und Adam ist auf Geschäftsreise. Wir hatten beide gedacht, wir hätten noch viel Zeit. Doch jetzt sitze ich hier, habe unser Baby in dieser unwirtlichen Klinik, umgeben von Fremden zur Welt gebracht. Natürlich sind die Hebammen freundlich, aber völlig überarbeitet. Mum ist gerade bei Freunden zu Besuch und kann erst morgen hier sein … Noch nie im Leben habe ich mich so einsam und verlassen gefühlt. Ich liege in einem Krankenhausbett, und mein Baby wacht auf, aber ich komme nicht an das Bettchen heran. Wegen der Epiduralanästhesie kann ich nicht aufstehen. Ich bin müde und traurig und völlig überwältigt, und Hunger habe ich auch. So war das doch alles nicht geplant. Wie kann ich am glücklichsten Tag meines Lebens so viel Trauer verspüren?
Dann fängt das Baby an zu weinen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich drücke den Rufknopf, aber niemand kommt. Ich bin hier allein mit einem schreienden Baby, und am liebsten würde ich auch losheulen. Ich weiß, es ist unfair, aber ich werde wütend auf Adam. Und dann, ganz plötzlich, ist er da. Er hat alles stehen und liegen lassen und den ersten Flug nach Hause genommen, um bei mir und dem Baby zu sein. Er ist so glücklich und froh, Mutter und Kind wohlauf zu sehen. Also vergesse ich den grimmigen Ärger, vergrabe ihn tief in mir. Nichts anderes zählt jetzt mehr, nur wir und unser neugeborener Sohn.
Auf einmal bin ich wieder in der Zukunft zurück, das heißt tot, und rede mit einem zerrupften schwarzen Kater. Noch immer spüre ich den Ärger in meiner Kehle brennen. So lange war ich wütend auf Adam, ich weiß nicht mehr, wann und womit es begonnen hat. War das wirklich damals an dem Tag, als Joe geboren wurde?
Trostlos starre ich auf Adam und Joe und Adams neue Freundin.
„Und was mache ich jetzt?“, frage ich matt.
„Erst einmal“, antwortet Malachi, „musst du ihre Aufmerksamkeit erregen.“
Noch zwei Wochen bis Weihnachten
Es ist bereits ein Jahr her? Wie kann es möglich sein, dass schon so viel Zeit vergangen ist, seit meine Welt mit einem Schlag aus den Fugen geraten ist? Als wäre mein Leben nicht schon chaotisch genug gewesen.
Vor Livvys Tod hätte alles anders laufen müssen. Ich meine, ich war nicht stolz auf mich, aber ich hatte Emily getroffen und mich in sie verliebt. Ich hatte immer vorgehabt, es Livvy zu sagen, doch dann hatte sie es selbst herausgefunden. Adam, du verdammter Mistkerl! Wie konntest du nur? Die letzten Worte, die meine Ehefrau an mich gerichtet hat. Unter den Umständen hatte ich nichts anderes verdient, obwohl Emily gerade heute noch zu mir gesagt hat, ich ginge zu hart mit mir ins Gericht. Aber … wenn ich Livvy mehr unterstützt und geholfen hätte, wenn ich begriffen hätte, wie viel es ihr abverlangte, sich um Joe zu kümmern … Meine Welt besteht hauptsächlich aus Wenn und Aber.
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als ich Livvy im ersten Semester an der Uni in Manchester traf. Da stand dieser quirlige hellwache Rotschopf in der Studentenkneipe an der Theke, kippte einen Kurzen nach dem anderen herunter und trank in dem albernen Wettbewerb jeden ihrer Kommilitonen unter den Tisch. Ich war viel zu schüchtern, um sie anzusprechen, aber mit der Zeit lernten wir uns besser kennen, kamen uns näher, und verwundert stellte ich fest, dass mein Interesse von ihrer Seite erwidert wurde. Letztendlich war es Livvy, die die Initiative ergriff. Wir saßen im Freien und starrten zusammen hinauf in die Sterne am Nachthimmel, und plötzlich küsste sie mich leidenschaftlich. Livvy war so ganz anders als jedes Mädchen, das ich bis dahin kennengelernt hatte. Ein Freigeist, unkonventionell, impulsiv, spontan, wie ich es nie sein könnte. Sie hauchte mir Leben ein, zeigte mir, dass es auch noch etwas anderes gab als die steifen Ansichten und konservativen Weltanschauungen, die meine Eltern mir mitgegeben hatten. Es war eine großartige, eine magische Zeit. Seit ihrem Tod denke ich oft an jene Tage zurück und quäle mich mit der Frage, wie alles so schrecklich hatte schieflaufen können.
Aber es ist nun mal schiefgelaufen, und das letzte Jahr habe ich damit zugebracht, die Scherben meines Lebens wieder einzusammeln. Auch wenn unsere Ehe nur noch eine leere Hülle war, hat mich Livvys Tod zutiefst getroffen. Ich habe nie die Chance erhalten, ihr zu sagen, wie traurig es mich gemacht hat, dass eine Liebe, die so voll strahlender Hoffnung und mit unermesslichem Potenzial begonnen hatte, letztendlich dahingesiecht ist. Jetzt gibt es keine Möglichkeit mehr, noch irgendetwas zu richten.
Und jetzt steht schon wieder Weihnachten vor der Tür. Ich bin es Joe schuldig, mein Bestes zu geben und alles zu versuchen, damit es ein fröhliches Weihnachtsfest wird, selbst wenn Feiern das Letzte ist, wonach mir zumute ist. Bis heute kann ich nicht genau sagen, wie viel von dem, was passiert ist, Joe tatsächlich bewusst registriert hat und was in seinem Kopf vorgeht. Immer wieder gibt er Dinge von sich wie: „Meine Mum ist tot“, knallt es völlig Fremden an den Kopf wie einen toten Fisch, ohne jegliche Emotion. Emily meint, wir müssen ihn unterstützen, so gut es uns möglich ist.
Deshalb – auch wenn ich mir keineswegs sicher bin, ob ich die Nerven dafür habe – stellen wir also den Weihnachtsbaum auf. (Letztes Jahr hatte ich das Gefühl, die Lichter würden mich gehässig anfunkeln, um mir damit meine Schuld vorzuhalten.) Den Baum haben wir stets zwei Wochen vor dem Weihnachtsfest geschmückt, und Joe mit seinem geradezu obsessiven Sinn für Ordnung hat diesen Termin schon seit Ewigkeiten in seinem Notizheft eingetragen.
Jetzt stelle ich fest, dass es sogar Spaß macht. Den ganzen Tag schon hat es gestürmt und geregnet. Joe und ich waren an Livvys Grab und haben Blumen daraufgelegt, anschließend noch im Regen einen Spaziergang am Kanal entlang gemacht. Jetzt sind wir wieder zu Hause und sitzen jeder mit einer Tasse heißer Schokolade vor dem flackernden Feuer im offenen Kamin. Es ist warm und gemütlich, bis Joe darauf besteht, dass es Zeit fürs Christbaumschmücken wird. Ich hätte eher erwartet, dass er es heute, am Todestag seiner Mum, nicht machen will, aber er beharrt darauf.
„Wir schmücken den Baum immer zwei Wochen vor Weihnachten“, sagt er. „Mum ärgert sich, wenn wir es nicht tun.“
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Wie nüchtern er über seine Mutter spricht! Natürlich trauert er um seine Mum, aber es fällt ihm schwer, es in Worte zu fassen.
Er tippt jetzt auf seine Armbanduhr. Zeit war schon immer wichtig für ihn. „Es ist halb sechs. Wenn wir nicht jetzt gleich anfangen, ist es Zeit fürs Abendbrot, und dann ist es zu spät.“
„Also gut, Joe, legen wir los“, gehe ich auf ihn ein.
Der Wind heult durch den Kamin, die Hintertür in der Küche klappert leise. Es ist ein altes Haus, die Türen schließen nicht richtig, und die Fenster sind undicht. Wir hatten immer geplant, neue Türen und Fenster mit Doppelverglasung einbauen zu lassen, aber ich mag die alten Holzrahmen und die Schiebefenster. Es verleiht dem Haus Charakter. An einem Abend wie heute allerdings kann ich mich über das zugige Haus nicht unbedingt freuen.
Mit seiner methodischen Art macht Joe sich ans Dekorieren des Baumes. Erst die Lichter, dann bestimmt er, welcher Schmuck welchen speziellen Platz erhalten soll: Der Weihnachtsmann, den er für uns gebastelt hat, als er fünf war, und das Rentier, das Livvy auf dem Weihnachtsmarkt für ihn gekauft hat, müssen so aufgehängt werden, dass sie sofort ins Auge fallen. Dann sortiert er die Kugeln nach einem Farbsystem: Gold, Rot, Silber, in abwechselnder Folge, in Reihen mit gleichmäßigen Abständen rund um den Baum. Livvy war es gewesen, die immer mit ihm zusammen den Christbaum geschmückt hatte. Daher war mir nicht bewusst gewesen, dass Joe diese Kunst über die Jahre offensichtlich bis zur Perfektion geschliffen hat. Emily und ich müssen den Schmuck nach seinen Anweisungen aufhängen, und erstaunt stelle ich fest, wie beruhigend das ist.
Nach den Kugeln wird der Baum schließlich überall mit Lametta behängt. Das „überall“ ist wörtlich zu verstehen, denn inzwischen sieht der Baum meiner Meinung nach eindeutig überladen aus. Das rote Lametta dürfen wir übrigens laut Joes Anweisung nicht verwenden, weil es „nicht gut aussieht.“ Aber abnehmen dürfen wir auch nichts.
Wir hängen gerade die letzten Lamettabündel über die Zweige, als Joe Emily mit diesem durchdringenden nüchternen Blick ansieht und fragt: „Bist du jetzt meine neue Mutter?“
Oh Gott, ich bin noch nicht bereit dafür.
Ich habe mich bemüht, Emily langsam und behutsam in unser Leben einzuführen. Zum Glück kennt Joe sie bereits aus dem Schwimmbad. Jeden Montagabend sind wir schwimmen gegangen. Joe war abends immer noch so sehr aufgedreht, deshalb hatte ich beschlossen, mit ihm schwimmen zu gehen, damit er Energie abbaut und müde wird. Und wie alles andere nahm Joe auch das sehr ernst. Er verließ das Becken nicht, bevor er nicht seine hundert Bahnen geschwommen war.
Dort habe ich Emily getroffen. Nach einer hässlichen Scheidung hatte sie mit dem Schwimmen angefangen, nicht nur, um fit zu werden, sondern auch, so hat sie mir später erklärt, um sich selbst etwas Gutes zu tun und wieder positiv zu denken. Ich schwamm ja auch, um meine Dämonen zu vertreiben. Im Schwimmbad konnte ich alles vergessen, konnte mich entspannen. Irgendwann war mir aufgefallen, dass auch die hübsche Brünette mit dem schwarzen Badeanzug und der roten Badekappe jede Woche da war und direkt neben mir ihre Bahnen schwamm. Im hinteren Teil des Beckens, wo das Wasser tiefer ist, sind wir dann beim Wassertreten an der Bande ins Gespräch gekommen, und so hat eines zum anderen geführt, auch wenn wir beide das nie geplant hatten.
Ein Windstoß fährt in den Kamin und lässt die Flammen auflodern, und ich fühle eine eiskalte wütende Energie, die mir direkt in die Magengrube schlägt. Die Lichter am Christbaum flackern. Die anderen beiden scheinen nichts davon zu bemerken, vermutlich, weil sie vollauf damit beschäftigt sind, die leeren Kartons zusammenzuräumen und wegzustellen. Ich gehe zur Steckdose und hantiere mit dem Stecker. Die Lichterkette brennt jetzt wieder normal.
Emily tritt einige Schritte zurück und begutachtet den Baum. „Das sieht doch richtig hübsch aus, findest du nicht auch?“, sagt sie, und Joe lächelt.
„Ja, jetzt kann Weihnachten kommen“, erwidert er.
„Wie macht man das?“, frage ich.
„Du bist ein Geist, und als solcher hast du gewisse Kräfte“, klärt Malachi mich auf. „Probier’s aus.“
„Wie denn? So?“, frage ich noch, bevor ich einen gellenden Schrei ausstoße. Es ist sehr befriedigend zu sehen, dass die Lichter am Christbaum zu flackern beginnen.
„Was zum …?“, kommt es von Adam. Er geht zur Steckdose und rüttelt am Stecker.
Ha! Endlich also gehört mir ihre Aufmerksamkeit! Schreiend laufe ich durchs gesamte Haus, lasse Lampen aus- und wieder angehen. Doch Emily macht nur einen Scherz über die Schwankungen in der Stromversorgung, woraufhin Adam es sofort auf die alten Leitungen schiebt und laut überlegt, ob er nicht besser gleich morgen früh einen Elektriker bestellen soll, damit der das überprüft. „Das sollte noch vor dem Fest in Ordnung gebracht werden.“
Mir geht die Luft aus. Geschlagen gehe ich hinaus in den Garten und starre trübsinnig zum Mond hinauf.
„Das war reine Zeitverschwendung“, sage ich, als Malachi an meine Seite springt.
„Sehr geduldig bist du nicht, was?“, meint er. „So etwas braucht seine Zeit.“
„Wieso können sie mich nicht sehen?“ Ich will doch so unbedingt, dass Adam und Joe wissen, ich bin hier. Ich lasse den Mond Mond sein und blicke durch das Fenster in das erleuchtete Wohnzimmer zurück. Joe sieht glücklich aus, zusammen mit Adam und dieser neuen Frau. Ich fühle mich ausgeschlossen und unnütz und bemitleide mich selbst. Was tue ich überhaupt noch hier, wenn sie mich nicht brauchen? Joe mag die Neue, denn sonst hätte er niemals den Baum mit ihr zusammen geschmückt. Da ist er sehr eigen. Ich hatte vermutet, dass ich wegen Joe noch hier bin, aber wie es aussieht, unterscheidet er sich noch mehr von den anderen als gedacht. Er scheint auch gut ohne mich zurechtzukommen. Ich muss an die unzähligen Male denken, in denen ich mir als Mutter so völlig nutzlos vorkam, obwohl ich mir immer solche Mühe gegeben habe, alles richtig zu machen und eine gute Mum zu sein. Jetzt, da ich tot bin, bin ich so viel weniger als nutzlos. Ich starre durch die Fenster, und die Erinnerungen überfallen mich.
Ich glaube, es war das erste Weihnachtsfest mit Joe, als mir endlich bewusst wurde, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er war nie ein pflegeleichtes Baby gewesen, aber mit fast einem Jahr schlief er noch immer keine Nacht durch, und ich fand es schwierig, eine Bindung zu ihm aufzubauen. War er wach, dann war er oft mürrisch und quengelig, und es raubte mir viel Kraft und kostete Nerven, mich um ihn zu kümmern. Ich fühlte mich schuldig … Sollte ich nach meinen beiden Fehlgeburten nicht überglücklich mit meinem Baby sein? Als ich es Adam gegenüber erwähnte, meinte er nur, ich bilde mir das ein.
„Babys quengeln und schreien eben“, sagte er im Brustton der Überzeugung. Als wäre er Experte für Babys! Dabei bekam er doch überhaupt nichts davon mit. Er arbeitete sich krumm, um unsere drückende Hypothek jeden Monat bedienen zu können, kam abends erst spät nach Hause oder war häufig auf Geschäftsreisen. Es war nicht seine Schuld, dass er nicht miterlebte, wie schwer es für mich war.
„Schon, aber nicht so“, beharrte ich.
Aber er hörte gar nicht mehr zu. Niemand hörte mir zu. Unsere wirklich nette, aber völlig überarbeitete Hausärztin, die ihrer Pensionierung bereits entgegenfieberte, hatte mich längst, da war ich mir sicher, als neurotische Mutter abgetan. Nicht verwunderlich, nachdem ich wochenlang nur geheult hatte und schließlich die Diagnose „postnatale Depression“ erhielt. Meine Mutter ermahnte mich nur, ich solle doch lieber das halb volle statt des halb leeren Glases sehen, und meine Freundinnen bemitleideten mich, weil mein Baby eben ein schwieriges Baby sei.
Doch an diesem ersten Weihnachtsfest änderte sich alles, und zwar so drastisch, dass selbst Adam mir endlich glauben musste.
Denn während jener Weihnachtstage begann Joe damit, jede Nacht mit dem Kopf gegen die Stäbe seines Kinderbettchens zu schlagen. Wir brachten einen Schaumstoffschutz an, genau wie man uns geraten hatte, doch das änderte nichts. Jeden Abend, nachdem ich Joe in sein Bettchen gelegt hatte, fing es an. Bum, bum, bum! Ihm zuzusehen zerrte an meinen Nerven, aber wenn ich ihn auf den Arm nehmen und trösten wollte, begann er zu brüllen wie am Spieß. Ich hatte das Gefühl, dass meine Berührung wie Gift für ihn war.
Dann gab es Situationen, in denen er schlicht nicht mehr auf seinen Namen reagierte. Er lächelte auch fast nie. Ich war überzeugt, dass das nicht die normale Entwicklung eines Kindes war, also begann ich nachzuforschen und mich zu erkundigen. Adam behauptete ständig, ich würde nach etwas suchen, das gar nicht existierte.
Doch schließlich musste auch er zugeben, dass etwas nicht stimmte. Nach dem Weihnachtsessen packten wir die Geschenke aus, als Joe einen Anfall bekam. Er schrie und warf sich tretend und strampelnd zu Boden. Nichts und niemand konnte ihn beruhigen, weder Adam, der Joe eigentlich immer hatte trösten können, noch meine Mum, die ja immer so stolz davon berichtete, welches Händchen sie mit Babys hatte, und ich erst recht nicht. Wie also hätte ich mich da nicht nutzlos fühlen sollen?
Anfangs konnte mir niemand sagen, was nicht stimmte, aber ich hörte nicht auf, Fragen zu stellen. Alle kamen nur immer zu dem gleichen Ergebnis: Joe entwickelte sich nicht altersgemäß. Er begann gerade erst zu krabbeln, versuchte aber nicht, sich irgendwo festzuhalten und hochzuziehen. Je älter er wurde, desto heftiger reagierte er, wenn ich ihn berühren wollte. Es brach mir das Herz, wenn er zu schreien anfing, sobald ich ihn auf die Arme nehmen oder mit ihm schmusen wollte. Überall hatte ich blaue Flecke, weil er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Es war, als würde er in seiner eigenen kleinen Welt leben.
Zu der Spielgruppe ging ich gar nicht mehr mit ihm, weil nie vorauszusehen war, ob er mit den anderen Kinder spielen oder nicht doch nur mit Spielzeugen um sich werfen, die anderen Kinder schlagen und mit dem Kopf auf den Boden hauen würde. Denn während die anderen Babys aus meiner ehemaligen Schwangerschaftsgruppe heranwuchsen und Fortschritte machten, wurde immer deutlicher, dass Joe anders war. Meine ersten beiden Babys hatte ich verloren … und jetzt das! Vielleicht war es mir einfach nicht vorbestimmt, Mutter zu sein.
Joe war schon fast drei, als wir nach Monaten mit unzähligen Arztterminen und Untersuchungen durch Spezialisten endlich den Grund herausfanden.
„Asperger? Was um alles …?“ Adam wurde mit einem Mal leichenblass.
Also erklärten sie es ihm so behutsam und geduldig wie nur möglich. Dass es schwierig für Joe sei, mit anderen zu interagieren, dass er nie die emotionalen und sozialen Fähigkeiten erlangen würde, die andere Menschen hatten, und dass er deshalb oft unfreundlich und gefühllos wirkte und nur schlecht Kontakt zu anderen Kindern knüpfte. Sie erklärten uns auch, wie unwahrscheinlich es sei, dass er im normalen Schulsystem bestehen würde.
„Oh Mist, Mist, Mist!“, stöhnte Adam auf.
„Aber wieso? Wie kann so etwas passieren?“ Ich wollte alles wissen.
Erst da erzählte Adam mir von seinem Bruder. Der, über den nie jemand sprach. Der, von dem ich bis dahin nicht gewusst hatte. Der, der in einer Klinik untergebracht war, weil Adams Eltern nicht mit der Schande umgehen konnten.
Ich fühlte mich völlig überrollt. Das hätte ich früher erfahren sollen, darüber hätte ich Bescheid wissen müssen.
„Es tut mir leid“, wiederholte Adam unablässig mit bleichem Gesicht. „Ich hätte es dir sagen sollen, aber Mum und Dad … Sie wollen nicht darüber reden. Und ich … ich habe mich auch nie in der Lage dazu gefühlt.“
Und hätte es überhaupt einen Unterschied gemacht? Ich hätte Joe trotzdem haben wollen. Adam war doch auch völlig normal. Das ist wie bei einer Lotterie. Und wir hatten verloren. Malachi springt auf eine Mauer, sodass er auf Augenhöhe mit mir ist. „Du darfst nicht so schnell aufgeben.“ Da liegt unerwartetes Mitgefühl in seiner Stimme. „Wenn du auf mich hörst, wird sich alles zum Besseren wenden.“
„Ich soll auf dich hören? Wozu?“ Überzeugt bin ich nicht.
„Komm, lass uns zusammen eine Reise unternehmen“, sagt er. „Du hast noch vieles zu lernen.“
Plötzlich gehen alle Lichter und Lampen im Haus an und aus, so als würde jemand hektisch sämtliche Schalter auf einmal betätigen. Ein seltsam mulmiges Gefühl macht sich in mir breit, ich gehe zum Sicherungskasten, um nachzusehen, doch keine einzige Sicherung ist herausgesprungen, und auch mit den Schaltern scheint alles in Ordnung zu sein.
„Stromschwankungen.“ Emily lacht. „Wahrscheinlich haben alle Häuser in der Nachbarschaft gleichzeitig die Lichter an ihren Weihnachtsbäumen eingeschaltet.“
Überzeugt bin ich davon nicht.
„Vielleicht haben wir hier im Haus ein Problem mit den Leitungen“, sage ich. „Gleich morgen früh rufe ich den Elektriker an. Das sollte noch vor dem Fest in Ordnung gebracht werden.“
Das Flackern hat sich wieder gelegt, ebenso der pfeifende Wind. Ich beschließe, das mulmige Gefühl zu vergessen, und schiebe es auf eine überaktive Fantasie. Doch als ich später in die Küche gehe, um mit dem Kochen für das Abendessen anzufangen, reißt ein Windstoß die Hintertür auf. Ich gehe hin, um sie zu verschließen, schaue für einen Moment hinaus in die Nacht. Eine kalte, stürmische Nacht, der Wind verfängt sich heulend in den kahlen Bäumen. Unwillkürlich erschauere ich. In einer solchen Nacht jagt man keinen Hund vor die Tür, und doch habe ich das Gefühl, als wäre da draußen im Garten jemand. Jemand, der enorme negative Energie und Zorn ausströmt.
„Ist da jemand?“, rufe ich, erhalte aber keine Antwort. Ich sehe nur eine magere schwarze Katze, die über den Gartenweg huscht.
Das muss der Stress sein, denke ich. Stress und Schuldgefühl bringen mich irgendwann noch um den Verstand. Mit einem letzten Blick in den Garten gehe ich wieder hinein und verschließe die Tür.
Das beklemmende Gefühl jedoch bleibt.
„Na, Joe, was denkst du? Gefällt es dir?“ Emily lächelte Joe zu, während sie zusammen ihr Werk – nun, zum Großteil Joes Werk – begutachteten. In den letzten Monaten hatten sie und Adam nach und nach immer mehr Zeit miteinander verbracht, auch, damit Joe sich an sie gewöhnte. Dennoch machte sie sich Sorgen, dass es vielleicht zu schnell ging. Joe blieb ihr ein Rätsel, es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, was der Junge dachte. Livvy war wohl die einzige Person gewesen, die den Jungen intuitiv verstanden hatte. Welche Fehler sie auch gehabt haben mochte, Joe hatte seiner Mum sehr nahegestanden. Auch heute noch fand Adam kleine Notizzettel überall im Haus, die der Junge für seine Mutter geschrieben hatte.
„Joe braucht seine Routine“, sagte Adam immer wieder zu Emily. „Und er kennt dich schon vom Schwimmen. Das hilft sehr. Außerdem mag er dich.“
Es war eine riesige Erleichterung, dass er das sagte. Zu erkennen war es nämlich nicht.
Schon komisch, aber es war Joe gewesen, der sie vor zwei Jahren mit Adam zusammengebracht hatte. Nachdem Emily ihren Mann Graham an eine junge Frau aus der Marketingabteilung seiner Firma verloren hatte, war sie am Boden zerstört gewesen. Ihre Freundin Lucy hatte ihr dringend geraten, umzuziehen, weil sie einen Tapetenwechsel brauche. Also hatte sie den Norden Londons verlassen und war in den Westen gezogen, um dort von vorn anzufangen. Dazu hatte auch das regelmäßige Montagsschwimmen gehört. Joe war ihr gleich am ersten Tag aufgefallen.
Die Bahnen rauf und runter, rauf und runter, unablässig mit den gleichen Bewegungen, wie getrieben von einem inneren Zwang, war er geschwommen. Emily kannte das. In gewisser Hinsicht schwamm sie genauso zwanghaft wie dieser Junge.
Adam bemerkte sie erst später. Nur vage nahm sie den Mann wahr, der neben ihr schwamm. Ab und zu kreuzten sie einander und schwammen dann mit gemurmelten Entschuldigungen weiter. Aus der Entschuldigung wurde irgendwann ein Lächeln, schließlich eine gelegentliche witzige Bemerkung, wie nass das Wasser doch sei und wie viel wärmer es sei, wenn man wieder trocken und angezogen aus dem kühlen Nass heraus war. Und dann eines Tages begegneten sie sich zufällig in einem nahe gelegenen Café, in dem Adam mit Joe saß. Das war jetzt fast genau zwei Jahre her, gegen Mitte Dezember. Emily war ein wenig durch die Fußgängerzone gebummelt und hatte sich die Schaufenster angesehen. Allein. Es hatte ihr ihren Single-Status mal wieder schmerzhaft bewusst gemacht. Sie war zu Lucys alljährlicher Weihnachtsfeier eingeladen und wusste, dass sie eine von den wenigen Gästen sein würde, die ohne Partner dort erschienen. Obwohl sie froh war, Graham los zu sein, wünschte sie sich doch manchmal, sie würde jemanden kennenlernen, mit dem sie ihre Zeit verbringen konnte.
Gleich beim Eintreten in das Café war Adam ihr aufgefallen. Er sah genauso verloren und bedrückt aus, wie sie sich fühlte. Auch wenn sie Joe nicht gleich erkannte, so registrierte sie doch sofort, wie steif der Junge dasaß und akribisch genau sein Besteck zurechtrückte.
„Hi“, grüßte Adam. Das Lächeln, das auf sein Gesicht zog, vertrieb die düstere Trauer aus seinen Zügen innerhalb eines Wimpernschlags.
„Hi“, grüßte Emily argwöhnisch zurück. Wieso sprach ein komplett Fremder sie in einem Café an?
„Ich bin’s, Adam“, fügte er hinzu. „Aus dem Schwimmbad.“
„Oh.“ Endlich konnte Emily den Mann zuordnen. „Es ist immer wärmer, wenn wir aus dem Wasser heraus sind, nicht wahr?“
„Genau“, bestätigte er mit einem entwaffnenden Lächeln, und ein warmes Prickeln überlief Emily.
Außer ihrer Freundin Lucy kannte sie niemanden hier in dem Stadtteil, es war eine nette Abwechslung, auf ein bekanntes Gesicht zu stoßen. Adam war sehr viel attraktiver, als ihr bisher aufgefallen war – blond mit ersten grauen Strähnen an den Schläfen, leuchtend blauen Augen, die richtig strahlten, wenn er lächelte und sich diese Lachfältchen an seinen Augenwinkeln bildeten. Er trug Jeans, war auch sonst lässig angezogen. Seinen durchtrainierten Körper hatte sie ja bereits im Schwimmbad gesehen, aber den Rest hatte sie irgendwie nie registriert. Schon seltsam, dass einem nicht auffiel, wie gut jemand aussah, wenn er praktisch nackt vor einem stand.
„Angezogen habe ich Sie gar nicht erkannt“, sprudelte es aus Emily heraus, und prompt lief sie rot an. Der Mann musste sie ja für eine Idiotin halten. Aber Adam lachte nur und lud sie ein, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.
„Wer bist du?“ Joe sah misstrauisch zu ihr hin.
„Du kennst die Lady doch schon“, sagte Adam zu seinem Sohn. „Aus dem Schwimmbad. Das ist … Ich kenne Ihren Namen gar nicht“, meinte er an sie gewandt.
„Ich heiße Emily.“
„Adam“, stellte er sich noch einmal vor und lächelte wieder dieses hinreißende Lächeln, sodass Emily ganz warm ums Herz wurde.
„Hallo, Emily aus dem Schwimmbad“, sagte Joe und widmete sich wieder seinem Besteck.
„Ich habe dich gesehen, du bist ein guter Schwimmer“, wagte Emily sich vor.
„Ich schwimme hundert Bahnen“, verkündete Joe voller Stolz.
„Das ist toll. Ich schaffe nur sechzig.“
„Ich schwimme hundert Bahnen“, wiederholte Joe. „Jede Woche.“ Dann zog er sich in sich selbst zurück und faltete minutiös seine Serviette.
„Joe hat das Asperger-Syndrom“, raunte Adam Emily zu.
„Oh.“ Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt damit anfangen sollte. Sie kannte niemanden mit Asperger. Aber Joe schien ihr eigentlich sehr süß und lieb zu sein, wenn auch vielleicht ein wenig verschlossen. Also lächelte sie den Jungen herzlich an und hoffte, damit nichts falsch zu machen.
Für eine kleine Ewigkeit saßen sie in dem Café, tranken Kaffee um Kaffee und plauderten angeregt miteinander, als würden sie sich schon jahrelang kennen. Joe warf manchmal eine Bemerkung ein, ansonsten hörte er zu. Es waren schöne zwei Stunden, und Emily spürte die Wärme sich mehr und mehr in ihr ausbreiten, mit jeder Minute, die verging. Da saß sie hier, unterhielt sich mit einem Mann, der wirklich nett und freundlich zu sein schien und zudem auch an ihr interessiert. Und es war beinahe Weihnachten … vielleicht wendete sich ja jetzt alles zum Besseren.
Viel zu früh für Emily zupfte Joe an Adams Ärmel. „Es ist elf Uhr achtundvierzig, Dad“, sagte er. „Wir treffen uns mit Mum um zwölf Uhr dreißig. Lunch ist dann um ein Uhr.“
Oh. Mum. Natürlich, wie dumm von ihr. Adam und Joe immer nur allein zu zweit zu sehen hatte die Hoffnung in Emily aufleben lassen, dass es keine Mum gab.
„Du hast recht“, sagte Adam. „Wir sollten gehen.“ Und das Strahlen in seinen Augen erlosch ein wenig. „Es war wirklich nett, Sie getroffen zu haben, Emily. Wir sehen uns ja bestimmt nächste Woche.“
Die beiden gingen, und Emily fühlte sich mit einem Mal schrecklich verlassen. Sie kehrte ins Land der Singles zurück. Sie hatte eben kein Glück. Da traf sie nach dem Debakel mit Graham endlich einen wirklich netten Mann, und natürlich musste er verheiratet sein. Das waren sie ja alle. Nach dem, was sie selbst mit Graham erlebt hatte, würde sie ganz bestimmt keine Ehe zerstören.
Doch letztendlich hatte sie genau das getan. Sie hatte nie die Absicht gehabt, Adam zu verführen, genauso wenig wie er geplant hatte, etwas mit ihr anzufangen. Es war ein langsamer Prozess gewesen, war Schritt für Schritt vorangegangen. Unterhaltungen im Umkleidebereich, hin und wieder ein Drink nach dem Schwimmen … bis Emily mehr oder weniger eines Abends vor ihrer Haustür über ihn stolperte, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Er war völlig aufgelöst und in Panik. Joe war verschwunden, und Adam hatte nicht die geringste Ahnung, wo der Junge sein könnte. Automatisch bot Emily an, ihm bei der Suche zu helfen. Sie fanden ihn schließlich bei einem Schulfreund zu Hause, wo er sich auf einem Stuhl unablässig vor- und zurückwiegte und vor sich hin murmelte: „Mum wollte nicht mit mir reden.“ Damals erhielt Emily einen ersten Einblick in die Hölle, die Adam und Livvy durchmachten.
„Es ist genauso meine Schuld“, erklärte Adam ihr später. „Ich wollte sie ja unterstützen, aber sie kam so gut mit Joe zurecht, als er noch klein war. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich gar nicht brauchte. Joe kam bei ihr immer an erster Stelle, was ja normal ist, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nichts weiter wollte als den Jungen. Irgendwann haben wir einfach aufgehört, miteinander zu reden. Ich glaube, mir war nie wirklich klar, was es ihr abverlangt hat, sich um den Jungen zu kümmern.“
Nicht lange danach kam es zum ersten Kuss zwischen den beiden, und von da an entwickelte sich Emilys Beziehung zu Adam immer weiter und ging immer tiefer … bis sie beide so tief drinsteckten, dass es unmöglich war, wieder herauszukommen, ohne jemanden zu verletzen. Das hatten sie beide nie gewollt.
Dann war Livvy vor einem Jahr gestorben … und alles hatte sich schlagartig geändert. Adam stand unter Schock, und Emily hatte ihm nicht beistehen können. Als hilfloser Beobachter war sie außen vor geblieben und hatte sich mit der Frage gequält, ob sie ihn je wiedersehen würde oder ob das das endgültige Ende sein würde. Ob die Beziehung, die sie so wahnsinnig glücklich machte, mit Livvys Tod ebenfalls sterben würde.
Aber dann, einige Wochen nach Weihnachten, hatte Adam angerufen.
„Es tut mir leid, aber ich werde langsam verrückt. Ich muss mit jemandem reden. Und du bist die Einzige, die mich versteht.“
Emily blieb zuerst vorsichtig. Sie war sich nicht sicher, ob Adam überhaupt wusste, was er wollte. Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob die Liebe, die sie für ihn empfand, auf Gegenseitigkeit beruhte. Ganz bewusst hatte sie das Schwimmen am Montagabend aufgegeben, ihn zu sehen wäre einfach zu schmerzhaft gewesen. Als sie jedoch eines stürmischen Februartages einen Spaziergang am Fluss entlang machte, stand Adam plötzlich vor ihr. All der Frust und die Zweifel der letzten Monate verpufften, lösten sich in Luft auf, und bevor sie es überhaupt realisierten, lagen sie sich in den Armen.