Ein ganzes Ja - Luisa Sturm - E-Book

Ein ganzes Ja E-Book

Luisa Sturm

0,0

Beschreibung

Sie ist das Wunderbarste auf der Welt und einfach unvergesslich. Die erste große Liebe – auch für Becca. Sie und Erik waren nicht nur Nachbarskinder, sondern bereits als Teenager völlig verrückt nacheinander. Doch Eriks Traum vom Fliegen wirbelte alles durcheinander. Jahre später steht Erik wieder vor Beccas Tür. Missverständnisse hatten zu tiefen Verletzungen geführt. Hatte Becca richtig entschieden, seinen Antrag abzulehnen? Sie träumte von einer Liebe ohne festen Fahrplan und ohne Eifersucht. Aber kann es eine große Liebe mit Freiheit überhaupt geben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 561

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Besuchen Sie mich im Internet:

www.facebook.com/pages/Luisa-Sturm-Autorin/708594692487686

Deutsche Erstausgabe 2014

© Copyright 2014 für die deutschsprachige Ausgabe:

Luisa Sturm

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung bedarf der ausschließlichen

Zustimmung der Autorin.

Das gilt insbesondere der Vervielfältigung,

Verwertung, Übersetzung und die

Einspeicherung und Verarbeitung in

elektronischen Systemen.

© Dezemberkindverlag 2014

Inhaber: Manfred Ziegler, Hiltenfingen

Umschlaggestaltung: Stephanie Hampp, Schwabmünchen

Umschlagabbildung: © Stephanie Hampp, Schwabmünchen

Lektorat: Pia Euteneuer

Prolog

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

ZWEITER TEIL

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

DRITTEL TEIL

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagungen

Über die Autorin

Leseprobe: „Mondscheinmund“

Für meinen Mann

Liebe meines Lebens

„Liebe darf nicht nur geben und schenken.

Liebe muss tausend Mal verzeihen.“

(Zitat: Gertrud Maassen)

Prolog

In der Brusttasche seines Fliegerkombis ist ein Bild seiner Kinder.

„Cleared for line up.”

„Es wird heute ziemlich herausfordernd werden.“

„Ja, was für ein Wetter! Jetzt geht’s los.“

Verdammt! Alles ist weiß um ihn herum! Er sieht nur weiß. Rechts. Links. Über ihm. Unter ihm: Alles weiß! Das gibt’s doch nicht. Was ist das für ein Scheißwetter! Er muss sich konzentrieren. Höllisch aufpassen! Jetzt nur keinen Fehler machen. Auf gar keinen Fall. Nicht hier! Das geht alles so schnell. Er ist so wahnsinnig schnell. Dieser verfluchte Nebel! Die totale Suppe da draußen. Weiße Schwaden ziehen an ihm vorbei. So etwas hat er noch nie erlebt. Völlig verrückt.

Gleich ist er aus dem Nebel draußen. Gleich hat er es geschafft. Endlich! Der Nebel wird durchsichtiger, lichter. Er kann wieder Umrisse erkennen. Wo ist der andere Jet? Der war doch gerade noch da! Oh nein, Scheiße! Nein!

„Lost wing man!“

Wie konnte das passieren? Nicht! Um Gottes Willen! Er zieht am Steuerknüppel. Zu spät! Überall Bäume, so viele Bäume …

Er ist zu schnell, viel zu schnell, was soll er jetzt noch tun …

„Oh shit!“

„Pull up!“

ERSTER TEIL

1989 – 1996

Ich spanne meine Flügel aus

Und fliege.

So glücklich bin ich

Hier zu sein.

An keinem anderen Ort

Möcht ich weilen

Als mit Dir, bei Dir

Ganz allein.

Kapitel 1

September 1989

Gott sei Dank, es ist vorbei! Diana und ich kommen gerade vom Kirchgottesdienst, der wie immer stinklangweilig war. In der Kirche habe ich natürlich nicht dem dürren Pfarrer zugehört, sondern bin abgeschweift, habe mir die Bilder von den Heiligen angeschaut oder bin den zackigen Rissen im Putz bis zum bunten Kirchenfenster hinunter gefolgt. Heute war es wieder besonders öde!

Wir werfen lange, lustige Schatten auf den Gehsteig. „Wer ist das?“, frage ich fasziniert und deute vorsichtig mit dem Zeigefinger zur Hofeinfahrt. Dort steht ein großer Junge mit braunen Haaren und wirft immer wieder ein kleines Baby in die Luft. Das Baby jauchzt und gluckst. Die Sonne brennt heiß herunter.

Aber eines habe ich beim Figurenangucken und Herumträumen mitbekommen: Der Pfarrer hat von irgendeinem Korintherbrief gesprochen und von der Liebe.

Diana ist das einzige Mädchen, das ich bisher vom Dorf kenne, weil sie nur zwei Straßen weiter wohnt. Sie lacht fröhlich und antwortet: „Das ist Paul. Paul Blumfeld.“ Es scheint, als fände sie ihn ziemlich cool, zumindest kann sie ihren Blick nicht von ihm abwenden.

„Und er ist schon Vater? Wie alt ist er denn?“, frage ich und blicke verwirrt auf das glückliche Baby, das er jetzt nicht mehr in die Luft wirft, sondern ihm seine übergroße Sonnenbrille aufsetzt.

„Paul? Siebzehn, glaube ich. Und das Baby ist sein Bruder. Seine Eltern haben ganz spät noch ein Kind bekommen. Er hat, glaube ich, noch zwei ältere Brüder.“

Ich bleibe kurz stehen und sehe Paul an. Dann schieben wir unsere Fahrräder weiter, viel zu langsam, eigentlich.

_______________________________

„Becca, hast du alles? Du musst los, sonst kommst du gleich am ersten Schultag zu spät.“

Ich schwinge meine Schultasche über die Schulter. Gefrühstückt habe ich nicht, dafür bin ich viel zu aufgeregt. Die letzten vier Jahre bin ich auf das Mariengymnasium gegangen, eine schicke Privatschule nur für Mädchen im Herzen Augsburgs. Für Mädchen, deren Eltern Geld haben. Meine Eltern sind nicht reich, aber das Schulgeld kriegen sie zusammen. Sparen steht bei uns ganz oben auf der Liste, vor allem bei Papa. Wenn er 5 kg Zucchini für 1,50 DM kaufen kann, läuft er uns freudestrahlend entgegen, als wäre er ein tapferer Ritter und hätte völlig allein in einer sauerstoffarmen Erdspalte den heiligen Gral entdeckt! Dass wir dann wochenlang dieses grüne Gemüse essen müssen, bis es uns in Lebensgröße wieder aus den Ohren herauswächst, kommentiert er nur mit einem gleichgültigen Achselzucken.

Meine alte Schule! Wie gern ich dort war. Doch durch den Umzug aufs Land muss ich nun auf dieses doofe Landgymnasium wechseln. In der Kleinstadt Schwabmünchen statt in Augsburg. Total ätzend! Gleich werde ich wie ein Forschungsinsekt vor eine neue, fremde Klasse gestellt: Seht her, das ist eure neue Klassenkameradin Rebecca Santini. Heißt sie willkommen und zeigt ihr alles. Was für ein Graus! So begafft zu werden von allen. Und all die Freundinnen, die ich jetzt nicht mehr sehen kann. Ich vermisse Simona und Martine jetzt schon.

Augsburg! Ah, das war der Klang des Kopfsteinpflasters, des Läuten von Sankt Ulrich, das Glockenspiel auf dem Rathausplatz, der Spaziergang an der alten Stadtmauer entlang, die große Jakob Fugger Statue in der Philippine-Welser-Straße, die erhabene Maximilianstraße, die geschäftige Annapassage, das staubige Plärrergelände, der quirlige Königsplatz, das majestätische Stadttheater und natürlich der mächtige Dom.

Verdammt noch mal, wieso hat mich keiner gefragt, ob ich in einem Kuhkaff namens Hilberg mitten in der hintersten Pampa wohnen möchte?! Was kann mich hier erwarten außer dem Anblick von ungeteerten, holprigen Feldwegen und dem penetranten Gestank von Kuhmist auf den Feldern? Was für ein Abstieg! Widerwillig schlüpfe ich in meine schwarzen Schuhe mit dem kleinen Absatz.

„Becca, jetzt musst du wirklich gehen, der Bus wartet nicht auf dich.“

Ich nehme den Wangenkuss meiner Mama niedergeschlagen hin und gehe klopfenden Herzens zur Bushaltestelle. In einem nichtssagenden Niemandsdorf am Arsch der Welt!

_______________________________

„Ist dieser Platz frei?“

Ein molliger, mittelgroßer Junge mit roten Backen verzieht auffällig das Gesicht, als er mich sieht. „Noi, derr isch `bsetzt!“

Bitte, was? Können die hier nicht normal sprechen? Du liebe Güte, das wird ja lustig werden! Ein paar andere Schüler lachen gemein und sehen verstohlen in meine Richtung. Also gehe ich ein paar Reihen weiter. „Ist dieser Platz frei?“, frage ich nun leise, aber immer noch höflich. Es sind Mädchen in meinem Alter, das wird schon gut gehen.

„Für dich nicht!“ Ah, zumindest sprechen diese hier normal und ich habe sie verstanden.

Der Bus setzt sich in Bewegung. Ich frage weiter, aber keiner will mir einen Sitzplatz anbieten. Mir ist ganz komisch und meine Beine fühlen sich zittrig an. Obwohl überall freie Plätze sind, will mich keiner dieser Idioten vom Land hinsetzen lassen. Sehr freundlich! Danke auch! An meiner alten Schule war ich bekannt und beliebt. Ein Star der Schulmannschaft Schwimmen. Wir haben alle Pokale der letzten Meisterschaften gewonnen. Zeitungsartikel der Augsburger Allgemeine wurden in der Aula ausgestellt. Ich vorne mit drauf. In den Durchsagen vor der Pause wurde mein Name genannt.

Ich stehe immer noch im Gang des Busses wie ein Stück Holz ohne Halterung. Der Bus fährt in eine Kurve und ich stolpere. Fast der gesamte Bus wiegt sich vor Lachen. Mein Herz krampft sich zusammen. Bis nach Schwabmünchen sind es nur zehn Minuten, das schaffe ich schon. Ich rappele mich wieder auf. Keine Tränen, niemand bringt mich zum Weinen, auch keine bescheuerten fremden Dorfkinder im hintersten Niemandsland.

„Möchtest du neben mir sitzen?“ Ein hoch aufgeschossener Junge sieht zu mir auf. Er hat ein sympathisches Gesicht, einen dunklen Teint und Locken, die in alle Himmelsrichtungen entfliehen wollen. Er sieht lustig aus, so lockig und schlaksig.

Erleichtert und dankbar setze ich mich. Forsch strecke ich ihm meine rechte Hand hin. „Ich heiße Rebecca, aber alle nennen mich nur Becca, und du?“

Er sieht verwundert aus, ich weiß nicht, ob wegen meiner förmlichen Begrüßung oder wegen der Spitznamenserklärung, und gibt mir zögernd die Hand. „Ich heiße Manuel. Ich habe schon von dir gehört. Du bist die Neue hier. Du gehst auch in die 9. Klasse, stimmt’s?“ Seine lederne Schultasche ist über und über mit Zeichnungen und Sprüchen versehen, die meisten davon definitiv nicht jugendfrei. Die Worte ‚fuck off’ und ‚real bitch’ sind in schwarzen Großbuchstaben geschrieben. Für ‚eat my ass’ hat er einen dicken, roten Edding verwendet.

„Äh, ja, das stimmt.“

„Echt nur Becca?“

„Ja, bitte. Wenn jemand Rebecca zu mir sagt, denke ich immer die Person hinter mir ist gemeint.“

„Na gut, ungewöhnlich“, sagt er und schmunzelt. „Das hier ist Paul. Mein bester Freund“, fährt er fort und deutet mit seinem Daumen auf den gegenüberliegenden Platz. Paul lächelt in meine Richtung und hebt spöttisch eine Augenbraue. Ah, der Junge mit dem kleinen Bruder. Er ist groß und sportlich, mit braunen Haaren und tiefblauen Augen. Wir sehen uns lange an und Pauls Blick irritiert mich, aber er sagt keinen Ton.

Manuel mustert mich neugierig. „Ich zeige dir, wo das Sekretariat ist. Wenn wir da sind, natürlich. In fünf Minuten oder so.“

„Danke“, murmele ich. Das flaue Gefühl in meinem Magen hat sich noch nicht verabschiedet. Dann werfe ich Paul einen letzten Blick zu. Er schaut zurück, mit einem schiefen Grinsen und ohne ein Wort.

Ich sehe aus dem Busfenster und die vorbeiziehenden Felder verschwimmen vor meinen Augen, werden zu bunten Farbklecksen, lösen sich auf und mischen sich mit meinen Gedanken. Was wird in den nächsten Stunden, Tagen, Wochen auf mich zukommen? Eine innere Böe erfasst mich und ich sinke tiefer in den Sitz. Eines ist klar. Alles wird völlig anders werden …

„Becca, wir sind da! Komm, ich zeige dir jetzt, wo das Sekretariat ist“, sagt Manu. Paul berührt mich leicht von hinten, schiebt mich sanft aus dem Bus und die anderen Schüler tuscheln angeregt hinter unseren Rücken. Wieder durchzieht ein schmerzender Stich meinen Bauch. Mit einem Blick bringt Paul die tuschelnden Dorfkinder zum Verstummen. Wow, wie hat er das so schnell gemacht?

Eine schreckliche, nicht enden wollende Busfahrt, ein Gespräch mit dem Sekretariat und eine absolut fremde Klasse, vor die ich mich gleich stellen muss. Mir ist total übel!

_______________________________

„Und hast du Erik Sonnberg, unseren Schulschwarm aus der 11B, schon kennengelernt?“, fragt mich Bille, meine neue beste Banknachbarin, seit genau drei Tagen, die eigentlich Sybille heißt. Bille sieht mich von der Seite an. Wir stehen vor dem Spiegel auf dem Schulklo. Die große Pause ist gleich zu Ende.

„Ja.“

Vor zwei Tagen sollte ich bei unserem Nachbarn klingeln und eine Bohrmaschine ausleihen. Obwohl ich mich mehrfach gewehrt habe, kannte mein Papa keine Gnade. Dabei sagt man doch von Italienern, sie seien besonders warmherzig. „Du gehst da rüber und fragst einfach. Ich brauche jetzt eine. Per favore!“ Ich hasse solche Aufträge! Bei fremden Menschen klingeln und dann irgendwas ausleihen müssen. Ätzend! Schlimmer als bei der Matheabfrage vorne an der Tafel rechnen zu müssen!

Langsam drückte ich die Klingel, die mit „Sonnberg“ beschriftet war. Keine Reaktion, niemand kam. Ich wollte schon gehen, da drückte ich aus einem unerwarteten Impuls noch einmal. Ein Junge, nur in Jeans und ohne Oberteil, riss die Haustür in einem Ruck auf, sah mich verwirrt an. Er war leicht gebräunt, muskulös.

„Ja, was ist?“ Er klang gestresst, wenig einladend.

„Ich … äh … wollte … äh …“

Er sah mich fragend an, wartete auf einen zusammenhängenden deutschen Satz und runzelte die Stirn.

„Ich … äh … also … mein Vater …“

„Ist irgendetwas mit dir? Geht’s dir schlecht?“, fragte er genervt.

„Nein! Nein, ich wollte … mein Vater wollte fragen, ob er, also … ich uns eine Bohrmaschine ausleihen könnte? Er hatte das mit deinem Vater so ausgemacht.“

Der Junge ging ohne ein weiteres Wort wieder hinein. Stimmengewirr war zu hören. Ich tippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Dann hörte ich wieder Schritte.

„Die hier? Papa hat sie mir gerade gegeben. Noch was?“

Er sah wirklich gut aus. Braune Augen, stufig geschnittene, dunkelbraune Haare, breite, sportliche Schultern, eine große, gerade Nase mit einer kleinen, waagrechten Narbe darauf.

„Ist noch was?“ Die Stirn in Falten legend sah er mich an und wartete ungeduldig.

Ach, warum war ich so verdammt uncool! Das war doch nur eine blöde Bohrmaschine.

„Äh, nein, danke fürs Ausleihen. Also dann …“ Ich drehte mich um, spürte, wie mir literweise heißes Blut in meine Wangen schoss, und ich wollte einfach nur so schnell wie möglich wegrennen. Aber ich zwang mich normal zu gehen. Ich hörte noch, wie er ‚Ciao dann‘ sagte und ‚bis bald’, doch ich drehte mich nicht mehr um. Und das ist also Erik Sonnberg!

Bille zupft schmunzelnd ihre Levis-Jeans an ihrem Po zurecht. „Er ist echt süß. Tolle braune Augen. War er nicht dieses Jahr Jugendmeister im Tennis?“ Bille trägt noch einmal blauen Lidschatten auf ihre Augen auf.

„Ja, habe ich gehört“, murmele ich. „Es gongt gleich. Wir müssen los. Mach mal fertig. Hast du die Vokabeln gelernt? Meier wollte abfragen.“ Ich sehe mich noch einmal kurz im Schulklospiegel an, der an zwei Stellen schon dunkelbraune Flecken hat.

„Ach, der Meier. Das Schuljahr hat gerade erst begonnen und schon quetscht er uns nach Vokabeln aus!“

„Tja, so sind sie, die Lehrer. Die sind wirklich fies!“, stelle ich fest.

Bille zieht kurz eine Schnute vor dem Spiegel und betrachtet ihre blauen Lider. „Du hast so ein Glück. Erik wohnt direkt gegenüber von dir. Wir sind alle neidisch auf dich.“

Ich fühle ein leichtes, unbekanntes Kribbeln im Bauch, wenn ich an die Sache mit der Bohrmaschine denke. „Am schönsten sieht er aus, wenn er lacht.“ Ich habe ihn heimlich an der Haltestelle beobachtet, als er mit Kumpels über Fußball gesprochen hat, mich dann aber blitzartig weggedreht, als er zu mir herübersah.

Bille seufzt. „Ja, das stimmt. Er hat ein sympathisches und ansteckendes Lachen. Wenn er in einen Raum kommt, geht die Sonne auf. Und er ist wahnsinnig hilfsbereit.“

„Echt?“, frage ich neugierig. Oh Himmel, ich muss unbedingt mehr über ihn erfahren!

„Ja. Er hat bei dem Umzug seines Freundes Magnus geholfen und stundenlang Kisten geschleppt. Als die Eltern ihm etwas Geld geben wollten, hat er nur lachend abgelehnt.“

„Das würde nicht jeder machen“, sage ich anerkennend und ertappe mich dabei, dass ich seine Hilfsbereitschaft wundervoll finde.

„Magnus und Erik verbringen viel Zeit miteinander.“

„Ja, sie hängen oft zusammen ab.“

„Bist du in Magnus verknallt?“, frage ich sie direkt.

„Ich? Was? Nein!“ Ihre Antwort kommt prompt und etwas zu schnell. „OK, na ja. Ein bisschen vielleicht. Mal sehen, was sich ergibt.“ Bille sieht mich an. „Was ich dir übrigens längst sagen wollte. Du hast tolle lange, blonde Haare. So dick und glatt. Eine Million Mark würde ich dafür zahlen.“ Bille’ s Haare sind schulterlang und knallrot getönt.

Und ich würde eine Million Mark zahlen, wenn Erik mich toll finden würde, denke ich. „Danke, das ist nett von dir.” Aber dafür bin ich klein wie ein Schlumpf. Nur 1,64 Meter, obwohl ich mir bei jeder Sternschnuppe heimlich wünsche ,Lieber Gott, lass mich wachsen und mindestens 1,75 Meter groß werden, dann bete ich auch jeden Tag ein ‚Vater Unser’ oder zwei.’ Glaube nicht, dass das was bringt, Mama ist nur 1,57 m. Auch ein Bonsai. Vielleicht sollte ich noch ein paar ,Ave Marias’ drauflegen? „Komm, wir müssen jetzt wirklich los!“

Bille stellt sich andächtig ins Profil und begutachtet ihre Oberweite. Neidvoll muss ich mir eingestehen, dass es mindestens eine 80 C ist. Geknickt schaue ich an mir herunter und schätze meine Größe auf 75 Doppel A. Gibt es spezielle Lebensmittel gegen verzögertes Brustwachstum? Nein, ich glaube nicht. Dabei haben alle Frauen unserer Familie einen tollen Busen. Sollte ich zusätzlich ein paar ‚Busen-Vater-Unser’ sprechen? Natürlich teilt Mama meine ‚Oberweitensorge’ überhaupt nicht, sondern meinte nur, ich müsste einfach etwas Geduld haben.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hat mir der liebe Gott auch noch Sommersprossen verpasst, alle auf der Nase und den Wangen. Ein Fünkchen Sonnenschein und schon sind sie da. Das Leben ist nicht gerecht.

Wir blicken beide in den Spiegel. „Dein Mund ist klasse“, sagt Bille und trägt andächtig rosafarbenen Labello auf.

„Was? Echt? Du findest meine Unterlippe nicht zu groß?“

„Bist du verrückt? Deine Lippen sind toll!“

Nein, sind sie nicht, denke ich. „Na, wenn du meinst. Hörst du, jetzt gongt es. Lass uns endlich losgehen. Ich habe keine Lust, beim Meier zu spät zu kommen. Der nimmt die Gelegenheit beim Schopf und fragt uns aus.“

Bille zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Na gut, also los. Aber wen interessiert der gallische Krieg von Caesar? Sind doch alle schon mausetot. Ach, und Becca …?“

„Ja?“

„Schlag dir den Erik Sonnberg aus dem Kopf.“

„Was meinst du?“

„Erik ist wirklich toll, aber keines der Mädchen konnte ihn auf Dauer halten. Er ist ein Sunnyboy und ich glaube, er hat Beziehungen bisher nie ernst genommen. Er meint es noch nicht mal böse, er ist einfach so. Und weißt du was? Die Mädchen tragen ihm trotzdem nie etwas nach. Selbst wenn er Schluss gemacht hat, bleiben sie Freunde.“

_______________________________

„Becca, es hat geklingelt. Machst du bitte auf?“, ruft Mama aus dem Wohnzimmer. Ihre Stimme hat einen dringlichen, selbstbewussten Unterton. Seit wir in diesem neuen großen Haus mit Garten wohnen, ist sie fröhlicher geworden und pflanzt zehn Blumen pro Quadratzentimeter Grün. „Becca, hörst du?“

Nein, ich will nicht! Ich liege gerade quer auf meinem Bett und habe die Beine an der Wand hoch gestreckt, weil es wahnsinnig bequem und ultracool ist und weil meine Eltern es hassen, natürlich. Ich höre Madonnas neue Kassette „Like a prayer“ und stelle mir vor, wie mutig es wäre, vor einem übergroßen Spiegel verrückt dazu zu tanzen.

Ich muss meine Gedanken sammeln. So viele neue Eindrücke in den letzten Tagen! Die neue Schule ist riesig im Vergleich zum kleinen Mädchengymnasium in Augsburg. Es gibt allein 12 Haltestellen für die Schulbusse, voll beladen mit Schülern aus den tiefsten Tiefen des schwäbischen Urwaldes, den man hier Stauden nennt, die ihre menschliche Fracht direkt vor dem riesigen quadratischen 70er-Jahre-Betonklotzbau wieder ausspucken. Als ich in die Klasse 9c kam, flankiert mit dem Konrektor an meiner Seite, als wäre er mein Bodyguard oder meine richterliche Begleitperson, starrten mich alle Schüler mit großen Augen neugierig an und ich wusste sofort: ,Jetzt bist du die Neue, die anders aussieht, die einen anderen Namen hat und anders spricht.’ In der zweiten Reihe war noch ein Platz frei, neben einem Mädchen mit katzenhaften, grünen Augen und knallroten Haaren. Sie hat mein panisches Gesicht gesehen, mir aufmunternd zugezwinkert und ich wusste binnen Sekunden, dass wir gute Freundinnen werden.

„Becca! Gehst du?“, ruft Mama jetzt lauter. „Es hat schon wieder geklingelt!“

Nein, ich will immer noch nicht!

„Ist es denn so schlimm hier?“, fragt sie vorsichtig, als sie ihren roten Lockenkopf in meine Tür steckt.

„Mama, die sagen hier ‚Hascht du Zeit?’ oder ‚Woisch, des ged ned’!“

Mama versucht für ein paar Sekunden ihre Belustigung zu unterdrücken, aber dann prustet sie los und hört gar nicht mehr auf zu lachen.

„Mama! Echt! Sie sagen auch Sachen wie ‚Da dinna kansch dei Zoig schtau lau’! Wer bitte soll das verstehen?“

Sie muss sich kichernd die Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Jetzt klingelt es schon wieder! „Magsch du vielleicht die Tür öffnen?“, säuselt sie und zwinkert theatralisch.

Hahaha, sehr witzig! Aber na gut, was soll’s. Becca, der Türöffnungsdiener, klar, nur weil sie keinen Bock hat hin zugehen. Ich schwinge mich hoch, schlurfe genervt zur Tür, setze mein Spaßgesicht auf und öffne. Oh nein! Nicht jetzt! Verdammt! Meine Haare sind ein einziges Chaos. Scheiße, warum habe ich diese kindische lila Jogginghose an?

„Hallo Rebecca.“

In meinem Magen wirbelt ein Schwarm Schmetterlinge auf. „Hallo, Erik.“ Er lehnt lässig an unserer Hauswand, als wohne er hier und die Wand gehöre selbstverständlich ihm. Er lächelt mich an. Mein Herz macht einen viel zu großen Sprung. Nervös spiele ich an meinen Haaren herum.

„Ich wollte … äh … fragen, ob ihr die Bohrmaschine noch braucht. Sonst nehme ich sie wieder mit.“ Erik spricht ganz normal, ohne die ‚schs’ am Wortende. Und seine Augen haben faszinierende Sprenkel in der Iris.

Ich versuche normal zu atmen und rufe in den Gang: „Mama, haben wir die Bohrmaschine von den Sonnbergs noch?“

„Hat Papa schon zurückgebracht“, ruft Mama aus dem Haus. Unbeholfen zucke ich mit den Schultern. Schade, dass er nur wegen dieser blöden Bohrmaschine hier ist. Billes Worte fallen mir wieder ein: „Erik ist wirklich toll, aber keines der Mädchen konnte ihn auf Dauer halten. Er ist ein Sunnyboy und ich glaube, er hat Beziehungen bisher nie ernst genommen.“

„Diese Karte hier ist für deine Eltern.”

„Oh, dankeschön.” Um Himmels Willen, ist das eine Einladung?

Eine Weile stehen wir schweigend da. Ein schwacher Lufthauch weht vorbei, ein paar Birkenblätter tänzeln im Wind und ich spüre die kühle Brise auf meinen Armen. Endlich durchbricht Erik die Stille und sagt: „Ja, dann.“

Mir fällt überhaupt nichts Intelligentes oder Cooles ein und so sage auch ich: „Ja, dann.“ Als die Haustür wieder zu ist, lehne ich mich mit dem Rücken dagegen und rutsche langsam auf den Boden. Hilfe, was ist nur mit mir los? Ich muss krank sein. Mir ist ganz komisch. Mein Magen, mein Herz, meine Beine …

_______________________________

Eine Einladung zum Essen bei den Sonnbergs hat mir gerade noch gefehlt!

Eriks Mutter öffnet uns freudestrahlend die Tür. Sie hat braune, schulterlange Haare, ist nicht besonders groß, sonnengebräunt und hat warmherzige Augen. Mama überreicht Eriks Mutter einen kleinen Blumenstrauß. Ganz wild gemixt, alle Farben, typisch Mama eben. Unsere alten Fotoalben aus den 70ern verraten, dass sie ein wilder, langhaariger Blumenhippie war. „Schön, dass ihr kommt, Ingrid. Und danke für die hübschen Blumen! Dort drüben könnt ihr eure Jacken aufhängen.“ Eriks Vater nimmt sie uns freundlich ab, bevor wir selbst tätig werden können.

„Hallo, ich bin Isabella“, sagt eine große, junge Frau Anfang zwanzig mit langen dunklen Locken, „und Eriks Schwester.“ Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Ihre Augen sind stark dunkelbraun geschminkt, was super aussieht, ich mich aber niemals trauen würde.

„Und das ist also eure Rebecca“, fragt Conrad, Eriks Vater, und lächelt mich aufmunternd an.

Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben. Mir ist unwohl und ich lächle gequält zurück. Ausgerechnet die Sonnbergs und meine Eltern, neue beste Freunde!

„Sí, das ist Becca“, antwortet Papa grinsend.

„Na, da musst du aber mächtig stolz sein, Giovanni. Sie ist ein schönes Mädchen“, erwidert Conrad, der meinen Vater einen halben Kopf überragt. Mir fällt sofort auf, dass Erik seinem Vater sehr ähnlich sieht. Groß, dunkelhaarig, markante Nase und sympathisches Gesicht. Aber er hat auch etwas von den Gesichtszügen seiner Mutter, die Augen vielleicht.

Papa hebt stolz mein Kinn an. „Si, meine Becca … ist hübsch.“

Sind die alle blind? Es gibt mindestens 15 Mädchen in meiner Klasse, die viel, viel hübscher sind als ich! Was würde ich dafür geben, wenn meine Nase kleiner wäre. So wie die von Kristin, klein und niedlich. Meine Nase ist groß und aristokratisch, wie Mama meint. Und meine Wimpern sind hellblond. Ohne Mascara würde man überhaupt nicht sehen, dass ich welche habe! Es ist echt gemein! Da hat man einen rassigen, italienischen Vollblutnamen und sieht aus wie eine unscheinbare, normannische Schwedin. Immerhin, ich liebe die Farbe meiner Haare. In der Sonne glänzen sie golden.

„Die Jungs werden hinter ihr her sein“, bemerkt Conrad mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.

„Becca interessiert sich überhaupt nicht für Jungs, sondern nur für die Schule und ihren Sport. Sie ist ein Schatz, mein Schatz“, antwortet Papa trocken. Oh Mann, Papa hör auf damit! Am liebsten möchte ich vor Scham im Boden versinken. Gott, wo ist die spontane Erdspaltenöffnung, die mich verschlingt? Genau jetzt wäre der passende Augenblick!

In diesem Moment taucht Erik auf. In hellblauen Jeans und buntem T-Shirt mit Iron Maiden Aufdruck.

„Ich glaube, unsere Tochter hat einen Verehrer“, fügt meine Mama plötzlich an, „dauernd ruft ein Robert bei uns an.“ Die Augen meines Papas verengen sich zu kleinen Schlitzen und sein Gesichtsausdruck verwandelt sich von freundlich rosa zu grimmig weiß. Hilfe, können wir nicht endlich über etwas Anderes als mich sprechen? Erik sieht mir in die Augen, aber er lächelt nicht.

„Robert ist unser Klassensprecher“, verteidige ich mich und winke ab. Sichtlich erleichtert und in seiner Meinung bestätigt, nickt Papa mir zu. Eriks Augen bleiben ausdruckslos.

„Erik, das Essen ist noch nicht fertig. Möchtest du Rebecca nicht dein Zimmer zeigen?“, fragt Maria, Eriks Mama.

„Klar“, sagt er ruhig und ich folge ihm.

Nur nicht nervös werden. Er ist nur irgendein Nachbarsjunge, beruhige ich mich. Oben angekommen schließt er die Tür und legt eine CD ein. Er hat natürlich CDs, diese kleinen, neuen Musikscheiben. Über 30 Mark kosten die! Ich besitze noch keine einzige! Die Musik läuft an und spielt „Nothing Else Matters“ von Metallica. Alle sind gerade verrückt nach diesem Lied. Es kommt andauernd im Radio und auch ich mag es sehr. Wir gehen auf den Balkon, aber die Musik ist noch gut zu hören. Die Nachtluft ist angenehm warm und es riecht nach frisch gemähtem Gras. Ich liebe diesen Duft. Wir vermeiden es uns anzusehen und schauen einfach nur auf die Maisfelder vor uns.

„Robert …“, beginnt er.

„Ist nur der Klassensprecher“, falle ich ihm ins Wort. Warum tue ich das? Was geht ihn das schon an? Ich kann reden, mit wem ich will, oder nicht?

„Du magst ihn?“ Jetzt dreht er sich zu mir um. Himmel, er ist einen ganzen Kopf größer als ich. Seine warmen, braunen Augen sehen mich lange an. Seine Wimpern sind dicht. Woher er wohl die kleine Narbe auf der Nase hat? Ich fühle mich seltsamerweise geborgen in seiner Gegenwart, aber mein Herz schlägt zu schnell, ich muss schlucken und mein Mund fühlt sich plötzlich so trocken an, als hätte ich eine Schaufel Sand verschluckt, den grobkörnigen.

„Er ist nett.“

„Aha.“ Er blickt mich eindringlich an. Ich habe das Gefühl, meine Antwort gefällt ihm nicht. Dann sagen wir erst einmal nichts mehr und das ‚neue Gefühl in mir’ wird so groß, dass ich am liebsten auf der Stelle gehen möchte. Gleichzeitig möchte ich aber bleiben. Was ist nur los? Viele Augenblicke stehen wir schweigend da. „Deine Eltern sind nett“, meint er irgendwann.

„Deine auch“, sage ich kurz. „Deine Schwester macht gerade eine Ausbildung?“

„Ja, im Oberjoch. Zur Hotelkauffrau.“

„Ihr versteht euch gut?“

„Ja? Wieso?“

„Ist ein Bauchgefühl. Ich meine die Art und Weise, wie ihr euch vorhin angesehen habt.“

Erik nickt in meine Richtung und ein warmes Strahlen geht von ihm aus. „Wo kommen deine Eltern her?“, fragt er und lehnt lässig mit dem Rücken am Balkongeländer. Ich glaube, er ist mir ein bisschen näher gekommen. Oder bilde ich mir das nur ein?

„Mama kommt aus Augsburg und Papa kommt aus einem kleinen Bergdorf aus Sizilien.“

„Dein Papa hat einen lustigen italienischen Akzent. Er sagt ‚die Auto’ und ‚Aus statt Haus’.“

Ich muss lachen. „Das höre ich schon gar nicht mehr! Papa sagt auch ‚die Mond’ und ‚Ich habe fertig’. Er hat schon immer so gesprochen. Na ja, deutsche Sprache, schwere Sprache.“

Erik lacht schallend auf. „Ja, das sagt mein Deutschlehrer auch immer.“ Sein Lachen ist einzigartig schräg und irgendwie ansteckend. Ein Lachen, das man sofort aus dreißig Menschen heraushört, schießt es mir in den Sinn. Mit ihm gemeinsam zu lachen, fühlt sich großartig an.

Ich drehe mich nun auch mit dem Rücken zum Balkongeländer, streife dabei aber einen leeren Blumentopf, der prompt mit einem lauten Scheppern umfällt und zu Bruch geht. Oh nein, wie peinlich! Ich bücke mich, um die Scherben aufzusammeln. Erik hat den gleichen Gedanken und unsere Hände berühren sich kurz. Ein kribbeliges, zischendes Gefühl saust in Lichtgeschwindigkeit durch meinen Bauch. „’Tschuldigung“, nuschele ich nervös.

„Der, ist eh schon alt. Der wartet nur darauf, dass man ihn umwirft, so hässlich wie er ist“, erklärt er mir mit einem Augenzwinkern und wir stehen wieder auf. „Dann hat Mama endlich einen Grund, einen neuen zu kaufen.“ Er mustert mich von der Seite und tritt dann etwas näher. „Deine Augen sind gar nicht blau“, beginnt er. „Sie sind blaugrau. Das sieht sehr …“

„Rebecca? Erik? Essen ist fertig. Kommt ihr herunter?“, ruft Isabella plötzlich nach oben.

Erleichtert und nervös gehe ich zur Tür und lege meine Hand auf die Türklinke. Die Anlage ist immer noch an und spielt jetzt „Wind of Change“ von den Scorpions. Im gleichen Augenblick legt Erik seine Hand auf meine. Sie ist warm und fest und ich habe das Gefühl, sie überträgt unsichtbare Funken in meine Finger und von dort in meinen gesamten Unterbauch, in meine Beine, in meine Zehen, einfach überall hin. Jetzt hat mein Herz vollständig aufgehört zu schlagen. Wieso kann ich nicht einfach cool bleiben? Er ist nur ein siebzehnjähriger Nachbarsjunge und nicht Richard Gere! Gleichzeitig öffnen wir die Tür, unsere Hände trennen sich und der magische Moment ist vorbei.

„Ich gehe vor“, sagt Erik freundlich.

Ich folge ihm unsicher und rieche den herrlichen Duft von gebratenem Fleisch und Nudeln. Eriks Mama muss eine tolle Köchin sein, aber Hunger fühle ich gerade keinen! Im Gegenteil, ich fühle mich, als könnte ich monatelang überhaupt nichts mehr essen. Bedacht nicht zu stolpern, was mir sonst andauernd passiert, gehe ich Stufe für Stufe nach unten. Ich zähle die Stufen, um mein Stolperrisiko zu minimieren. Fünf, sechs, sieben, acht, neun …

Er dreht sich noch einmal um und lässt seinen Blick lange auf mir ruhen. Seine braunen Augen mustern mich, von unten bis oben, mit einer Mischung aus Neugier und irgendetwas Neuem. Etwas, das ich noch nicht kenne. Gott, ich finde ihn total süß, aber das fühlt sich alles so fremd an! Bisher war mir doch jeder Junge zu laut, zu grob und zu doof. Jungs waren bescheuerte Wesen! Sie spuckten beim Fußball eklige, weißschleimige Speichelklumpen auf den Boden, feuerten sich in der Pause leidenschaftlich beim Rülpswettbewerb an und schlugen sich am Rande der Tartanbahn zum Spaß blaue Flecken auf den Oberarm. Jungs waren total dämlich!

Aber bei Erik ist alles anders. Ich finde ihn überhaupt nicht bescheuert. Diese seltsamen Gefühle verwirren mich. Ich sollte Billes Rat befolgen und ihn mir aus dem Kopf schlagen. Alle Mädchen sind verliebt in ihn und ich bin nur ein winziger, hässlicher, flachbrüstiger, sommersprossiger Niemand.

Kapitel 2

September 1990

Ich sitze im Bus nach Hause und draußen prasselt der Regen nur so ans Fenster. Die Felder wiegen im Wind hin und her. Überall sind große Pfützen entstanden. Wie immer habe ich keinen Schirm dabei und bis nach Hause sind es mindestens zehn Minuten von der Bushaltestelle. Manuel, der bestimmt einen überdimensionalen Schirm gehabt hätte, hat heute Nachmittag Sport. Und dann auch noch das. Direkt zwei Reihen hinter mir sitzt Erik neben Paul. Scheiße.

Ich habe Billes Rat befolgt und bin ihm aus dem Weg gegangen. Ein ganzes Jahr lang! Inzwischen ist die Mauer in Berlin gefallen, was alle Menschen aus der Nachbarschaft dazu gebracht hat, sich in die Arme zu nehmen und vor Freude und Erstaunen zu weinen, und wir sind Fußballweltmeister geworden. Letzteres sehr zum Ärger von Papa, der im Schlafzimmer wütend vor dem kleinen Fernseher dem Kollaps nahe hin und her gesprungen ist, als Italien gegen Argentinien, natürlich unfairerweise, im Elfmeterschießen verlor.

Ein ganzes Jahr habe ich einen Bogen um Erik gemacht. Das war viel schwieriger gewesen als zunächst gedacht. Aber wir hatten zum Glück komplett andere Buszeiten, sein Klassenzimmer lag auf der anderen Seite des Schulgebäudes und wenn Mama und Papa mit den Sonnbergs jeden Mittwoch zum Pizzaessen gingen, hatte ich ‚überhaupt keinen Hunger’ oder ‚ganz schlimmes Kopfweh’. Dieses Schuljahr ist plötzlich alles anders. Mindestens drei Mal die Woche haben wir zur selben Zeit Schulschluss. Das passt mir überhaupt nicht! Ich hatte inständig gehofft, diese neuen Gefühle in mir würden von selbst wieder verschwinden, wenn man sie nur lange genug ignorierte, so wie lästiges Jucken auf der Haut nach einem fiesen Mückenstich. Aber im Gegenteil: Erik war der schlimmste Mückenstich von allen. Es wollte gar nicht aufhören zu jucken, vor allem in meinem Bauch. Jedes Mal, wenn er mich ansah, fühlte ich mich wie eine hässliche Außerirdische mit Produktionsfehler: Wackelkontakt im Sprachmodus, problematische Motorik und Energieverlust im Gehirn!

Der Bus hält endlich an und ich laufe los. Natürlich hat der Regen nicht aufgehört und ich hätte mich genauso gut mit kompletten Klamotten unter die Dusche stellen können. Meine schöne Frisur, voll im Eimer! Eine Stunde mit der Rundbürste föhnen dahin. Plötzlich höre ich ein schnelles Atmen hinter mir und drehe mich um. Es ist Erik. Mist, den wollte ich doch abhängen!

„Warum rennst du denn so? Ich habe doch einen Schirm. Möchtest du nicht mit darunter? Schließlich haben wir denselben Heimweg.“

Oh Hilfe, mein Herz macht einen Sprung. Mist! „Äh, ja danke.“ Mit einem kräftigen Ruck und einem Lächeln zieht Erik mich unter seinen Schirm.

„So ist es schon viel besser.“

Ich versuche ihn nicht anzustarren oder dümmlich zu grinsen, obwohl sein energischer Ruck mich überrumpelt hat. Nein, nein, nein. Ich will ihn nicht gut finden. Gott, ich muss an irgendetwas Negatives denken: Die Erderwärmung, das Ozonloch, der Anstieg des Meeresspiegels, Tschernobyl …

„Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Hast du dich gut eingelebt?“

Die Umweltverschmutzung, Chemiestunden bei Dr. Fehmann, das Aussterben der Wale, Lippenherpes … Sein Lächeln dringt direkt in meinen kribbeligen, nervösen Magen.

„Ja, denke schon.“ Wir stehen immer noch wie angewurzelt da. Der Bus ist inzwischen weggefahren.

„Tja, da sind wir Nachbarn und haben uns bisher kaum unterhalten.“

Erdbeben, Bürgerkrieg, Rosenkohl, Lateinhausaufgaben … „Tja …“

„`Tschuldigung, dass ich bei unserer allerersten Begegnung so schroff war. Die Sache mit der Bohrmaschine. Ich bin manchmal ein ziemlicher Holzklotz.“ Er legt seinen Kopf schief und beugt sich leicht zu mir herunter. Blitzende Funken wirbeln in meinem Unterbauch aneinander und mir ist so schwindlig wie auf einem Boot. Hilfe, kann man auch an Land seekrank werden?

„Ist schon OK.“ Der Regen ist noch heftiger geworden. Warum gehen wir nicht endlich los?

„Es sieht süß aus.“

„Was?“

„Wie du dir auf deine Unterlippe beißt.“ Tue ich das? Ich erröte schlagartig. Jesusmariaundjosef!

Plötzlich sieht er mich streng an. „Warum nimmst du keinen Regenschirm mit, hm?“

„Äh, ich … lasse die immer irgendwo stehen. Im Bus, im Klassenzimmer, in der Straßenbahn, im Schwimmbad, im Zug…“

„Du vergisst andauernd Regenschirme?“, unterbricht er mich jäh und schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Seine Augen sehen mich lange belustigt an.

Oh Mann! Ich rede total doofes Zeug! Mist! Mist! Mist! Warum erzähle ich ihm nicht gleich, dass ich in der 6. Klasse glitzernde Glücksbärchi-Aufkleber gesammelt habe? „Wollen wir losgehen?“, werfe ich ein, um den peinlichen Moment zu überspielen.

Erik wirft einen kritischen Blick in den graunassen Himmel. „Ja, lass uns gehen. Aber wir müssen uns beeilen, es wird gleich noch heftiger regnen.“ Dann nimmt er meine Hand – Hilfe, mein Herz! - und wir laufen los.

_______________________________

Als ich Erik das nächste Mal sehe, sitzt er genau zwei Plätze von mir entfernt. Das Straßenfest ist ein voller Erfolg. Alle Bänke sind voll besetzt, die Luft ist lauwarm. Eriks Vater steht am Grill und alle haben Salate mitgebracht. Papa hat gegrillte Paprika alla Siciliana gemacht, die großen Anklang finden. Musik dröhnt aus den Boxen: Lambada. Oh nein, wer hat das denn bitte aufgelegt?

Ich kann meinen Blick nicht von Erik wenden. Er hält eine große, blonde Schönheit in den Armen. Sie strahlt ihn an und präsentiert zwei Reihen makelloser Zähne. Von der hundsgemeinen Art, wie man sie aus der blend-a-med-Werbung kennt, bei der man am Schluss kraftvoll zubeißen kann. Niemand hat solche Zähne! Noch nicht mal der liebe Gott!

Sie küssen sich auffällig immer wieder und ich frage mich, wie lange ein normaler Zungenkuss wohl dauert. 10 Sekunden? 2 Minuten? Bille ist sich sicher, dass ein guter Kuss mindestens 5 Minuten dauern muss. So lang! Das muss eine feuchte und matschige Angelegenheit sein … Aber ich habe keine Ahnung und das, obwohl Bille mir ständig die Dr. Sommerseite der Bravo vorliest.

Irgendwann habe ich genug Zungensport gesehen – es stört ihn gar nicht, dass die gesamte Nachbarschaft zusieht - und stehe auf. Erik küsst die hübsche Blonde immer noch. Wieso ärgert es mich? Bille hat mich doch gewarnt: „Er hat ständig neue Freundinnen. Keine länger als zwei Wochen.“ Also, wirklich! Erik Sonnberg, muss das sein?

„Becca, wohin gehst du?“, fragt Papa besorgt.

„Nur ein paar Schritte die Straße entlang. Meine Füße vertreten“, beruhige ich ihn und schenke ihm ein nettes, unschuldiges Tochterlächeln mit Rehaugenblick.

„Va bene, aber nicht allzu lang.“

„Sí, sí“, antworte ich, ohne mich umzudrehen, und laufe los. Die Luft ist wunderbar. Ich gehe die Straße hinunter und biege rechts ab. Es ist immer noch seltsam, jetzt auf dem Land zu leben, ein eigenes Haus zu haben, einen großen Garten. Ganz zu schweigen von dem fehlenden Hupen der Hauptstraße, den wogenden Maisfeldern neben unserem Haus, der riesigen, neuen Schule, den vielen, neuen Lehrern und den neuen Gefühlen in meinem Bauch. Verdammt, wieso ist es mir nicht egal, was ein blöder Nachbarsjunge macht und wen er küsst? Ärgerlich kicke ich einen Kieselstein zur Seite. Ich laufe noch eine Straße weiter und sehe mir meine neue Umgebung an. Wieso bin ich die ersten Monate hier nicht lang gelaufen? Seltsam. War wahrscheinlich nur mit Schule und Schwimmtraining beschäftigt. Ich bin wirklich in den B-Kader Bayerns aufgenommen worden! Vor allem auf meine Zeit über die 100 Meter Kraul bin ich stolz wie Oskar: 1,06 Minuten! Ich laufe weiter und weiter. Wie groß diese Häuser sind! Irre, wenn ich an unsere kleine 3-Zimmer-Wohnung in Augsburg zurückdenke. Wir sind erst ein Jahr hier und es scheint mir hundert Jahre her zu sein.

Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Sie nähern sich schnell, werden immer lauter und mein Herz fängt an zu hämmern. Irgendetwas in mir schlägt Alarm. Meine eigenen Schritte werden auf einmal größer. Eine imaginäre Hand umfasst plötzlich meinen Magen und zerquetscht ihn. Bilder aus der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ laufen szenenartig vor meinem inneren Auge ab: Fünfzehnjähriges Mädchen spurlos verschwunden. Einsatzkräfte suchen vergeblich nach dem Mädchen. Die Polizei geht davon aus, dass es sich hierbei um ein Verbrechen handelt. Wir bitten dringend um Ihre Mithilfe. Sie trug an jenem Abend eine hellblaue Jeans und ein rotes …

„Hallo, Becca“, ruft Erik etwas atemlos.

Ich wirbele nervös herum und schnappe überrascht nach Luft. Was macht er denn hier? Muss er mir so eine Angst einjagen. „Hallo, Erik.“

„Wo läufst du hin?“

Was geht dich das an, denke ich genervt. Warst du nicht mit Küssen beschäftigt? „Nur ein bisschen die Beine vertreten.“ Ich bin viel zu nett zu ihm. Aber hätte ich denn einen Grund, sauer auf ihn zu sein?

„Ganz allein? Es ist schon dunkel.“

Sehr gut erkannt. „Ich denke nicht, dass wir in diesem Kuhkaff eine hohe Kriminalitätsrate haben oder täusche ich mich?“

„Nein, ich meine nur … allein als Mädchen.“

Also bitte, wir sind doch hier nicht in einem Ghetto von New York! „Musst du nicht zurück? Du warst doch … beschäftigt?“ Meine Stimme klingt etwas heiser.

„Nein, Katharina wurde abgeholt.“

„Oh, wie schade für dich.“ Ich will und ich muss kratzbürstig sein!

Er bemüht sich, seine plötzliche Verärgerung zu unterdrücken. „Ach, sie bedeutet mir nichts.“

Perplex schnappe ich nach Luft, mache den Mund auf, um etwas zu sagen, schließe ihn aber wieder. Du bist ein gemeiner Blödmann, möchte ich ihm ins Gesicht schreien, verkneife es mir aber. Stattdessen sage ich: „Sie tut mir leid.“

„Braucht sie nicht“, blafft er und geht einen weiteren Schritt auf mich zu. Ein seltsamer Schauer überfällt mich, aber ich weiche nicht zurück. Die Straßenlampe flackert und summt vor sich hin. Von weit weg, vermischt mit dem Gewirr vieler Stimmen, höre ich “Listen to your heart …” von Roxette. Plötzlich kommt er mir noch näher. Ich habe Mühe ruhig zu atmen. Er steht viel zu dicht bei mir und weil es mir unangenehm ist, blicke ich auf den Boden. Er sagt nichts mehr und berührt mich zuerst sanft, dann fest an beiden Schultern. Ein ungewohntes Kribbeln geht wie ein Flächenbrand durch meinen gesamten Körper und endet irgendwo kurz über meinem Bauchnabel.

„Rebecca, ich möchte …“, beginnt er und zieht mich zärtlich zu sich. Er hebt mein Kinn an und sein Blick verhakt sich in meinem. Mein Puls steigt. Was soll ich nur mit meinen Händen machen? Seine Hand liebkost meinen Hinterkopf. Dann beugt er sich zu mir herunter. Mein Atem stockt. Mir ist plötzlich furchtbar heiß. Seine Augen blitzen mich an und er kommt noch näher. Seine Lippen berühren zart die meinen, federleicht. Mit seinem Daumen öffnet er meine Lippen und sanft forschend gleitet seine Zunge in meinen Mund. Seine Zungenspitze schiebt sich vorsichtig tastend über meine Lippen. Wir atmen schneller. Viel schneller. Hunderttausend Schmetterlinge rocken in meinem Magen herum. Wo kommen die alle her?

Ach, du Scheiße! Hat er nicht vor einer halben Stunde noch ein anderes Mädchen geküsst? Ist er verrückt? Geschockt und verärgert stoße ich ihn von mir, hole aus und schlage ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Wie kann er es wagen? Zuerst küsst er die blonde Barbie und dann mich? Meine Handinnenfläche brennt. Erik sieht mich völlig überrumpelt an und hält sich die linke Wange.

„Entschuldigung, ich …“

„Du bist ein Idiot! Tue das nie wieder“, fauche ich fassungslos. Am liebsten möchte ich ihm noch einmal ins Gesicht schlagen, entscheide mich aber für die Flucht. Ich renne wie von der Tarantel gestochen los. Bloß weg, nach Hause! Und bloß nichts Papa erzählen!

Himmelherrgott, mein erster Kuss! So habe ich mir ihn nicht vorgestellt. So sollte es nicht sein, oder? Nur eine Nummer Zwei zu sein am selben Abend … aber es fühlte sich so verdammt gut an. Sein Mund auf meinem …

_______________________________

„Rebecca, ich muss mit dir reden.“ Die Stimme meines Papas klingt tief und so ernst, als wäre jemand schwer erkrankt oder gestorben. Ich merke ihm sein Unbehagen deutlich an. Er deutet vielsagend auf den Stuhl in der Küche und schließt alle anderen Türen. Seine dunklen Locken sind etwas zu lang und stehen in alle Richtungen ab. Er müsste dringend zum Friseur. Die Art, wie er mich ansieht, erinnert mich stark an den Blick einer dieser fiesen Mafiabosse, die man aus Filmen wie ‚Der Pate’ kennt. Der Blick, mit dem sie in einem abgedunkelten Hinterzimmer den klapprigen Holzstuhl für ihr Opfer zurecht rücken.

„Was gibt’s?“ Seit einiger Zeit geht mir mein Papa extrem auf die Nerven. Früher haben wir uns sehr gut verstanden. Wir haben zusammen Mathe gemacht, nicht gerade mein Lieblingsfach, oder Weitsprung trainiert, weil ich unbedingt eine Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen haben wollte und meine Wurfkompetenz sehr zu wünschen übrig lässt. Einmal habe ich es doch glatt geschafft minus drei Meter zu werfen, weil mir der blöde Ball zur Seite nach hinten ausgekommen ist. Papa! Seit Wochen nervt mich allein sein Anblick. „Was gibt’s?“, frage ich noch mal gedehnt.

„Du bist erst fünfzehn. Und ich denke, du bist noch zu jung, um …“, er sucht nach den richtigen Worten, „um einen festen Freund zu haben.“

Verdammt! Woher weiß er von Eriks Kuss? Ich habe niemanden etwas erzählt, alles für mich behalten. Das kann er unmöglich wissen. Hat er mir nachspioniert? Wir sind doch nicht im mittelalterlichen Sizilien! „Ich habe keinen Freund“, sage ich sauer. Es stört mich sehr, dass er sich in meine Angelegenheiten einmischt. Soll das ein verdammtes Verhör werden? Ich bin kein schwaches, bereits aus den Mundwinkeln blutendes Opfer und er nicht Don Corleone.

„Der hier lag im Briefkasten.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick streckt er mir einen Brief hin und ich komme mir vor, als hätte man mich bei irgendeinem schrecklichen Verbrechen erwischt. Ungläubig, aber dennoch neugierig hole ich ein kariertes, verknicktes Blatt aus dem Umschlag hervor. Darauf steht: „Liebe Becca, ich finde dich total süß und hätte Lust dich kennen zu lernen. Ich würde mich sehr freuen, dich einmal zu treffen. Hättest du Lust und Zeit? Stefan.“ Ich überlege fieberhaft und dann fällt mir plötzlich ein, um wen es sich handelt. Stefan: klein, blass und ungelenk. Viele Pickel im Gesicht. Habe ich ein paar Mal im Bus gesehen. Spinnt der? Was fällt dem ein, hier aufzukreuzen? Was fällt meinem Vater ein, meine Post zu lesen? Was fällt ihm ein, zu glauben, er könnte sich in mein Leben einmischen? Sind denn alle verrückt?

Ich stoße die Luft aus. Mir ist nicht klar gewesen, dass ich den Atem angehalten habe. „Ich habe keinen Freund!“, sage ich anklagend und wütend. Gleichzeitig bin ich aber auch enttäuscht. Was hätte ich dafür gegeben, wenn der Brief von Erik gewesen wäre. Aber für Mister Supertennis bin ich natürlich unsichtbar.

„Dann ist es ja gut“, raunt Papa. Es ist überflüssig, noch weiter zu sprechen. Wir stehen beide bockig auf und verlassen ohne ein weiteres Wort die Küche.

_______________________________

Die Sonne scheint und schickt uns warme, angenehme Strahlen nach unten. Ein leichter Wind streicht über die Maisfelder und kleine, bauschige Wolken hängen wie angepinnt im Himmel. Mein Papa und ich joggen die 45-Minuten-Runde um die Felder Richtung Schwabmünchen. Ich möchte meine Kondition steigern, in ein paar Wochen sind die Sprintmeisterschaften. Papa hat sich als Laufpartner regelrecht aufgedrängt. Na gut, was soll’ s. Beim Laufen kann er zumindest nicht reden.

„Hallo, was dagegen, wenn ich mitlaufe?“ Erik erreicht uns an der Abzweigung eines Feldweges, genau an der Stelle zum Wasserschutzgebiet.

Ich drehe mich um und unterdrücke ein lautes Stöhnen.

Mein Vater bleibt abrupt stehen. „Ah, Erik! Was für ein Zufall, dass du auch hier entlang joggst. Natürlich kannst du mit uns laufen, wir haben aber noch acht bis zehn Kilometer vor uns.“

„Schön, dann laufe ich gern mit!“

Erik sieht mir direkt in die Augen. Schlagartig fühle ich mich seltsam, versuche aber neutral und unverfänglich zu schauen. Super! Klasse! Auf den habe ich ja voll Lust! Kann er nicht woanders joggen? Auf dem Mond oder vielleicht gleich besser auf dem Mars! Außerirdische, die ihn hochbeamen und als Arbeitssklaven auf ihr Raumschiff entführen, wären mir alternativ auch recht …

Wir laufen los. Rechts ich, in der Mitte mein Vater und links Erik. Immer wieder blickt er kurz zu mir herüber. Ich spüre seinen Blick auf mir. Es fällt mir unglaublich schwer, ihn nicht anzusehen. Mein Puls ist gleichmäßig, aber ich habe das Gefühl, alle meine inneren Organe befinden sich im Schleudergang einer Waschmaschine. Unsere Joggingstrecke, sie kommt mir heute viel länger vor als sonst. Sie muss sich durch irgendeine kosmische Strahlung verdoppelt haben! Wir laufen weiter, und jetzt sieht Erik mich wieder an. Er lächelt. Ich werde nicht schlau aus ihm. Bei unserer ersten Begegnung war er total unfreundlich, dann haben wir ein Jahr kaum miteinander geredet, dann will er mich küssen, obwohl es noch ein anderes Mädchen gab. Der ist doch komplett verrückt! Ich nicke ihm brummig zu. Danach traue ich mich nicht mehr, in seine Richtung zu sehen, bis wir wieder zu Hause sind.

„Hätte nicht gedacht, dass du so gut mithältst, Erik“ bemerkt Papa. „Man merkt, dass du viel Tennis spielst.“

Erik gibt meinem Papa lässig die Hand – sie ist sonnengebräunt, was unverschämt sexy aussieht – und verabschiedet sich freundlich.

„Wenn du magst, kannst du ja wieder mit uns laufen.“

„Können wir sehr gern wiederholen“, antwortet Erik mit einem langen Blick auf mich. Dass Papa überhaupt nichts checkt! Der hat doch Tomaten auf den Augen. Mindestens auf jedem Auge zwei …

Ich sage nichts, drehe mich ruckartig um und sperre die Haustür auf. Mir ist komisch, so als hätte ich hundert Umdrehungen auf einem Bürostuhl hinter mir. Von mir aus soll er doch um die halbe Welt joggen! Oder nach Timbuktu laufen. Dort, wo der Pfeffer wächst, würden sie ihn bestimmt auch nehmen.

_______________________________

Gott sei Dank ist heute Freitag! Ich liebe Freitage! Zwei freie Tage bis Montag, herrlich! Im Fernsehen kommt dauernd Politik. Das geht schon seit Monaten so. Es geht um den Einigungsvertrag zwischen uns, also der Bundesrepublik Deutschland, und diesen anderen Deutschen, denen aus der DDR. Ich finde es krass, dass die alle 100 DM geschenkt bekommen haben. So viel Geld. Und seltsame Klamotten haben die auch an, sehen irgendwie altmodisch aus. Aber alle Nachbarn sind froh, dass die Mauer weg ist, also beschließe ich auch froh zu sein.

„Telefon, Becca“, ruft meine Mutter und steckt ihren Kopf in mein Zimmer. Ihre halblangen Locken leuchten in vielen unterschiedlichen Rottönen, als sich die Nachmittagssonne einen Weg durchs Fenster bahnt.

Wer will denn jetzt noch was von mir? Es ist gleich sieben, und ich stehe mit meiner Schwimmtasche im Gang und warte auf Papa. „Hallo?“, frage ich in den Hörer unseres neuen bordeauxfarbenen Tastentelefons, auf das Mama so stolz ist.

„Hallo, ich bin’s, Erik.“

Oh nein, nicht der schon wieder! Ich unterdrücke ein innerliches und äußerliches Stöhnen. „Ja, hallo.“

„Hey, ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend Lust hast, mit mir auf den Michaelimarkt zu gehen. Wir könnten mit dem Rad hinfahren. Laut Wetterbericht soll es morgen schon lau werden.“ Seine Stimme klingt locker und leicht und einladend. Überhaupt nicht so, als ob ich ihn geschlagen hätte.

Der hat Nerven!

„Becca, bist du noch dran?“, fragt er und der reine Klang seiner Stimme lässt mich mulmig werden.

OK, Fakt ist: Er ist ein Idiot. Ein Idiot, der mir völlig gleichgültig ist. Ein Idiot, der viele Mädchen küsst. Ein Idiot, der zwei Jahre älter ist als ich. Ein Idiot, der gerade Jugendmeister im Tennis geworden ist. Ein Idiot, der gleich nebenan wohnt. Ein Idiot, der wahnsinnig toll aussieht. Ein Idiot, der mir liebenswerterweise einen Regenschirm angeboten hat. Ein gut gebauter Idiot, der stundenlang für andere Umzugskisten schleppt. Ein extrem cooler Idiot mit warmen, braunen Augen und einer kleinen Narbe auf der Nase, die …

„Ja, äh … das müsste klappen. Um wie viel Uhr?“ Ist das etwa meine Stimme? Oh nein, ich habe gerade zugesagt!

„Super, ich hole dich gegen 18 Uhr ab, wenn es dir recht ist.“

„Ja, 18 Uhr ist super. Ist meine Lieblingsuhrzeit.“

„Dann bis morgen“, sagt er souverän und legt auf. Funken zünden in meinem Unterbauch.

Ich fasse mir an die Stirn. Wie bescheuert! Lieblingsuhrzeit! Was rede ich nur für einen hirnverbrannten Stuss? Wie konnte ich nur zusagen?

Papa kommt aus dem kleinen Klo. Seiner Raucherhöhle, der einzige Ort, an dem Mama ihm erlaubt hat, seine Pfeife mit Kirschtabak zu schmauchen, zusammen mit der intensiven Lektüre von Donald Duck-Heften. Er legt mir fürsorglich die Hand auf die Schulter. „Was ist mit dir los? Hast du Fieber? Geht’s dir nicht gut? Sollen wir das Training heute ausfallen lassen?“

Ja, am liebsten schon! Wie soll ich jetzt noch 200 Bahnen schwimmen? Mein Herz klopft rasend gegen meine Rippen, genauso wie am Startblock vor den 200 Meter Schmetterling, meiner Angststrecke. Meine Knie sind geleeweich. „Nein, alles in Ordnung. Wir können los, Papa. Andiamo.“ Gott, nichts ist in Ordnung, überhaupt nichts!

_______________________________

„Mama, woher weiß man eigentlich, dass man sich verliebt hat?“

Meine Mutter schiebt die Zeitung zur Seite und blickt mich schief an. Ihre Locken berühren ihre Schultern, und sie steckt sie hinter ein Ohr. Mama ist wie immer dezent geschminkt, was schön zu ihrem blassen, sommersprossigen Teint passt. Sie ist sehr schlank und sieht viel jünger aus als 36. Oft wird sie für meine große Schwester gehalten. Wie üblich ist der runde Esstisch mit einer rosafarbenen Blümchendecke aus abwischbarer Folie bedeckt, die ich furchtbar kitschig finde. Das würde ich ihr natürlich niemals sagen. Ich fahre die Blütenstiele auf der Tischdecke mit dem Zeigefinger nach.

„Bist du etwa verliebt?“

„Ich? Nein! Niemals! Ich finde alle Jungs ziemlich doof. Ich frage nur wegen … wegen … Bille … die findet einen Jungen aus der Kollegstufe ganz toll.“

„Aha, Bille. Also, das mit dem Verliebtsein ist so eine Sache.“

„Wie war das denn bei dir?“ Es ist das erste Mal, dass ich sie etwas Derartiges frage und ich versuche, so beiläufig wie möglich zu klingen.

Mama schaut aus dem Erkerfenster und überlegt lange. Ihr Blick hängt irgendwo fest. „Das ist so lange her. Man denkt immerzu an den Menschen. Man bekommt Herzklopfen und man möchte gut dastehen. Also sagt man Dinge, um auf sich aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig fühlt man sich unwohl und nervös. Ein komisches Gefühl. Auch im Bauch, so als ob tausend Ameisenarmeen hin- und herwandern.“

„Wie alt warst du, als du dich das erste Mal verliebt hast?“

„Oh je, vierzehn glaube ich, so alt wie du jetzt.“

„Ich bin fünfzehn, Mama!“, protestiere ich.

„Natürlich.“

Im Radio singen Roxette „It must have been love“ und ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. „Ein paar Leute aus meiner Klasse treffen sich heute auf dem Michaelimarkt. Ich würde gern hingehen. Kann ich?“ OK, nicht ganz die Wahrheit. Eigentlich will sich der coole, gut aussehende Nachbarsjunge mit mir treffen. Eine klitzekleine Abwandlung der Realität, nichts weiter.

„Klar. Willst du nachher mit dem Rad dorthin fahren?“

Jetzt ganz gelassen bleiben. Kinn raus. „Wir treffen uns erst um halb sieben“. Ich versuche, meine Stimme klar und tief klingen zu lassen. Eine erwachsene Stimme und keine Kleinmädchenstimme. Ich mag meine Stimme nicht. Sie ist hoch und überhaupt nicht cool. Am schlimmsten ist es, wenn wir uns auf dem Kassettenrekorder aufnehmen. Ich finde es schrecklich, wie ich mich anhöre. Das ist eine Gemeinheit. Bei der Verteilung der schönen Stimmen hat Gott mich eindeutig benachteiligt. Und bei der Körpergröße natürlich.

„Um halb sieben? Das ist aber sehr spät. Da wird es ja schon bald dunkel.“

Oh Mann, Mama, das ist ja der Sinn der Sache. „Macht doch nichts. Heute ist Samstag.“

„Ich weiß nicht, das ist doch recht spät.“

„Ich bin doch kein Kind mehr. Das ist voll peinlich!“ Ich dachte, ich könnte meine Mutter leichter überreden, aber das war wohl ein Irrtum.

Überraschend lenkt sie ein. „Na gut, aber nur, wenn du nicht alleine gehst. Kennst du jemanden, der mit dir dorthin radelt?“

War das ein Ja? Sie hat Papa gar nicht nach seiner Meinung gefragt. Ist sie krank? Egal, jetzt nur nicht nervös werden. „Erik könnte mit mir fahren.“

Mama wendet sich wieder ihrer Zeitung zu und blättert langsam um. „Na gut. Er scheint ganz in Ordnung zu sein. Du findest ihn nicht mehr blöd, weil er anfangs so komisch war?“

„Er ist nicht so doof, wie ich zuerst dachte.“ Das hoffe ich zumindest stark!

„In Ordnung.“

Ich freue mich und könnte durch die Küche hüpfen wie ein Flummi, zwinge mich aber, ruhig und gelassen auszusehen.

„Um zehn bist du zurück“, sagt Mama.

Oder fliegen. Ich fliege! Ich fliege in mein Zimmer, direkt vor meinen Kleiderschrank.

„Viel Spaß! Und kommt pünktlich“, ruft meine Mutter aus dem Hintergrund. Himmel! Es ist schon halb sechs. Nur noch eine halbe Stunde und ich habe meine Wimpern noch nicht getuscht! Und ich habe keine Ahnung, was ich anziehen soll!

_______________________________

Es dämmert schon, als Erik und ich gemeinsam mit unseren Rädern losfahren. Obwohl meine Gangschaltung kaputt ist, gebe ich mir große Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Auch der Wind hat heute ein Einsehen und kämpft nicht wie üblich gegen mich an. Danke, lieber Gott des Windes! Erik fährt nicht zu schnell und dreht sich immer wieder besorgt nach mir um. Ich habe mich für meine hellblaue Jeans und eine weiße Bluse entschieden. Meine Haare habe ich offen gelassen. So sehe ich älter aus als mit Pferdeschwanz. Mein Wimperntuschprogramm hat gut funktioniert, meine blauen Augen sehen toll aus, soweit ich das beurteilen kann. An einen Lidstrich habe ich mich noch nicht gewagt. Man soll sein Glück ja nicht allzu sehr herausfordern. Erik trägt ebenfalls eine Jeans. Allerdings ist sein T-Shirt nicht ganz jugendfrei. Eine graue Comicmaus mit Riesenpenis vergnügt sich mit einer anderen Maus bei einem Kopulationsversuch von hinten. Darüber steht in dicken Buchstaben: Komm Pussy, komm. Gott sei Dank hatte er die Jacke zugeknöpft, als er bei uns geklingelt hat!

Auf dem Markt ist die Hölle los und wir quetschen unsere Räder durch die Menschenmassen. Hinter dem letzten Stand, der passenderweise „Süße Versuchung“ heißt, finden wir einen guten Platz für unsere Räder. Direkt unter zwei großen Ahornbäumen. Ich spüre, wie der Wind über meine Arme fährt und mir eine Gänsehaut macht. Also ziehe ich meine Jeansjacke an, die hinten auf meinem Gepäckträger eingeklemmt ist. Voll freudiger Erwartung gehe ich neben Erik zurück auf die Feststraße. Mein Herz hämmert so laut, dass er es eigentlich hören müsste.

Er sieht mich auf einmal ganz lange an, als müsste er mich studieren oder als tue ihm vielleicht etwas weh. „Also Becca, ich treffe mich mit meinen Kumpels im Zelt. Wir wollen ein paar Maß trinken. Ich denke, wir sitzen so im vorderen Drittel, wenn was ist. Wir treffen uns um neun wieder.“ Erik gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf meine linke Schulter und geht schnellen Schrittes zum Zelteingang.

Ich stehe da wie eine kleine, blonde Salzsäule. Er ist tatsächlich gegangen und hat mich allein gelassen! Scheiße! Wie konnte ich nur denken, er würde den Abend tatsächlich mit mir verbringen? Alle Mädchen sind in ihn verliebt, und ich bin nur ein Niemand. Ein Niemand mit viel zu kleinem Busen! Mit einem Gesicht wie eine Dreizehnjährige! Ich verstehe gar nichts mehr. Warum ist er überhaupt mit mir hierhergefahren? Enttäuschung steigt in mir auf. Einen kurzen Augenblick kämpfe ich mit den Tränen und würge sie herunter. Der kann mich mal! Ich werde ganz bestimmt nicht um neun Uhr im Zelt bei ihm vorbeischauen. Ich bin fast sechzehn, alt genug, um alleine Spaß zu haben!

Plötzlich ruft jemand meinen Namen: „Mensch, Becca! Das ist ja schön, dich zu sehen. Hat dein Alter dich auch mal weggehen lassen?“

Ich schlucke etwas bei dem Wort ‚Alter’, womit wohl mein Vater gemeint ist. „Hallo, Robert. Ja, ich habe heute Ausgang.“ Er lächelt mich an und hakt sich bei mir unter. Obwohl ich Robert, unseren Klassensprecher, nur wenig kenne, fühlt es sich gut an ihn zu sehen.

„Bist du allein unterwegs?“

„Ja, klar“, lüge ich und versuche nicht, an Erik zu denken.

Ein Fragezeichen erscheint in Roberts Gesicht und ich werde unsicher, aber er geht nicht näher darauf ein. „Was wollen wir als Erstes machen? Leopardenspur fahren oder Autoskooter?“

„Eindeutig Leopardenspur!“ Ich schlucke den Unmut und die Enttäuschung über Eriks Abgang herunter. Große Mädchen lassen sich nichts anmerken. Und plötzlich fühlt sich dieser Abend gut an.

„Ach ja, und Becca?“

„Was ist?“

„Es ist wirklich toll, dass wir uns getroffen haben.“ Er zögert einen kurzen Moment. „Du siehst heute sehr hübsch aus, das wollte ich noch sagen.“

Jetzt fühlt sich dieser Abend noch besser an. Ich merke, wie mein Mund von einem Ohr zum anderen grinst. „Danke.“

In der Leopardenspur sitze ich innen, so dass die Drehgeschwindigkeit mich an Roberts Körper presst. Wir lachen laut und der enge Kontakt stört mich nicht im Geringsten. Wir haben viel Spaß. Beim Autoskooter sitzt jeder in seinem eigenen Wagen, wir liefern uns harte Kämpfe. Bon Jovis „Run away“ dröhnt aus den Boxen, und ich sehe viele meiner Klassenkameraden oder Schüler aus Parallelklassen. Später kaufen wir uns eine große Portion klebrige Zuckerwatte, die wir gemeinsam vertilgen, während wir dabei ständig versuchen, dem anderen einen Fetzen weißer Watte an die Wange zu kleben. Es ist herrlich! Da ich nicht so groß bin, muss ich mich ganz schön strecken, damit ich Roberts Gesicht treffe. Der wiederum duckt sich und greift mich von unten an. Danach holen wir uns noch gebrannte Mandeln. Robert versucht geschickt die Mandel in die Höhe zu werfen und mit seinem offenen Mund wieder zu fangen. Da ich in so einer Geschicklichkeitsübung total versagen würde, lasse ich ihm den Vortritt und jubele bei jedem Treffer.

Es ist inzwischen dunkel und der Wind hat ein bisschen zugenommen.

„Lass uns ins Zelt gehen und was trinken“, schlägt er vor. Drinnen ist es pudelwarm und ich bin froh, mich aufwärmen zu können. „Wie wäre es mit einem Radler?“ Robert eilt davon und kommt mit einem Maßkrug wieder.

Wir sitzen uns gegenüber und jeder nimmt einen großen Schluck. Er erzählt mir von seinen letzten Schulaufgaben und wie sehr er Englisch hasst. Ich sage ihm besser nicht, dass das eines meiner Lieblingsfächer ist. Dafür liebt er Mathe und Physik! Na ja, es muss wohl auch solche Menschen geben.

Wir machen uns wieder auf den Weg nach draußen und schwingen die Zeltplane zur Seite, als plötzlich Erik vor uns steht. Wütend sieht er zuerst mich an, danach Robert, dann wieder mich.

„Wo warst du die ganze Zeit, verdammt? Ich habe dich überall gesucht!“ Obwohl er mit mir spricht, fixiert Erik Robert mit funkelnden Blicken.