Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Kanaren – eine Welt der Gegensätze zwischen Bettenburgen und Höhlenbewohnern, Bungalowanlagen und alternativen Lebensgemeinschaften. Lisa Gast macht sich auf in die faszinierende Vielfalt der Kanarischen Inseln, erliegt deren vulkanischem Zauber, erkundet die Geheimnisse der Bevölkerung, stürzt sich mit dem Gleitschirm in den Himmel über Teneriffa und versucht, endlich richtig surfen zu lernen. Ein Jahr auf den Kanaren – nicht mal Fliegen ist schöner.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 239
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lisa Gast
Ein Jahrauf den Kanaren
Reise in den Alltag
Titel der Originalausgabe: Ein Jahr auf den KanarenReise in den Alltag
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © lunamarina–Fotolia
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80638-4
ISBN (Buch): 978-3-451-06712-9
Inhalt
August
September
Oktober
November
Dezember
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
Informationen zur Autorin
TENERIFFA. IM LANDEANFLUG LEUCHTET DER TEIDE im Mondschein über einer dichten Wolkenschicht. Im Norden der Insel stauen sich die Wolken, der Süden ist klar, die Straßenbeleuchtung verschwenderisch. Jetzt, tatsächlich, erfasst mich dieses ergreifende Gefühl: Ja, ich ziehe um. Ich bin hier. Und gekommen, um zu bleiben. Das Geplapper der Mädels neben mir, an dem ich mich bis eben beteiligt hatte, rauscht nur noch an mir vorbei. Ich starre aus dem Fenster, jedes Licht aus der Kabine schirme ich mit meinen Händen ab. Ich will alles in mich aufsaugen und für immer speichern. Will vollkommen im Hier und Jetzt sein. Wir drehen in den Endanflug. Meine Augen wandern die Küste entlang, ich erkenne die ersten Palmen, Hotels und beleuchteten Swimmingpools, dann wieder hoch zum Teide.
Das Schönste ist: Ich werde abgeholt. Noch warte ich am Gepäckband auf meinen Koffer. Und jedes Mal, wenn sich die Schiebetür zur Ankunftshalle öffnet, versuche ich, meinen Vater zu entdecken, doch immer ist die Zeit zu kurz. Ich habe ihn und meine Geschwister seit einem Jahr nicht mehr gesehen und bin dankbar, meine ersten Wochen auf Teneriffa mit ihnen verbringen zu dürfen.
Nach einer Stunde Fahrt erreichen wir Los Realejos, von wo aus wir uns über schmale Gassen hinaufschlängeln zu einem Ort, der mir wie das Paradies erscheint: die dunkle Silhouette der Berge hinter uns, die laue Nachtluft, das Rascheln der Palmen im Wind. Ich betrete das Haus und bin überwältigt. Der Duft von reifen Mangos und Bananen liegt in der Luft; Berge davon sind auf vier Schalen gestapelt. Von dem großen offenen Raum führen vier Türen auf die Terrasse. Von dort aus blicke ich – umrahmt von üppigem Grün – auf das unter uns liegende offene Meer. Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, dass ich die nächsten zwei Wochen wirklich hier verbringen darf.
Warum die Kanaren? Genau weiß ich es nicht. Ich habe eine Vorliebe für Inseln, das schon. Vor allem, weil ich das Meer liebe und es mag, wenn an einem Ort zwar alles vorhanden ist – Infrastruktur, Geschäfte, Ärzte, Möglichkeiten zur anregenden Freizeitgestaltung –, aber nicht von allem krankhaft viel. Ich brauche keine tausend Wurst- und Joghurtsorten im Regal. Auch fünf hundert verschiedene Shampoos verwirren mich eher. Stattdessen kenne ich lieber meine Nachbarn und die schönsten Spots meiner Insel. Genau genommen mag ich vor allem das Kennenlernen. Diese Glücksmomente, wenn ich einem Menschen begegne, von dem ich schon ahne, dass er ein Freund werden könnte, oder eine Bucht entdecke, von der ich sofort weiß, dass ich in Zukunft häufiger dort sein werde.
Doch dafür hätte ich auch auf die Liparischen Inseln oder die Salomonen gehen können. Oder zu einer beliebigen anderen Gruppe der halben Milliarde Insulaner weltweit. Oder einfach auf Malta bleiben. Die Entscheidung für die Kanaren fiel eher pragmatisch. Sicher war es keine seit meiner Kindheit gehegte Vorstellung, dass mein Glück allein hier zu finden sei. Ich kannte die Kanarischen Inseln noch nicht, keine davon. Das war ein Plus, weil spannender. Es gibt sieben Hauptinseln zur Auswahl, mindestens eine davon wird mir schon gefallen.
Jeder Besitz kann altern, kaputtgehen oder gestohlen werden – aber Erinnerungen, die bleiben für immer. Und die guten machen stets reicher, nie ärmer. Noch dazu steigt ihr Wert mit der Zeit. Auch Herausforderungen, denen ich mich erfolgreich stelle, gehen als Guthaben auf mein Lebenskonto ein. Was suche ich also auf den Kanaren? Die Herausforderung, allein an einem fremden Ort wieder neu zu beginnen, und viele Glücksmomente für mein Lebenskonto.
Es ist dunkel und still. Meinen ersten Tag auf den Kanaren verbringen wir unter der Erde.
„Genauso tief, wie Särge verbuddelt werden“, bemerkt ein Teenager, als wir erfahren, dass wir mit unserer geschätzten Tiefe von zwanzig Metern um ganze achtzehn Meter falsch lagen. Auch ich hätte vermutet, dass wir uns deutlich tiefer unter der Erde befinden. Es ist kühl; ganzjährig etwa elf Grad. Und noch immer stockfinster.
„Für die meisten Besucher ist es das erste Mal im Leben, dass sie absolute Dunkelheit und Stille erleben“, sagt unser Guide Alfredo, und ich glaube ihm. „Habt ihr Lust auf ein Experiment?“
Klar.
„Also gut, dann gehen wir im Dunkeln weiter bis zum Höhlenausgang, rechte Hand an die Wand und los!“
Das würde ich ihm gern ebenfalls glauben, aber mit acht Kindern in der Gruppe kann er das unmöglich ernst gemeint haben. Ich erinnere mich an die zehn Regeln auf der Hinweistafel am Eingang der Höhle. Die erste: „Folgen Sie stets den Anweisungen des Führers.“ Eine unglückliche Formulierung in der deutschen Übersetzung, und ich hoffe, dass offensichtlich unsinnige Anweisungen von dieser Regel ausgenommen sind.
Alfredo unterbricht das nachdenkliche Schweigen mit seinem Lachen: „Das machen wir natürlich nicht. Stirnlampen wieder an!“ Ein Lichtkegel nach dem andern taucht auf. Jetzt sehe ich auch die anderen wieder: meine drei Geschwister, fünf weitere Kinder und sieben Erwachsene lehnen an der Höhlenwand, jeder mit Helm und Stirnlampe auf dem Kopf.
Die Cueva del Viento bei Icod de los Vinos ist der längste Komplex aus Vulkanröhren in ganz Europa. Längere Höhlensysteme gibt es nur auf Hawaii. Doch hat die Regierung lediglich 180 Meter der „Höhle des Windes“ zur Besichtigung freigegeben, um das fragile Ökosystem und den Lebensraum der rund 120 hier lebenden Spezies zu schützen. Bisher kannte ich nur Tropfsteinhöhlen, aber diese ist anders: ein siebzehn Kilometer langes Labyrinth aus Röhren, verteilt auf drei Ebenen, entstanden an nur einem einzigen Tag, als vor 27 000 Jahren ein Nebenvulkan des Teide ausbrach.
„Wenn die Oberfläche der fließenden Lava mit der kalten Luft in Kontakt kommt, versteinert sie; die heiße Lava darunter fließt weiter“, erklärt Alfredo die Entstehung der Hohlräume im Basaltgestein.
Die Röhren erinnern mich an die Gänge in einem Bergwerk, doch die Wände sind glatter, und der Boden sieht aus wie fließende Lava, nur erstarrt. Viele der Röhren haben einen solchen Durchmesser, dass wir bequem aufrecht gehen können; in einige schmalere Arme schickt Alfredo die Kinder zu einer „Spezial-Expedition“.
Zurück an der Oberfläche nehmen wir zwar die Helme ab, behalten aber die pinkfarbenen, gelben und blauen Hygienemützchen darunter an. Der Grund dafür erschließt sich mir nicht, das Ergebnis aber ist, dass sich die Kinder vor Lachen kaum beruhigen können. Sie stimmen Otto Waalkes’ „Hey Zwerge, hey Zwerge, hey Zwerge ho“ an, und auch mir ist der Vergleich in den Sinn gekommen. Unser Rückweg führt uns im Nebel durch einen Pinienwald entlang einem von den Ureinwohnern der Kanaren, den Guanchen, angelegten Königsweg. „Hey Zwerge, hey Zwerge, go go go.“
Noch auf eine andere Art fühle ich mich wie ein Zwerg: Weihnachtssterne, Salbei und Baumheide – die aussieht wie das kniehohe Heidekraut in deutschen Wäldern – wachsen hier meterhoch, und das, obwohl dieses Waldstück erst 2007 niederbrannte. Die Brandschäden sieht man heute nur noch auf den zweiten Blick: Die Rinden der Kiefern sind schwarz verkrustet, aber die Bäume leben.
„Schon nach einem Jahr konnte man die ersten Kiefern wieder austreiben sehen“, erklärt Alfredo. „Und ihre Feuerresistenz ist nur eine der bemerkenswerten Eigenschaften der Kanarischen Kiefer.“ Auf den Kanaren endemisch und weit verbreitet, ist sie besonders für den Wasserhaushalt der Inseln wichtig. Sie wächst vor allem in Höhenlagen, in denen sich die feuchten Passatwinde in einer nebelartigen Wolkenschicht stauen. Alfredo spricht vom „horizontalen Regen“, wenn die feinen Wassertropfen vom Wind befördert werden. An ihren bis zu dreißig Zentimeter langen Nadeln kondensiert die Feuchtigkeit und tropft auf den Boden. Der Baum selbst benötigt aber nur etwa ein Drittel des dabei gewonnenen Wassers, der Rest wird ans Grundwasser abgegeben.
Wir gehen vorbei an einem runden Getreidedreschplatz, auf dem laut Alfredo schon die Guanchen Gerste droschen. „Sie rösteten das gemahlene Korn und nannten es Gofio.“
Einige aus der Gruppe rufen „Ahh!“, als hätten sie soeben etwas verstanden, über das sie sich zuvor gewundert hatten. Ich nicht.
„Noch heute ist Gofio eine wichtige Grundkomponente der kanarischen Küche und besteht mittlerweile oft auch aus Weizen, Mais oder sogar Kichererbsen. Weil es schon geröstet ist, muss es weder gekocht noch gebacken werden. Es schmeckt pur oder mit anderen Zutaten. Im Infozentrum könnt ihr es gleich probieren.“ Damit beendet Alfredo seinen Vortrag.
In den nächsten Tagen erfinden wir täglich weitere Gofio-Rezepte. Die Lieblingsvariante meiner Geschwister ist eine große Portion Nutella mit ein wenig Gofio-Pulver. Ich mag es als festen Brei mit reifen zerdrückten Bananen und Schlagsahne obendrauf. Später verfeinere ich diese Kreation, indem ich mehr Gofio und weniger Bananen verwende, bis der Teig fest genug ist, dass ich ihn zu Kugeln formen kann, die ich dann in Kokosraspeln rolle. Gofio-Pralinen nennen wir das.
Weil mein jüngster Bruder weiß, wie gern ich Gleitschirm fliege und dass ich mich jedes Mal freue, wenn ich einen anderen Piloten am Himmel sehe, hat er sich angewöhnt, mich auf jeden Schirm hinzuweisen, den er sieht. Normalerweise passierte das ein paar Mal am Tag, doch heute ruft er allein auf der kurzen Autofahrt zu unserem Hausstrand Playa del Socorro bestimmt fünfzehn Mal: „Schirm!“
Am Strand angekommen verstehe ich, warum: ein Gleitschirmfestival. Infostände und Sonnenzelte sind aufgebaut. Partymusik beschallt aus mehreren Boxen den Strand, auf dem mit weißen Bändern das Landefeld abgesteckt ist. Ein vertrautes Bild: Bunte Schirme kreisen am Himmel, gepackte Ausrüstungen lehnen an einer Mauer, daneben warten Piloten auf den Shuttlebus zum Startplatz, alle quatschen durcheinander über ihre größten Heldenflüge. Unten am Strand landet einer, zwei andere helfen beim Zusammenpacken, denn am Parkplatz laden die ersten Piloten ihre Ausrüstung bereits in den Bus. Alle drin, sie fahren, ich schaue ihnen nach; will mit.
Der schwarze Sand ist so heiß, dass ich barfuß nur schnell und mit nassen Füßen darüberlaufen kann. Auch dafür suche ich mir vorher den kürzesten Weg: vom Handtuch zum Wasser, von dort zum Eisverkäufer und zurück auf das helle Handtuch. Im Moment beschränkt sich mein Tun aufs Zuschauen: den Gleitschirmpiloten und Surfern, den Wolken und Wellen.
Um selbst zu fliegen, fehlt mir meine Ausrüstung. Sie lagert bei einem Freund in Deutschland, und ich muss mich noch ein paar Wochen oder gar Monate gedulden, bis er sie mir mitbringt. Immerhin haben wir einen gemeinsamen Flugurlaub auf den Kanaren fest geplant, nur der Zeitpunkt ist noch offen. Ich notiere mir vorsorglich all die Adressen, Startplätze und Kontakte, die mir die Piloten am Infostand geben.
Auch schwimmen darf ich heute nicht, weil der Bademeister jeden Versuch energisch mit seiner Trillerpfeife unterbindet, die rote Fahne zeigt absolutes Badeverbot an. Allein die Surfer dürfen sich in die meterhohen Wellen stürzen, aber surfen kann ich noch nicht. Ich begreife: Wenn auch ich in Zukunft an anderen als den angelegten und durch Molen geschützten Stränden ins Wasser will, muss ich einer von ihnen werden. Der Gedanke gefällt mir.
Die zwei Wochen mit meiner Familie verbringe ich wie eine Touristin: Ich stürze mich 28 Höhenmeter gefühlt senkrecht in die Tiefe und nehme anschließend den Schwarm Haie um mich herum kaum wahr. Letzteres im Siam-Park von der Rutsche „Tower of Power“, deren letztes, nun waagerechtes Stück innerhalb einer schmalen Plexiglasröhre durch ein Haifischbecken führt. Die Strände wechseln wir zwischen dem schwarzen Playa del Socorro und dem gelben Playa de las Teresitas. Wir besichtigen Städte, uralte Drachenbäume und natürlich den Teide. Kurz: Wir tun all das, was man in einem Teneriffa-Urlaub typischerweise tut. Den Gedanken, dass ich noch keinen Plan für die Zeit danach habe, schiebe ich weg, sobald er sich aufdrängt.
La Palma. Vom Flughafen Teneriffa Nord fliege ich mit meinem Vater und meiner Schwester Emma für zwei Tage nach La Palma. Dort möchte er Bekannte besuchen und mir vorstellen, die er von einem Seminar über Permakultur kennt. Heike und die Jungs bleiben auf Teneriffa.
Es ist mein erster Flug mit der regionalen Fluggesellschaft Binter Canarias, die überwiegend innerkanarische Flüge anbietet. Noch ahne ich nicht, dass ich bald Vielfliegerin dieser sympathischen weiß-grünen Airline sein werde. Die Platzwahl im Flugzeug ist frei, und jeder scheint so viele Taschen oder Kisten dabeizuhaben, wie er eben gern dabeihat. Wir bleiben auf niedriger Flughöhe unterhalb des Teide-Gipfels und genießen unseren Sightseeing-Flug: Zuerst zieht die Nordküste Teneriffas an uns vorbei, dann der Südosten von La Palma. Unsere Entscheidung für die linke Flugzeughälfte stellte sich also als die richtige Wahl heraus.
Mit einem Mietwagen fahren wir quer über die Insel von der bewölkten Ost- zur sonnigen Westküste nach Puerto de Tazacorte. Vor Santa Cruz de La Palma schlängeln wir uns die Berge hinauf. Vorbei an bunten Häuschen, die mal blau, mal pinkfarben am grünen Hang stehen. Je höher wir kommen, desto häufiger halten wir an, um die Aussicht zu fotografieren. Die Beinamen der Insel, „Isla Verde“ und „Isla Bonita“, sind berechtigt, beides ist sie: grün und schön.
Der Strand von Puerto de Tazacorte ist schwarz, die Häuser sind dafür umso bunter; die wenigen Menschen entspannt. Kubanische Musik dringt aus einer Bar, doch wir entscheiden uns für ein Fischrestaurant unter Kokospalmen. Hier esse ich zum ersten Mal die typisch kanarischen Runzel-Kartoffeln „Papas arrugadas“ mit der scharfen grünen und noch schärferen roten Mojo-Soße, die später auch ohne gegrillten Fisch zu einem meiner Lieblingssnacks auf den Kanaren werden. Praktisch, dass es die salzigen Pellkartoffeln in wirklich jedem kanarischen Restaurant gibt.
Wir fahren weiter an der Westküste entlang in Richtung Norden durch die Gemeinde Tijarafe. Sie hat mit über sechzehn Prozent den höchsten Ausländeranteil der Insel, und der besteht zu großen Teilen aus deutschen Eigenversorgern, Biobauern und Lebensgemeinschaften, von denen wir einige besuchen wollen. Das Land vor uns steigt vom Meer stetig auf über 2300 Meter am Rand der Caldera de Taburiente an, ist gesprenkelt mit einzelnen Gehöften und eingeschnitten von tiefen Schluchten. Wir fahren an der notierten Kilometermarkierung ab, ins Landesinnere, und unser Navi bestätigt, was auch ich sehe: Die befestigte Straße endet hier.
Als wir bei Thomas ankommen, ist er nicht da. Dafür taucht hin und wieder ein barfüßiges Mädchen mit Rastazöpfen im Leinenkleid auf, grüßt freundlich und verschwindet in einer anderen Hütte. Dann das nächste Rasta-Mädchen. Ein Mann mit langen, hochgesteckten Haaren hockt auf einer Mauer und spielt Gitarre. Auf dem Tisch sitzt ein Steinbuddha im Schneidersitz vor einer mit Blüten gefüllten Schale und diversen grünen und violetten Kristallscheiben. Überall sind Spiralen in den Boden geritzt oder mit Steinen und Pflanzen arrangiert. In jeder Ecke stehen Töpfe mit Pflanzen-Ablegern und Vasen voller Strelitzien. Dünne Baumstämme stützen die Vordächer, unter denen bunte tibetische Gebetsfahnen im Wind flattern.
Dann kommt Thomas, der all das hier aufgebaut hat. Seine dunkelblonden Locken reichen ihm bis auf die Schultern, sein Bart endet etwa auf derselben Höhe. Und sein volles, markantes Gesicht erinnert mich an das eines Wikingers. Verwegen und ursprünglich wie seine Hütten. Er zeigt uns das Haupthaus, das vor allem als Musikhaus dient. Überall lehnen Gitarren, hängen Kabel, stehen Trommeln und Mikrofone, in der Ecke ein Schlagzeug. Die Jamsessions jeden Montag sind mittlerweile inselweit bekannt. Fast alle der vielen Instrumente sind Geschenke von Menschen, die irgendwann einmal hier waren oder regelmäßig montags vorbeikommen. Dach und Fußboden sind aus Holz, die Wände aus gestapelten Lavagesteinsbrocken. Der Innenraum ist vor allem eins: bunt, und zwar nicht nur, was die farbliche Gestaltung betrifft. Ein bunter Mix aus Kulturen und Religionen, von denen ich keine als klar vorherrschende erkennen kann. Das dreieckige Fenster im Dachspitz ist wie ein Kirchenfenster bemalt – mit Mondsichel und Stern. Farbenfrohe Wandteppiche mit hinduistischen und buddhistischen Symbolen hängen neben einem Bild von Jesus – gütig lächelnd, mit Heiligenschein. Die Bücher im Regal umfassen die Themen eines kompletten Esoterik- und Religionsbuchladens.
Thomas zeigt uns eine Wohnhöhle weiter hinten auf seinem weitläufigen Grundstück, die seit Monaten vermietet ist. Zu einer kurzen Besichtigung können wir ihn trotzdem überreden. Im Eingang der Höhle baumeln Federn, ein Windspiel und ein Traumfänger. Im Inneren brauchen meine Augen einen Moment, um sich von der gleißenden Mittagssonne an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ein scharf begrenzter Lichtstrahl fällt durch die kleine Tür herein. Es ist angenehm kühl. Mit jeder Minute kann ich mehr erkennen: die einfache Matratze auf dem Boden, den bunten Bettbezug, einen Stapel Bücher als Nachttisch, viele Kerzen. Vereinzelte Kleidungsstücke hängen oder liegen herum. Die Felswand fühlt sich feucht und kalt an, der Boden ist holprig.
Als Thomas vor zwanzig Jahren auf die Insel kam, wohnte er zunächst selbst in einer Höhle. Sie befand sich auf dem Grundstück eines älteren Ehepaares, das ihm erlaubte, sie zu nutzen. Seine damals schlimme Neurodermitis zwang ihn, seinen Job als Tischler in Deutschland aufzugeben. Mit dem naturverbundenen Leben auf La Palma heilte seine Haut vollständig aus.
Mein persönlicher Favorit ist das offene Holzhaus auf Stelzen, mit Palmblättern gedeckt; wie ein Baumhaus thront es hoch oben über den Baumspitzen. Emma und ich lassen uns in die beiden Hängematten fallen.
„Wir können bis nach Amerika schauen – mindestens!“, ruft Emma Papa zu, der noch unten steht.
Thomas lacht und fragt uns, ob wir heimlich von der Pflanze probiert hätten, die üppig an unserem Baumhaus hochrankt. „Seid vorsichtig, Mädels, die hat eine halluzinogene Wirkung“, warnt er uns.
„Dann wächst die doch sicher nicht zufällig hier?“, will ich wissen.
„Ach, Zufall, was passiert schon zufällig im Leben? Dass ihr jetzt hier seid etwa?“
Danach fahren wir ins Paradies. Zumindest bezeichnet Anna ihr Grundstück so. Und uns fällt nicht viel ein, um ihr zu widersprechen.
„Hier wächst einfach alles“, schwärmt sie, „Äpfel und Nüsse, sogar Kastanien und Pilze wie in Deutschland und dazu Obst wie in den Tropen: Mangos, Bananen, Guaven, Papayas …“ Sie redet von den „Inseln des ewigen Frühlings“, und ihre Begeisterung steckt an. „Das Leben findet draußen statt.“
Wie wahr ihr letzter Satz ist, begreife ich erst, als wir uns ihr Paradies genauer anschauen. Wir beginnen den Rundgang in ihrer Küche. „In“ ist nicht ganz korrekt, denn die Küche ist draußen. Genau wie fast alles andere hier. Die Küchenzeile aus rot gestrichenem Holz steht mitten in ihrem Kräutergarten. Töpfe und Pfannen hängen am Baum, in dem auch eine weiße Katze sitzt.
Anna zeigt uns einen runden Meditations- und Seminarraum, den sie zusammen mit Freunden aus Natursteinen, Lehm, Holz und Glas gebaut hat. Und später ihren privaten „Tempel“ aus handgeformten, an der Luft getrockneten Lehmziegeln. Dort schläft sie und zieht sich zurück, wenn das Wetter doch einmal nicht dazu animiert, sich draußen aufzuhalten. Es ist urgemütlich, nirgends eine Ecke oder Kante, alles sieht weich und fließend aus. Eindeutig von Frauenhand gestaltet. Überall liegen Decken und Kissen; der Raum ist in warmes Licht gehüllt, die Wände sandfarben gestrichen.
In ihrem Gemüsegarten ernten wir die Zutaten für unseren Salat. Dabei erzählt sie uns, dass die Insulaner wieder mehr selbst anbauen; vielleicht, weil Wasser hier relativ günstig ist. Man mietet oder kauft Durchlaufrechte durch Wasserleitungen von der Gemeinde. Die Leitungen werden direkt über die Klippen bis zum Grundstück verlegt. Da es keinen Frost gibt, müssen sie nicht unterirdisch verlaufen. Das erklärt die vielen grauen Rohre, die wir auf dem Hinweg an den Hängen gesehen haben.
„Die dicken Rohre führen Wasser aus den Bergen bis hinunter ins Tal zu den Bananenplantagen. Die verbrauchen Unmengen von Wasser, dadurch sinkt der Grundwasserspiegel immer mehr. Die Gemeinde Barlovento im Norden der Insel stellt ihren Anwohnern sogar Land und Wasser zur Verfügung, um den Getreideanbau zu fördern.“ Während sie das sagt, schneidet sie frisch gebackenes Brot auf. Nur den Ziegenkäse hat sie auf einem Bauernmarkt gekauft.
Sie erwähnt einige kleinere Gemeinschaftsprojekte auf der Insel, die die Vision verwirklichen, ein alternatives Leben in Harmonie mit der Natur zu führen. Schon zum zweiten Mal hören wir heute vom Permakultur-Projekt Autarca und beschließen, dort morgen spontan einmal vorbeizuschauen.
„In einem anderen Projekt haben Kinder, Eltern und Lehrer eine Schule aus Lehm gebaut.“ Auch sie war früher Lehrerin, hier lebt sie von Mieteinnahmen aus Deutschland.
„Die wenigsten Projekte können sich ausreichend finanzieren“, erklärt sie, „obwohl man hier auch nicht viel braucht. Wir Ausländer haben ein Netzwerk und unterstützen uns gegenseitig. Auch der Kontakt zu den Einheimischen ist gut.“
Nach dem Essen setzen wir unseren Rundgang auf der Finca fort: Das Bad besteht aus einer Wanne unterm Sternenhimmel mit einer Feuerstelle darunter und einer Dusche, umgeben von Bambus. Für Letztere entscheide ich mich. Das Wasser kommt aus einem langen schwarzen, spiralförmig ausgelegten Schlauch, der sich tagsüber in der Sonne aufheizt. Die Blätter rascheln über mir durch das Spritzwasser, das von meinen Haaren abperlt, und die angenehm runden Steine unter meinen Füßen erwärmen sich von dem noch warmen Wasser.
Ich genieße es, mit meiner Schwester und meinem Vater zusammen im Baumwollzelt unter einem Kakibaum zu schlafen. Abends liegen wir lange wach und reden über den Tag. Als sie eingeschlafen sind, stehe ich leise auf und gehe noch eine kleine Runde über das Grundstück. Die Grillen zirpen, und in jedem zweiten Gebüsch raschelt es. Es beruhigt mich zu wissen, dass weder giftige Schlangen noch Skorpione die Geräusche verursachen können, weil giftige Tiere auf den Kanaren nicht vorkommen – von einem seltenen Hundertfüßler abgesehen.
Der Himmel überwältigt mich. Jeder einzelne Stern funkelt kristallklar, und es sind mehr, als ich je auf einmal gesehen habe. Es wundert mich nicht, dass eins der größten Teleskope der Welt hier im Observatorium auf dem Roque de los Muchachos steht. Im „Ley del Cielo“, dem weltweit ersten Gesetz gegen Lichtverschmutzung, wurden 1988 Beschränkungen der Außenbeleuchtung auf La Palma festgelegt. Auch die Straßenlaternen wurden durch orangefarbene, zum Boden strahlende ersetzt.
Am nächsten Morgen fühle ich mich so erholt wie lange nicht mehr. Schon vor Stunden hörte ich den ersten Vogel singen, jetzt zwitschern sie wild und laut durcheinander. Minze und Zitronenmelisse duften herrlich in der feuchten Morgenluft. Als die ersten Sonnenstrahlen auf sie treffen, dampfen sie wie frisch aufgebrühter Tee.
Nach einem Obst-Frühstück direkt vom Baum fahren wir in eine Bucht weiter im Norden. Schon beim Abstieg entdecken wir die ersten Höhlenwohnungen. Der schmale Pfad führt so nah an den Felsklippen entlang, dass ich mich fühle, als würde ich durch die Vorgärten der Höhlenbewohner spazieren. Manche Vordächer überdecken den gesamten Pfad, und ich vermute, dass hier nicht häufig Gäste wie wir vorbeischauen. Auf den ersten Blick bin ich überrascht, wie ursprünglich die Höhlen wirken. Sie haben nichts mit den ausgebauten Höhlenhäusern zu tun, die teilweise auf Gran Canaria oder in Andalusien stehen. Sie sehen aus wie rein natürlich entstandene Höhlen, vor die jemand eine Tür gesetzt hat, ähnlich wie die gestern bei Thomas. Doch bei näherem Hinsehen wandelt sich das Bild: Steckdosen sind teilweise sogar im überdachten Außenbereich angebracht, Wasserleitungen verlaufen über die Felsen. Manche Höhlenwohnungen haben Fenster oder einen kleinen Vorbau aus Beton. Schlösser verschließen die Eingangstüren. Tische und Stühle, zusammengesetzt aus größeren Steinen, stehen vor den Höhlen im unteren Teil der Bucht. Und vor nahezu jeder Höhle gibt es verrußte Feuerstellen, oft mit Gittern darüber wie bei einem Grill.
In der gesamten Bucht ist es ruhig. Zum Trocknen aufgehängte Handtücher und im Wind schaukelnde Hängematten vor den Höhlen zeugen zwar von Leben, aber wir treffen niemanden. Vielleicht schlafen alle noch oder warten mit dem Aufstehen, bis wir verschwunden sind.
Zwischen Felswänden gehen wir weiter in die Schlucht hinein, kaum mehr als hundert Meter, bis der gewundene Weg und dichtes Gestrüpp das eben noch laute Tosen des Meeres verschluckt haben. Die Stille wirkt fast unwirklich. Am Ende der Schlucht ragen Felswände auf, orangebraun, glatt und steil, und verdichten sich weit über uns wie ein Trichter, in dessen unterer Öffnung wir nun sitzen. Jeder auf einem der großen Steine, die zu diesem Zweck hier arrangiert wurden und alle auf die Mitte einer großen, aus Steinen gelegten Spirale gerichtet sind. Ein Treffpunkt der Höhlenbewohner, die Felswände verziert mit Symbolen wie dreifachen Spiralen oder dem Yin-Yang-Zeichen.
Auf unserem Weg in Richtung Süden halten wir bei der Lebensgemeinschaft Autarca, von der uns Anna gestern erzählt hat.
„In Kooperation mit der Natur forsten wir verwüstetes Land wieder auf und schließen systematisch Kreisläufe. Dadurch entstehen eine üppig nährende Vegetation und regionale Regenfälle. Wir erlangen wirtschaftliche und energetische Unabhängigkeit“, beschreiben Barbara und Erich ihr Projekt.
Zum Kochen, Backen und Dörren stehen vor dem bioklimatischen Wohnhaus verschiedene Solaröfen. Zwei ineinandergestülpte Wassertonnen dienen als kleine Biogasanlage.
„Wir füttern die Methanbakterien täglich mit etwa zwei Kilogramm Küchenabfällen und fünf Litern Wasser; damit produzieren sie ausreichend Gas, um bis zu zwei Stunden am Herd zu kochen“, erklärt Erich. „In einer alten Blechtonne findet die Pyrolyse von Futterresten der Ziegen zu Bio-Holzkohle statt. Diese wird im Kompost-Klo zur Herstellung von Terra Preta integriert. Und aus organischem Müll werden in Wurmfarmen Flüssigdünger und Humus gewonnen.“ Auf dem gesamten Grundstück entdecke ich kein einziges Beet, stattdessen wachsen Obstbäume, Gemüse, Kräuter und Blumen auf Hügelbeeten, in Sonnenfallen und Kratern wild durcheinander.
„In Teichen gespeichertes Wasser wird weitergeleitet in die angelegte hochbiodiverse essbare Landschaft“, so Erich.
„Alle Haus- und Wildtiere bewegen sich frei, und dem Aufbau von gesunden Bienenvölkern schenken wir besondere Aufmerksamkeit. Unsere Kinder lernen, wie befreiend und inspirierend es ist, Verantwortung für einen gesunden Planeten zu übernehmen“, schwärmt Barbara.
Fahrt vorbei an großflächigen Bananenplantagen über die Südspitze zurück an die Ostküste zum Flughafen. Der Vulkan El Teneguía im Süden La Palmas ist erst 1971 ausgebrochen und damit der jüngste Vulkan Spaniens. Lavaströme haben große Gebiete bedeckt und vorübergehend sämtliches Leben vernichtet. Jetzt leuchten auf dem schroffen Untergrund erste grüne Büsche, und die Gemeinde Fuencaliente nutzt einige der Gebiete mit ihrer fruchtbaren Vulkanasche zum Weinanbau. Der süße Malvasier wurde mehrfach ausgezeichnet. Die Lava floss damals bis ins Meer und vergrößerte damit die Insel ein weiteres Mal. Einen dabei neu entstandenen Strand hat man ganz pragmatisch „Playa Nueva“ genannt. Einen alten und einen neuen Leuchtturm; eine Saline mit Besucherzentrum und Café, in der dank EU-Subventionen heute noch Salz gewonnen wird – mehr gibt es hier nicht. Schwarzes „Malpaís“, so weit ich schauen kann. Was für ein Kontrast zu der sonst so grünen Insel, die zu vierzig Prozent mit Wald bedeckt ist.
Los Realejos, Teneriffa. Manchmal sehne ich mich nach einem Zuhause, danach, irgendwo anzukommen. Eine heftige Angina verdirbt mir plötzlich meine gesamte positive Stimmung. Ich fühle mich elend, und alles, was ich will, ist meine Ruhe haben, im Bett liegen und von einem geliebten Menschen umsorgt werden. Ich bin froh, dass meine Familie noch da ist, wenn auch nur noch einen weiteren Tag. Papa kocht mir Ingwertee, und ich genieße es, die Stimmen meiner Geschwister und unserer Gäste im Garten zu hören, während ich in der heißen Badewanne liege.
Die Tür zu meinem Badezimmer geht auf und der vierjährige Sammy sieht mich erstaunt mit seinen großen, dunklen Augen an. Wortlos. Tür wieder zu.
Ich lausche dem Gespräch, das er vor der Badtür mit meinem ebenfalls vierjährigen Bruder führt: „Du, Albert, da liegt eine nackte fremde Frau in eurer Wanne.“ Kleine Tippelschritte zum Bad, Tür wieder einen Spalt auf, diesmal schauen beide Kinderköpfe herein. Wie in einem Comic: Alberts blonder Schopf über Sammys schwarzem. Sie stellen sich direkt neben meine Wanne und unterhalten sich, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.
„Ach Quatsch, das ist doch meine Schwester!“
„Nein, nein, das kann nicht sein, deine Schwester ist doch die Emma, und die hier“, Sammy zeigt auf mich, „habe ich noch nie gesehen.“
„Doch, doch, das ist so was wie die Emma, nur in groß. Die wohnt nicht bei uns.“
Mittlerweile hat Sammy einen Zahnputzbecher entdeckt, den er wieder und wieder mit kaltem Wasser aus dem Waschbecken füllt und dann gedankenversunken in meine Badewanne schüttet. Er mustert mich noch immer sehr ungläubig. Ich sage kein Wort. Die frische Luft durch die offene Tür und das kalte Wasser tun gut, so überhitzt, wie ich mich fühle.
Vor allem aber genieße ich Alberts verteidigenden Worte: „Die ist wirklich meine Schwester und echt okay.“ Sein Tonfall macht deutlich, dass „okay“ sehr anerkennend gemeint war. Damit scheint die Diskussion beendet, und sie verlassen das Badezimmer.
Gleichzeitig wird mir aber auch bewusst: Ab übermorgen bin ich wieder allein. Und ich muss weiter, hier kann ich nicht bleiben. Brauche irgendein billiges Zimmer, muss packen, umziehen, Entscheidungen treffen und alles, was ich will, ist schlafen.
PUERTO DE LA CRUZ, TENERIFFA.