Ein Jahr in der Toskana - Andrea Thiele - E-Book

Ein Jahr in der Toskana E-Book

Andrea Thiele

4,8

Beschreibung

Andrea Thiele hat gemacht, wovon viele träumen: Sie hat Regen und Nebel den Rücken gekehrt und sich im sonnigen Herzen der Toskana niedergelassen. In diesem Buch erzählt sie von Wohnungen im Olivenhain, von der Kunst des arrangiarsi, vom Nummern-Ziehen beim Bäcker und davon, wie es ist, ohne Helm mit einer Vespa in der Sonne Italiens zum Markt zu fahren.

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Andrea Thiele

Ein Jahr in der Toskana

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe

6. Auflage 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2007

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung

Agentur R·M·E Roland Eschlbeck & Liana Tuchel

Umschlagmotiv: © buchcover.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80266-9

ISBN (Buch): 978-3-451-05729-8

Inhalt

September Die Leichtigkeit des Seins

Oktober Der Ernst des Lebens

November Die erste Krise

Dezember La mia famiglia

Januar Deutsche bevorzugt!

Februar Die Insel der Glücklichen

März In der Steuerfalle

April Benvenuto Sommer

Mai Die Kunst des „Arrangiarsi“

Juni Die Italienerin in mir

Juli Addio Mamma!

August Das süsse Leben

Für meine Eltern

und

für Seba

September Die Leichtigkeit des Seins

33 Grad, meine Haare flattern im Wind, eine Brise kühlt mein Gesicht. Einen eigenen Helm habe ich noch nicht. „Non importa, macht nichts“, ruft Giulio, „uns wird schon keiner erwischen.“ Eine Böe pfeift unter meinen Leinenrock und lässt ihn tanzen. Die Zehen, die aus den Ledersandalen lugen, freuen sich über den kühlenden Fahrtwind. Frei wie ein Vogel fühle ich mich, durch die Lüfte schwebend. Nie hätte ich gedacht, dass mich eine Fahrt auf dem Motorroller so glücklich machen könnte. Ich schlinge meine Arme um Giulio, der das Zweirad elegant durch die toskanischen Hügel steuert.

Aufgereiht wie an einer Kette ziehen die Zypressen vor meinen Augen vorüber, knorrige Olivenbäume veranstalten Schattenspiele, hier und da krönt ein erdfarbenes Landhaus einen Hügel. Die Nachmittagssonne taucht alles in ein sattes Rosarot, eine Farbe, die nur das Licht des Südens malt. So unwirklich, als hätte sie ein Künstler erdacht. Jedes Mal wieder hüpft mein Herz vor Entzücken, wenn ich diese Landschaft erblicke. Ganz besonders heute, wo ich zu meinem Häuschen in der Toskana fahre.

Wie so viele Male zuvor habe ich mich in Lübeck ins Flugzeug gesetzt, eine Stunde und vierzig Minuten später in Pisa italienischen Boden betreten und dort den Zug nach Florenz bestiegen. Mit einem Unterschied: Diesmal bleibe ich!

„Auswandern, weißt du eigentlich, was das bedeutet?“, hatten mir meine Freundinnen ins Gewissen geredet. „Ein Leben ohne Familie, ohne uns, deine uralten Freunde, an einem Ort, wo keiner deine Sprache spricht …“ Ich hatte mit der Schulter gezuckt. Ich war verliebt: in die Toskana. Seit langer Zeit, seit einem Urlaub vor fünfzehn Jahren. In Florenz hatte es mich erwischt: Ich kostete vom süßen italienischen Leben, spürte die ungeheure Lebenslust, diese Sonne, die so süchtig macht, weil sie täglich den Körper und die Seele streichelt. Ich inhalierte den Geist der Kunst, die grenzenlose Kreativität, die in Florenz in jedem Stein der Altstadt lebt …

Jedes Jahr kehrte ich zurück; vielleicht suchte ich „ihn“. Im vergangenen Jahr fand ich ihn: Giulio, kaum größer als ich, drahtig, wache blaue Augen, dunkle volle Mähne und immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Ein Lebenskünstler, der trotz seiner drei Jobs jeden Augenblick lebt, als sei es der letzte, und der täglich aufs Neue genug Muße findet, mich mit Haut und Haaren zu lieben.

Bis zur letzten Minute konnte er nicht glauben, dass ich kommen und bleiben würde. Immer wieder hatte auch er mich gewarnt: „La vita italiana non è solo dolce, sondern das Leben ist hier vor allem dura, verdammt hart.“ Was soll’s, das ist mein Leben als freie Journalistin auch in Deutschland. Aber wenn schon hart, dann wenigstens da, wo die Sonne scheint, wo ich geliebt werde, und wo ich schon immer leben wollte: in Florenz.

Der deutsche Sommer neigte sich dem Ende zu, und ich brach in meine neue Heimat auf. Ohne es zu wissen, folgte ich bereits dem italienischen Rhythmus, denn auch die Italiener kehren im September heim – aus den Bergen und von der kühlenden See zurück in ihre Stadt. Sie bevölkern die verwaisten Plätze, Parks und Paläste, öffnen ihre Läden, schreiben sich an Universitäten und zu Sportkursen ein, sperren die Tore ihrer Schulen und Kindergärten wieder auf und beginnen ihr Alltagsleben von Neuem – jeden September.

An einer sandfarbenen Dorfkirche biegen wir in die Straße mit dem verheißungsvollen Namen Via San Felice a Ema, den „Weg des Heiligen Glücks an der Ema“. Eine alte Steinmauer entlang, rechts in eine Toreinfahrt. Da steht mein Häuschen. Es ist gemietet, aber doch meins, weil ich es sofort im Herzen adoptiert habe, als Giulio es mir vor drei Monaten das erste Mal zeigte: eine limonaia, ein über hundert Jahre altes Gewächshaus für Zitronen, mitten in einem verwilderten Park. Kletterrosen umranken seine Steinmauern. Eine hüfthohe Rosmarinhecke führt zur komplett verglasten Westfront des Häuschens. Durch die haushohen Fenster fällt das milde Abendlicht in die zwei Zimmer. Alles in allem sechzig Quadratmeter: mein neues Reich, zumindest für die nächsten sechs Monate. So lange wollen wir testen, was aus einer anregenden Distanzbeziehung wird, wenn man die Entfernung von fünfzehnhundert Kilometer auf sieben verkürzt. So weit liegt Giulios Einzimmerwohnung im Zentrum entfernt.

Ich reiße die Glastüren auf, lasse meinen Rucksack auf die klobigen Terracottafliesen plumpsen und mich auf das Sofa vor dem Kamin. Giulio zieht eine Flasche Chianti aus seiner Tasche, kramt in der Küche nach einem Korkenzieher und kommt mit zwei Gläsern zurück.

„Benvenuta in Italia“, sagt er und prostet mir zu.

„Lass uns den Wein in der Abendsonne trinken“, schlage ich vor und trage zwei Holzstühle aus der Küche vors Haus. Giulio folgt mir mit dem Bauerntisch auf die Wiese, in den Schatten eines Olivenbaumes. Wie praktisch, dass in Italien fast alle Wohnungen möbliert vermietet werden. Mein Vermieter hat dabei Geschmack bewiesen. Neben dem nagelneuen, weißen Ausklappsofa ist die limonaia nur mit antikem Holz ausgestattet: vom Bett über den Schrank bis zur Kommode. Historische Lithographien zieren die gekalkten Wände und geben allem einen Touch von Ferienwohnung.

Die Häkeldeckchen in der Küche, die Kristallvasen und Plastikblumen auf dem Kamin werde ich allerdings für die Zeit meines Aufenthalts einmotten. Sind erst meine Kisten da, ersetze ich die geblümten Porzellantassen durch meine schlichten Ikeabecher. Der Hamburger Wasserkocher, die Thermoskanne und das Teesieb werden mit der örtlichen Mokkamaschine in der Küche die deutsch-italienische Freundschaft bezeugen. Die Ecke zwischen Kamin und Badezimmer werde ich zum Büro ernennen, dort werde ich mit Blick über silbergrüne Olivenhaine, Weinberge und Pferdekoppeln meine Reportagen tippen. Bis die Spedition anklopft, habe ich allerdings noch Schonfrist, mache Urlaub und stimme mich auf das italienische Leben ein.

Violett blüht der wilde Thymian auf der Wiese, die ich ab heute meinen Garten nenne. Bei jeder Berührung mit dem Schuh verströmen die Blüten ihren Duft. Ich schlüpfe aus meinen Sandalen, schleudere sie Richtung Häuschen. Drinnen blubbert im Topf die pasta. Mit meinem Weinglas in der Hand zupfe ich ein paar Salbeiblätter von dem Busch neben der limonaia. Etwas Öl dazu und fertig ist unser Abendessen unterm Olivenbaum. Für den Nachtisch pflückt Giulio ein paar Birnen. Ob der Baum noch zu meinem Garten gehört? Irgendwo wird er wohl enden, auch wenn kein Zaun eine Grenze markiert. Von Giulio weiß ich, dass auf dem riesigen Anwesen noch andere Personen wohnen.

Niemand ist zu sehen. Nur die Wäsche, die zwischen zwei Bäumen auf einer Leine hängt, zeugt von der Präsenz meiner Nachbarn. Ein paar Meter weiter steht zwischen den Olivenbäumen ein Verschlag mit Gerätschaften. Wohnhäuser sind nicht in Sichtweite. Allerdings führt ein Trampelpfad von der Wäscheleine zu einem Kiesplatz, auf dem fünf Autos parken. Das Land dahinter schützt eine Reihe gigantischer Zypressen vor neugierigen Blicken.

„Wo wohnt eigentlich mein Vermieter?“, frage ich Giulio, der mir meine Bleibe auf italienische Art über Beziehungen organisiert hat.

„Lassù, dort oben“ sagt er, und zeigt in Richtung des Parkplatzes. Hinter den Zypressen erahne ich auf einem Hügel eine Villa.

„Vuoi fare un giro?“, will Giulio wissen. Klar will ich einen Rundgang machen. Er greift meine Hand und steuert mich erst mal auf der anderen Seite den Hügel hinab. Weinreben klettern zwischen den knorrigen Olivenbäumen. Dazwischen Gras und Wildblumen. Wilde Rosenbüsche begrenzen am Fuß des Hügels das Grundstück. Aus den dichten Ranken lugt ein marmorner Pferdekopf hervor, ein Stück weiter eine lebensgroße Venus, und auf der Wiese ragen sechs Marmorsäulen in den Himmel. Neben einem Brunnen ruht mitten in der Natur eine steinerne Badewanne. Surreal, wie die Kulisse eines Fellini-Films.

„Bis in die Siebziger lebte hier ein verrückter Philosoph, der diesen Park zum Lustwandeln anlegen ließ“, sagt Giulio, als er meine überraschten Blicke sieht, „noch in der Nacht seines Todes klauten Unbekannte die wertvollsten Skulpturen, der Rest überwucherte mit der Zeit. Die heutige Besitzerin erbte das Anwesen. Sie ist Kunsthistorikerin, ihr Sohn Filmemacher. Ich glaube, beide finden ihren verwilderten Garten todschick.“

„Woher kennst du sie?“

„Über Freunde, ich hab mal einen Job für die gemacht …“

Staunend schlendere ich mit Giulio weiter durchs Tal, in dem die Ema plätschert. Nach einigen Metern führt der Pfad den Hügel hinauf. Oben thront das barocke Landgut. Wir klettern den steilen Abhang hoch, passieren ein kleines Haus, einen alten Speicher, eine Wirtschaftshütte – allesamt bewohnt – und stehen vor dem Prunkbau. Sandgelb, verschachtelt mit diversen Eingängen, Terrassen und Fenstern. Davor parken unter drei knorrigen Linden mehrere Autos. Ein Trampelpfad führt zu einer hölzernen Tür an der Seitenwand. Giulio klopft. Wir warten. Er klopft noch einmal.

Die Tür öffnet sich, vor uns steht ein Typ, kaum älter als wir, lange schwarze Lockenmähne, blaues T-Shirt, zerschlissene Jeans, durchlöcherte Turnschuhe. Das soll mein Vermieter sein? Der Filmemacher? Der Sohn der Villenbesitzerin?

„Entrate, kommt rein“, sagt er vergnügt, „es ist ein wenig unordentlich. Meine Frau ist mir grad abgehauen. Prendete un caffè, möchtet ihr einen Kaffee?“

„No, grazie“, antwortet Giulio und bleibt im Eingang stehen, „ich wollte dir nur deine neue Mieterin vorstellen.“

„Piacere, erfreut, ich bin Massimiliano“, sagt er und reicht mir die Hand. Unsere Blicke treffen sich und bleiben einige Sekunden aneinander hängen. Seine Augen funkeln, ein zweideutiges Grinsen, als wolle er seine durchgebrannte Ehefrau im Handumdrehen durch mich ersetzen.

Giulio greift meine Hand: „Wir haben es eilig.“

„Bene“, erwidert mein Vermieter, „falls was ist, wisst ihr ja, wo ihr mich findet.“ Als hätte man ihn beim Klauen ertappt, schaut er unsicher zu Boden, dann noch mal zu mir. „Fühl dich hier wie zu Hause. Der große Garten ist für uns alle da. Zwölf Familien wohnen hier. Mit dir dreizehn.“ Er zwinkert mir zu.

„Unverschämtheit, den bringe ich um“, schimpft Giulio, als wir wieder vor der Tür stehen, „so was macht man nicht, wenn der Freund dabei ist.“

„Was?“

„Du hast doch genau gesehen, wie der dich angegafft hat.“

„Der fand mich eben nett“, versuche ich ihn zu beruhigen.

„Nimm diesen Schürzenjäger noch in Schutz“, schnauft Giulio, schleudert meine Hand weg und eilt voraus. Ein paar Stufen runter, über eine Terrasse, an den Zypressen vorbei, zu meinem Haus.

Glücklicherweise ist das Feuer der Eifersucht am nächsten Morgen erloschen, und jede Ambition auf ein Ehrenduell ebenfalls. Der Italiener lebt eben nicht im Gestern, sondern im Augenblick. Und jetzt geht’s um die praktischen Dinge des Lebens. Mein Kühlschrank muss gefüllt werden. Ich brauche Gewürze, Klopapier und Putzzeug, ich will eine Bank, Post, Apotheke und einen Supermarkt auftun und meine Nachbarschaft erkunden.

Wir schlendern die Via San Felice a Ema hinunter zur Kirche und suchen eine Bushaltestelle. Die ist nicht mehr als ein Straßenpfeiler mit der orangefarbenen Nummer 37. Kein Häuschen, kein Schild, kein Fahrplan. Vor allem weit und breit kein Laden, an dem das große blaue „T“ prangt. Das heißt zwar tabaccaio, Tabakladen, aber für mich steht das blaue „T“ für Ticket, denn die Busfahrscheine gibt es in Florenz nur im Tabakladen. Nicht im Bus.

Giulio zieht mich an der Hand auf die andere Straßenseite.

„Wo willst du hin?“

„Tickets kaufen, in der Casa del popolo“.

Im Bürgerverein? Wo sich Jugendliche, alte und arbeitslose Männer ihre Langeweile vertreiben? Frauen sind dort selten zu sehen, denn die plagt das Nichtstun kaum: Sie haben ja ihren Haushalt.

Tatsächlich stehen am langen roten Tresen jede Menge Männer aller Altergruppen. An den Wänden hängen Fußballposter, aus dem Fernseher sind Sportnachrichten zu hören, zwischen Daddelautomaten steht ein Billardtisch. Geschlossen dreht sich die Mannschaft um und starrt mich an. Sollte diese merkwürdige, immer wieder auftauchende Reaktion durch meine rotblonden Haaren hervorgerufen werden? Liegt es an den blauen Augen? Den slawisch breiten Wangenknochen? Ein nordischer Einschlag übt auf die Augen der Florentiner Männer einfach eine magische Anziehungskraft aus. Nicht ganz unschuldig daran mag das Vorurteil sein, dass Nordeuropäerinnen leicht zu haben sind.

Wir kaufen biglietti dell’ autobus und fahren mit dem Bus zwei Stationen bis zur Piazza von Galluzzo. Blumen, Büsche und ein Obelisk zieren den Platz. Drumherum findet sich alles, was ein italienisches Hausfrauenherz erfreut: ein Fischgeschäft, ein Bäcker, Schuster und ein Haushaltswarenhöker. Marktstände ergänzen das Angebot mit Nähmaschinen und Nachthemden, Schuhen und Seife, Tomaten und Tortellini. Einer der Marktwagen ist unter lauter Plastikobjekten kaum mehr zu erkennen: Putzeimer, Zitronenpressen, Wäschespinnen, Nudelsiebe baumeln an allen Seiten. Ich kaufe einen Besen, Putzzeug und eine Fußmatte.

Am nächsten banco, Marktstand, türmen sich Artischocken und Auberginen zu brusthohen Pyramiden. Aus einem Bastkorb leuchten feuerrote Bohnenschoten mit weißen Flecken. Drei fußballgroße Kürbisse bilden eine farbliche Grenze zum Kohl, der nach Sorten geordnet ist: elf Grüppchen. Von so vielen Kohlsorten hätte ich nicht mal geträumt. Da ist der bittere cavolo nero, der salatähnliche cavolo riccio oder der wassergrüne cavolo marino, der nur gekocht schmeckt und voller Mineralien steckt. Alle kunstvoll gestapelt, als würde die Marktfrau im nächsten Moment einen Werbefotografen erwarten.

Am liebsten würde ich von allem etwas nehmen. Aber ich beschließe, mich Schritt für Schritt durch das einheimische Grünzeug zu testen und mir täglich nur ein kulinarisches Experiment vorzunehmen. Heute probiere ich die roten Feigenkaktusfrüchte, die nur im September zu haben sind. In Hamburg hätte ich stattdessen ein Kilo Äpfel erstanden, hier decke ich mich mit fünf Sorten Oliven, pecorino-Schafskäse, einem Kilo Flaschentomaten und zwei Bündeln Basilikum ein.

Giulio nimmt mir eine Plastiktüte nach der anderen ab.

„Ich kann auch was tragen“, protestiere ich.

„No, sei una donna“, erwidert er, „nein, du bist eine Frau.“

„Ja, und? Die können ihren Einkauf nicht selber tragen?“

„Certo, aber nicht, solange ich dabei bin. Das gehört sich nicht.“

Tatsächlich, wer in Begleitung eines Mannes shoppt, trägt nichts, nicht mal die eigene Handtasche. Italienische Ehemänner und Söhne nehmen ihren Frauen alles ab. Welcher deutsche Mann würde je auf so eine Idee kommen? Und welche deutsche Frau würde sie annehmen? Ich zumindest komme mir recht seltsam vor, so taschenlos, mit einem Packesel an meiner Seite. Vor allem irritiert mich der Anblick der Hausfrauen, die ihre täglichen Einkäufe für die Großfamilie allein tätigen, denn denen hilft niemand mit ihren Bergen von Taschen. Aber das scheint kein Problem zu sein, solange der Ehemann es nicht mit anschauen muss.

„Ciao Giulio“, ruft eine Frauenstimme, „was machst du hier?“

Eine lockige Brünette stürzt auf meinen Freund zu, umarmt ihn und drückt ihm Küsse auf die Wangen. Kaum haben sich ihre Lippen von ihm gelöst, schnattert sie los, ihre Hände fliegen rhythmisch in die Luft, sie lacht, erzählt, klopft Giulio auf die Schulter. Als sie nach einer Weile Luft holt, nutzt Giulio die Gelegenheit, um mich vorzustellen. Sofort prasseln auch auf mich die Küsse und Geschichten nieder. Bei der Geschwindigkeit verstehe ich nur so viel, dass Marzia die Ehefrau von Giulios bestem Freund Roberto ist, der, soweit ich weiß, seit einigen Monaten in Rom lebt und dort für die Entwicklungshilfe arbeitet. Längst wollte sie ihrem Mann in die Hauptstadt gefolgt sein, aber Marzia findet dort keinen Job, der vergleichbar mit ihrem jetzigen in der Florentiner Umweltbehörde ist. Deshalb wohnt sie noch hier und hat aus Kostengründen ein Zimmer der ehelichen Wohnung an eine Studentin vermietet.

„Ci vediamo. Bis bald“, verkündet sie urplötzlich, drückt mich, drückt Giulio und ist davon.

Mit einem Mal wird mir klar, dass ich nicht einen von Giulios Freunden persönlich kenne, nicht mal seine Geschwister oder seine Eltern. Aus Erzählungen sind sie mir längst bekannt, aber tatsächlich bin ich ihnen nie begegnet. Zu sehr haben wir uns in einer Liebesblase treiben lassen. Ein Wochenende im Monat ist eben nicht viel Zeit. Die wollten wir komplett für uns. Was interessierten da die anderen? Aber jetzt spielt sich mein Alltag hier ab.

„Domani, morgen holen wir deinen Motorroller ab“, meint Giulio.

„Was für einen Motorroller?“

„Non hai capito? Marzia hat dir gerade ihr motorino geschenkt!“

„Nein, das glaube ich nicht.“

„Si, sie sagt, du kannst hier draußen unmöglich ohne fahrbaren Untersatz leben. Die Busse fahren nur bis 21.30 Uhr. Wie willst du Freunde treffen, ins Kino gehen?“

„Ja, aber, … so ein Geschenk kann ich nicht annehmen.“

„Warum nicht? Sie will das alte Ding loswerden. In der Altstadt kann sie nichts damit anfangen. Bei den vielen Fußgängerzonen, Sperrzeiten und den Parkplatzproblemen. Sie fährt lieber Fahrrad.“

Wer einen Motorroller besitzt, sollte auch wissen, wie man so ein Gefährt bedient. Also müssen Fahrstunden her. Giulio macht nicht viele Worte, wie jeder Italiener hat er das motorino-Fahren gleich nach dem Laufen erlernt. In drei Sätzen erklärt er mir, wo Gas, Bremse, Blinker und Hupe sind und schickt mich los. Einmal über den Parkplatz des Fußballstadions.

Ich drehe am Gasgriff. Nichts. Ich drehe weiter. Plötzlich schießt die Maschine los wie ein wildgewordener Hengst. Das Vorderrad hebt ab, vor Schreck lasse ich los, das Rad knallt runter. Wo ist die Bremse? Ich greife zu. Das Ding steht mit einem Satz. Mein Oberkörper schießt wie ein Pfeil vorneüber. Mein Herz pocht bis unters Kinn. Giulio biegt sich vor Lachen.

In meinem Führerschein steht zwar, dass ich „Krafträder mit einem Hubraum von nicht mehr als 50 cm2“ steuern darf, aber mir erscheint das eine Wahnsinnsidee. Haben womöglich alle Italiener ihr Fahrhandwerk auf gleiche Weise von Freunden erlernt? Giulio nickt. Der vierzehnte Geburtstag langte bis vor kurzem als Fahrerlaubnis.

„All die, die hier seit Jahren, Jahrzehnten 50er fahren, haben nie Verkehrsregeln gelernt? Ihre Fahrtauglichkeit wurde nie geprüft?“

„Warum denn?! Früher gab’s nicht mal Nummernschilder für die motorini. Das Fahren ist doch ein Kinderspiel“, sagt Giulio. Zum Beweis platziert er mich auf dem Rücksitz, und wir drehen eine Runde über den Platz. Sofort ist da wieder dieses Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit. Ich komme mir vor wie Audrey Hepburn in „Ein Herz und eine Krone“. Was wäre Italien ohne seine Vespa?

Tatsächlich ist mein Zweirad aber gar keine Vespa, sondern ein Beta Tempo. Kein viel verheißender Name, im Gegensatz zu seinen Artgenossen Free und Liberty, wo das Fahrgefühl gleich im Namen mitverkauft wird.

Nach einer Stunde ziehe auch ich Kreise über den Platz, halte, fahre an, bocke auf und verkünde: „Jetzt weiß ich, wie’s geht!“

„Bene. Dann kannst du ja jetzt raus auf die Straße?“

Ungläubig schaue ich auf die vierspurige viale. Da herrscht Anarchie. Zu dritt oder viert brettern die Autos und Zweiräder nebeneinander über ihre zwei Spuren. Selbst in die kleinste Lücke stößt ein Fahrzeug. Jeder Zentimeter wird genutzt. Eilige überholen trotz Doppelstriches auf der Gegenfahrbahn. Ein Kleintransporter parkt in dritter Reihe. Ein Radfahrer rollt bedächtig auf der falschen Seite gegen den Strom. Mittendrin stehen zwei ältere Frauen auf dem Asphalt, die auf halber Strecke Halt gemacht haben und nun den neusten Tratsch austauschen. Der Verkehr fließt um sie herum, als seien die beiden eine zementierte Verkehrsinsel. Regeln scheint es nicht zu geben, die Schilder für Park- oder Abbiegeverbote wirken wie reine Dekoration. Und da soll ich hinein?

Was bleibt mir anderes übrig? Kaum auf der viale, zischen sämtliche Verkehrsteilnehmer an mir vorbei. Kein Wunder, denn ich traue mich nicht, schneller als 25 Stundenkilometer zu fahren, und damit bin ich das Verkehrshindernis schlechthin. Im Rückspiegel sehe ich Schwärme von Zweirädern heranrauschen. Gekonnt schlängeln sie sich zwischen den Autos hindurch, überholen rechts und links, auch mich, oft haarscharf. Mit angehaltenem Atem fahre ich vorsichtig in eine scharfe Kurve, die Augen starr auf den Straßenrand gerichtet. Da winkt schon Giulio. Er erklärt meine Feuertaufe als bestanden; mein Stil sei allerdings noch verbesserungswürdig.

Am nächsten Tag parke ich meinen Roller am alten Stadttor, der gigantischen Porta Romana: Hoch wie ein Mehrfamilienhaus wurde sie im Jahre 1327 aus monströsen Steinblöcken erbaut. Ihre dicken Eichentore können nur ein Dutzend Männer gemeinsam bewegen. Auch innerhalb der Stadtmauer ist alles alt: Paläste und Plätze, Kirchen und Klöster, Skulpturen und Brunnen aus den letzten sieben-, achthundert Jahren füllen die acht Quadratkilometer große Altstadt. Auf jedem Meter spüre ich die Pracht, die Florenz einmal ausstrahlte, als es im Spätmittelalter die reichste Stadt Europas war.

Ich marschiere die Via dei Serragli, die Stallgasse, runter. Wie so oft verrät der Name die historische Bedeutung der Straße. Im Mittelalter wurden hier die Pferde der Anreisenden untergestellt, versorgt und gefüttert. Viele der Gebäude aus dem 14. Jahrhundert stehen noch. Nur dass in die alten Pferdeställe längst Metallwarenhändler, Gemüsehöker, Frisöre und andere negozi eingezogen sind.

In fünf Minuten müsste ich bei Giulios Schwester Anna vor der Tür stehen. Sie hat mich zum Kennenlernabendessen eingeladen. Aufgeregt laufe ich die Straße hoch und runter, finde aber die Hausnummer 86 nicht. Das kann doch nicht sein: Nach der Nummer 64 folgt sofort die 102. Und dazwischen nichts!

„Mi scusi, dov’ è il numero 86?“, frage ich eine ältere Dame.

„Nero o rosso?“, will sie wissen.

„Schwarz oder Rot?“

„Si, in jeder Straße gibt es eine rote Nummer eins und eine schwarze Nummer eins, und so weiter …“, erklärt sie freundlich.

Tatsächlich, die 64, vor der ich stehe, ist in roter Farbe auf eine weiße Marmorfliese gemalt, die 102 schwarz auf grauem Grund. Aber wo wohnt nun Anna? In der roten 86 oder in der schwarzen?

Mein Handy klingelt. „Dove sei? Wo bist du?“, höre ich Giulio. Mit dem Handy lotst er mich zur schwarzen 86.

„Florenz ist die einzige Stadt, in der es rote und schwarze Hausnummern gibt“, höre ich eine Mädchenstimme. Dürr, lange dunkle Haare, azurblauer Lidschatten, mohnrote Lippen, vielleicht zwölf Jahre alt, steht sie neben Giulio und streckt mir ihre dünne Hand mit lackierten Nägeln entgegen.

„Das ist Sara“, erklärt Giulio, „Annas Tochter, sie wollte dich unbedingt begrüßen.“ Das Mädchen schnappt meinen Arm, zieht mich hinter sich her den Gang entlang und hält mir musterschülerinnenhaft einen Vortrag. „Bis ins 17. Jahrhundert hatten die Häuser in Florenz gar keine Nummern, und bis 1845 die Straßen nicht mal Namen. Als sie endlich von der Kommune eingeführt wurden, vergab man die schwarzen Nummern für den Wohnraum und die roten für die Geschäfte“, doziert Sara, holt tief Luft und fügt altklug an: „Nur dass diese Farben längst keinen Sinn mehr machen, weil heute auch in Rot gewohnt und in Schwarz gearbeitet wird.“

„Typisch Florenz!“, ruft eine Frauenstimme: Vor mir steht eine junge Frau und strahlt mich an, als hätte sie ihr Leben lang auf mich gewartet. Blaue Augen, engelhafte blonde Locken, himmelfarbenes Baumwollkleid, Muschelkette, Jesuslatschen. Niemals würde ich sie auf 44 schätzen, vielleicht Mitte dreißig, und sie niemals für eine Italienerin halten. Sie öffnet ihre Arme, drückt mich und schmatzt mir Küsse auf beide Wangen.

„Ich hab schon so viel von dir gehört“, sagt sie schwärmerisch, „komm rein, das Abendessen ist fertig.“

Das Telefon klingelt. „Mamma“, ruft Sara aus einem anderen Zimmer, „da ist papà, er will dich sprechen!“

Die Tür schlägt zu. Tuscheln, Schluchzen, Schreie.

„Sara“, ruft Anna, „Sara, verdammt, wo steckst du?!“

„Mama kommt später, wir sollen mit dem Essen anfangen“, verkündet Sara, als sie aus dem Telefonzimmer zurück ist.

Ohne ein Wort zu sagen, schiebt Giulio seine Nichte beiseite, öffnet die Tür und verschwindet ebenfalls in dem Raum.

„Was ist passiert?“, frage ich die Zwölfjährige. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, Papa kommt nicht zum Essen … Willst du meine Lippenstiftsammlung anschauen?“

Jetzt zucke ich die Achseln.

„Wir müssen aber leise sein. Lulù schläft.“

Auf Zehenspitzen schleichen wir ins Kinderzimmer. Beim ersten Schritt knackt es verdächtig unter meinem Fuß. Als die Nachttischlampe angeht, erkenne ich den Grund. Ich stehe auf einem Minenfeld aus Puppen, Bilderbüchern, Schmuckdöschen, Plastikketten, Tuben mit Glitzergel, zerknüllten Taschentüchern mit roten Kussmündern. Im Doppelbett schlummert ein kleiner blonder Engel, etwa vier Jahre alt.

„Dove siete? Wo steckt ihr?“, ruft Giulio.

„Was ist passiert?“, frage ich, als er im Türrahmen auftaucht. Er zieht mich in die Küche und schließt die Tür.

„Fulvio, Annas Ehemann, kommt nicht zum Abendessen. Sie glaubt, er ist bei einer anderen!“

„Das tut mir leid.“

„Halb so wild. Das ist nicht das erste Mal. Annas Mann ist ein echter Gigolo, er betrügt sie nach Lust und Laune, behauptet aber, er würde sie über alles lieben, denn keine andere könnte ihm die mamma seiner Kinder ersetzen. Anna will ihn seit Jahren verlassen, schafft es aber nicht. Ich werd’ sie einen Moment beruhigen. Könntest du schnell das Brot kaufen, das Fulvio mitbringen sollte?“

Auf der Straße atme ich tief durch. Das erste Treffen mit Giulios Familie hatte ich mir anders vorgestellt. Aber vielleicht ist Betrug genau wie Eifersucht Bestandteil der italienischen Kultur? Immerhin verfasste bereits der Florentiner Dichter Giovanni Boccaccio hundert Novellen über heimliche Liebschaften und misslungene Fehltritte. Und das war vor 650 Jahren. Sein Hauptwerk, Il Decamerone, kennt jedenfalls fast jeder Italiener.

In einer der Geschichten taucht die Dame Peronella auf: Als ihr Gatte überraschend heimkehrt, versteckt sie ihren Liebhaber im Weinfass. Der Ehemann verkündet stolz, er habe endlich einen Käufer für sein Fass gefunden und wolle es mitnehmen. Seine gewiefte Frau erwidert, sie habe ebenfalls einen Herren aufgetan, der sogar mehr für den Behälter biete. In diesem Moment sei er zur Prüfung des Holzes hineingestiegen!

Noch besser gefällt mir die Erzählung um die hübsche Donna Filippa, die von ihrem Mann mit einem jungen Liebhaber im Ehebett erwischt wird. Erbost zerrt der Gatte sie vor Gericht, das den Ehebruch von Frauen (nicht den der Männer!) mit der Todesstrafe ahndet. Der Richter versucht, den Kopf der schönen und angesehenen Frau zu retten, und rät ihr, die Tat zu leugnen. Donna Filippa wendet sich jedoch an ihren Gatten und fragt ihn vor allen Versammelten, ob er je etwas vermisst habe. Er verneint. Daraufhin sagt sie zum Gericht: „Wenn er sich zu jeder Zeit genommen hat, wonach ihm gelüstete, was sollte ich mit dem machen, was er übrig lässt. Soll ich es verkommen lassen? Oder ist es nicht besser, es einem Edelmann zu gewähren, der mich mehr liebt als sich selber, statt es verloren gehen zu lassen?“ Diesem Argument kann sich das Gericht nicht verschließen, es spricht die mutige Frau frei und bewirkt eine Gesetzesänderung.

In Gedanken versunken komme ich beim forno, dem Ofen, an, öffne die Tür und reihe mich in die Schlange ein: Welches Brot soll ich bloß kaufen? Die Auswahl ist enorm: Das helle Bauernbrot pane contadino? Das runde pagnotta? Das torpedoförmige filone di pane? Eine ciabatta, die übersetzt Pantoffel heißt, weil sie genau diese Form hat? Das baguetteähnliche toscano? Alle weiß und ungesalzen, bis auf die platte schiacciata. Das so genannte Zerdrückte ist als einziges Brot der Toskana gesalzen – mit dicken Kristallen auf der Kruste. Dafür entscheide ich mich.

„Vorrei un pezzo di schiacciata“, sage ich, aber die Verkäuferin mit der rosa-weiß gestreiften Schürze ignoriert mich und bedient die Frau hinter mir.

„Scusa, ich war zuerst da! Ich hätte gern …“

„Che numero ha?“, blafft mich die Verkäuferin an.

„Numero? Ich habe keine Nummer.“

„Ohne Nummer keine Bedienung.“

Was soll das heißen? Ein Mädchen löst sich aus der Schlange, tippt mir an den Arm, geht zu einer Papierrolle, die an der Wand hängt, zieht einen rosa Schnipsel ab und reicht ihn mir. Darauf steht in schwarzen Ziffern: 87. Sie zeigt auf eine Anzeige über dem Tresen. Dort leuchtet in Rot die 79. Soll ich jetzt ernsthaft noch acht Personen abwarten? Haben doch alle gesehen, dass ich die ganze Zeit hier anstehe und mich nicht vorgedrängelt habe!

„Ciao bella!“, ruft ein Typ mit weißer Bäckerhaube über den Tresen, grinst mich an und fragt zweideutig: „Che cosa ti do, amore mio? Wie kann ich dir behilflich sein, meine Geliebte?“

Bin ich seine Geliebte? Oder habe ich was falsch verstanden?

„Ich nehme eine schiacciata“, höre ich mich sagen.

Mit Schwung verfrachtet er ein Stück Brot in eine Tüte, nimmt das Geld entgegen, tätschelt dabei meine Hand, lacht mich frech an und raunt: „Torna presto, bella! Komm bald wieder, Süße!“ – Haben die italienischen Männer eigentlich nichts als Flirten im Kopf?

Und sind alle italienischen Frauen so inkonsequent wie Anna? Sie hat ihrem Fulvio den vermeintlichen Seitensprung schon verziehen, als ich mit der schiacciata eintreffe. Vergnügt knuddelt sie Sara, frotzelt mit Giulio und prostet mir zu. Bis zum Rand füllt sie ihr Kristallglas mit Chianti, kippt ihn runter wie Wasser und schickt ihren Bruder los, eine zweite Flasche zu öffnen. Sara hilft, die Töpfe auf die Dachterrasse zu tragen.

Was für ein Ausblick auf dieses gleichförmige Meer aus Terracottaschindeln! Nur einige Türme ragen hervor. Sara fordert mich zum Rätselraten auf. Ich erzähle ihr nicht, dass ich einen Magister in Kunstgeschichte habe und auf die Florentiner Renaissance spezialisiert bin. Erst mal rate ich: „Links erkenne ich die Signoria, das Rathaus, rechts die Badia-Kirche und den Bargello; der war im Mittelalter ein Gefängnis und ist heute eine Skulpturensammlung.“ Annas Tochter nickt beeindruckt. Mein Lieblingsbau ist aber der gigantische Dom. Fünfzig Meter ragt seine rote Kuppel über das Häusermeer hinaus. Ohne jegliche Stützpfeiler konstruierte sie Brunelleschi vor knapp sechshundert Jahren in einem Zweischalensystem. Bis heute gilt die freischwebende Kuppel, die drittgrößte des Abendlandes, als Meisterwerk der Architektur.

Angeschwipst serviert Anna am Holztisch unter einem großen Sonnenschirm, der Tag und Nacht geöffnet ist, die zuppa di verdure im altertümlichen Porzellan. Noch die Kelle in der Gemüsesuppe, beginnt ihr Redeschwall, der sich bis zum dolce ergießt. Anna gehört zu den Menschen, von denen man nach einem Abend die ganze Lebensgeschichte kennt. Ihre Kindheit in Rom war allegra.