Ein Jahr mit Charlie - Wilfried Herold - E-Book

Ein Jahr mit Charlie E-Book

Wilfried Herold

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Beschreibung

Der Roman erzählt die Geschichte von Charlie, die mit ihren drei Kindern in Wien wohnt, wo sie als Lehrerin arbeitet, und Thomas, dem Erzähler. In loser Verbindung begleitet er Charlie ein Jahr lang, in dem er Charlies Mutter und Großmutter näher kennenlernt und sich das Auseinanderdriften seiner eigenen Familie vollzieht.

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Es war ein langer, heißer Sommer, als ich Charlie kennen lernte. In der kleinen Gruppe der Lehrerinnen und Lehrer, die sich eine Woche Zeit nahmen für ihre – obligatorische – Weiterbildung, konnte sie nicht anders als auffallen. Nicht allein ihrer roten Haare wegen, die füllig ihren Kopf umsonnten, auch nicht wegen ihrer scheinbaren Zartheit, sondern weil es ihr gelang, zu keiner einzigen Seminarstunde rechtzeitig zu kommen. Mit einem gewinnenden Lächeln schlüpfte sie stets mit nicht geringer Verspätung zur Tür herein, in aller – so schien es – unschuldigen Selbstverständlichkeit, setzte sich an ihren Platz und war, das musste ich ihr zugestehen, nach einer Minute so im Bilde, dass sie in das Gespräch einsteigen konnte. Und stets war sie es, die am häufigsten etwas beizutragen hatte, Fragen stellte und eine Entspanntheit mitbrachte, die allen angenehm war. Bei aller Lockerheit ihres Auftretens waren ihre Beiträge thematisch immer sehr treffend und ihr Wissen war beachtlich. Stets an Neuem interessiert, ging sie mit scheinbar einfachen Fragen den Dingen auf den Grund. Sie war aber auch die erste, die nach den Seminarstunden den Raum wieder verließ, wobei sie nie vergaß, mir ein verbindliches Lächeln zukommen zu lassen.

Manchmal sah ich sie draußen während der Pausen mit der einen oder anderen Kollegin im Gespräch, meistens lachend, fröhlich. Oder sie saß irgendwo allein, unbewegt, manchmal das Mobiltelefon am Ohr. Es schien, als nehme sie in diesen Augenblicken ihre Umwelt nicht mehr wahr, denn sie reagierte auf nichts und niemanden, während sie telefonierte.

***

Am Ufer des Sees setzte ich mich auf eine Bank, die am Weg stand, und schaute auf den glatten Wasserspiegel, auf dem sich das Licht des Vollmondes leise zitternd bewegte. Es musste früher Morgen sein, fast zu kühl, um im Freien zu sitzen. Aber ich war entschlossen, hier zu bleiben, bis die Morgenhelle über den Himmel hereinziehen würde, denn ich wusste seit dem Aufstehen, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war.

Abseits des weiß schimmernden Bandes, welches das Mondlicht über den See geworfen hatte, lag das Wasser in Schattenschwärze und nur in der Ferne des Horizonts zeigte sich das nächtliche Grau des Himmels. Es war ein leises Plätschern, das mich aufmerken und ins Dunkel spähen ließ. Etwas bewegte sich langsam im Wasser der Helligkeit zu und dann erkannte ich, dass jemand das Silberband durchquerte. In leichten Stößen schwamm die Gestalt still durch den See und hielt meinen Blick gefangen, bis ich sie im Dämmerlicht nicht mehr ausmachen konnte. Vielleicht war ich dann für kurze Zeit mit offenen Augen eingeschlafen, jedenfalls sah ich plötzlich ganz in der Nähe, doch abseits der größten Helligkeit, jemanden am Ufer stehen, unbewegt auf den See schauend. Es war offenbar eine Frau, unbekleidet stand sie da, den Rücken mir zugewandt. Gerade wollte ich aufstehen, um mich auf den Rückweg zu machen, da drehte sie sich um und schaute zu mir her. Und jetzt erkannte ich Charlie an ihrer so schmalen Gestalt. Die nassen Haare lagen ihr auf den Schultern. Sie bückte sich, griff zu einem Badetuch und kam langsam auf mich zu.

„Im Wasser ist es jetzt wärmer als hier draußen und der See ist so glatt, dass ich mir immer wünsche, seine Oberfläche wäre aus Glas und ich könnte darauf gleiten wie auf Eis.“ Charlie sprach so unvermittelt, dass ich fast erschrak und einen Augenblick brauchte, um etwas erwidern zu können. „Er ist auch so schon verzaubert genug, die Zeit hat einen Moment den Atem angehalten.“ Jetzt war sie so nahe, dass ich wieder ihr Lächeln um den Mund spielen sah; doch ihre Augen blickten mich forschend an. Sie setzte sich auf die Bank, von der ich aufgestanden war, und als ich mich zögernd wieder hingesetzt hatte, rückte sie an meine Seite und ich spürte die Kühle ihres Körpers unter dem feuchten Tuch, das sie umfing. In aller Selbstverständlichkeit saß sie dicht neben mir und ich wusste, dass ich meinen Arm über ihre Schultern legen könnte, um sie ein wenig zu wärmen. Es war nur ein Augenblick von gespannter Ungewissheit zu überwinden und dann war es, als säßen wir nicht zum ersten Mal so dicht nebeneinander, beide den Blick auf das Wasser gerichtet, das nun aus der nächtlichen Erstarrung zu erwachen schien, ungeduldig die Wärme des heraufziehenden Tages erwartend. Ein leichter Wind erhob sich und ließ die Blätter der nahen Bäume wispern, als erzählten sie sich ihre Träume, die sie während der Stille der Nacht gehabt hatten.

Charlies Haar begann zu trocknen und zum ersten Mal berührte mich sein Duft. Letzte Tröpfchen schmückten wie Tauperlen Schultern und Nacken. Und im langsam sich ausbreitenden Licht der Morgendämmerung waren die Sommersprossen zu erkennen, die ihre Wangen betupften.

Als ich wieder zum Wasser blickte, das nun ein erstes Blaugrün erkennen ließ, wandte mir Charlie ihr Gesicht zu und dann spürte ich den schmetterlingsleichten Kuss ihrer kühlen Lippen auf der Wange. Schon im Aufstehen begriffen, meinte sie: „Morgen früh?“, ging, ohne meine Antwort abzuwarten, und verschwand zwischen den Bäumen, die den Weg säumten.

***

Sie hieß nicht Charlie, nur für mich war sie es, denn Antonia schien mir so wenig zu ihr zu passen wie Abendkleid und Highheels. Sicher, sie trug gerne auch Kleider, leichte, aus dünnen Stoffen locker geschnittene, die ihre schmale Gestalt ein wenig fülliger erscheinen ließen. Toni hatten die Freundinnen sie genannt, wie sie mir später erzählte. Als ich sie einmal versehentlich mit Charlie ansprach, hielt sie inne, lauschte dem Klang des Namens nach, um dann mit einem Nicken ihr Einverständnis zu erklären.

Am nächsten Morgen war der Himmel verhangen, es war recht dunstig, fast nebelig. Und als ich den Weg hinunter zum See nahm, sah ich, wie er bedeckt war von einem Dunstschleier, der knapp über dem Wasserspiegel schwebte und sich dem Sog der aufkommenden Wärme, die ihn nach oben zog, widersetzte. Nur langsam und gleichsam unwillig ließ er sich auflösen, dünner und durchscheinender werdend, indem er himmelwärts zog. Erst als ich am Ufer stand, hatte ich einen freien Blick auf den See, der, noch mehr als am Vortag, im Nachtdunkel zu ruhen schien, da der Mond von hohen Wolken verdeckt war. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Charlie entdeckte. Sie lag unbewegt im Wasser, das Haar um ihren Kopf schwebend, schwerelos, und ließ sich vom Wasser tragen und es war, als schliefe sie. Die Arme hatte sie ausgebreitet und es ragten nur noch die Fußspitzen aus dem Wasser. Unvermutet aber, sodass ich geradezu erschrak, tauchte sie in die Tiefe, ihr Kopf zuerst und verschwand völlig in der Schwärze des Sees. Unwillkürlich hielt ich den Atem an und fragte mich, wann sie wieder auftauchen würde. Schon längst atmete ich wieder, als ich sie rufen hörte: „Wo bleibst du, ich warte schon lange!“ Ihre Stimme kam ganz aus der Nähe, so dass ich aufstand, um, auf dem Felsen stehend, nach ihr Ausschau zu halten. Charlie war schon fast beim Ufer und winkte heftig.

Die Kühle des Wassers ließ mich vollends wach werden und ich tauchte unter und schwamm, bis ich Charlie erreicht hatte. Sie wiederum hatte mich aus den Augen verloren und erschrak, als ich neben ihr auftauchte. Aber dann lachte sie und meinte: „Wenn du schon zu spät kommst, dann mach‘ nicht so ein Aufhebens davon!“ - „Wir hatten keine Zeit ausgemacht, ich war mir nicht sicher, dass du überhaupt hier sein würdest“, erwiderte ich. Sie schüttelte ihren Kopf, dass ihr Haar einen Regenschauer von sich gab. „Jetzt muss ich raus, mir wird schon kalt. Ich bin schneller als du!“ Sprach’s und schwamm mit kräftigen Stößen dem Ufer entgegen. Ich ließ mich auf kein Wettschwimmen ein, sondern bewegte mich in entgegengesetzter Richtung davon, ließ mich treiben und schaute hinauf zu dem Dunst, der nun schon ganz fein und durchsichtig geworden war. Es entschleierte sich im wahrsten Sinn die Umgebung des Sees, die Wipfel der fernsten Bäume zuerst, dann die am Hügel stehenden und zuletzt sah ich im Schein der aufgehenden Sonne die ufernahen Bäume erglänzen.

Als ich zum Felsen kam, saß Charlie, in einen Bademantel gehüllt, da und blickte hinüber auf die Baumspitzen, die sich im ersten Sonnenlicht dem Himmel entgegen reckten. „Weißt du, manchmal vergesse ich einfach die Zeit. Da kann ich am Küchentisch sitzen, ich sehe etwas oder höre etwas und das nimmt mich einfach mit ins Zeitlose. Und wenn ich dann, ja, sozusagen aufwache, dann kann eine Minute oder auch eine halbe Stunde vergangen sein. Aber meistens halten mich ja die Kinder auf Trab, sie reden, sie fragen, sie streiten, und das weckt mich bald wieder auf. Aber hier draußen, hier auf dem Land, muss ich nur zum Fenster hinausschauen und ich vergesse sogar deinen, meinen Unterricht.“ - „Nun, dann sollte ich mich wohl mit solch einer Entschuldigung zufrieden geben“, meinte ich daraufhin. „Oder soll ich eine Extra – Hotline einrichten, um dich rechtzeitig aus dem Traumland zu holen?“ Charlie schaute mich an und schien zu überlegen. „Weißt du“, fuhr sie fort, „es ist nicht ein Tagträumen, sondern ich bin einfach woanders, bekomme Gedanken, Bilder, Worte geschenkt und nehme alles anders wahr als sonst. Dann muss ich mich anstrengen, in die Wirklichkeit zurückzukommen – das ist gar nicht so einfach. Und zugleich sollte ich nichts davon vergessen.“ Wieder schwieg sie und wir hörten die Vögel und ihren Morgengesang.

„Manchmal träume ich und weiß, ich bin jemand anderes und doch ich“, sagte Charlie und blickte mich an. „Ich gehe irgendwo, aber meine Füße berühren den Boden nicht. Und ich habe das Gefühl, ich muss dahin, aber komme einfach nicht richtig an – verstehst du, was ich meine?“ „Wo du dann bist, lässt sich das sagen?“ - Charlies Antwort ließ auf sich warten, sie hatte die Augen geschlossen. „Es ist wie ein Heimweh, das ich spüre, das Gefühl, dort zuhause zu sein, und zugleich weiß ich, dass das nicht möglich ist.“ Kurz überlegte ich und fragte dann: „Triffst du andere Menschen, solche die du kennst, oder kennst du keinen von ihnen?“ - „Ich sehe sie von Ferne, ich kann ihnen aber nicht näherkommen, ich kann nicht rufen, sie sehen mich nicht, sie bemerken mich nicht. Und dann sind sie wieder verschwunden, ich bin woanders und staune zuerst einmal über die neue Umgebung, will mich zurechtfinden.“

Traurigkeit klang durch Charlies Worte, eine Melancholie, wie ich sie sonst, wenn sie erzählte, nie gehört hatte. Aber ich glaube, ich wusste, wovon sie sprach. „Versuch doch einmal in deinem Traum, dir zu sagen, dass du stehen bleiben musst, oder setz dich hin, damit du den Boden unter dir spürst. Und dann versuche in deinem Traum so bewusst zu gehen, wie du sonst gehen würdest, wenn du ganz vorsichtig sein müsstest.“ Charlie öffnete die Augen und sah mich prüfend an. „Du kennst so etwas?“ „Nicht genau so, aber vielleicht ein bisschen so ähnlich. Nicht, wenn ich in der Nacht schlafe und dann träume, sondern wenn ich tagträume, wie man so sagt. Dann bin ich plötzlich woanders und es ist, wie wenn ich etwas noch einmal erlebe. Aber ich denke und fühle, ich agiere, wie wenn es Realität wäre. Ich weiß genau, was ich tue oder tun muss, sonst geht nichts weiter und plötzlich ist dann alles wieder weg.“

***

Es muss noch in derselben Woche gewesen sein, dass wir uns zum Essen verabredeten. Die Mittagspause war lang genug, um in Ruhe zusammensitzen, reden und essen zu können. Das kleine Restaurant besaß einen Gastgarten mit einfachen Holztischen und -stühlen, die in einem losen Ensemble unter den hohen Platanen aufgestellt waren. Die sommerliche Hitze wurde gedämpft durch die Kühle des angrenzenden Baches und gemildert durch das schattige Grün der Bäume. Ich freute mich, dass Charlie meine Einladung ohne Zögern angenommen hatte und ich sie im Gespräch ein wenig besser kennen lernen konnte. Es brauchte nur hin und wieder eine Frage, um sie erzählen zu lassen. Ich erfuhr von ihren drei Kindern, die sie in jungen Jahren bekommen hatte, von ihrer Ehe, die sie vor nicht allzu langer Zeit beendet hatte, von ihren ersten Unterrichtsjahren, die sie mit viel Begeisterung und Freude erleben konnte. Es waren weniger die Inhalte und Erlebnisse ihrer Erzählung, die mich aufhorchen ließen, als die Art und Weise, wie Charlie berichtete. Sehr sachlich, sehr nüchtern, wie aus einem abgeklärten Abstand heraus, und doch zugleich in einer Offenheit und Ehrlichkeit, die mich erstaunten. Und so erfuhr ich auch etwas aus ihrer Kindheit und ihrem Aufwachsen bei ihrer Großmutter, 'Omama' genannt, die sie mehr als ihre eigene Mutter zu lieben schien. Größte Liebe sprach auch aus ihrer Schilderung der drei Kinder, deren zwei älteste bereits zur Schule gingen. Von ihrem vorigen Partner, dessen Name sie – noch – trug, erfuhr ich kaum etwas und es waren weder Hass noch Trauer herauszuhören, als sie ihn erwähnte.

Aber Charlie war nicht nur eine bereitwillige und gute Erzählerin, sondern sie konnte auch eine angenehme Zuhörerin sein. Und so erzählte ich ihr von Anna und unseren Kindern, von unserer Trennung nach vielen Ehejahren. „Ich weiß nicht, wie ich mir das vorstellen kann, so viele Jahre als Ehepaar zusammen zu sein“, meinte sie, als ich geendet hatte. „Ich habe mir noch nie viele Gedanken um meine Zukunft gemacht, alles ist von selbst gekommen, ich habe mich bemüht, meine Sache gut zu machen, und manches kann ich einfach nicht. Ich möchte mir auch keine Sorgen um die Zukunft machen, es ist mir auch in schlechten Tagen so gegangen. Vielleicht ist es ein Vertrauen, das einfach da ist und das mir durch nichts und niemanden genommen werden kann.“ Charlie saß mir gegenüber und jetzt schaute sie hinüber zum Bach, der munter und fröhlich plätschernd dahinfloss, kleine Strudel gebärend, grünlich schimmernd und unter den Sonnenstrahlen hier und da heiter aufblitzend. „Ich glaube, wir haben da etwas gemeinsam, diesen Glauben, das Vertrauen in uns selbst und das, was das Leben uns bringt.“ Charlie schaute mich an und ihr Blick schien mir prüfend und zustimmend zugleich zu sein. Sie lächelte, und dieses Lächeln war etwas, das – obschon es so beiläufig erschien – eine Beziehung schuf, die nicht mehr entschwinden sollte.

Als wir zu Fuß auf dem Rückweg ins Seminarhotel waren, begann ein leichter Sommerregen, der zuerst noch feinste Diamanten ins Haar zauberte, dann aber durchaus kräftige Tropfen austeilte. Ich spannte den Schirm auf und Charlie hakte sich bei mir unter, schritt dicht neben mir daher. Und wieder war da diese völlige Selbstverständlichkeit, in der sie dies tat, die in so vielen ihrer überraschenden Verhaltensweisen zu beobachten war und die mich so berühren konnte.

***

Am letzten Abend der Seminarwoche trafen sich alle DozentInnen und TeilnehmerInnen am Ufer des Sees. Mit geringstem organisatorischem Aufwand waren Speisen und Getränke zusammengetragen worden und wir standen, Gläser oder Teller in den Händen, in kleinen Gruppen im Gespräch beieinander. Es dämmerte bereits, als kleine Papierschiffchen ausgeteilt wurden, die mit winzigen Kerzen wie mit Masten ausgestattet waren. Ein Feuerzeug wurde herumgereicht, die Kerzen wurden angezündet und vorsichtig setzte jeder sein Schifflein auf das Wasser. Die leichte Abendbrise trieb die schwankenden Gefährte vom Ufer auf den See hinaus und dort sammelten sie unsere Blicke, vielleicht auch die Gedanken, Bilder, Gefühle, die wir in den vergangenen Tagen geteilt oder auch nicht geteilt hatten. Es war gut, dass bald jemand zur Gitarre griff und die musikalische Improvisation allmählich die Aufmerksamkeit zurückholte, bevor sie sich mit den nach und nach im Wasser versinkenden Schiffchen und deren verlöschenden Masten in Schweigsamkeit verlor. Ich dachte daran, dass nicht weit von dieser Stelle Charlie auf dem Felsen gesessen war, wie im Traum von ihren Träumen sprechend.

Es war vollends dunkel geworden und nur hier und da war im Aufglimmen einer Zigarette ein Gesicht zu erkennen. Langsam wanderte ich zwischen den kleinen Grüppchen der sich Unterhaltenden hindurch, blieb vielleicht auch hier und da für ein paar Worte stehen. Doch ohne dass es mir sofort bewusst war, hatte ich mich auf den Weg zu dem Felsen gemacht, der sich in meine Erinnerung gedrängt hatte.

Charlie saß unbewegt da, eine schwarze Silhouette, überraschend klein wieder einmal und zugleich in inniger Verbindung mit diesem granitenen Stein, der seine Kraft und Stärke mit ihr teilen mochte. Ohne sich umzudrehen – ich stand in einiger Entfernung hinter ihr - hob Charlie Arm und Hand, winkte mir zu und ich kletterte auf den Felsen und setzte mich still neben sie. Die bleiche Blässe des nahen Horizonts skizzierte scharf die Wipfel der Bäume, deren Schwärze unmerklich überging in die des Sees. Eine zeitlose Stille war über ihm ausgebreitet, die nur – in unregelmäßigen Abständen – von wässrigem Gluckern unterbrochen war. 'Ich habe mich gefreut, dass ich dich ein wenig kennen lernen konnte', dachte ich bei mir. 'Du warst mir wie der leichte Sommerregen, der erfrischt, erfreut, der unaufgeregt die Sinne weckt und die Düfte.' So etwa dachte ich in diesem Moment und mit dem Windstoß, der uns beiden durchs Haar fuhr, wandte sich Charlie mir zu. Wieder die prüfende Frage in ihrem Blick, den ich schon kannte und den ich nur offen erwidern konnte, ohne zu wissen, welche Antwort zu geben wäre. Charlie stand auf, ich nahm ihre ausgestreckte Hand und gemeinsam sprangen wir vom Felsen hinunter in die dunkle Tiefe, mit der uns der weiche Waldboden bereitwillig aufnahm.

***

Es waren einige Wochen seit der sommerlichen Fortbildungswoche vergangen. Wir hatten ausgemacht, in Kontakt zu bleiben, ohne etwas Konkreteres zu planen. So war es eine kleine Überraschung, als Charlie eines Abends anrief, um zu fragen, ob ich zu einem Ausflug in die Berge bereit sei, gleich am folgenden Tag. Und so holte ich sie am nächsten Bahnhof mit dem Auto ab und wir fuhren nach Süden, wo der Schneeberg seinen Bergrücken dem Himmel öffnet.

Die ersten Schulwochen waren schon wieder vorüber und ich erwartete, dass Charlie etwas davon erzählen würde. Aber sie ließ sich erst einmal durch das offene Fenster den Fahrtwind ihr Haar zerzausen, redete nicht, aber war offenkundig bester Laune. Ich nahm die Landstraße, denn es war genug Zeit, um nach der Fahrt nicht allzu spät zu einer kleinen Wanderung aufzubrechen. „Du überlässt mir, wohin wir fahren und wo wir wandern?“, fragte ich noch einmal zur Sicherheit, um späteren Diskussionen vorzubeugen. „Voll und ganz“, erwiderte sie, schloss die Augen und genoss neben dem Wind auch die Düfte, die in der morgendlichen Kühle hereinwehten.

Es war ein kleines Dörfchen, nicht weit vom Schneeberg, wo ich den Wagen parkte. Der Weg führte bergan, vorbei an hübschen alten Sommerhäusern, die allerdings im Laufe der Jahrzehnte vieles von ihrem früheren Glanz verloren hatten. Dennoch, sie trugen würdig ihr Alter und ihr altmodisches Aussehen, als wüssten sie, dass wir darüber lächelten. Schmal führte der Weg bergan, der Wald war licht und hell, und allmählich wurde die spätsommerliche Wärme spürbar, die wohl nun zum letzten Mal die Erinnerung an den vergangenen Sommer wiederaufleben ließ. Charlie lief leichtfüßig neben mir her, der kleine Rucksack war wohl kaum gefüllt und hüpfte fröhlich auf ihrem schmalen Rücken. Beim ersten Ausblick hinunter auf das enge Tal mit dem eilig dahinfließenden Fluss, dessen Wasser weiß-grau zu uns herauf schimmerte, blieben wir stehen. In der Ferne konnte man die Ebene des Wiener Beckens erahnen, das nun aber im Dunst der Ferne verborgen war. Und plötzlich wurde mir klar, was Charlie in stiller Fröhlichkeit die Gegenwart genießen ließ. „Ich nehme an, du hast dich verliebt“, meinte ich in möglichst selbstverständlichem Ton. „Es geht dir offenkundig gut, nicht wahr?“ Charlie nickte nur, war aber offenbar wenig geneigt, nähere Auskünfte zu geben. Und so fuhr ich, als wir weitergingen, fort: „Er ist groß, sieht gut aus, ist stark und trägt dich auf Händen, liest dir jeden Wunsch von den Augen ab und ist der beste Freund deiner Kinder. Er hat irgendeinen ausgefallenen, auf keinen Fall langweiligen Beruf und wollte dich schon auf der Stelle heiraten. Aber du hast gesagt, alles, nur das nicht, und er hat sich – vorläufig - zufrieden damit gegeben und dir auf alle Fälle schon mal einen Verlobungsring geschenkt.“

Gerade wollte ich wieder fortfahren, weil Charlie noch immer nichts gesagt hatte, da meinte sie: „Na ja, nicht so schlecht geraten. Er sieht gut aus, heißt Mario, er ist Eventmanager und hat mir wirklich schon einen Heiratsantrag gemacht. Aber keinen Verlobungsring geschenkt. Und er ist nett zu den Kindern, das ist mir wichtig.“ „Dann lass dir gratulieren!“, sagte ich und nahm ihre Hand. Charlie lachte leise und packte mit festem Griff zu. „Nun erzähle aber noch von deinen ersten Unterrichtswochen! Konntest du etwas von dem, was wir im Sommer besprachen, einbringen?“

Eine kleine Berghütte hatte ich uns als Ziel für unsere Wanderung vorgenommen. Nun lag der Wald hinter uns und wir genossen den freien Blick hinunter ins Tal, aber auch hinauf zu den benachbarten Bergen, von denen der Schneeberg, uns den Rücken zeigend, einer war. Die mittägliche Hitze ließ uns zum Rasten einen schattigen Platz aussuchen, wo wir uns ins Gras setzten. „Zur Hütte wird es wohl bei unserem, nun, gelassenen Schritttempo, noch eine gute halbe Stunde dauern. Dann wären wir wohl in knapp zwei Stunden wieder beim Auto. Was meinst du?“ Charlie horchte kurz in sich hinein, legte sich auf den weichen Waldboden, schloss die Augen und meinte schließlich: „Ich denke, wir sparen uns die Hütte für ein nächstes Mal auf. Ich gehe gern noch einmal diesen Weg, vielleicht im Herbst, wenn das Laub sich färbt. Lass uns noch ein wenig hierbleiben. Und erzähle mir von Anna, deiner Ex. Ihr wart doch lange verheiratet, nicht wahr?“

***

Durch einen lichtdurchfluteten Wald führte der Weg, umstanden von großstämmigen Buchen, deren Blattknospen sich noch nicht entfaltet hatten. Hier und da waren Nester von Schlüsselblumen und Veilchen zu sehen, kurz vor Ostern wird es gewesen sein. Es duftete nach Frühling, die ersten Bäume waren schon weiß und rosa erblüht und unsichtbare Scharen von Bienen summten, die von der Wärme ins Freie und ins Licht gelockt worden waren. Das Schweigen, das schon während der Fahrt geherrscht hatte, begleitete uns auch auf dem Weg. Das Summen der Bienen, ein Vogelgezwitscher hier und dort waren Klänge aus einer Welt, die wir, eingebunden in diese Glocke aus Schweigen, stumm nebeneinander durchschritten. Zugleich spannte sich ein unsichtbares, gleichsam elastisches Band zwischen Anna und mir; es hielt uns beieinander und zugleich waren wir beide darauf bedacht, der Spannkraft nicht zu erliegen, sondern eine Distanz aufrecht zu erhalten, die Unverbundenheit und Unabhängigkeit sichern sollte.

Als wir aus dem Wald heraustraten, öffnete sich der Horizont. Leichte, bewegte Wolken eilten sich, die Bläue des Himmels zu durchqueren. Über der Silhouette der Berge schien sich in der Ferne schon der Dunst zu sammeln, der ein paar Stunden später das Gelb der Sonne in ein ermunterndes Orange oder Rot verwandeln würde. Unter einer weitastigen Föhre war eine wackelige Bank aufgestellt, unter deren zwei vorderen Füßen Steine gelegt waren, um ihr zu einer, wenn auch gefährdeten, Waagrechten zu verhelfen.

Unser Schweigen öffnete sich dem Gezwitscher der Vögel über uns, irgendwo ratterte ein Traktor angestrengt über die Felder und ein lärmendes Sportflugzeug durchschnitt unser Blickfeld. Als wir uns anblickten, wussten wir beide, dass wir zum letzten Mal gemeinsam diesen Platz aufsuchten, der uns immer wieder wie magisch angezogen hatte. Fast hätte ich, wie so oft, nach Annas Hand gegriffen. Sie lag, gut umschlossen, in ihrem Schoß, regungslos. Als ich aufschaute, schien mir die Zeit still zu stehen, kein Windhauch bewegte auch nur eine Grasspitze. Nur oben, am Himmel, löste sich der wie gemalte Kondensstreifen eines längst verschwundenen Flugzeugs in durchscheinende weiße Schleier auf, die sich langsam im Blau des Himmels verloren.

***

„Es brauchte von da an nicht viele Worte, um alles zu regeln, was nötig war. Anna zog aus der Wohnung aus, suchte sich eine eigene kleine Wohnung, wir regelten die finanziellen Dinge einvernehmlich und die Kinder waren schließlich froh, als die Trennung offiziell und vollzogen war. Nur dass wir von da an recht selten miteinander telefonierten, uns kaum sahen und die Kinder es waren, die die Verbindung zwischen uns beiden aufrechterhielten. Vielleicht war, ist es eine Art Ermüdung, die uns beide erfasst hatte. Wie nach einer langen Reise, die man gemeinsam unternommen hat und die alle Kräfte erforderte, so dass danach eine Erschöpfung eintritt, bei der man sich am liebsten allein erholt.“

Charlie richtete sich auf und blickte nachdenklich zum Schneeberg hinüber. „Vor einer langen Reise kann man sich auch fürchten. Aber ich glaube, ich will gar nicht an eine lange oder vielleicht auch nur kurze Zukunft denken, sondern mich an der Gegenwart freuen.“ Zur Bestätigung des Gesagten griff sie in ihren kleinen Rucksack und beförderte eine Tafel Schokolade hervor. „Die Gegenwart ist jetzt gerade süß und schmeckt gut“, meinte ich. „Die Gegenwart heißt Wald, Sonne, Ruhe, Thomas, keine Sorgen und, richtig: Schokolade!“ Und so griffen wir beide zu, trennten die schon weich gewordenen Schokoladenrippen voneinander und aßen sie restlos auf.

Der Weg führte noch ein Stück über den Bergrücken und verzweigte sich schließlich. Wir nahmen die Abbiegung, die uns ins Tal zurückführen sollte. Zwischen den hohen Bäumen wurde es wieder schattig, fast kühl. Der Weg verengte sich zu einem schmalen Pfad, von hohen Felsen so eng umsäumt, dass der Himmel kaum noch sichtbar war. Das letzte Stück des Weges aber führte die Straße entlang, daneben der Bach, der über kleine Stufen hinweg laut plätschernd seinen Weg nahm.

„Soll ich dich nach Wien und nach Hause fahren?“, fragte ich auf der Rückfahrt, die wir über die Autobahn nahmen. „Danke, nicht nötig, ich steige wieder in den Zug und denke noch ein wenig nach, oder besser: vor. Ich muss mich noch auf den Unterricht vorbereiten.“ Am Bahnhof angekommen, sahen wir den Zug in die Station einfahren. Charlie ließ sich beim Eingang absetzen und lief mit schnellen Schritten die Unterführung zu den Bahnsteigen hinunter. Ich wartete noch ein wenig, bis der Zug abfuhr und ich sicher war, dass sie ihn nicht verpasst hatte.

***

Mit schnellen Schritten hatte sie noch den Zug erreicht und suchte sich einen Fensterplatz. Eine halbe Stunde Fahrt, dann war sie wieder zurück in Wien, würde die Kinder abholen, das Abendessen richten, die Kinder nach und nach ins Bett bringen. Und dann noch die Vorbereitung auf die kommenden Unterrichtstage, für die sie schon Pläne gemacht, aber noch nichts davon aufgeschrieben hatte. Sie holte ihren Notizblock aus dem Rucksack, um nichts zu vergessen.

Es waren die Abende, auf die sie sich freute, die sie aber auch fürchtete. Draußen kündigte sich der Herbst an und sie konnte versinken im Betrachten des Schattenspiels der Blätter, die sie durchs Fenster sah. Sie hatte den Ausblick auf einen kleinen Park und trat oft ans Fenster, um hinauszuschauen. Selten war er menschenleer und oft beobachtete sie die Kinder, die nach unerfindlichen Mustern über die Grasflächen hüpften, die einsamen Spaziergänger, die meist wie ziellos daher schritten, die Jugendlichen, die in Grüppchen kamen, sich vielleicht mit einer Weinflasche hinsetzten, und die Paare, die gerne beim Brunnen stehen blieben oder sich bei der Hängebirke auf die Bank setzten und bald ineinander versunken waren. Und jedes Mal dachte sie an die Zeit zurück, als sie einfach nur lebte, nicht an den nächsten Tag dachte und nichts auf die Meinung anderer gab. Sie war oft unterwegs gewesen, um möglichst wenig Zeit zu Hause bei ihrer Mutter verbringen zu müssen. Das hatte sie nach einigen heftigen Auseinandersetzungen durchgesetzt.

In diesen Tagen kam die Dämmerung immer früher und wenn die Schreibtischlampe brannte und sie, um sich auf den Unterricht vorzubereiten, fühlte sie sich wie auf einer einsamen Insel. Sie war froh über die vielen guten Ideen, die sie hatte und die die Vorfreude auf den nächsten Tag mit den Schulkindern noch erhöhten. Aber nicht selten fühlte sie sich plötzlich wie eingefroren, es schauderte sie fast körperlich, und sie musste vor sich auf den erleuchteten Fleck auf der Schreibtischplatte starren, sich unsagbar einsam fühlend. Irgendwann gelang es ihr, die Lampe auszuschalten, um sich in der Dunkelheit zu fassen. Wenn sie dann das Licht wieder anschaltete, versuchte sie die verlorene Zeit nachzuholen und alles Nötige aufzuschreiben. So sehr sie diese Minuten der Dunkelheit deshalb fürchtete, so sehr erlag sie ihrer Faszination. Es war, als werde die Zeit angehalten und sie konnte die Stille draußen spüren, auch wenn durchaus noch Verkehrslärm zu hören war. Es war die Stille, die sich um die Erde spannt, die sie im Gleichgewicht hält, die ihr die Stabilität verleiht angesichts der wahnwitzigen Geschwindigkeit, in der sie sich um die eigene Achse dreht; und die in ihr , wenn sie daran dachte, ein leichtes Schwindelgefühl hervorrief.

Wenn es ihr gelang, am Morgen zeitig genug aufzustehen, erlaubte sie sich die Minuten des Stilleseins, bei denen sie nicht einmal ihre Augen zu schließen brauchte. Sie wusste nicht, wo sie dann mit ihren Gedanken war, sie spürte sich nicht, aber sie wusste sich in einer zeitlosen Welt, in der das Glück des Seins sie füllte, ohne dass es der Freude ähnelte, die sie sonst empfinden konnte. Es waren nur diese wenigen Sekunden am Tag nötig, um alles andere bewältigen zu können, wobei sie sich wunderte, wie ihr dies gelang. Oft schaute sie sich dabei zu, wie sie als Lehrerin mit großer Begeisterung die Kinder in der Arbeit mitreißen konnte, wie sie als Mutter die Liebe und Wärme schenken konnte, die die Kinder brauchten, wie sie all die alltäglichen Erledigungen ausführen konnte, als hätte sie sie perfekt organisiert. Und so konnten Wochen vorüber gehen und ihre Lebenszeit gleichsam an ihr vorüberfliegen, während sie mit Anteilnahme, aber doch distanziert sich selbst zuschaute.

In Wien angekommen, nahm sie die U-Bahn und war bald vor dem großen Zinshaus angelangt, wo ihre Omama wohnte. Im Aufzug die letzten Momente des Alleinseins, die sie genoss. Und dann stand sie noch ein paar Sekunden vor der Wohnungstür, ehe sie läutete.

***

Und wieder hörte ich wochenlang nichts von Charlie, auch wenn ich ihr zwischendurch eine kurze Mail schrieb mit kleinen Nachrichten von mir. Dann, es war schon mitten im Herbst, kam ihr Anruf und wir verabredeten uns, um diesmal hinauf zur Hütte zu gelangen.

„Nehmen wir die Landstraße?“, fragte ich, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Charlie antwortete nicht, aber ich wusste, dass sie zustimmte. Es herrschte nur wenig Verkehr, so dass wir zügig vorankamen. Der Himmel war nur mäßig bedeckt, es war – jetzt zur späten Vormittagszeit – wieder angenehm warm geworden. Das Laub der Bäume hatte sich großteils noch nicht gefärbt und mit mattem Grün öffneten sich die Wiesen unter dem Himmel.

Auf einem Parkplatz, der die Sicht auf die nahen Berge bot, hielt ich an. Ich stieg aus dem Wagen, um Charlie die Tür zu öffnen. Langsam, fast mühevoll stieg sie aus. Ihre Hand fühlte sich kalt an und so trat ich hinter sie, nahm ihre beiden Hände in meine, ihr Haar dicht vor meinem Gesicht. Ein leises Zittern erfasste ihren Körper und dann, eine kleine Ewigkeit später, hörte ich sie wie aus der Ferne sagen: „Er hat meine Kinder geschlagen, Mario hat meine Kinder geschlagen. Ich hab' ihn aus der Wohnung rausgeschmissen.“

Über den Berggipfeln, die nun ganz nah erschienen, sammelten sich watteweiße Wolkenbüsche, die sich im Weiterziehen verdünnten und auflösten. Ein Segelflugzeug glitt mit glitzernden Tragflächen lautlos durch die Tiefe des Himmels. Überhaupt war es seltsam still, auch der Traktor, der drunten über ein Feld holperte, war nicht zu hören.

„Lass uns weiterfahren“, sagte ich, bereit ihre Hände wieder freizulassen. Noch einen Augenblick standen wir beieinander, in geteilter Einsamkeit, die sich nicht hart und schmerzhaft anfühlte, sondern schwerelos, und die einen sich auflösen ließ wie die Wolken über uns.

Während der Fahrt erzählte Charlie, dass es nicht das erste Mal gewesen war, dass Mario die Beherrschung verloren hatte; aber nie hatte er sie oder die Kinder angerührt. Er war aber laut geworden oder hatte mit der Faust auf den Tisch oder das Sofa geschlagen. „Was machte ihn denn so wütend?“ „Ich glaube, es war, es ist einfach die ständige nervliche Belastung, die er in seinem Job aushalten muss. Ständig erreichbar sein, auf alles vorbereitet zu jeder Tageszeit und Nachtzeit, wenn es sein muss. Und dann konnte eine Kleinigkeit ausreichen, dass er losbrüllte. Sicher, es tat ihm danach immer leid, er entschuldigte sich, aber den Kindern wurde er unheimlich und ich hatte Mühe zu verhindern, dass sie Angst vor ihm bekamen. Er ist ja nicht ihr richtiger Vater.“

Nie hatte Charlie von dem Vater ihrer Kinder gesprochen. Sie hatte mir nur von Marios Erscheinen erzählt und ein, zwei Mal hatte ich ihn auch schon gesehen. Es war offensichtlich, dass er sie liebte.

„So, aber jetzt fahr' mal etwas schneller, ich will endlich zu den Kastanien kommen.“ - „Ein Mittagessen zuvor?“ „Nein, höchstens einen Kaffee danach.“ Ich fuhr also schneller, Charlie schaltete das Radio ein, suchte sich ihren Sender und sang laut mit, als könnte sie sich dadurch von aller Sorge freimachen. Als ich zu ihr hinüberschaute, sah ich, dass noch Tränen in ihren Augen glitzerten, aber Charlie sang. Sie sang sich wieder in die Gegenwart und die sollte jetzt wohl eine musikalische sein. Schließlich griff sie zu einem Taschentuch und als wir aus dem Auto stiegen, war sie ganz die alte. Wieder wartete sie nicht, bis ich die Wanderschuhe angezogen hatte, sondern stapfte voraus. Ich sah, wie sie ab und zu ihren Kopf hin und her schüttelte, so dass ihr volles Haar noch mehr Volumen annahm. Mit kurzen festen Schritten schritt sie aus und als ich näherkam, hörte ich sie vor sich hin sprechen. Im Gehen griff ich zu einem Tannenzapfen und warf nach ihr. Er traf nicht, sondern fiel vor ihr auf den Boden, so dass sie ihn nehmen und ohne zurückzublicken nach hinten werfen konnte. Ich fing ihn auf, hielt ihn in der Hand und lief mit hüpfendem Rucksack auf dem Rücken los, bis ich sie eingeholt hatte. Dann warf ich den Zapfen, so weit ich nur konnte.

Als wir zur gleichen Zeit die Brombeeren schwarz in den Büschen entdeckten, machten wir halt. Ich nahm meine Trinkflasche hervor, während Charlie sofort begann, die Beeren zu pflücken. „Sei so lieb, hol aus meinem Rucksack den Plastikbehälter, ich will den Kindern Beeren mitbringen.“ Als ich suchend mit der Hand hineingriff, fühlte ich eine Zahnbürste, oder was war es sonst? Ja, eine Zahnbürste und eine Zahnpastatube waren zu fühlen. Fast hätte ich sie danach gefragt, da hatte ich den Behälter in der Hand und zog ihn heraus. Als ich ihn ihr gab, meinte ich nur: „Du bist für alles gerüstet?“ Charlie schaute nicht auf, als sie nach der Dose griff und zuckte nur mit den Achseln. „Würdest du die Zahnbürste auch mit mir teilen?“ „Mach dir ja keine Hoffnungen“, sagte sie daraufhin, und steckte sich die Beeren, die sie bis dahin gesammelt hatte, in den Mund. „Geh ein Stück weiter zum Sammeln, hier bitte nicht.“ „Ach, weißt du, ich bleibe lieber hier und sammle Beeren für deine Kinder – du isst sie ja nur selbst auf!“ Charlie lachte und so sammelten wir, langsam den Weg entlang gehend, die Brombeeren, bis die Dose gefüllt war und wir genug gegessen hatten.

Diesmal führte uns der Weg in der entgegengesetzten Richtung wie beim ersten Mal. Wir hatten uns bei den Beeren viel Zeit gelassen, aber nun beeilten wir uns, wanderten durch die kleine Schlucht, um schließlich wieder bei der Wegkreuzung anzukommen. Kurz hielten wir an und nahmen dann den Weg zur Hütte hinauf. Als wir in deren Sichtweite gekommen waren, setzten wir uns und griffen zur Jause, die jeder mitgebracht hatte. Kaffee also auf der Hütte.

Charlie bestellte sich einen Milchkaffee, dessen Zusammensetzung - halb schwarz, halb heiße Milch, ohne Zucker - und Zubereitung sie dem Wirt, der verblüfft zuhörte, genau erklärte. Als er mit einem großen Häferl zurückkam und es vor sie setzte, blickte sie ihn so reizend im wahrsten Sinn an, dass dieser gestandene Mann errötete wie ein Schuljunge und sich schnell wieder in die Hütte zurückzog. Während ich fast laut losgelacht hätte, blieb Charlie ernst und griff, einer würdevollen Lady gleich, mit spitzen Finger nach der großen Tasse. „Interessant, wie du deine Sorgen und Probleme verarbeitest; oder überspielst du sie nur?“ „Was soll ich denn tun, geheult hab‘ ich schon, geschimpft hab‘ ich im Zug, dass das halbe Abteil geflüchtet ist und schon der Schaffner kam. Mario hab‘ ich mit meinen schwachen Kräften verprügelt und beschimpft, so gut ich konnte. Jetzt will ich das erst mal vergessen.“ Als ich in der Hütte einen Apfelkuchen auf der Theke stehen sah, bestellte ich noch zwei Stücke für uns und nahm sie vorsichtshalber gleich selbst mit. Versonnen sahen wir beide hinüber auf die Gipfel der benachbarten Berge; die Täler lagen schon im herbstlichen Schatten. Beim Bezahlen fragte ich den Wirt, ob auf der Route ins Tal Esskastanien zu finden seien, und er beschrieb uns, den Blick stets auf Charlie gerichtet, genauestens den Weg dorthin. Charlie winkte ihm, als wir uns verabschiedeten, und ihr Blick heftete den Wirt an die Türschwelle, wo er, wie wir uns vergewisserten, auch noch nach einer ganzen Weile wie gebannt stand.

„Ich vermute, das ist nicht das erste Mal, dass du diese Rolle spielst.“ „Richtig, in der Volksschule war es, da führten wir dieses Stück auf, wie hieß es doch gleich? Ach, ja, ‚Der Besuch der alten Dame‘, ich war die alte Dame.“ „Da verwechselst du etwas, entweder Volksschule oder alte Dame, nicht beides zugleich.“ Aber als ich Charlies wegwerfende Geste sah, wusste ich, dass sie ohnehin einen Scherz gemacht hatte. „Die Kinder kamen zu früh, sonst hätt' ich's vielleicht wirklich versucht. Die Rolle der 'Buhlschaft' hätte mich eminent gereizt.“ Und gleich lachte Charlie los und wir beide stellten uns vor, wie sie, das kleine Persönchen, auf dem Domplatz unter freiem Himmel wohl kaum mehr vorhanden und nur noch mit dem Fernglas zu entdecken gewesen wäre.

Die genaue Beschreibung des Wirtes ließ uns die richtigen Plätze finden, wo wir Kastanien aufsammeln konnten. Da mein Rucksack nun der leichtere war, eignete er sich offenbar bestens, die reiche Ernte aufzunehmen. Bevor ich ihn geschultert hatte, lief Charlie los, den Weg ins Tal hinunter und mit wild hüpfendem Rucksack eilte ich ihr nach, bis mir der Atem ausging. Charlie war offenbar weit vorausgelaufen und so schritt ich den Wanderweg zügig bergab.

Sie saß auf dem Waldboden, den Rücken mir zugekehrt, neben sich den Rucksack. Schon wollte ich einen Tannenzapfen über ihren Kopf hinweg werfen, da drehte sie sich um und ich merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. „Ich glaube, ich bin auch keine fünfzehn mehr. Schau!“ Und sie streckte mir ihren nackten linken Fuß entgegen, dessen Knöchel zusehends dicker zu werden versprach. Mit dem Rest des Wassers aus der Flasche tränkten wir ihren Seidenschal, den sie sich um den verstauchten Knöchel band. Dann suchte ich einen festen Stock und wir machten uns auf den restlichen Weg zum Parkplatz. Es war schon recht kühl geworden, als wir bei dem Wagen anlangten. „Am besten, ich fahre dich bis nach Hause, eine Zugfahrt würde dir nicht gut bekommen.“

„Ach, weißt du, ich borge dir doch meine Zahnbürste aus und außerdem kenne ich da eine nette kleine Gastwirtschaft, wo man auch ein Zimmer haben kann. Ich bin so erschöpft und ich will dir nicht noch zusätzlich Mühe machen.“ „Und deine Kinder, warten die nicht auf dich?“ „Ich rufe sie nachher gleich an und außerdem sind sie ja bei ihrer Omama.“

„Ich glaube, du wärst eine verdammt gute Schauspielerin geworden, sie hätten dich vielleicht nicht für die 'Buhlschaft', aber vielleicht fürs 'Gretchen' genommen, so unschuldig wie du dich geben kannst.“

Charlie dirigierte uns zur netten kleinen Gastwirtschaft, wo sich herausstellte, dass sie sich schon am Vortag nach einem Zimmer erkundigt hatte. Auch eine Badewanne war dabei, darauf hatte sie Wert gelegt. Ich trug unsere Rucksäcke ins Zimmer, half Charlie aus dem zweiten Wanderschuh und half ihr ins Bad. „Du kommst sicher jetzt allein zurecht“, meinte ich, „möchtest du noch etwas zum Abend-essen?“ „Ein Käsebrot genügt mir vollkommen.“

Als ich mit dem Essen und etwas Tee zurückkam, deckte ich noch den kleinen Tisch, bevor ich ins Badezimmer schaute. Still lag Charlie im Wasser, das ihr bis zum Kinn reichte. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete nur ganz leicht. Auf einem Hocker lag ein Bademantel bereit. Ich nahm ihn herunter und setzte mich leise neben die Wanne.

Feine Wasserspritzer ließen mich aufschrecken und als ich die Augen öffnete, stand Charlie im Bademantel vor mir, den Gürtel lose um die Taille geknüpft. „Wolltest du nicht die Kinder anrufen?“, fragte ich. „Das hab‘ ich schon getan, als du weg warst. Es geht ihnen gut. Ich hab' ihnen für morgen Abend eine Geschichte versprochen. Darauf freuen sie sich.“ „Und die Großmama wusste wohl sowieso schon Bescheid“, meinte ich.

„Die Omama, richtig. Sie ist sehr flexibel, wenn es nötig ist.“

Charlie schlüpfte ins Bett, ich nahm den Bademantel, es gab nur den einen, mit ins Bad. Als ich zurückkam, schlief sie schon. Draußen hörte ich den Gebirgsbach rauschen, in der Ferne bellte ein Hund. Ich trat noch einmal ans Fenster. Ganz klar und wolkenlos war der Himmel, deutlich zu sehen die Sterne, die über dem weiten Tal aufgehängt waren. Ein leichtes Frösteln überkam mich und ich wandte mich um. Charlie sah mich an und meinte wenig damenhaft: „Mit einem kalten Hintern wirst du mir höchstens den verstauchten Fuß kühlen können. Nun komm endlich!“ Der Fuß musste allerdings auf Kühlung verzichten.

***

Sie wusste es selbst, es war nur ein Pflaster auf ihre Wunde, dieser Tag, diese Nacht, die sie mit Thomas verbrachte. Sie wollte ihn nicht benutzen, das nicht, aber er war in dieser Situation der einzige Mensch, der ihr Hilfe und Trost sein konnte. Und sie hatte nicht nur alles im Vorhinein geplant. Sie hatte gewusst, dass sie nicht anders konnte, als diese Wunde zu überdecken mit ein paar Stunden des Zusammenseins mit jemandem, der sie achtete, schätzte, vielleicht sogar liebte. Es war kein doppeltes Spiel, es war Selbst-Hilfe, die sie anwandte, anwenden musste, um nicht in Verzweiflung zu versinken. Aber sie hatte in ihrer Vorstellung mit Mario geschlafen, als Thomas bei ihr war, und war danach gleich eingeschlafen, um nicht noch ein Gespräch führen zu müssen. Als sie am Morgen als erste erwachte, war ihr Gewissen erleichtert, weil sie Thomas zärtlich wach küssen konnte und sie noch einmal eins wurden. Sie wusste, dass sie nicht in Gefahr war, mit Mario wieder neu beginnen zu wollen, doch es fühlte sich an, als sei ihr ein Körperteil amputiert worden und als müsse sie sich erst einmal daran gewöhnen. Und zugleich war ihr klar, dass Thomas, der fast ihr Vater sein konnte, nicht der richtige für sie war. Sie wollte sich weder an ihn gewöhnen, noch sollte er es von seiner Seite aus tun.

Damals war es ihre Mutter gewesen, die immer wieder neue Männer hatte, die sie enttäuschten oder die sie selbst nur benutzte, um sich als Frau bestätigen zu können. Sie selbst hatte sie alle gehasst und ihre Mutter, die sich so erniedrigen konnte. Sie hatten nie darüber gesprochen, auch nicht über ihre eigenen Freunde, von denen Pilar durchaus hätte wissen können. Aber sie hatte ihre Tochter nie nach ihnen gefragt, weil sie wusste, dass Antonia sie selbst hätte in Verlegenheit bringen können.

***

Es blieb meist kaum ein Moment, um auch nur in Gedanken mit Charlie in Kontakt zu bleiben. Das Institut und die StudentInnen nahmen alle meine Zeit in Anspruch und an den Wochenenden war ich froh, wenn ich wenigstens für die Anrufe von Annika und Doron Zeit und Gelegenheit fand. Doron hielt in unregelmäßigen Abständen die Verbindung aufrecht, während Annika sich kaum jemals von selbst meldete. Es herrschte eine gewisse Distanziertheit zwischen uns, nicht zuletzt deshalb, weil mir Annika übelnahm, dass Anna und ich uns getrennt hatten. Jedenfalls nahm ich das an, denn sie sprach nie darüber; aber ich vermutete, dass sie mir die Schuld an der Trennung zuschrieb. Wobei ich keinesfalls davon ausging, dass Anna die Urheberin dieser Meinung war.

Der Anruf Charlies kam freitags, am frühen Abend. Es war wohl schon Ende Oktober, die ersten frösteligen Tage hatten die letzten Sommergefühle hinweg geweht. „Charlie, schön, dass du anrufst. Ein Ausflug in die Berge vielleicht?“ Das kurze Zögern vor ihrer Antwort ließ mich stutzig werden. „Ach, Thomas, es geht mir irgendwie nicht so gut. Ich fühle mich einfach elend.“ Wieder eine Pause – so hatte ich Charlie noch nie gehört. Immer war sie geradeheraus gewesen. „Was kann ich tun für dich?“ Nur Charlies Atemzüge waren zu hören. „Nun sag, soll ich vorbeikommen? Sind die Kinder bei dir?“ - „Sie sind bei Omama, seit heute Nachmittag. Sie können bis Sonntagnachmittag bei ihr bleiben.“ - „Also, ich komme zu dir, in einer dreiviertel Stunde, das sollte klappen.“ Ich hörte noch ein leises 'danke', dann legte sie auf.

Als Charlie die Tür öffnete, wusste ich, dass Grund zur Sorge bestand. Blass stand sie vor mir, schaute mich kaum an, drehte sich gleich um und wankte geradezu, als sie den Flur zurück ging. Ich fasste sie am Arm und spürte die fiebrige Wärme, die von ihr ausging. Als sie wieder auf dem Sofa lag, in eine Decke eingehüllt, holte ich ein Glas Wasser und setzte mich neben sie. Charlie hatte die Augen geschlossen, ihre Lider zitterten leicht, ein gequälter Ausdruck beherrschte ihr Gesicht. „Hast du Schmerzen?“ Charlie verneinte mit einer leichten Bewegung des Kopfes, „Nur starke Kopfschmerzen, seit heute Mittag. Aber es ist mir auch schon in den letzten Tagen nicht so gut gegangen.“

Mit etwas Überredungskunst gelang es mir, Charlie zu meinem Auto zu bugsieren. Eigentlich wollte ich sie ins Krankenhaus fahren. Aber während wir schon auf dem Weg dorthin waren, brachte sie mich von diesem Vorsatz ab und wir fuhren zu mir. Charlie hatte mich noch nie zu Hause besucht, aber sie wusste, dass ich allein lebte und nicht nur Anna, sondern auch Annika und Doron schon längst nicht mehr bei mir wohnten. So brachte ich sie in Annikas früheres Zimmer unter, wo sie fast sofort einschlief. Noch zarter als sonst war sie mir erschienen, schwach, das rötliche Haar glanzlos, die Augen müde. Am späten Abend wachte sie noch einmal auf und trank ein paar Schlucke Tee.

„Weißt du, irgendwie habe ich mich wohl doch überfordert. Erst ging es mir schlecht, dann wieder gut, nachdem ich Mario hinausgeworfen hatte. Die Kinder waren wieder glücklich, ich ja eigentlich auch. Aber weil es so schnell und plötzlich gegangen war, hing mir die Geschichte mit Mario doch in den Knochen, wie man so sagt. Und in der Schule gab es plötzlich auch Schwierigkeiten, vor allem im Kollegium. Es war Stress pur, und ich wollte doch eine gute Mutter und Lehrerin sein.“

„Jetzt musst du dich erst einmal krankschreiben lassen und zuhause bleiben. Noch besser wäre eine Kur, damit du Zeit und Muße hast, wieder zu dir selbst zu kommen. Können die Kinder nicht eine Weile bei deiner Großmutter bleiben?“

An diesem Abend kamen wir zu keinem Entschluss, aber als ich am nächsten Tag noch einmal mit Charlie sprach, konnte ich sie überreden, zumindest mit ihrer 'Omama' zu sprechen. So war es möglich, eine Woche zu gewinnen, in der die Kinder von ihr versorgt wurden. Ich beherbergte Charlie in der folgenden Woche bei mir zu Hause, in der sie zum Arzt ging und tatsächlich prompt eine Kurverordnung erhielt.

„Wie kommt es, dass du so hohe Ansprüche an dich selbst stellst? Du willst perfekte Mutter, perfekte Lehrerin und wahrscheinlich auch perfekte Partnerin für einen Mann sein. Stellst du dir so dein Leben vor?“

Mit einer Tasse Tee in der Hand saß Charlie auf oder besser: im Sessel, der zu ihrem Lieblingsplatz geworden war. Sie schaute statt einer Antwort zum Fenster hinaus, wo sich die letzten Sonnenstrahlen über den Baumwipfeln des Nachbargartens sehen ließen. Dann wandte sie sich mir zu und begann langsam und zögernd zu erzählen: „Omama ist mir immer die liebste gewesen, bei ihr bin ich eigentlich aufgewachsen, denn meine Mutter war meistens irgendwo, ich sah sie monatelang nicht. Von meinem Vater kenne ich nur das Foto, ein gutaussehender Spanier, der meine Mutter noch während der Schwangerschaft verlassen oder richtiger gesagt: im Stich gelassen hat. Er hieß Fernando, oder Stefano - ist mir egal. Ich muss drei, höchsten vier Jahre alt gewesen sein, dass ich zu Omama kam, und bei ihr lebte ich, bis ich siebzehn war. Ein schreckliches Jahr lebte ich danach mit meiner Mutter zusammen und mit achtzehn bin ich ausgezogen.“

Charlie machte eine kleine Pause und betrachtete aufmerksam ihre bloßen Füße, die sie auf die Sesselkante gestellt hatte. „Mit Pilar, meiner Mutter, habe ich mich in diesem Jahr nur gestritten. Sie wollte mich bei sich haben, um mich ihren Freunden und Bekannten zeigen zu können – 'Seht, was für eine tolle Tochter ich habe und welch phantastische Mutter ich bin'. All die Jahre zuvor habe ich vielleicht ein paar Wochen der Schulferien mit ihr verbracht, mal hier, mal da, selten bei ihr zuhause, weil sie immerfort woanders wohnte oder arbeitete. Manchmal war sie auch bei einem Freund und schickte mich in irgendeine Betreuung oder manchmal ein Ferienlager, so dass sie mich ganz los war. Wohl gefühlt habe ich mich bei Omama, so bis ich vierzehn, fünfzehn Jahre alt war. Sie war großzügig und streng zugleich. Manche Regeln waren perfekt und gnadenlos einzuhalten, in vielem aber war ich frei und konnte tun und lassen, was ich wollte. Das wichtigste war: Ich konnte mich auf sie verlassen und sie stand immer auf meiner Seite, auch meiner Mutter gegenüber. Und auch jetzt kann ich mich auf sie verlassen. Aber mit den Kindern darf ich sie nicht überfordern.“

Im weiteren Gespräch erfuhr ich, dass Charlies Großmutter Tilly hieß und Geschäftsführerin in einem Bekleidungsgeschäft gewesen war. Im Krieg geboren, hatte sie sich nach einer kurzen Partnerschaft mit Pilars Vater ihre Existenz mit viel Disziplin und Fleiß aufgebaut. Sie hatte ihr einziges Kind Pilar, die eigentlich Alexandra heißt, sehr jung bekommen und es als Alleinerzieherin großgezogen. Das heißt, ihre Tochter war früh in der Betreuung anderer Personen und bald im Kindergarten gewesen. Tilly war ihr berufliches Fortkommen sehr wichtig und Pilar zeigte sich zwar als sehr begabtes, aber 'schwieriges‘ Kind, das mit dreizehn Jahren in ein Internat kam.

„Und doch gab dich deine Mutter zu Tilly, obwohl sie sich mit ihrer Mutter eigentlich nicht vertrug?“, fragte ich verblüfft. Charlie nickte und erwiderte: „Ja, das habe ich mich mit vierzehn, fünfzehn Jahren auch gefragt. Ich denke, Pilar war klug genug zu erkennen, dass sie als Mutter wenig geeignet war, dass Tilly aber mit der großen Liebe zu mir die bessere Mutter sein würde. Und das hat ihr natürlich auch ein viel freieres Leben ermöglicht, als wenn sie mich hätte großziehen müssen.“

***

An jenem Abend läutete es unerwartet an der Tür. Es war Doron, der sonst kaum je bei mir auftauchte. Ich war etwas überrumpelt durch sein Erscheinen und bat ihn in die Küche. „Du hast Besuch?“, fragte er und hatte sofort die Situation erfasst. „Ja, es ist eine Kollegin von mir, der es gesundheitlich gerade nicht gut geht. Ich habe sie vorübergehend bei mir einquartiert.“ Doron lächelte: „Großzügig von dir. Mir war nicht klar, wie fürsorglich du sein kannst.“ Er sagte es in solch wohlwollendem Ton, dass ich, natürlich dennoch ärgerlich, das Thema wechselte. „Was führt dich zu mir, kann ich etwas für dich tun?“ Doron stand schon wieder auf: „Ich war gerade in der Nähe zu Besuch bei einem Kommilitonen. Aber vielleicht noch dies: Anna ist bei einer Freundin in Kärnten - ich nehme an, das ist neu für dich, oder?“ Doron war schon zur Tür gegangen, als ich noch hinzufügen konnte: „Ach, wirklich? Aber es geht ihr doch gut, oder?“

Die folgenden beiden Wochen war Charlie mit den Kindern zu Hause. Ihre Kur sollte sie im nahen Burgenland verbringen, drei Wochen lang. Ich holte sie und die drei ab, die sie noch zur 'Omama' bringen wollte. Jedes der drei hatte einen Rucksack dabei und still saßen sie

während der Fahrt im Auto. Charlie erinnerte sie – wahrscheinlich nicht zum ersten Mal – an alle Verhaltensregeln, die sie zu beachten hatten. Dann herrschte Schweigen im Auto, bis wir bei Tillys Haus angekommen waren. Ich wartete beim Wagen und sah Charlie mit ihren Lieben hinter der schweren Eingangstür verschwinden.

***

Die geballten Hände in die Hosentaschen gesteckt, machte sich Doron auf den Weg zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Er fragte sich, warum er überhaupt bei seinem Vater auftauchen musste, denn die Nachricht, dass Anna weggefahren war, hätte er einfach für sich behalten können. Ärgerlich trat er ein Plastikfläschchen, das auf dem Gehsteig lag, auf die Straße und handelte sich missbilligende Blicke eines älteren Mannes ein, den er fast getroffen hätte.

Wieder war das Gefühl da, das er von früher kannte, wenn sein Vater nach Hause gekommen war, um vieles verspätet, mit irgendeiner Entschuldigung oder Erklärung, die nur peinliches Schweigen zwischen ihm und Anna zur Folge hatte. Er war dann in seinem Zimmer verschwunden, hatte eines seiner Lexika genommen und sich die Namen weiterer Pflanzen eingeprägt, die er vom Sehen schon kannte.

Einmal, in der Zeit, als er die Oberstufe des Gymnasiums besuchte, hatte er auf dem Nachhauseweg zufällig seinen Vater auf der Straße gesehen, den Arm um die Hüfte einer jungen Frau gelegt, auf die er einredete. Er war ihm gefolgt, bis die beiden in einem Café verschwanden, das zu klein war, als dass er sich hätte hineinschmuggeln können, ohne gesehen zu werden. Eine ganze Weile war er dagestanden und dann nach Hause gelaufen, um Anna nicht mit dem Essen warten zu lassen.

Als Doron die Straßenbahn näherkommen sah, legte er einen Sprint ein, wie um seine Erinnerungen hinter sich lassen zu können, und stieg als erster in den Wagen. Die ganze Zeit während der Fahrt nach Hause konzentrierte er sich darauf, den Verlauf des restlichen Tages zu planen, um am Abend Zeit für Pia zu haben.

***

Zur gleichen Zeit, als Charlie wieder aus dem Haus trat, öffneten sich in einem der oberen Stockwerke zwei Fenster und Kinderköpfe streckten sich heraus. Ich wies Charlie darauf hin und sie drehte sich vor dem Einsteigen noch einmal um und winkte hinauf. Als ich die Autotür hinter ihr geschlossen und um den Wagen herumgegangen war, schaute ich vor dem Einsteigen noch einmal zu den Fenstern hoch und sah ein Frauengesicht, das unbewegt zu mir herunterschaute.

Auf der Fahrt zur Kurklinik sprachen wir nur wenig. Charlie wirkte müde, in sich gekehrt, stumm wie selten. Draußen zog die Landschaft an uns vorbei und in dieser Stille, in der auch das Motor-und Fahrgeräusch bald in den Hintergrund trat, schienen wir gemeinsam durch Zeit und Raum zu gleiten, unbewegt eingeschlossen in eine metallene Kapsel, in seltsamer Verbundenheit.

Charlie begleitete ich noch zur Anmeldung und brachte ihr den Koffer auf ihr Zimmer. Dort verabschiedete ich mich mit einem Kuss auf die Wange und jetzt erst erwachte Charlie aus der schieren Bewusstlosigkeit, in die sie seit Fahrtbeginn versunken war. „Entschuldige, ich war einfach irgendwie weggetreten, du weißt ja … Danke fürs Herbringen! Und geh ruhig zu Omama, spiel mit den Kindern, die mögen dich.“ „Nun, ich werde mal anrufen, Du bist für sie ja erreichbar, da braucht es mich nun wirklich nicht.“ Charlie schien noch etwas sagen zu wollen, tat es dann aber doch nicht, sondern drückte nur fest meine Hand.

Bevor ich in den Wagen stieg, schaute ich zu ihrem Fenster hoch. Und wieder sah ich ein Frauengesicht, das unbewegt zu mir herunterblickte. Aber dieses Mal winkte ich hinauf und sah, wie Charlie zurückwinkte.

***

Sie beschloss, die nächsten Tage auch nicht eine Sekunde an die Kinder zu denken, sie konnte sich völlig auf ihre Großmutter und Thomas verlassen. Der durchgeplante Tageslauf in der Klinik entlastete sie von allen Überlegungen und sie schlief so lange am Stück, wie sie in ihrem ganzen Erwachsenenleben noch nicht geschlafen hatte. Die Träume, die sie, manchmal in Schweiß gebadet, erwachen ließen, konnte sie während des Tages wieder vergessen, auch wenn sich zeigte, dass sie manchmal wiederkehrten. Aber sie wollte sich nicht darum kümmern, sondern versetzte sich selbst in einen Zustand, der dem eines Kleinkindes glich. Sie lebte im Augenblick, freute sich am Geschmack des morgendlichen Kaffees, am Anblick des Herbstlaubes oder sie atmete in vollen Zügen die kalte Luft der Berge ein, die sie frösteln ließ, so dass sie mit Wohlbehagen wieder in ihr Bett schlüpfte. Sie wunderte sich selbst, wie schnell die Tage vorüber gingen, oft ohne ein längeres Gespräch, bei dem sie hätte völlig wach werden müssen.

***

Der Gedanke, Friederike anzurufen, kam ihr während einer kurzen Phase innerer Abwesenheit, als sie darauf wartete, in der Bäckerei in ihrer Nachbarschaft bedient zu werden.

Ihre Freundin war ihr plötzlich so präsent, als stünde sie neben ihr

mit einer unausgesprochenen Frage. „Einen Kornspitz bitte und“, sie zögerte, ob sie sich den Luxus leisten wollte, „und noch dieses Sahnetörtchen.“ Anna hatte das Gefühl, als mustere sie die junge Bedienung, ob sie wohl die vielen Kalorien auch ohne weitere Spätfolgen würde vertragen können. Und wie aus Trotz fügte sie hinzu: „Und noch eine Topfengolatsche!“ Sie vergaß absichtlich ein ‚bitte‘ und blickte die junge Frau herausfordernd an.

Erst als sie auf dem Gehsteig stand, dachte sie wieder an Friederike. Und sie empfand eine unerwartete Nähe zu ihr, obschon sie sich schon Jahre nicht mehr gesehen hatten. Ab und zu ein Telefonanruf, das war es gewesen. Anna ging langsam weiter und wandte sich dann entschlossen einem Straßencafé zu.

Der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung war allzu rasch vollzogen worden, die neue Wohnung gefiel ihr zwar, aber sie vermisste die Großzügigkeit der alten und es fiel ihr schwer, sie sich ohne Thomas darin vorzustellen. Es war immer die ganze Familie in dem Bild, das sie in sich trug, Annika, wie sie auf ihrem Bett lag, die Kopfhörer über den Ohren, so dass sie ihre Mutter gar nicht wahrnahm, wenn sie das Zimmer betrat. Doron, am Schreibtisch sitzend, den aufmerksam-fragenden Blick auf sie gerichtet, wenn sie in sein Reich eindrang, und Thomas, ihr am Schreibtisch sitzend den Rücken zugewandt und ebenso unerreichbar wie nicht ansprechbar.

Als sie ihren Espresso viel zu rasch ausgetrunken hatte, begann sie zu telefonieren. Danach überfiel sie eine plötzliche Müdigkeit, die sie fast zu lähmen drohte. Aber entschlossen stand sie auf, bezahlte und ging hinüber zur U-Bahnstation, um auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gelangen. Friederike hatte ohne zu zögern zugesagt, sie bei sich für ein paar Tage aufzunehmen und viel mehr hatten sie nicht miteinander geredet. Und so suchte sich Anna für den folgenden Tag die passende Zugverbindung und packte ihre Sachen. Später am Tag, es war ihr erst jetzt eingefallen, machte sie sich noch einmal auf den Weg, um ein kleines Gastgeschenk für ihre Freundin zu besorgen.

Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt, in Wien, wohin sie beide als Kärntnerinnen gezogen waren, Friederike im Lehramtsstudium, sie selbst in der Ausbildung zur Sozialarbeiterin. Friederike hatte sie angesprochen, als sie gerade auf dem Weg zu einer Seminarveranstaltung war, und hatte sie gefragt, ob es möglich wäre, einfach einmal mitzukommen. Es interessiere sie, was in der Ausbildung zur Sozialarbeit thematisiert werde, denn sie sei nicht zufrieden mit dem eigenen Studium. So waren sie ins Gespräch gekommen, hatten sich danach zusammengesetzt, sich ausgetauscht und festgestellt, dass sie nicht weit voneinander aufgewachsen waren.

Friederike war doch bei ihrem Studium geblieben, aber sie hatten sich regelmäßig getroffen und unter-stützt. Und es war bei einer Lehrprobe gewesen, wohin sie ihre Freundin begleitet hatte, dass sie Thomas, den Prüfer, kennengelernt hatte.

Draußen flog die Landschaft am Fenster vorbei, aber Anna mied den Blick hinaus, lehnte sich zurück und erinnerte sich an diese Begegnung, die ihr Leben nachhaltig prägen sollte. Sie hatten nach der Lehrprobe schon die Schule verlassen wollen, als Thomas auf sie beide zugekommen war und Friederike zunächst zu ihrer gelungenen Lehrprobe gratulierte. Friederike hatte sich nur stumm bedankt und Anna wunderte sich, dass kein Lächeln über ihre Lippen gekommen war. Thomas hatte sich dann ihr selbst zugewandt und sich vorgestellt. Sein Blick aus den blauen Augen hatte sie sofort verunsichert und mit leiser Stimme hatte sie sich mit ihm bekannt gemacht. An die weitere Konversation konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur daran, dass sie sich über sich selbst wegen ihrer Unbeholfenheit geärgert hatte.

Friederike holte sie mit dem Auto vom Bahnhof ab. „Gut siehst du aus, meine Liebe.“ Aber dann schaute sie Anna noch einmal genauer an. „Nein, müde schaust du aus.“ Sie nahm sich Annas Reisetasche und hakte sie unter. „Dann fahren wir erst einmal nach Hause und wenn du magst, legst du dich erst mal hin, ja?“