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Kjerand ist sein Leben lang nicht aus dem kleinen Ort herausgekommen, in dem er zur Schule gegangen ist. Er hat sich in sein Schicksal gefügt, seine Homosexualität verleugnet und den Hof der Eltern übernommen. Das ändert sich radikal, als er mit sechzig seine Krebsdiagnose bekommt, zur Strahlentherapie nach Oslo muss und dort seinen Schulfreund Birger wiedertrifft. Birger hat alles anders gemacht. Er ist nach Oslo gezogen, betreibt eine Kunstgalerie, lebt sein schwules Leben. Doch hat er zu sich selbst gefunden? Die Begegnung der beiden stellt alles auf den Kopf. Kjerand erlebt im Kampf gegen den Krebs sein spätes Coming-out, die Verwirrung der Gefühle. Und Birger erfährt, dass Liebe viel mehr bedeuten kann als guter Sex. In leisen Tönen und präzisen Beobachtungen erzählt Odd Klippenvåg davon, dass es nie zu spät ist, dem Leben eine andere Richtung zu geben, eine neue Möglichkeit auszuprobieren. "Ein liebenswerter Mensch" ist – wie schon sein Roman "Der Stand der Dinge" – eine anrührende Liebesgeschichte, die auch den unausweichlichen Härten des Lebens nicht aus dem Weg geht.
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Seitenzahl: 297
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Kjerand ist sein Leben lang nicht aus dem kleinen Ort heraus gekommen, in dem er zur Schule gegangen ist. Er hat sich in sein Schicksal gefügt, seine Homosexualität verleugnet und den Hof der Eltern übernommen. Das ändert sich radikal, als er mit sechzig seine Krebsdiagnose bekommt, zur Strahlentherapie nach Oslo fährt und dort seinen Schulfreund Birger wiedertrifft. Birger hat alles anders gemacht. Er ist in die Stadt gezogen, betreibt eine Kunstgalerie, lebt sein schwules Leben.
Zwischen Kjerand und Birger entsteht schnell eine große, ganz selbstverständliche Vertrautheit, die fast ohne Worte auskommt. Kjerand war sein ganzes Leben heimlich in Birger verliebt und will diese Liebe in der Zeit, die ihm bleibt, endlich leben.
In leisen Tönen und präzisen Beobachtungen erzählt der in Norwegen hochgeschätzte Odd Klippenvåg davon, dass es nie zu spät ist, dem Leben eine andere Richtung zu geben, eine neue Möglichkeit auszuprobieren. Wie schon in «Der Stand der Dinge» dringt er tief in die Psyche seiner wortkargen Protagonisten ein und geht dabei auch den Härten des Lebens nicht aus dem Weg.
Odd Klippenvåg wurde 1951 auf den Lofoten geboren. Seit 1978 veröffentlicht er Romane und Erzählungen und ist ein Liebling der norwegischen Literaturkritik. Er wurde für mehrere seiner Bücher ausgezeichnet und erhielt 2014 den Riksmålspreis für seinen Roman «Ada». Auf Deutsch erschien bereits sein Roman «Der Stand der Dinge» (2010).
Gabriele Haefs studierte Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltologie und Skandinavistik. Für ihre zahlreichen Übersetzungen aus dem Norwegischen wurde sie mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden ausgezeichnet. Sie lebt in Hamburg.
Odd Klippenvåg
Ein liebenswerter Mensch
Roman
Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs
«Eben hat ein Mann nach dir gefragt.»
Ich rief Alice jeden Donnerstag gegen Feierabend an, und wenn ich das ein seltenes Mal vergaß, meldete sie sich bei mir. Natürlich war ich neugierig darauf, ob in der Galerie etwas verkauft worden war; wenn nicht, wollte ich wissen, wie der Besuch an den Tagen gewesen war, an denen Alice mich vertreten hatte. Alice war auf jeden Fall ein Segen, freundlich und pflichtbewusst. Ich hatte sie eingestellt, als ich gerade fünfundfünfzig geworden war, um mich zu entlasten. Ich konnte häufiger auf Reisen gehen, auch ins Ausland, um Ausstellungen zu besuchen, und wenn ich krank war, und sei es nur eine Erkältung, sprang Alice gern für mich ein.
Normalerweise würde ich mich kaum daran erinnern. Denn im Laufe eines Tages kommen so viele unterschiedliche Menschen in die Galerie, oft Bekannte, die ein bisschen plaudern möchten, Stammkunden zum Beispiel oder Künstler. Deshalb hätte ich wohl kaum darauf geachtet, was Alice sagte, wenn sie nicht weitergeredet und erzählt hätte, wie sie auf diesen Mann aufmerksam geworden war. Ich weiß noch, dass sie erzählte, der Fremde habe länger durch die offene Bürotür zu ihr hereingeschaut, als sich die Bilder anzusehen. Natürlich fragte ich jetzt, ob sich der Mann nicht vorgestellt oder eine Mitteilung hinterlassen habe.
«Nein», antwortete Alice. «Nichts davon.»
Hier hätte ich das Thema wechseln oder alles mit einem Scherz abtun können, mein Privatleben habe ich immer gehütet, aber weil sie nun den Mann beschrieb, versuchte ich, ihn mir vorzustellen, jedoch vergebens. Sie beschrieb ihn als einen Mann ungefähr in meinem Alter, groß und schlank, in beigem Mantel, grauhaarig und mit leicht geröteten Wangen. Nach mehreren Minuten, vielleicht einer Viertelstunde, meinte sie, sei der Mann in den ersten Stock hochgegangen, um aber gleich darauf wieder herunterzukommen und sie zu fragen, ob diese Galerie nicht Birger Mostul gehöre. Das hatte sie natürlich bestätigt. Sie hatte gesagt, der Besitzer, also ich, werde am folgenden Tag anzutreffen sein. Danach stand der Mann stumm in der Türöffnung, enttäuscht, wie ihr schien, doch dann bedankte er sich für die Auskunft, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Sie sagte, es sei schon seltsam gewesen, der Mann habe so bewegt gewirkt. Weil sie dieses bedeutungsschwangere Wort benutzte, musste ich es fragend wiederholen.
«Ja», antwortete Alice. «Ich kann es nicht besser ausdrücken.»
Am nächsten Tag ließ sich niemand sehen. Auch am Tag danach nicht. Übrigens dachte ich nicht mehr daran, was Alice erzählt hatte. Es gab so viel zu tun. Die alte Ausstellung musste abgenommen und die neue montiert werden. Außerdem verbrachte ich ein Wochenende in Stockholm, wo ein Freund einen runden Geburtstag feierte. Ich hätte mir diese Reise sparen können, denn sie wurde zur Enttäuschung. Stockholm war ebenso grau wie Oslo, und Bo Jönsson war zu einem bemitleidenswerten älteren Herrn geworden, der sich für viel jüngere Männer lächerlich machte. Wie kann sich ein Mensch so verändern?, fragte ich mich, ehe ich mich kurz nach Mitternacht von dem lärmenden Fest in der großen Wohnung in der Drottninggata davonschlich. Ich hatte gehofft, in Liljevalchs Kunsthalle vorbeischauen zu können, ehe ich am nächsten Tag zum Flughafen musste, aber dann rief Bo an und bestand auf einem Treffen. Wir verabredeten uns in der Hotelbar, mehr Zeit hätte ich nicht, log ich, und als wir dort saßen, wurde ich in meinem Urteil über Bo immer sicherer. Es stellte sich heraus, dass er sich in einen fast dreißig Jahre jüngeren Mann verliebt hatte. Als ich fragte, warum Bo ihn auf dem Fest nicht vorgestellt habe, erfuhr ich, dass der Freund wegen einer Geschäftsreise in die USA nicht anwesend gewesen sei. Sein Fehlen hatte Bo manisch und exaltiert gemacht, wie ich nun begriff, und deshalb hatte er mit einem jungen Gast nach dem anderen geflirtet und getanzt. Mag ich Bo wirklich gern?, musste ich mich fragen. Mir ging auf, dass das zwischen uns vor langer Zeit geschehen war, und als wir uns mit einer Umarmung und gegenseitigen Versicherungen verabschiedeten, uns bald wiederzusehen, geschah das meinerseits mit gemischten Gefühlen.
In Oslo quälte mich dann eine Unsicherheit, die sich ab und zu einstellte. Es war der Verdacht, dass alles umsonst gewesen sei. Alles, was ich getan hatte. Ein ganzes Leben. Weil ich eine Mail von Alice erwartete, schaute ich in der montags geschlossenen Galerie vorbei. Über die Hälfte der Bilder war verkauft worden. Darüber freute ich mich natürlich. Ich rief die Künstlerin an, um ihr Bescheid zu sagen, aber Terese wirkte schlecht gelaunt und mürrisch. Zuerst dachte ich, ich hätte sie geweckt, obwohl es bereits später Vormittag war, aber dann hörte ich klapperndes Geschirr und fließendes Wasser, woraus ich schloss, dass sie immerhin schon aufgestanden war. Ehe ich das kurze Gespräch beendete, hörte ich im Hintergrund einen Mann, einen geräuschvollen Raucherhusten, und nun stellte ich mir eine trostlose Küchenszene vor, wo der Mann sich aus dem Fenster beugt und raucht, halb nackt, während der Zigarettenrauch in die Küche hineintreibt, obwohl das Gegenteil beabsichtigt war, auf Terese zu, die mitten im Raum steht, im Morgenrock, barfuß mit abgesplittertem roten Nagellack an den Zehen, wie ich sie einmal gesehen hatte. Danach saß ich mehrere Minuten an meinem Schreibtisch im Büro. Wieder trübte sich meine Stimmung. Ich dachte daran, wie wenige Maler es gibt, bei denen wirklich die Rede davon sein kann, dass sie ihre Kunst voll ausgeschöpft haben, und bei Terese war das eben nicht der Fall. Am Ende erhob ich mich und wanderte in der Galerie umher. Hier und da blieb ich stehen, um einige der Bilder, Vasen und Urnen zu betrachten. Viele waren sichtlich von griechischer und ägyptischer Kunst inspiriert. Einige waren mit verwelkten Blumen gefüllt, Lilien und Zantedeschien. Andere klafften mit ihrer Leere.
Als ich auf die Straße hinaustrat, wurde ich von scharfem Sonnenlicht geblendet. Es dauerte nur einen Moment, dann schoben sich Wolken vor die Sonne. Aber es regnete nicht, und ich spazierte nach Hause, durch den Schlosspark, wo die Bäume schon ihre bunten Herbstfarben zeigten, überquerte den Parkvei und ging weiter die Riddervoldsgate hoch. Der Spaziergang besserte meine Laune ein wenig, deshalb kochte ich mir eine Kanne grünen chinesischen Tee und setzte mich in meinen Lieblingssessel, einen alten Ohrensessel aus meiner Kindheit. Ich musste wieder an Bo denken, an das starke Begehren, das ich einmal verspürt hatte. Ich erinnerte mich daran, dass Bo ein besonderes Merkmal gehabt hatte, einen Ständer, der immer nach links zeigte und auf seltsame Weise rau war, egal, wie man ihn anfasste. Ich dachte an mein Leben. Weil ich mich die ganze Zeit im Wohnzimmer umsah, wo die Bilder an den Wänden dicht an dicht hingen, begann ich mich darüber zu wundern, dass Terese sich offenbar so wenig über den guten Verkauf gefreut hatte. War es ihr peinlich gewesen, den Mann zu Besuch zu haben? Soviel ich wusste, hatte sie keinen festen Partner. War sie einfach erschöpft nach der vielen Arbeit? Es hatte fünfundvierzig Werke gebraucht, um beide Etagen der Galerie zu füllen. Jedenfalls hoffte ich, dass sie nicht wieder auf dem Weg in die Depression war, die ihr schon einmal zwei Arbeitsjahre gestohlen hatte. Als ich mich auf die Zeitungen stürzen wollte, die ich wegen der Reise nach Stockholm nicht gelesen hatte, merkte ich plötzlich, wie die Sonne durch die hohen Fenster schien. Ich saß dann nur da und starrte das schräge Lichtdreieck auf dem Boden an, halb auf dem Perserteppich, halb auf dem Parkett. Später erhob ich mich, ging zum nächsten Fenster und schaute hinaus. Der Himmel über den Hausdächern war blau. Trockene Bürgersteige. Ich dachte: Warum nicht zur Hütte fahren? Da Alice die Galerie hütete, lagen drei freie Tage vor mir. Wenn ich rasch einen Entschluss fasste, könnte ich die Stadt vor dem nachmittäglichen Stoßverkehr verlassen. Ich erwog kurz das Für und Wider. Und beschloss, mich auf den Weg zu machen.
Am folgenden Sonntag saß ich mit einem angenehmen Gefühl in der Galerie. Die Seeluft hatte mir gutgetan. Es kam ein stetiger Besucherstrom, aber dennoch herrschte eine seltsam ruhige Stimmung. Wenn ich von meinem Buch aufblickte, einem Buch über dänische Malerei im neunzehnten Jahrhundert, sah ich genau auf das Bild, das ich für Tereses allerbestes halte. Es zeigt eine schwarze Urne mit weißen Zantedeschien, die sich zu den Seiten neigen; sie welken schon, der Rand der runzligen Blütenblätter hat sich hellbraun verfärbt. Die Blumen geben ihren Geist auf, hatte ich feierlich gedacht, als ich in der Hütte aufs Meer geblickt hatte.
«Guten Tag, Herr Mostul!»
Ich fuhr zusammen, denn ich hatte nicht gehört, dass jemand gekommen und in die Türöffnung getreten war. Dort stand ein Mann, und als ich den Gruß erwidert hatte, glaubte ich, das erste Bild des Tages verkaufen zu können, nur eine halbe Stunde nach dem Öffnen. Ich machte eine einladende Handbewegung, der Käufer solle sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch niederlassen. Aber der Mann rührte sich nicht. Er stand da und musterte mich lächelnd.
«Erkennst du mich nicht, Birger?», fragte er.
Zu meinem Bedauern musste ich gestehen, dass das nicht der Fall war, und erhob mich zögernd.
«Ich bin Kjerand», sagte der Mann, trat über die Schwelle und hielt mir die Hand hin.
In diesem Moment fiel mir ein, was Alice erzählt hatte, und plötzlich erkannte ich das zerfurchte Gesicht. Natürlich, das war Kjerand, Kjerand Lie! Ich griff über den Tisch nach seiner Hand, und in den Sekunden, in denen wir so dastanden, jagten mir Erinnerungsfetzen durch den Kopf, Spiel in Schnee und Tannenwald, Baden in Waldseen. Als wir losgelassen hatten, lief ich um den Tisch herum und meinte, wir hätten uns sicher hundert Jahre nicht gesehen. So lange sei es ja wohl kaum, sagte Kjerand, höchstens an die dreißig. Ich hätte ihn fast umarmt, fasste dann aber seinen Oberarm und klopfte ihm auf die Schulter.
Nachdem Kjerand sich gesetzt hatte, lehnte ich mich an die Schreibtischkante. Ich war merkwürdig aufgeregt darüber, dass die Vergangenheit aufgetaucht war, Kindheit und Jugend, und bat ihn zu erzählen, fragte, was ihn nach Oslo geführt habe. Er erzählte, er werde am nächsten Tag nach Telemark zurückfahren, habe aber gedacht, es könnte lustig sein, mich vorher zu treffen. Sofort schlug ich vor, zusammen essen zu gehen.
Wir verabredeten uns im Hotel Bondeheimen, wo er wohnte. Alles geschah so rasch und hektisch, und als Kjerand bemerkte, dass ein junges Paar mit mir sprechen wollte, meinte er, er halte mich auf. Ich stritt das ab, aber das half nichts. Ich sah, dass er meinen Blick nicht mehr festhielt, dass er unruhig seine großen, ein wenig geschwollenen Hände bewegte. Danach machte ich etwas Dummes, ich erhob mich von der Schreibtischkante, und nun sprang er ebenfalls auf. Er deutete offenbar alles als Zeichen dafür, dass der kurze Besuch zu Ende sei. Es wurde nicht besser dadurch, dass ich abermals seinen Oberarm packte. Kjerand zog ein Paar braune Lederhandschuhe hervor, und ich stutzte für einen Moment, denn es war doch gar nicht kalt.
Ich kam zu meiner Verabredung mit Kjerand über eine halbe Stunde zu spät. Um Viertel nach drei, hatte ich gesagt. Jetzt ging es auf vier Uhr zu. So war es fast jeden Sonntag: Es kamen immer noch Besucher, und ich mochte niemanden abweisen. Als ich sah, dass Kjerand wartend vor dem Hotel stand, war mir klar, dass ich ihn über die Verspätung hätte informieren müssen. Mir fiel wieder ein, was ich Kjerand hätte fragen können, ehe er die Galerie verließ. Über seine Familie natürlich.
«Da bist du», sagte Kjerand.
Ich bat um Entschuldigung und erklärte, ich könnte oft die Galerie nicht um Punkt drei schließen. Dazu sagte Kjerand nichts, und als ich mich dabei ertappte, ihm schon wieder die Hand auf den Arm zu legen, fragte ich, was er gern essen wollte. «Italienisch, französisch oder vielleicht Thai?»
«Ist mir egal», sagte Kjerand. «Hauptsache, man wird satt.»
Ich erwiderte, das sei ja durchaus nicht sicher, aber Kjerand nahm den Ball nicht auf. Wir gingen in Richtung Karl Johan, und weil Kjerand so stumm blieb, fragte ich, wie es denn aussehe in Øyfjell und ob er noch immer Kontakt zu den alten Schulkameraden habe.
«Das meiste ist wie immer, still und ruhig», sagte Kjerand. «Tollef treffe ich oft.»
Ich erinnerte mich an Tollef, einen von den Schüchternsten in der Klasse.
Als ich erfuhr, dass Tollef verheiratet war und als Schreiner arbeitete, fragte ich:
«Und du, bist du verheiratet?»
«Nicht mehr», sagte Kjerand.
Er ging nicht weiter darauf ein, ob er geschieden war oder seine Frau verloren hatte, durch einen Unfall zum Beispiel. Stattdessen berichtete er von seiner Tochter, die in Rauland wohnte. Er sagte, er solle von Jarbjørg grüßen, seiner Schwester, die in Høydalsmo lebte.
Auf Karl Johan war es an diesem kühlen Nachmittag im September ziemlich still. Einige ausländische Touristen kamen vorüber, eine Gruppe lächelnder Japaner. Die ganze Zeit zerbrach ich mir den Kopf, wohin wir gehen könnten, da Kjerand so vage blieb, was seine Wünsche betraf. Ich kannte in der Øvre Slottsgate ein indisches Restaurant, deshalb fragte ich, ob das vielleicht infrage käme.
«Ich esse alles», antwortete Kjerand, «aber indisch habe ich noch nie probiert.»
Einige Sekunden lang ärgerte ich mich plötzlich, weil er so unsicher und zaghaft war. Ich war inzwischen ziemlich hungrig, deshalb schlug ich vor, es mit dem Inder zu versuchen. Kjerand war einverstanden, und wir hatten Glück und fanden in der Ecke beim Eingang einen freien Tisch.
Es wurde eine seltsame Mahlzeit. Nachdem wir eine Weile schweigend in der Speisekarte geblättert hatten, bat Kjerand mich, etwas auszusuchen. Ich lächelte und tat so, als ob ich nichts gehört hätte. Weil ich nicht mehr wusste, ob ich gesagt hatte, dass ich ihn einladen wollte, teilte ich das nun mit. Kjerand protestierte nicht, und ich schlug eine Mulligatawnysuppe als Vorspeise vor. Kjerand wollte keine Vorspeise, weder Suppe noch etwas anderes von dem, was ich vorschlug. Als ich dann die Hauptgerichte aufzählte, unterbrach er mich und fragte, was ich essen wolle. Ich entschied mich für Chicken Tikka, aber als Kjerand hörte, dass es sich um Hähnchen mit Reis, Salat und einer scharfen Tandoorisoße handelte, bat er um Lamm. Am Ende fiel die Wahl auf Lamm in Masala-Soße, dazu Knoblauch-Nan, das ich energisch für uns beide empfahl. Sobald die Getränke serviert worden waren, normales norwegisches Pils, wie Kjerand dem sympathischen Kellner, einem Mann von Mitte vierzig, gesagt hatte, hoben wir die Gläser und tranken einander zu. Ich sagte, diese Begegnung sei wirklich eine große Überraschung, und Kjerand nickte. Weil sein Gesicht so dicht bei meinem war, konnte ich mir den Gedanken nicht verkneifen, dass Kjerand ein gut aussehender Mann war. Mir gefielen seine ernsten braunen Augen. Die vollen Lippen. Und die Hände. Früher einmal war Kjerand ein ungestümer, unternehmungslustiger Junge gewesen, fiel mir jetzt ein. Einer, der oft lachte. Jetzt staunte ich über sein Schweigen, über die Hände, die unruhig am Bierglas herumspielten, während sein Blick immer wieder zur Straße hinauswanderte.
«Ich habe mein Elternhaus in Øyfjell Anfang der 80er Jahre verkauft», sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen.
«Das weiß ich noch», sagte Kjerand.
Dann erfuhr ich, dass jetzt Tollefs ältester Sohn dort wohnte. Davon hatte ich keine Ahnung gehabt. Aber Kjerand konnte erzählen, dass die ursprünglichen Käufer nach zwei Jahren wieder weggezogen waren.
Als meine Suppe gebracht wurde, sagte Kjerand plötzlich:
«Du hast da eine schöne Ausstellung in der Galerie.»
Ich hatte gedacht, Kjerand habe sich Tereses Bilder gar nicht erst angesehen, und das sagte ich ihm, dass ich glaubte, er sei gleich nach unserem Gespräch gegangen. Er antwortete etwas, das mir eigentlich hätte klar sein müssen, nämlich dass er die Ausstellung früher gesehen habe, an einem Tag, als eine Frau im Büro saß.
«Das war Alice», sagte ich, «sie ist die Tochter eines alten Kommilitonen.»
Kjerand wollte wissen, ob ich Kunst studiert hätte, und als ich erwiderte, nein, Betriebswirtschaft, wirkte er überrascht. Danach stellte er keine weiteren Fragen, und als das Hauptgericht kam, konzentrierten wir uns auf die Mahlzeit. Das Lamm schmeckte ihm, aber vor allem war er von dem Nan-Brot begeistert. Wir hoben wieder die Gläser und stießen sogar klirrend an. Dennoch war die Stimmung nicht so, wie ich erwartet hatte. Das Gespräch kam immer wieder ins Stocken, und ich musste mir den Kopf nach Fragen zerbrechen, die nicht gar zu aufdringlich wirken würden. Plötzlich schien meine Jugend in Telemark so weit weg zu sein … Aber dann fragte Kjerand:
«Deine Ausstellung da, die handelt vom Tod, oder nicht?»
«Ja, vielleicht», sagte ich und erzählte dann, welche Skepsis ich Terese anfangs entgegengebracht hatte. Ich hatte befürchtet, es könnte zu sentimental werden, eine typische Damenausstellung, wie ich es nannte. Bei einem späteren Besuch in ihrem Atelier hatte ich dann aber ein Bild entdeckt, auf dem sie die verwelkten Blumen auf eine andere Art malte, gedämpfter, mit mehr Clair-obscur und doch realistisch und ergreifend. Dieses Bild hatte ich gelobt, ich hatte gesagt, ich würde gern mehr von der Sorte sehen. Ich erzählte, dass ich meinen Künstlern nur ungern zu genaue Anweisungen erteilte, denn sie seien zarte und empfindsame Seelen, jedenfalls viele von ihnen.
«Aber es geht um den Tod?», fragte Kjerand noch einmal.
«Oder um Vergänglichkeit», schlug ich vor.
Kjerand lächelte auf seltsame Weise, und dann erzählte ich, was mich bei dieser Ausstellung am meisten überrascht hatte, sei der Widerhall gewesen, den die Bilder bei Menschen jeden Alters erweckten.
«Das kann ich gut verstehen», sagte Kjerand.
Ich scherzte ein wenig damit, dass ich selbst mich darauf freute, die vielen roten «Verkauft»-Zettel zu zählen. Aber da Kjerand auf diesen Scherz nicht einging, fragte ich, ob er sich wirklich für Kunst interessierte, wo er doch sicher nicht viel zu sehen bekäme. Kjerand erinnerte mich daran, dass es im Sommer in Rauland eine Kunstausstellung gibt, «außerdem haben wir Henrik Sørensen in Smørklepp», und wenn er in Skien war und die Zeit reichte, schaute er gern dort im Kunstverein vorbei. Bei dieser Antwort fragte ich mich, ob ich Kjerand vielleicht falsch beurteilt hatte.
Während der Kellner den Tisch abräumte, fasste ich Mut und sah mir Kjerand genauer an. Ich sah die starken Hände, die rötliche Färbung der Wangen, die auch Alice aufgefallen war, wie feinste rote Stickerei unter den Augen. Als der Kellner fragte, ob wir Dessert oder Kaffee wünschten, lehnte Kjerand rasch dankend ab, bestellte aber noch ein Bier. Auch ich bat um Bier, obwohl ich lieber Kaffee getrunken hätte, denn nach dem Essen werde ich oft schläfrig, besonders nach einem Tag in der Galerie. Ich dachte daran, wie schön es wäre, mich wie sonst zu Hause für eine halbe Stunde aufs Sofa zu legen. Aber als das Bier kam, passierte etwas, das die Stimmung jählings umschlagen ließ.
Kjerand hob sein Glas und sagte:
«Du bist auch nicht verheiratet, Birger.»
Das bestätigte ich, und Kjerand fügte hinzu:
«Das dachte Tollef nämlich.»
«Es gibt also Gerüchte?», fragte ich und merkte, wie Kjerand zögerte.
Er setzte sich ganz gerade hin, ehe er sagte:
«Nein, nein, das darfst du nicht falsch verstehen, so war das nicht gemeint.»
Ich beschloss plötzlich, in die Offensive zu gehen. Denn was scherte es mich schon, was die Leute in Telemark so redeten? Rein gar nichts. Ich hatte längst einen Schlussstrich unter Øyfjell gezogen, deshalb sagte ich:
«Ich habe viele Männer gekannt, Kjerand, im In- und Ausland, falls du das wissen wolltest.»
Da Kjerand schwieg, erzählte ich, dass ich aber nur mit wenigen zusammengelebt hatte, mit äußerst wenigen, wie ich betonte, einige Monate lang, einmal ein ganzes Jahr, aber das war die Ausnahme. Früher war alles anders gewesen, erinnerte ich ihn. Meine Veranlagung war verboten, sagte ich und spürte, wie unangenehm berührt Kjerand war; dass er immer mehr Bier in sich hineinschüttete und meinem Blick auswich. Ich fragte, ob er sich nicht erinnerte, dass Homosexualität verboten gewesen war, als wir jung waren.
«Natürlich erinnere ich mich», sagte Kjerand, ohne mich anzusehen.
Ich begriff nicht, warum ich mich so aufregte, ich klang jetzt fast unfreundlich. Das konnte kaum am Alkohol liegen. Ich schämte mich auch nicht, der zu sein, der ich eben war. Das hatte ich noch nie getan. Konnte diese unerwartete Begegnung mit der Vergangenheit der Grund sein? Lag es daran, dass ich aus Kjerand nicht schlau wurde? Nach fast zwei Stunden hier im Restaurant wartete ich noch immer auf irgendetwas. Eine Erklärung. Warum war Kjerand in Oslo? Warum hatte er gerade mich aufgesucht?
«Aber jetzt finde ich, du musst auch etwas erzählen», sagte ich. «Was führt dich nach Oslo, Kjerand?»
Es dauerte mindestens eine Minute, bis Kjerand den Blick vom Fenster löste und sagte:
«Ich habe Prostatakrebs, und der hat in die Lymphdrüsen im Becken gestreut.»
Ich war total unvorbereitet auf diese Mitteilung gewesen, konnte aber doch fragen:
«Wann hast du das erfahren?»
«Im Juli», antwortete Kjerand. «Mitte Juli.»
Ich sagte, es tue mir leid, das zu hören. Ich sagte, ich könne es fast nicht glauben, er sehe doch so gesund aus. Nun lächelte Kjerand resigniert und ausweichend:
«Aber ich bin wohl krank …»
Ich erfuhr von allen Blutproben, die gemacht worden waren. Von MRT, von Tablettenkur und Hormonspritzen. Nachdem Kjerand mehr Bier getrunken hatte und als seine Lippen glänzend feucht und noch sinnlicher geworden waren, konnte ich fragen, wie er gemerkt habe, dass etwas nicht stimmte.
«Ich habe nichts gemerkt, nur musste ich häufiger pissen», sagte Kjerand.
Ich schwieg, deshalb redete Kjerand jetzt immer mehr. Er sagte, sein Hausarzt habe ihm eines Tages mitgeteilt, seine PSA-Werte seien heftig gestiegen. Ich hatte keine Ahnung, was PSA-Werte waren, aber ich wollte es eigentlich auch nicht wissen.
«Und jetzt?», fragte ich.
«Morgen wird im Ullevål-Krankenhaus noch einmal ein MRT gemacht», erwiderte Kjerand.
Er erzählte, dass er zuerst im Krankenhaus von Skien behandelt worden sei, aber dann habe er festgestellt, dass die Reise nach Oslo weniger anstrengend sein würde.
«Man kann sich das Krankenhaus aussuchen», sagte er.
Nun streckte ich die Hand über den Tisch aus und drückte seine. Als ich losließ, fügte er hinzu:
«Zum Glück hat die Szintigraphie gezeigt, dass es nicht ins Skelett gestreut hat.»
Wir stießen mit den fast leeren Gläsern an, und ich sagte:
«Das geht gut, das wirst du schon sehen!»
Ich meldete mich erst wieder nach zwei Wochen bei Kjerand. Ich hatte seit mehreren Tagen vage mit dem Gedanken an einen Anruf gespielt, und als ich endlich den Entschluss fasste, saß ich vor dem großen Fenster in der Hütte, nach einem anstrengenden Wochenende mit einer Vernissage, und sah auf das offene Meer hinaus, während ich darauf wartete, dass Kjerand ans Telefon ging. Ich war ziemlich gespannt, und ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Ich dachte an unser stockendes Gespräch in dem indischen Restaurant, an den Schock, den ich erlitten hatte, und an die rührende Umarmung, ehe wir uns vor dem Hoteleingang trennten.
«Hier ist Kjerand …»
Seine Stimme klang zögernd, und um mich zu sammeln, setzte ich mich im Sessel gerade hin und erwiderte:
«Birger hier!»
Es dauerte mehrere Sekunden, bis er etwas sagte. Aber plötzlich war seine Stimme sicherer und hatte einen unverkennbaren Beiklang von freudiger Überraschung. Ich fragte, wie es gehe, und ich erfuhr, dass er eben von einer Wanderung im Rustfjell ins Haus gekommen sei, vom plötzlichen Regen überrascht. Als ich das hörte, sagte ich, da sei er vielleicht gar nicht so schlecht in Form. Sofort wurde er wieder defensiv.
«Ach, du weißt …», sagte er.
Wie sollte ich weitermachen? Wo ich in meinem ganzen Leben noch nicht ernsthaft krank gewesen bin. Als ich mich nun nach der Untersuchung erkundigte, die für den Tag nach unserer Begegnung angesetzt gewesen war, erhielt ich eine lange und umständliche Antwort. Aufgrund eines Problems mit der MRT-Maschine hatte Kjerand fast anderthalb Stunden in dieser klaustrophobischen Röhre gelegen; danach war er erschöpft gewesen, hatte zum Zug nach Hause gemusst, und am Bahnhof Hjuksebø war der Zug ausgesetzt worden; deshalb hatte er Bø, wo sein Wagen stand, erst gegen Abend erreicht; bei seiner Schwester in Høydalsmo, wo er den Hund abholen musste, den sie für ihn gehütet hatte, war er zum Abendessen genötigt worden, ehe er weiterfahren durfte; und als er endlich zu Hause ankam, ging es deshalb bereits auf Mitternacht zu. Ich fragte, ob er das Untersuchungsergebnis schon erfahren habe. Das hatte er nicht. Er erzählte, er sei noch ein weiteres Mal im Krankenhaus gewesen, diesmal sei er mit dem Auto gefahren … Nachdem er sich nun lange und ausgiebig über den aggressiven Osloer Verkehr verbreitet hatte, erfuhr ich nun endlich, dass er das Krankenhaus Ullevål aufgesucht hatte, um die Bestrahlung vorzubereiten.
«Sie haben Punkte auf meinem Körper markiert», sagte er, «jetzt bin ich fürs Leben gezeichnet, mit einem blauen Punkt auf jeder Hüfte und einem genau über dem Schwanz.»
Diese offenherzige Mitteilung verblüffte mich. Ich fragte nach dem Beginn der Strahlentherapie, und Kjerand erzählte, das werde in der kommenden Woche geschehen, am Mittwoch. Bei dieser Antwort überlegte ich, warum Kjerand mir das nicht sofort erzählt hatte. Warum zuerst diese endlosen Abschweifungen? Ich sagte, das sei doch eine gute Nachricht, wo er so lange darauf gewartet hatte.
«Dann geht es schließlich los», meinte ich aufmunternd.
«Jetzt wird es ernst», gab er zurück.
Während des Gesprächs verfolgte ich mit dem Blick einige Kormorane, die tief über der Wasseroberfläche flogen. Diese Vögel gaben mir ein Gefühl von Unwirklichkeit. Ein Gefühl zu träumen. Wir sind jeder in unserer Welt, dachte ich. Ich wusste nicht, wie ich Kjerand noch weiter aufmuntern könnte, deshalb schwieg ich zuerst und erzählte dann, dass ich mich jetzt in der Hütte auf Tjøme aufhielt. Ich sagte, ich hätte an einem sonnigen Tag die Terrasse neu gestrichen, es sei richtig schön geworden.
«Hier gibt es ein besonderes Licht», fügte ich hinzu, «sogar bei grauem Wetter, einen wechselnden Schimmer über dem Meer.»
«Auch Grautöne haben ihre Nuancen», erwiderte Kjerand.
Sein Kommentar ließ mich denken: Was ist Kjerand doch für ein komischer Vogel! Er erzählte, von dort, wo er sitze, am Küchentisch nämlich, könne er die Schafe grasen sehen.
«Das ist ein schöner Anblick», sagte er, «auch wenn es wie aus Kannen gießt.»
Plötzlich kam mir eine Kindheitserinnerung. Ich sprang auf und trat ans Fenster. Aber ich sah nicht das Meer, nicht die Felsen. Ich sah Schafe, die im Herbst auf leuchtend grünen Wiesen grasten. Bei Regenwetter waren die Tiere von der Feuchtigkeit schwer, ehe sie geschoren wurden.
«Hast du denn Schafe?», fragte ich. «Du hast doch erzählt, dass du in Åmot in der Bibliothek arbeitest.»
«Ich habe einige wenige», sagte er. «Ich will ja nicht, dass die Felder ganz zuwachsen …»
Wenn Kjerand nur gewusst hätte, wie stark mich diese Aussage berührte. Es war nicht meine Art, ihm das zu sagen, und gleich darauf sagte er, wir müssten das Gespräch beenden, da er total durchnässt sei und eine heiße Dusche brauche. Dadurch erfuhr ich mehr über seine Angst. Die Angst davor, sich zu erkälten und sich einen kräftigen Husten zuzuziehen.
«Denn bei der Bestrahlung darf man sich absolut nicht bewegen», erklärte Kjerand.
Dennoch beendete ich das Gespräch nicht sofort. Ich hörte das Geräusch von Hundepfoten auf Holzboden, deshalb fragte ich, ob der Hund in der Nähe sei.
«Ja», sagte er. «Das ist Argus.»
Ich hätte fast nach der Rasse gefragt, aber dann dankte Kjerand für den Anruf und versprach, sich zu melden, wenn er in Oslo eingetroffen sei.
«Das musst du!», sagte ich.
Mit dem stummen Telefon in der Hand blieb ich eine Weile vor dem Fenster stehen. Ich versuchte, mir diese Situation vorzustellen, Kjerand und den Hund, aber da ich nicht wusste, welche Sorte Hund es war, blieb das Bild unklar. Ich stand noch immer so da, als das Telefon klingelte. Ich dachte, es sei Kjerand. Aber es war Alice aus der Galerie. Sie erzählte, dass ein Vertreter der Gemeinde Asker da gewesen sei und ein gewisses Interesse an einer der Skulpturen von Carsten Sand gezeigt habe, an dem wunderschönen Frauenkopf aus Marmor. Der Mann habe gefragt, ob der Kopf für ihn reserviert werden könne, sagte Alice und fragte, welche Frist ich ihm geben würde.
«Eine Woche», sagte ich. «Nicht mehr.»
Als ich drei Tage darauf wieder in der Stadt war, sah ich, dass der Verkauf miserabel gelaufen war; zwei kleinere Werke, eine Schiffsform und ein Männertorso, beide in Bronze. Dazu der reservierte Frauenkopf. Mehr nicht. Aber eigentlich war das zu erwarten gewesen. Ich durfte die Ausstellung nicht mit Tereses Gemälden vergleichen. Grafik und Malerei verkauften sich immer am besten. Außerdem war ich mit dieser Ausstellung von Carsten durchaus nicht zufrieden. Ihr fehlte der Zusammenhang. Die Arbeiten klafften zu sehr auseinander, nicht nur in der Wahl des Materials, sondern auch vom Thema her. Carsten setzte seine Scheidung arg zu, das wusste ich. Er trank zu viel. Ehe wir zusammen die Werke für die Ausstellung aussuchten, hatte Carsten absagen wollen. Ich hatte ihn unter Druck setzen müssen, drohen, nie wieder … Denn wie könnte ich riskieren, bis Mitte Oktober mit einer leeren Galerie dazustehen? Ich hatte niemanden, der sozusagen auf mein Fingerschnippen wartete. Carsten war jedoch rechtzeitig zur Vernunft gekommen. Die Vernissage war dann allerdings ein kleiner Skandal geworden. Er war angetrunken erschienen, hatte zwei Blumenvasen umgestoßen und sich mit einem ehemaligen Kritiker von Aftenposten angelegt. Glücklicherweise war sein Sohn dabei gewesen, er hatte sich eingeschaltet und seinen Vater ins Hinterzimmer führen können, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen.
An einem Tag zählte ich nur sieben Besucher in der Galerie. Sie kamen alle allein; und ich fand, sie drückten sich an den Wänden entlang, blieben für einen Moment bei einer Skulptur stehen und verschwanden dann wieder. Was soll das eigentlich, fragte ich mich, als ich nach Hause ging, warum tue ich mir das an? Ich kaufte mir eine Packung Sushi, und nach einigen Glas Weißwein fand ich das Dasein dann wieder erträglicher. Ich spielte mit dem Gedanken, zu verreisen, ins Ausland, nach London vielleicht, oder, warum nicht, nach Paris, wo es gerade eine Ausstellung mit Werken von Cy Twombly gab. Dann gab ich diesen Gedanken aber wieder auf, denn ich wusste, dass ich auf jeden Fall im Dezember wegfahren würde, wenn es auf Weihnachten zuging.
Ich nahm Alices Einladung an, sie ins Nationaltheater zu Klein Eyolf zu begleiten, sie hatte eine überzählige Eintrittskarte, da einer Freundin etwas dazwischengekommen war. Ich hatte dieses Schauspiel vor einigen Jahren gesehen; ich hielt es für eins von Ibsens schwächsten, es handelt von einem behinderten Kind. Aber als wir dann ungefähr in der Mitte des dunklen Theatersaals saßen, fesselte mich das Stück mehr, als ich erwartet hatte. Ich hatte den Eindruck, dass Eyolf stärker zur Geltung kam als früher, und das war wichtig, weil dieses unglückliche Kind, das von seinen Eltern nicht beachtet wird, die ganze Zeit eine Art düsteren Hintergrund für die Handlung bildet. An den idealistischen Schluss glaubte ich dagegen auch diesmal nicht.
Nach der Vorstellung überraschte mich Alice mit der Mitteilung, im chinesischen Restaurant Dinner schräg gegenüber sei ein Tisch bestellt. Es hätte ein fröhlicher Freundinnenabend für sie und Sonja werden sollen, berichtete sie, fasste mich am Arm und führte mich hinaus auf die Straße, ehe ich mir die Sache anders überlegen konnte. Wir sahen die herankommende Straßenbahn nicht, konnten aber in letzter Sekunde zurückspringen, die Bahn klingelte wütend, als sie vorübersauste, und als wir dort standen, erschüttert, aber erleichtert, weil alles gut gegangen war, hatte ich ein unerwartetes Gefühl von Lebendigkeit. Kaum war die Straßenbahn verschwunden, legte ich den Arm um Alice und ging mit ihr rasch auf die andere Straßenseite, sie lachte, ohne mich anzusehen; ich selbst spürte den Luftzug, den die Bahn hinterlassen hatte, eine überraschend kühle Berührung meines Gesichts, und das Wort Herbst tauchte in meinen Gedanken auf.
Beim Essen begriff ich, dass Alice sich sehr gründlich mit dem Stück beschäftigt hatte, das wir soeben gesehen hatten. Wie hätte sie sich sonst mit solcher Sicherheit äußern und mit Zitatbrocken um sich werfen können? Ich kommentierte ihre Bemerkungen nicht großartig, nickte vor allem, aber als sie das «Gesetz der Verwandlung» erwähnte, musste ich fragen:
«Glaubst du wirklich, dass sich Eyolfs Eltern jetzt um die armen Kinder am Strand kümmern werden?»
Ich konnte sehen, dass sie überlegte, während sie sich die Haare hinter das eine Ohr schob und antwortete:
«Ja, du nicht?»
«Kein bisschen!», sagte ich und argumentierte damit, die Verwandlung in den Charakteren sei nicht überzeugend genug, schon gar nicht bei dem schwächlichen Alfred, Eyolfs Vater. Das Ende ist ein Ibsen’sches Postulat, meinte ich, nichts anderes.
«Dann ist also alles verloren?», fragte Alice.
«Ja», antwortete ich. «Aber Ibsen will nicht, dass wir das denken.»
«Und damit hat er recht», beharrte sie. «Wir müssen doch an das Gute glauben.»
Nun lächelte ich und zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte ich nicht weiter diskutieren. Ich war nicht in Stimmung dazu und dachte an den nächsten Tag, einen langen Sonntag in der Galerie. Alice sagte, sie habe den Schauspieler Kåre Conradi immer schon gemocht.
«Ich auch», gab ich zu und prostete ihr mit meinem Weinglas zu.
Weil sie nicht sofort weiter über das Stück redete, schob ich eine Frage nach ihrem Vater ein.
«Wie geht es eigentlich Edmund?»
Abermals fiel mir auf, wie sie sich nachdenklich eine Haarsträhne hinters Ohr schob.
«Er lässt nicht so oft etwas von sich hören …»
Mir erschien diese Antwort wie ein sanfter Vorwurf. Dennoch sagte ich, dann sei sicher alles in Ordnung. Darauf gab sie keine Antwort. Ich erinnerte mich an Edmund aus Studienzeiten als großen Charmeur, bei allen beliebt, umgänglich und munter, wie er war. Er hatte eine Engländerin geschwängert und war von Bergen nach England gezogen, um zu heiraten, ehe er sein Schlussexamen abgelegt hatte. Die Ehe war leider nach wenigen Jahren schon in die Brüche gegangen, und dann war Edmund zurückgekehrt, hatte sich in Nordnorwegen niedergelassen und ein weiteres Mal geheiratet. Alice war das Kind, das er in England hinterlassen hatte.
«Es wäre wirklich interessant, ihm mal wieder zu begegnen», sagte ich. «Nach all den Jahren.»
Auch dazu sagte sie nichts, sie lächelte nur vage und ausweichend, dann hielt sie Ausschau nach dem Kellner und fragte, ob ich einen Nachtisch wolle. Ich sagte, ich sei auch so zufrieden, und verteilte den restlichen Rotwein auf unsere Gläser.
«Ich hoffe, die Gemeinde Asker kauft den schönen Frauenkopf», sagte Alice.
Wir stießen an und plauderten weiter. Sie wollte unter anderem wissen, was ich von der nächsten Ausstellung hielt, der eines jungen Debütanten, eines Mannes, zu dem ich Kontakt aufgenommen hatte, nachdem ich zwei Jahre zuvor seine Arbeiten in der Herbstausstellung gesehen hatte.
«Ich glaube, die wird spannend», sagte ich, «weil es Zeichnungen und Gemälde sind.»