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Anknüpfend an "Ein Musterschüler wurde Fred nie" erzählt das vorliegende Buch den weiteren turbulenten, steinigen Weg von Fred Willicke. Als Lehrling im Stahl- und Walzwerk Brandenburg verweigert er in der vormilitärischen Ausbildung das Schießen und muss um seinen Studienplatz als Lehrer bangen. Nach Irrungen und Wirrungen in der Liebe trifft er nach sechs Jahren seine "große Liebe" wieder. Gleich nach dem Studium wird er auf eigenen Wunsch Lehrer an einem Jugendwerkhof. Hier lernt er die Härten und die schönen Seiten des Lehrerberufs kennen. Kompromisslos setzt er sich für seine freiheitliche Gesinnung ein und spart nicht mit Kritik am real existierenden Sozialismus. Dabei gerät er immer wieder in innere Konflikte mit sich und in äußere Konflikte mit Altstalinisten und der Staatsmacht. Wegen politischer Satire in seinen Büttenreden bekommt er Auftrittsverbot. Als NVA-Reservist legt er sich mit den Vorgesetzten an, die seinen humoristischen Provokationen nicht gewachsen sind. Er setzt sich aus Überzeugung stets für die Schwächeren ein und bekommt dabei manche Schrammen auf der Seele. Wegen seiner realistischen Romanmanuskripte über das Leben im Jugendwerkhof gerät er in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Aber Willicke geht seinen Weg unbeirrt weiter, bis er vor den "Betonköpfen" in der SED kapituliert.
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Manfred Haertel wurde 1945 als Manfred Sauermilch in Brandenburg an der Havel geboren.
Er besuchte die Puschkinoberschule bis zur zehnten Klasse.
Von 1963 bis 1966 erlernte er im Stahl-und Walzwerk Brandenburg den Beruf Profilwalzer mit Abitur.
Von 1966 bis 1970 Diplomlehrerstudium in den Fächern Sport und Geschichte an der Pädagogischen Hochschule „Erich Weinert“ in Magdeburg.
1969 heiratete er die Lehrerin Karla Haertel und nahm ihren Namen an. Beide haben drei Kinder, fünf Enkel und zwei Urenkel.
Von 1970 bis 1985 arbeitete er als Lehrer am Jugendwerkhof in Lehnin.
In dieser Zeit verfasste er Romanmanuskripte über das Leben in einem Jugendwerkhof, die wegen zu kritischen Inhalts nicht veröffentlicht werden durften.
1985 beendete er das Arbeitsverhältnis mit der Volksbildung und wurde Honorardozent für Sozio-umd Milieutherapie in der Altenpflegerausbildung und Sportlehrer am Kirchlichen Oberseminar in der Hoffbauer-Stiftung in Potsdam-Hermannswerder. Eine von ihm angestrebte Festanstellung war nicht möglich.
Von 1986 bis 1989 unterrichtete er an der Polytechnischen Oberschule in Damsdorf.
Wegen politischer Querelen (Auftrittsverbot beim Lehniner Karneval, Oberservierung durch zwölf IMs des DDR-Staatssicherheitsdienstes) verließ er 1989 per Ausreiseantrag die DDR und siedelte in die BRD über.
1991 kehrte er mit seiner Frau und seinem Sohn nach Lehnin zurück und übernahm als Realschulrektor die ehemalige Polytechnische Oberschule in Damsdorf. 2002 ging er in den Vorruhestand.
Zwei Kurzgeschichten in Anthologien (1981 Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1990 St.-Benno-Verlag Leipzig)
1991 drehten die DEFA und das ZDF nach seiner Erzählung den Spielfilm „Jana und Jan“ der 1993 beim Filmfestival in San Remo mit dem Spezialpreis der Jugend ausgezeichnet wurde.
2002 erschien der erste Roman der Werkhof-Trilogie mit dem Titel „Verflucht, gehaßt und abgeschoben“.
2004 erschien der zweite Roman „Ich möchte´ mal in die Sonne spucken“.
(Beide Bücher erschienen im Verlag edition&belletriste, Berlin)
2008 veröffentlichte er mit seiner Frau ein Buch mit Weihnachtsgeschichten „Schräge Weihnachten“ bei Verlag „Books on Demand“ in Norderstedt.
2009 erschien der dritte Roman der Werkhof-Trilogie „Flucht ohne Wiederkehr“ bei Books on Demand.
2013 erschien der autobiografische Roman „Ein Musterschüler wurde Fred nie“ bei Books on Demand.
2015 erschien „Der Pakt mit Luzifer“ bei Books on Demand.
Unerlaubtes Gedenken
Die Neubauwohnung
Freds gesellschaftlicher Aufstieg
Die Verlobte
Der Kampf David gegen Goliath
Das Studium
Die Entlobung
Unter Kommilitonen
Schicksalhafte Begegnungen
Der Ernst des Lebens beginnt
Fred – der Herr Lehrer
Druschba – Treffen
Jelina Helau!
Fred – der NVA-Richtfunker
Einschneidende Veränderungen
OPK „Erzieher“ – (Operative-Personen-Kontrolle)
Kurzer Auftritt bei der Volksbildung
Auf Fred wartete ein aufregender Tag – Aufnahme als Lehrling in die Klasse WaU 11 des Stahl – und Walzwerkes Brandenburg an der Havel. Er begann eine dreijährige Profilwalzerausbildung mit Abitur. Im ersten Halbjahr vier Tage in der Woche Grundausbildung im Kabinett für Metallbearbeitung, zwei Tage Unterricht an der BBS.
Ein schlanker Mann, etwa einsfünfundachtzig groß, stellte sich als sein Klassenlehrer Schnetz vor. Hinter den Brillengläsern schauten zwei Augen mit schelmischen Blicken in die Runde. Vor ihm saßen achtzehn Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen war recht unscheinbar, klein und moppelig. Nur ihre hervorragende Nase mit der starken Krümmung fiel aus dem Rahmen. Schnetz stutze: „Oha, wir haben ja auch eine Dame unter uns – eine künftige Profilwalzerin!“ Schüchtern und errötend bemerkte die Angesprochene: „Ich werde Steuermaschinistin mit Abitur.“ Das letzte Wort hob sie mit ihrer Stimme besonders hervor. Schnetz sagte wie beiläufig: „Na ja, man will ja sein Profil auch nicht gern walzen lassen.“ Die Jungen brachen in ein lautes Gelächter aus und zeigten unverhohlen ihre Antipathie gegenüber dem Mädchen. Nur Fred und sein Banknachbar, der sich als Bert vorgestellt hatte, fanden keinen Grund zum Lachen. Fred erinnerte sich an den Spießrutenlauf, den er öfter hatte durchmachen müssen, er, als der Kleinste in der Klasse. Bert lehnte wie Fred jegliche Diffamierung eines Menschen ab. Diese, ihre gemeinsame Auffassung war der Grundstein für eine Freundschaft.
Der grobschlächtige Popke plapperte unaufgefordert dazwischen: „Die muss erst mal einen finden, der ihr Profil walzen will! Hahahaha!“
Schnetz setzte ein abfälliges Grinsen auf und meinte: „Meinst du, du hast den richtigen Kanter dazu?“ Obwohl noch keiner mit dem Begriff etwas anfangen konnte, lachten sie jetzt über Schnetzes Bemerkung, auch Fred und Bert. Popke war Fußballer und von großer, kräftiger, sporlicher Gestalt. Er überragte Fred um mehr als eine Kopflänge. Um seinen Mund lag stets ein verhöhnendes Grienen. Neben ihm saß ein ebenso bulliger Bursche, der gleich den Spitznamen Trolli weghatte, weil er mit einem Motorroller „Troll“ vorgefahren war, den ihm seine Oma geschenkt hatte. Er trug Westjeans und machte einen auf verwöhnten Snob. Beide Typen waren Fred zuwider. Aber sie waren nun mal für drei Jahre seine Klassenkameraden. Fred war heilfroh, dass er nur der Zweitkleinste in dieser Klasse war. Ein Bursche war noch ein paar Zentimeter kleiner als er.
Der Klassenlehrer, der etwa fünfzig Jahre alt war, machte einen fetzigen Eindruck auf Fred. Er war witzig und spitzzüngig. Mathematik und Chemie unterrichtete er. Mit dem kann man bestimmt gut auskommen, dachte Fred und freute sich auf den Unterricht bei ihm.
Aber noch mehr interessierte er sich für seinen Nebenmann Bert. Er war einen halben Kopf größer als er, ziemlich stämmig gebaut und hatte an den Stirnseiten schon deutlich kahle Stellen. Zeichen einer frühen Stirnglatze. Er hatte ein rundes Gesicht mit einem gutmütigen Ausdruck. Seine Augen schauten Vertrauen weckend und besonnen. Fred faszinierte die Ruhe und Ausgeglichenheit, die er ausstrahlte. Man sah Bert an, dass er kein deftiges Essen verschmähte.
Freds Aufmerksamkeit wurde noch von einem anderen Jungen in den Bann gezogen. Er saß auf der Bank links neben ihm und hatte sich auch nicht an das Gelächter über die einzige, schüchterne Klassenkameradin beteiligt. Er trug ein strahlend weißes Hemd mit Manschettenknöpfen. Sein dunkelblondes, pomadisiertes Haar mit dem exakten Seitenscheitel war wie bei einem Rittmeister angeklatscht. Seine weiche, geschraubte Sprache brachte alle zum Schmunzeln, als er sich vorstellte: „Ich heiße Tobias Butte, komme aus Brandenburg an der Havel und bin der einzige Sohn von der Drogerie Butte in der Hauptstraße!“ Popke rief dazwischen: „Ey! Der ist wohl ein von und zu, ein Hochwohlgeborener?“
Trolli gab seinen Senf dazu: „Lord Butte!“ Somit hatte der Arme für drei Jahre seinen Spitznamen weg.
„Ruhe!“, forderte Schnetz energisch, „seid nicht so kindisch! Ihr wollt schließlich harte Männer werden im Walzwerk! Und keine Waschweiber!“
Fred imponierte sehr die feine, höfliche Erscheinung Buttes, der steif dasaß, als hätte er einen Zeigestock im Rücken. Und jedes Mal, wenn er Fred besuchte, stellte er sich Freds Mutter immer wieder in seiner eleganten Pose mit einem tiefen Diener, dabei das erwartete Handküsschen nur mühsam unterdrückend, vor „Tobias Butte! Drogistensohn!“ Freds Mutter konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen, was Butte übersah.
Schon nach drei Wochen hatten sich Popke und Trolli in ihrer derben Art auf Butte eingeschossen. Er wurde zur Zielscheibe ihres Spotts. Sie nannten ihn Lord Butte und spielten ihm allerlei Streiche, woran er nicht unschuldig war. Butte kam morgens meist abgehetzt und zu spät ins Lehrkabinett. In seiner Eile schlüpfte er in den blauen Arbeitsanzug und behielt sein weißes Hemd darunter, das nach drei Tagen am Kragen speckig war. Um die Lästerei der Kameraden kümmerte er sich nicht. So erdreistete sich Popke, ihm unter Beifallgelächter die weiße Bohrmilch aus einer Kanne in die Hosentasche zu gießen. Fred und Bert tat Butte leid. Aber auf ihre Hinweise, pünktlich zu erscheinen und bei der Arbeit kein weißes Hemd zu tragen, reagierte er nicht. Also ist ihm nicht zu helfen, sagten sich beide schließlich und hielten sich raus.
Sie gingen an ihren Schraubstock und feilten mit der Schruppfeile drauflos. Aus einem Rundstahl mit einem Durchmesser von zehn Zentimetern musste jeder einen gleichmäßigen Sechskant feilen. Ein Mammutwerk, das bei allen zu Blasen in den Händen führte und bei manchem zur Sehnenscheidentzündung. So schruppte, schniefte und schnaufte auch Fred. Und er hatte bald die Nase gestrichen voll und fing an, bei seinem Lehrmeister Glasek zu opponieren: „Mensch, wozu müssen wir diese blöde Arbeit machen? Einen normgerechten Sechskant feilen! Das ist doch idiotisch! Ich denke, wir sollen Walzwerker werden und keine Schlosser!“ Der Lehrmeister, um die dreißig, mittelgroß, mit einem bubihaften, schmalen, blassen Gesicht schaute Fred groß an, tat entrüstet: „Das gehört zur Ausbildung. Der Beruf Profilwalzer erfordert Genauigkeit und Geschicklichkeit. Nun feilt mal schön und messt immer schön nach!“
Fred ging an seine Werkbank, pustete auf die aufgeplatzten Blasen in den Handflächen und an den Fingern. Fluchend feilte er bis zum Feierabend.
Endlich kam der Lehrmeister ins Kabinett und verkündete den ersehnten Feierabend. Völlig erschöpft gingen die Jungen zum Waschraum. Vor Fred und Bert ging Lord Butte. Plötzlich schoben sich Popke und Trolli von links und rechts an ihn heran. Buttes Schritt war langsam und schwerfällig. Er war von der Arbeit geschafft. Kaum war Butte durch die Tür getreten, da packten Popke und Trolli ihn blitzschnell und kräftig unter die Arme, führten ihn zum breiten, offenen Fenster im ersten Stock. Sie setzten ihn auf´s Fensterbrett. Ein demütiges, angsterfülltes Lächeln ließ Buttes Gesicht grimassenhaft erscheinen. Seine Stimme war wie gelähmt. Als sie aber seinen Oberkörper rücklings hinausdrückten, begann sein Herz zu rattern, und er bettelte mit zittriger Stimme: „Lasst doch den Quatsch! Ich falle! Hilfe!“ Aber den beiden Raubeinen genügte es noch nicht. Sie umklammerten seine Fußfesseln und ließen ihn kopfüber aus dem Fenster hängen. Butte stieg das Blut in den Kopf. Mit Schrecken starrte er aus fünf Meter Höhe auf die Pflastersteine. Seine Kehle war vor Angst zugeschnürt. Er brachte nur ein leises Wimmern hervor. Aus den Nebenfenstern verfolgten die anderen mit Freude und Häme das makabre Schauspiel, ohne sich über die Gefahren bewusst zu sein.
Fred und Bert bekamen einen Schreck, liefen zum Fenster, schubsten die Umstehenden, die schadenfroh lachten, beiseite. Bert konnte sich dank seiner Körperfülle schneller den Weg freidrängeln und fuhr die beiden Übeltäter an: „Seid ihr noch bei Troste? Wenn Butte abstürzt? Holt ihn wieder rein!“ Auf Berts Druck zogen sie Butte wieder in den Raum. Bert und Fred griffen nach seinen bebenden Händen, die er ihnen hastig entgegenstreckte. Als er Boden unter den Füßen spürte, knickten seine Beine ein. Er rang nach Luft. Unter seiner Jacke sah man das Herz heftig gegen den Brustkasten klopfen.
Doch die Torturen waren für Butte noch nicht zu Ende. Alle hatten beobachtet, dass Butte nach der Arbeit immer als Erster in den Feierabend verschwand, ohne sich zu waschen, während die meisten täglich duschten. Völlig mit Öl und Fett beschmiert, machte er sich aus dem Staub. „Alte Drecksau! Aber adlig sein wollen!“, beschimpften ihn einige ziemlich grob. Das war für die beiden Piesacker Popke und Trolli Grund genug, Butte eines Tages unter die Dusche zu bugsieren und ihn samt Kleidung darunter zu stellen, ihn festzuhalten, die Brause aufzudrehen und seinen Hals mit einer Bürste zu schruppen. Butte wehrte sich vergeblich und begann, jämmerlich zu winseln: „Hört auf! Lasst mich! Iiiee, das ist eiskalt! Mensch, meine Sachen werden nass!“ Da Fred und Bert der gleichen Meinung wie ihre anderen Mitlehrlinge waren: „Der Butte ist ein Dreckschwein und stinkt!“, mischten sie sich diesmal nicht ein, sondern amüsierten sich ebenfalls über die etwas grobe Zwangswäsche. Aus Falten und Löchern tropfend, trat Butte aus der Dusche. Er schüttelte sich wie ein Hund nach dem Bad im See. Über seine bibbernden Lippen kam ein kaum hörbares Fluchen: „Verfluchtes Proletenpack!“ Jedoch, einer hörte seinen Fluch doch. Und der rief laut: „He, wir nennen Butte ab heute Stehkragenproletarierer!“ Johlend stimmten ihm alle zu. Auch Fred und Bert fanden diesen Namen äußerst passend für den Drogistensohn Butte, der überall galant wie ein Lord mit: „Küss die Hand Madame!“ auftrat.
Fred liebte die Westschlager. Er hörte regelmäßig die „Schlager der Woche mit Fred Ignor“ auf dem Feindsender Rias am Montag und die Wiederholung freitags. Der Freiheitssender und der Soldatensender mit ihren Musiksendungen gehörten ebenfalls zu seinem täglichen Radioprogramm. Außerdem waren in ihm die Geister des politischen Denkens und Handelns geweckt. Er hörte intensiv die Nachrichten vom RIAS, machte sich seine Gedanken über den Antifaschistischen Schutzwall, den er wie die meisten Leute Mauer nannte. Dass er allmählich gegen die Staatsführung monierte, geschah nicht, weil er von Westverwandten aufgehetzt wurde, denn er hatte keine Verwandten drüben. Und einen Fernsehapparat konnten sich die Hewelts nicht leisten. In ihm wuchs der Wunsch, ja fast schon die Manie, die Welt unbedingt zu verbessern.
Es war abends am zweiundzwanzigsten November. Da hörte Fred die Nachricht: „Der amerikanische Präsident John F. Kennedy wurde bei einem Attentat in seinem offenen Wagen erschossen.“ Fred glaubte nicht, was er da eben gehört hatte. Er kurbelte am Radio die Sender ab. Es gab keinen Zweifel an der Nachricht. Er hatte Kennedy immer verehrt, weil er bei der Kubakrise einen dritten Weltkrieg, einen Atomkrieg verhindert hatte und, weil er sich gegen einflussreiche Kräfte in Amerika durchgesetzt hatte. Fred versank in eine Gefühlswelt voller Mitgefühl und Trauer. Er erinnerte sich an Stalins Tod und spürte die gleiche Erschütterung wie damals. Fred konnte romantisch, sogar melancholisch sein. Er ergab sich einer elenden Traurigkeit. Dabei sann er über Gott und die schlechte Welt nach. Das Mordkomplott und das brutale Attentat vor Augen, saß er wie gelähmt da. Schließlich stand er wie in Trance auf, nahm sich ein DIN A4 Blatt, zog einen Bleistift aus der Federtasche und übertrug seine Empfindungen auf´s Papier. Er zeichnete ein monumentales Kreuz, das fast das ganze Blatt ausfüllte und schrieb mit geschnörkelter Schrift in dasselbe hinein: Hier ruht in Frieden der amerikanische Präsident John F. Kennedy, der sich für eine bessere Welt einsetzte. Dieses Kreuz umrandete Fred mit flügelschwingenden Tauben und umkränzte es mit Lorbeerzweigen, die früher Cäsars Stirn umwanden.
In der Nacht fand Fred keinen Schlaf. Immer wieder liefen vor seinen Augen Bilder der Fantasie ab, wie Kennedy erschossen wurde. Wie eine Grille setzte sich in seinem Gehirn eine Idee fest. Deren Umsetzung in seinen Gedanken immer realistischer wurde. Eine Idee, die er anderntags ohne Hemmungen verwirklichte.
Fred nahm einen Bus früher. Er betrat als Erster das Kabinett. Da ihn keiner beobachtete, nahm er das Blatt mit dem Kennedy-Gedenk-Kreuz heraus und befestigte es an der Wandtafel.
Noch ziemlich verschlafen trat einer nach dem anderen der Lehrlinge in das Kabinett. Keiner hatte einen müden Blick für die Wandtafel übrig. Jeder packte gähnend seine Arbeitsutensilien aus. Fred äugte hin und wieder zur Tafel und zu den Kameraden, während er seinen Schraubstock herrichtete.
Punkt sechs Uhr betrat der ebenfalls noch verschlafene Glasek das Kabinett. Das weiße Blatt weckte sofort seine Aufmerksamkeit und seine Parteitreue, denn der Name Kennedy war schon aus einigen Metern Entfernung zu lesen. Plötzlich war Glasek hellwach, trat dicht an das Blatt heran, stierte entsetzt auf das Kreuz, las den Text und machte kehrt. Erregt lief er aus dem Lehrkabinett und eilte schnurstracks zu seinem Vorgesetzten, zu Lehrobermeister Jach. Jetzt bemerkten auch die Kameraden das Blatt und begaben sich zur Wandtafel. Einer las die Kreuzinschrift vor. Es begann unter ihnen eine rege Diskussion über den Mord an Kennedy. Da stürmten Glasek und Jach ins Kabinett und lasen den Text. Jach riss erzürnt das Blatt ab: „Der Wisch muss sofort ab!“ Er drehte sich um, hielt dabei das Blatt hoch über seinen Kopf. Seine Stimme grollte: „Wer war das? Wer hat diese Schmiererei angebracht? Wer von euch hier sympathisiert mit diesem amerikanischen Imperialisten? Wenn der Übeltäter sich nicht sofort meldet, verständige ich den Betriebssicherheitsdienst! Also!“ Die Jungen standen geschockt, steif und wortlos um die beiden Männer herum. Ihre Blicke kreisten stumm von einem Kameraden zum anderen. Als der Lehrobermeister zu einer neuen Drohung ansetzen wollte, trat Fred mit eiskaltem Schweiß auf der Stirn hervor und entriss dem verdutzten Lehrobermeister das Blatt: „Ich war´s! Ich hab´ das Bild gemalt!“ Mit dem zweiten Satz wich seine Furcht. In diesem Moment brach die Impulsivität in Fred durch. Seine Worte klangen furchtlos und trotzig, als er hinzufügte: „Der Kennedy war doch ein guter Präsident! Wenn Chruschtschow und Kennedy sich treffen, dann drücken und küssen die sich! Man muss doch…“ Weiter kam er nicht. Jach griff ihn am Revier und befahl: „Komm mit! Wir reden woanders weiter!“ Jach befürchtete, die anderen Jugendlichen könnten ermuntert werden, sich aufmüpfig hinter Fred zu stellen. Glasek und Jach nahmen Fred in ihre Mitte, führten ihn wortlos, mit eisiger Miene in Jachs Büro. Ihre Schritte stampften ihren Zorn und ihre Empörung in den Betonfußboden. Freds Courage schwand von Schritt zu Schritt. Seine Gedanken überschlugen sich. Werden die mich rauswerfen? Fragte er sich. Sperren die mich ein? Trotz der Ungewissheit, trotz seines Bangens schwor er, sich bis auf´s Letzte zu verteidigen. An Argumenten mangelte es ihm nie, wenn es bei politischen Diskussionen heftig zuging.
Bevor sie das Büro erreichten, spürte Fred eine Entkrampfung der Situation. Die Schritte der beiden Männer waren nicht mehr so hart. Ihre Mienen glätteten sich. Und der Lehrobermeister öffnete Fred die Tür, als sei er ein willkommener und hoher Gast. Beim Eintreten kam es ihm so vor, als huschte über das Gesicht des Lehrobermeisters sogar ein Lächeln. Er durfte an einem längeren Tisch Platz nehmen. Ihm gegenüber nahmen seine Vorgsetzten Platz.
Der Lehrobermeister begann in einem Tonfall, bei dem man die Ernsthaftigkeit seiner Worte anzweifeln musste: „Hör mal Willicke, wir wollen wegen deiner Provokation und Dummheit kein zu großes Aufsehen veranstalten. Aber durchgehen lassen dürfen wir das nicht! Kennedy war nicht unser Mann. Er war keiner von uns. Der gehörte zur Kapitalistenklasse. Den können wir doch nicht hier in unserem sozialistischen Staat, in der DDR, verherrlichen! Siehst du ein, dass das, was du getan hast, staatsfeindlich ist? Ich sage dir, wenn davon entsprechende Stellen Wind bekommen, dann bekommst du verdammt großen Ärger. Wir können nur hoffen…“ Fred konnte sich nicht mehr zügeln und fuhr dem Jach ungehalten in die Parade: „Ist mir doch egal! Kennedy lebte unter Wölfen. Da hat fast jeder einen Colt. Er musste immer damit rechnen, dass ihn mal einer abknallt. Walter Ulbricht hat hier in der DDR doch nichts zu befürchten. Auf den kann keiner schießen. Hier trägt keiner einen Colt! Ich finde, dass Kennedy in seinem Land mehr Mut bewiesen hat, als Walter Ulbricht hier. Na gut, vielleicht hätte man ihn auch schon umgelegt, wenn man hier Colts kaufen könnte. Kennedy wollte jedenfalls…“ Jetzt unterbrach ihn Jach, der mit Entsetzen Freds Wortschwall verfolgt hatte: „Schluss jetzt! Mit dir kann man nicht reden! Hör zu! Dein Gerede klingt wie das eines idelogisch verwirrten, unreifen Bengels. So, nun gib das Blatt her!“ Er streckte Fred seine rechte Hand entgegen. Sein Blick war ernst. Seine Stimme war tief und drohend. Fred zögerte. Der Lehrobermeister hakte nach: „Na, wird´s bald! Oder soll ich doch entsprechende Leute anrufen? Glaub mir, die fackeln nicht lange mit dir! Erspar´ deiner Mutter den Ärger!“ Noch krampften Freds Finger sein Blatt zum Kennedy-Gedenken fest. Noch einmal forderte der Lehrobermeister, diesmal mit weicherer Stimme: „Nun mach schon!“ Fred hörte so etwas wie, ich meine es doch gut mit dir, heraus und legte ihm das Blatt in die Hand. Alle drei erhoben sich. Jach kam um den Tisch herum und klopfte Fred auf die Schulter: „Nun geh wieder an deine Werkbank und markiere nicht wieder den Helden!“
Fred verließ stumm, mit totalem Frust über sich selbst das Büro, ging mit schleppenden Schritten den dunklen Flur entlang und murmelte vor sich hin: „Warum habe ich Dussel bloß so schnell nachgegeben? Mein schönes Gedenkblatt.“ Als Held war ihm wirklich nicht zumute, als er das Lehrkabinett betrat. Seine hängenden Schultern verrieten, dass er völlig am Boden zerstört war. Alle stürzten sich auf ihn. Trolli fragte: „Na, haste eens uff´n Deckel jekriekt?“
Butte fragte mitfühlend: „Werfen die dich jetzt raus?“
Bert legte seinen Arm um Freds Schulter und führte ihn beiseite: „War es schlimm? Ich wollte dich ja immer schon warnen. Ich glaube, du bist manchmal ein Hitzkopf.“
Eines Tages kam Freds Mutter mit einem Gesicht nach Hause, als würde sie gerade vom Empfang beim lieben Gott kommen. Ihr Gesicht war fröhlich, ihre Augen glänzten. Mit triumphaler Pose reckte sie ihren rechten Arm nach oben. Zwischen ihren zittrigen Fingern glitzerten an einem Schlüsselring zwei Schlüssel. In der linken Hand hielt sie einen Zettel, den sie freudig auf den Tisch legte: „Hier, die Zuweisung für eine Neubauwohnung in Nord. Weil Traute mit ihren drei Kindern noch bei uns wohnt, haben sie uns eine Zweieinhalb-Zimmer-Neubauwohnung bewilligt.“ Sie war von Rührung und Glück überwältigt. Fred konnte sich nicht erinnern, jemals seine Mutter so glücklich erlebt zu haben. Nur einmal lag ein Schatten von Glücklichsein auf ihrem Gesicht, als er die Zulassung für die Abiturklasse erhalten hatte.
Auch Fred freute sich riesig, machte einen Luftsprung, umschlang seine Mutter, drehte sich mit ihr im Kreis und schnaufte: „Endlich raus hier aus dieser kalten, lauten Bruchbude. Ein eigenes Klo und ein richtiges Bad. Und ein Balkon. Auf dem kann ich in frischer Luft und in Ruhe lernen. Immer warmes Wasser.“ Fred schwebte schon in seiner Fantasie in einer ganz neuen Welt. Er freute sich auf neue Bekanntschaften. Aber, vor allem freute er sich auf eine Gemeinschaftsgarage für seine geliebte Jawa.
Fred konnte kaum abwarten, bis seine Schwester Traute mit ihren drei Rangen nach Hause kam. Als sie noch auf der Treppe waren, stand Fred, völlig aufgekratzt, oben und verkündete im feierlichen Ton: „Wir haben endlich eine Neubauwohnung! Los, wir müssen uns die Wohnung gleich angucken!“
Traute war in den letzten Jahren recht gebärfreudig. Ein Mädchen und zwei Jungen zog sie hinter sich her. Freds vierjährige Nichte Karolin quengelte und plärrte wie so oft. Sie rannte flugs in Freds Zimmer, griff rasch mit ihren schmuddeligen Fingern nach Freds Vita-Lade und steckte sich gleich zwei Stück in den Mund. Das nervte Fred, und er fluchte: „Blödes Weibervolk! Nur heulen und alles gleich angrapschen!“
Das hörte Freds Mutter. Und sie reagierte verärgert: „Ich wünsche dir zehn Mädchen und alle ohne Hände!“ Fred winkte nur ab und drehte sich um. Er sah das erschrockene Gesicht seiner Mutter nicht mehr, die sich in diesem Moment, nach solch einem Fluch am liebsten die Zunge abgebissen hätte. Er ahnte nicht, dass sie viele Jahre lang an dieser sündigen Aussage litt.
Freds Bruder Didi und seine Schwester Kickel hatten sich inzwischen nach Dessau verheiratet.
Man rüstete sich mit Utensilien zum Reinigen der neuen Wohnung aus. Dann ging es in bester Stimmung im Bus hinaus zum Neubauviertel Brandenburg-Nord. Einige Neumieter waren schon tüchtig zu Gange, ihre lang ersehnte Wohnung für den Einzug vorzubereiten. Andere hatten den Umzug schon hinter sich und schauten hier und da neugierig aus den Fenstern. Manche kannten sich als Kollegen vom Stahl-und Walzwerk. Andere lernten sich kennen und schmiedeten Pläne als Hausgemeinschaft.
Freds Mutter schloss die Tür auf. Erwartungsvoll, aber mit feierlicher Zurückhaltung, betraten sie die Wohnung in der ersten Etage. Die Nichte und die Neffen stürmten ungestüm ins Wohnzimmer, warfen sich auf den schönen, hellgrauen Spannteppich. Sie wälzten sich auf dem weichen Teppich, der von Freds Mutter und Schwester bestaunt wurde. Mit so viel Luxus hatten sie nun wirklich nicht gerechnet. Obwohl es noch Winter war, traten alle hinaus auf den Balkon. Gegenüber war ein weiterer Neubaublock. Dazwischen war eine Grünfläche, auf der Wäschepfähle standen. Auf den Leinen wedelte Wäsche im Wind.
Während sich Trautes Kinder ausgelassen austobten, juchten und kreischten, quälte Fred nur der eine Gedanke: Werde ich meinen eigenen Bereich für mich allein haben? Zweieinhalb Zimmer auf sechs Leute aufteilen, ist nicht einfach, dachte sich Fred, ging ins kleine Zmmer und stellte in Gedanken schon seine Möbel auf. Seine Mutter spürte sein Unbehagen. Sie trat an ihn heran und fragte: „Wen von deinen Neffen möchtest du denn in dein Zimmer nehmen?“ Fred brauste sofort auf: „Nee! Also, in mein Zimmer kommt keener! Ich will meine Ruhe haben! Dann will ich lieber in der alten Wohnung bleiben! Da hab´ ich wenigstens meine eigenen vier Wände!“
„Ja, aber das ist doch für uns im Schlafzimmer viel zu eng!“ „Hättest eben eine größere Wohnung nehmen müssen!“
„Du bist ein Klugredner! Wir können froh sein, dass wir eine AWG-Wohnung abbekommen haben. Wir haben nichts eingezahlt, sind kein Mitglied der Wohnungsbaugesellschaft und hätten keinen Anspruch. Also, müssen wir etwas mehr zusammenrücken!“
Plötzlich ein Aufschrei der Schwester: „Mensch! Was ist mir denn da passiert?“ Fred und seine Mutter eilten sofort ins Wohnzimmer. Völlig erstarrt, mit kreidebleichem Gesicht stand Traute da, den Blecheimer in der rechten und den Schrubber in der linken Hand. Freds und Mutters entsetzter Blick fiel auf eine kreisrunde Stelle, wo der Gummi fehlte, und die flauschige Polsterung des Spannteppichs zu sehen war. Die runde Gummischeibe klebte am unteren Rand des mit heißem Wasser gefüllten Eimers. Beide Frauen waren den Tränen nah. Frieda Hewelt spürte ihren Blutdruck ansteigen. Stiche in der Herzgegend signalisierten ihr, dass sie schnell eine Tablette nehmen musste, was sie sofort tat. Fred konnte sich eine spaßige Bemerkung nicht verkneifen: „Tja, das ist eben nicht der Fußboden aus den mit rotbraunem Bohnerwachs polierten Brettern. Das hier ist purer Luxus. Da muss man auf jeden Fall schon eine diplomierte Bodenmasseusin sein.“ Er lachte hämisch und bekam von seiner Mutter einen derben Katzenkopf.
So begann der Einzug mit einem großen Dilemma. Bevor man die Möbel einräumte, wurde der Schandfleck mit einem Läufer verdeckt.
Nun ging man an die Umzugsplanung. Mutter Hewelt sinnierte laut: „Mit dem Plattenwagen brauchen wir zwei Fuhren…“ Traute protestierte: „Also, den Plattenwagen zottel ich nicht mehr! Wenn mich damit jemand sieht. Ich mach mich doch nicht lächerlich!“ Und Fred hakte sofort ein: „Pöh! Mit dem Plattenwagen ziehe ich auch nicht durch die Straßen! Ich mach mich auch nicht zum Gespött! Da lachen uns ja die Leute aus, die schon im Neubau wohnen. Zwei hübsche Mädchen habe ich schon erspäht.“ Die Mutter wurde überstimmt. Doch eine bessere, preisgünstige Idee hatten die beiden Aufmüpfigen auch nicht sofort parat.
Die nächsten Tage fuhren Fred und seine Mutter zur neuen Wohnung. Fenster mussten geputzt werden. Die Räume wurden vermessen, um die Möbel aufstellen zu können. Zufällig traf Fred auf einen Lehrer seiner Berufsschule, der im Nebeneingang wohnte und mit dessen Sohn Peter sich Fred schon befreundet hatte. Peter hatte seinem Vater erzählt, dass Hewelts Schwierigkeiten hätten mit dem Möbeltransport. Im Aufgang wohnte ein Fahrschullehrer der GST vom SWB. Den sprach Peters Vater an: „Sag mal, könnt ihr nicht mal die Möbel von unserer Nachbarin Hewelt mit eurem H3A transportieren? Die Familie steht sich finanziell leider nicht so gut.“ Der Fahrschullehrer zog eine miesepetrige, ablehnende Miene. Da stieß Peters Vater nach: „Na, ihr fahrt doch sonst auch Baumaterialien für die hohen Bonzen. Also helft der armen Frau! Sie arbeitet doch auch in unserem Betrieb.“ Der Fahrlehrer setzte ein Gesicht der Selbstgefälligkeit auf und willigte ein: „Na gut. Aber ein paar Scheine müssen schon rüberkommen!“
Der Deal war perfekt. Fred hatte noch zwei Helfer aus seiner Klasse, Bert und den stämmigen Trolli, organisiert. Drei Tage später rumpelte der H3A mit Möbel und Hausrat von Frieda Hewelt über das arg holprige Straßenpflaster nach Brandenburg-Nord.
In nicht mal drei Stunden war der Umzug abgewickelt. Die Möbel standen. Fred hatte allein sein eigenes Zimmer, und er war froh darüber. Dann traf ihn der Schlag, als der Fahrschullehrer dreihundert Mark für den Umzug verlangte. Freds Mutter schoss das Blut in den Kopf. Mit fahrigem Griff langte sie ihr Portmonee aus der Kittelschürzentasche, schaute hinein und sagte, von einer Pein gequält: „Ich habe nur einhundertzwanzig Mark hier. Übermorgen ist Geldtag.“ Der Fahrlehrer langte ohne Zögern zu und meinte: „Das übrige Geld hole ich mir dann ab.“ Er verließ die Wohnung, stieg in seinen LKW, gab Gas und verschwand.
Zwei Tage später holte er sich das restliche Geld, obwohl Freds Mutter schon insgeheim gehofft hatte, er würde ihr die Restsumme erlassen.
Am Tag darauf fragte Peters Vater den Fred: „Na, hat alles gut mit dem Umzug geklappt? Wieviel hat´s denn gekostet?“ Als Fred antwortete: „Na ja, billig war´s nicht. Dreihundert Mark.“ Da verdrehte sein Lehrer die Augen. Sein Gesicht drückte Wut und Empörung aus. Er schimpfte laut: „Das ist ja `n dicker Hund. Die kutschieren auf Staatskosten herum und kassieren für eine Gefälligkeit die Leute ab! Verdammt! Dieser Skandal hat ein Nachspiel!“
Und gleich am Abend führte er mit dem GST-Fahrlehrer ein Gespräch unter Genossen, bei dem sich die Männer einigten, Freds Mutter für den Umzug nur fünfzig Mark abzuknöpfen.
Anderntags kam der Fahrlehrer mit betretener Miene und gab zweihunderfünfzig Mark zurück. Als er die Wohnung verlassen hatte, machte Freds Mutter Freudensprünge: „Da brauchen wir diesen Monat nicht pumpen! Gott sei Dank!“
Seither hatte Fred Hochachtung vor Peters Vater. Die Freundschaft zum Peter wurde fester. Obwohl Peter sechs Jahre jünger als Fred war, hatten sie doch gemeinsame Interessen. Beide hörten sie gern die Beatles. Beide waren in das gleiche blonde, hübsche Mädchen Judith verknallt, das immer so herzhaft lachen konnte und dabei ihre schönen, weißen Zähne zeigte. Judith machte schon mit ihrem stolzen, aufrechten Gang die Jungen verrückt, denn noch zwei andere Burschen träumten auch von einem Rendezvous mit ihr. Aber richtig buhlen um sie taten nur Fred und Peter, wobei Fred vier Jahre älter als Judith war. So spazierten sie öfter zu dritt am Silokanal entlang. Abwechselnd hielt jeder mal Judiths Hand. Nur, einen Kuss konnten beide nicht bei ihr landen. Und Judith genoss das Werben um sie. Immer wieder warf sie keck ihre blonden Locken um ihre Schultern. Manchmal kam in Fred die schrecklichen Erinnerungen an seine Loni hoch und rissen ihn für Augenblicke hinunter in den Strudel seelischen Kummers. Er spürte, echte Liebesgefühle sterben nie!
Viele Stunden ihrer Freizeit verbrachten Fred und Peter in Peters Zimmer, an deren Wand eine Gitarre hing. Seit Jahren besuchte er schon die Musikschule. Neidvoll nahm Fred hin und wieder die Gitarre und klimperte darauf herum. Völlig verzaubert lauschte er Peters Gitarrenspiel. Eines Tages brachte Peter zwei ausrangierte Schlagstöcke mit nach Hause und sagte zu Fred: „Los, wir eifern den Beatles nach! Ich Gitarre und du Schlagzeug!“ Fred war sogleich Feuer und Flamme. Er eilte nach Hause, holte den alten Koffer hervor, kam zurück und begann darauf zu trommeln, bis die Oberfläche noch mehr zerschrammt war als vorher. Peter schlug ´nen flotten Beat auf seiner Gitarre, und Fred hämmerte rhythmisch auf den Koffer ein. Dazu summten, brummten oder schmetterten sie einige Textfetzen in einem kauderwelschen Englisch. Ihre Gesichter glühten. Unter ihren Achseln stand der Schweiß. Klitschnass klebten ihnen Haarsträhnen auf der Stirn. Aber sie kamen sich wie Stars der Beatszene vor. Zu solchem schweißtreibenden Konzert trafen sie sich fast jeden Tag.
Freds musikalische Ader war getroffen. Er träumte davon, noch ein großer Trommler zu werden. Deshalb ließ er sich von seinem Klassenkameraden Bert schnell überreden, der Blaskapelle ihres Betriebes, in welcher er selbst Trompete und Althorn blies, mitzumachen. Er brauchte Fred nicht lange überreden, denn er war ja schon lange darauf heiß, Trommler zu sein. Also machte sich Fred eines Tages auf und begleitete Bert zur Probe.
Doch er war mächtig enttäuscht, als der Leiter ihm gleich klarmachte, dass die Trommeln besetzt seien: „Aber, ich benötige dringend einen Beckenschläger“, bot er Fred eine Chance. Bert redete ihm zu: „Mach das! Dann können wir gemeinsam marschieren. Nach kurzem Überlegen willigte Fred ein und schlug eifrig die Becken.
Am Ersten Mai, zur alljährlichen Maidemonstration, kam für Fred der erste Auftritt als Beckenschläger. Obwohl es ihn nicht behagte, marschierte er in der letzten Reihe und schlug die Becken kräftig gegeneinander. Am Anfang war er noch mit einigermaßen Lust und Laune dabei, schielte aber immer wieder neidvoll zu den Trommlern, bis er sich blöd vorkam, als Kleinster hinten kräftig die Messingteller zusammenzuschlagen, dass es laut schallte. Als er dann die Becken schlagen musste bei dem Lied: „Thälmann und Thälmann vor allen…“, da war´s mit seiner musikalischen Karriere vorbei. Er schämte sich vor den Leuten am Straßenrand, lief sogar zeitweilig rot an. Als er dann noch Judiths Blicke auf sich gerichtet sah und glaubte, in ihrem Gesicht ein schelmisches Grinsen zu sehen, stand für ihn fest: Das war mein erster und letzter Auftritt als Beckenschläger. Und so legte Fred nach dem Mai-Umzug die Becken für immer aus der Hand.
Aus seinem Fenster hatte Fred mehrmals beobachtet, dass die Eheleute Raputz aus dem Nebeneingang stockbetrunken nach Hause gekommen waren. Und jedesmal ging Herr Raputz ziemlich rabiat mit seiner Frau um, die stark torkelte und immer wieder zu Boden stolperte. Er schlug sie und trat sogar mit den Füßen auf sie ein. Frau Raputz war ziemlich dick und schwer. Er musste sie immer bis zur dritten Etage hinauf bugsieren, was viel Zeit und Kraft kostete. Dabei fluchte er so laut, dass Fred es hörte. Seine Frau schrie, kreischte und schnaufte, so dass es Fred in Mark und Gebein ging.
Als das Ehepaar wieder einmal in der Dämmerung vor der Haustür laut lamentierte und der Mann seine Frau mit Schlägen und Tritten malträtierte, stieg in Fred die Wut hoch. Er konnte und wollte sich nicht mehr zurückhalten. Völlig in Rage, stobte er die Treppe hinunter, packte Raputz, der nicht viel größer war als er, beim Rever, schüttelte ihn und schrie ihn an: „Mensch, lassen sie doch ihre Frau in Ruhe! Prügeln sie nicht auf die arme Frau ein! Die ist doch wehrlos!“ Völlig erschrocken glotzte Raputz Fred durch seine glasigen, alkoholgetrübten Augen an. Er fand keine Worte, nuschelte nur etwas Unverständliches vor sich hin. Ehe er auf Freds Attacke reagieren konnte, schob Fred ihn derb zu seiner Frau, die eingeigelt am Boden lag. „Los!“, befahl Fred schroff, „packen sie mit an!“ Mit großem Kraftaufwand konnte Fred die Frau halbwegs auf ihre wackligen Beine stellen. Sie taumelte hin und her. Er stützte sie. Ihr ganzes Gewicht von hundert Kilo hing an seiner rechten Seite. Zuerst hatte ihr Mann sie noch gestützt. Doch dann musste er sich plötzlich übergeben und torkelte hinter den beiden die Treppen hinauf. Auf jedem Absatz musste Fred für einen kurzen Moment verschnaufen. Dauernd rutsche die Betrunkene aus seinen Armen. Um sie immer wieder aufzurichten, brauchte er Kraft und viel Sauerstoff in den Lungen. Endlich erreichte er Raputz´ Wohnungstür. Nun begann das verzweifelte Suchen nach dem Wohnungsschlüssel. Fred sackten selbst schon die Beine weg. Raputz lallte: „Da ist ja das verdammte Ding!“ Und er zog ein Schlüsselbund aus der verkramten Handtasche seiner Frau heraus. Vergeblich versuchte Raputz, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Da verließen Fred die Kräfte vollends. Er ließ Frau Raputz sanft auf den Boden gleiten, riss genervt dem Raputz den Schlüssel aus der Hand, schloß die Tür auf, hievte die Frau wieder etwas hoch und schleifte sie mit letzter Kraft ins Schlafzimmer und hob sie rücklings auf´s Bett. Völlig außer Atem, mit berstenden Muskeln und Knochen drehte er sich mit Ekel um und ging zurück in seine Wohnung, wusch sich gründlich die Hände und betrat, von den erlebten Bildern angewiedert, sein Zimmer. Dabei sprach er zu sich selbst: „Äh! Bäh! Diese Suffköppe! Da bleibe ich lieber bei meiner Milch, wenn sie mich auch immer als Milchi verlästern!“ Und mit einem Schütteln erinnerte er sich an die Verlobung seines Bruders, als man ihm Bier und Pfefferminzlikör eingeflößt hatte. Damals hatte er im Wanken die offene Pfeffiflasche umgestoßen. Der streng riechende, grüne Schnaps hatte sich über dem weißen Tischtuch ergossen. In Fred hatte sich der Magen nach oben gewölbt. Er war zum Fenster getorkelt, hatte es aufgerissen, hatte sich weit rausgelehnt. Dann war der bittere Magenhinhalt in die Dachrinne geplätschert. Dafür war die Dachwohnung ein gewisser Vorteil. Nichts landete auf dem Bürgersteig. Oder vielleicht noch im Kragen vorbeigehender Leute? Seit seinem ersten Rausch rührte Fred absolut keinen Alkohol mehr an.
Nach dieser peinlichen Begegnung liefen die Raputz meist mit gesenktem Kopf an Fred vorbei. Sie vermieden es, so volltrunken zu sein. Jedenfalls kamen sie seitdem lautloser nach Hause.
Schnell hatte sich Fred mit den Mitbewohnern bekannt gemacht Er begegnete allen mit heiterer Freundlichkeit, packte hier und da zu. Am Heiligabend schlüpfte er in sein selbst gebasteltes Weihnachtsmannkostüm und besuchte auf Wunsch der Eltern die kleinen Kinder im Haus. Und er spielte den Ruprecht mit völliger Hingabe und fast wie ein Profi, mal streng, mal gütig. Da er seine Stimme gut verstellen konnte, erkannten die Kinder ihn auch nicht.
Bei dem einen Mieter half er, die Kohlen in den Keller zu schleppen, für andere brachte er etwas vom Einkauf mit. Fred wurde von allen bald gemocht. Und das war für ihn auch ein Vorteil. Da sich seine Mutter noch keinen Fernseher hatte leisten können, wurde er von den Mietern eingeladen, bei ihnen Fernseh zu gucken. Am meisten freute er sich freitags auf die Krimiserie im Westfernsehen.
Mit seiner Jawa beeindruckte Fred die Jungendlichen im Wohnviertel. Jeder wollte wenigstens einmal darauf sitzen, wenn er schon nicht mitfahren durfte. Auch sein neuer Freund Peter liebte es, sich, hinten auf der Sitzbank, fest an Fred gepresst, gekonnt in scharfe Kurven zu legen. Sie machten manche gemeinsame Spritztour, was Peters Eltern sehr beargwöhnten. Jedesmal mahnte Peters Vater: „Rase nicht wie ein hirnloser Dollbrägen! Für Organspende seid ihr noch zu jung!“ Fred versicherte ihm: „Nein, wir fahren vernünftig. Wir sind doch nicht lebensmüde!“ Dann gab er bewusst kaum Gas und fuhr gemächlich davon. Aber nach der nächsten Ecke erhöhte er das Tempo, nicht zu rasant, aber zügig.
Während einer Tour stotterte plötzlich der Motor und ging aus. Jeglicher Versuch, den Motor erneut zu starten, scheiterte. Fred beschloss, das Motorrad anzuschieben. Peter schob kräftig am Gepäckträger. Tuck, tuck, tuck. Aber der Motor sprang nicht mehr an. So schoben beide die Jawa etliche Kilometer nach Hause, wo sie erst nach drei Stunden ankamen. Die Erwachsenen hatten sich schon große Sorgen gemacht. Alle zehn Minuten war Freds Mutter hinüber zu Peters Eltern gegangen, um sich zu erkundigen, ob die Jungen schon zu Hause waren. Dann, als sie durchgeschwitzt und erschöpft ankamen, erlebten sie ein Donnerwetter. Mutter Hewelt verpasste ihrem Sohn einen Katzenkopf: „Vorläufig lässt du die Karre steh´n!“ Fred maulte: „Da muss Schmutz im Vergaser sein. Der Motor läuft nicht. Was kann ich denn dafür?“ Seine Mutter lenkte ein: „Ja gut, aber wir haben doch um euch Angst, wenn ihr so sinnlos herumkutschiert.“ Dann fügte sie versöhnlich hinzu: „Dann musst du eben sauberes Benzin tanken!“
Peters Vater hielt seinem Sohn auch eine Standpauke, sah aber ein, dass beide nichts dafür konnten, wenn der Motor versagte.
Am anderen Tag erkundigte sich Fred beim Fachmann, was er tun müsste, damit der Motor wieder anspringen würde. Der Meister einer Motoradwerkstatt riet ihm: „Erst reinigst du den Vergaser. Dann baust du den Tank aus und reinigst diesen mit Waschbenzin!“
Da das Wetter regnerisch war, beschloss Fred nach der Arbeit mit Peter die vorgeschlagene Reinigung in der Gemeinschaftsgarage durchzuführen. Sie gingen beide recht geschickt an die Arbeit. Peter erwies sich als umsichtiger Helfer. Akribisch legten sie die Einzelteile des Vergasers so hin, damit sie ihn wieder korrekt zusammenbauen konnten. Dann schraubte Fred den Tank ab. Viel Benzin befand sich nicht mehr darin. Durch einen Trichter goss er das Benzin in einen Kanister. Mit einem halben Liter Waschbenzin spülte er den Tank aus.
In diesem Augenblick betrat der schlaksige Müller die Garage. Er war fast so alt wie Fred. Eine unangenehme Erscheinung. Stets ein Großkotz. Er war der größte Neider von Fred. Die meisten Jugendlichen konnten ihn nicht leiden. Er hatte nur ein Ziel, jedem eins auszuwischen. Fred und Peter passte es überhaupt nicht, dass er in der Garage auftauchte. Wie erwartet fing Müller an, die beiden anzupöbeln: „Na, ihr Pfeifen, wollt euch wohl als Schlosser ausprobier´n. Die Karre hat doch nur noch Schrottwert. Plunder-Jawa! Ick könnte mir wenigstens eene richtige AWO oder ´ne BK leisten. Uff solche Scheese da würd´ ick mir nicht setzen!“
Fred spürte in sich Wut hochsteigen: „Müller, verschwinde! Quatsch woanders dummes Zeug! Dir hört doch keiner mehr zu! Erzähl det mal alles deiner Oma!“ Damit war eine Konfrontation unausweichlich. Während Fred den Tank auf den Boden legte, zündete Müller ein Streichholz an und warf es in Richtung Tank, der sofort Feuer fing, weil der Verschluss offen war. Müller rannte flink, dabei hässlich lachend, aus der Garage. Fred und Peter standen entsetzt da. Was tun? Die Gase im Tank könnten explodieren. Soviel wussten beide. Die Flamme loderte. Da holte Fred mit dem rechten Fuß aus und trat gegen den Tank, der im hohen Bogen hinaus aus dem offenen Tor flog. Fred und Peter warteten ein paar Sekunden, um zu sehen, ob es zu einer Verpuffung kommen würde. Als nichts dergleichen geschah, nahm Fred eine alte Wolldecke, lief zum Tank und warf die Decke darüber. Die kleiner gewordene Flamme wurde erstickt. Beide kamen mit dem Schrecken davon. Sie atmeten erleichtert auf.
Fred war dermaßen aufgebracht, dass er, nachdem sie das Motorrad wieder fahrbereit gemacht hatten, zu Müllers Eltern ging, um sich zu beschweren. Er traf nur dessen Mutter an, die Fred beschwichtigte und ihren Sohn in Schutz nahm: „Ihr habt meinen Sohn bestimmt provoziert! Der ist sonst immer brav!“ Beim Gehen drohte sie noch: „Wehe, wenn ihr ihn weiter schikaniert!“
Die Jawa schnurrte wieder. Fred und Peter konnten wieder durch die Welt brausen.
In der Wohnung über Hewelts wohnte die Familie Frey mit ihrem dreijährigen Sohn Hansi. Hansi war ein agiler, aufgeweckter, dunkelblonder Junge mit stets neugierig blickenden, blauen Augen. Fred kannte ihn vom letzten Heiligabend. Furchtlos hatte er immer wieder juchend nach Freds Weihnachtsmannlarve gegriffen. Fred hatte große Mühe, seine Angriffe abzuwehren. Besonders hatte ihn beeindruckt, dass Hansi, ohne zu stocken, sein langes Weihnachtsgedicht vortragen konnte. Kurzum, der Steppke war Fred äußerst sympathisch.
An einem späten Nachmittag, Fred erledigte gerade sein Mathesoll an Hausaufgaben, hörte er vom Hausflur eine aufgeregte Frauenstimme. Es war Frau Frey, die höchst erregt von oben heruntergerannt kam und bei Hewelts Sturm klingelte. Fred schoss der Gedanke an eine furchtbare Katastrophe durch den Kopf. Er schnellte vom Stuhl hoch, lief zur Tür, riss sie auf und prallte zurück. Das Gesicht der Frau Frey war leichenblass und total verzerrt. Es ähnelte einer gräulichen Urwaldgrimasse. Völlig atemlos brachte sie hervor: „Mein Hansi…mein Hansi…ist…im Bad allein…der Wasserhahn…der Wanne…läuft. Mir ist die Tür zugeknallt. Ich wollte nur mal runter zur Wäscheleine. Die Balkontür steht auch weit offen! Ich bin verzweifelt. Komm mit!“ Sie zog Fred am Ärmel nach oben. Hinter der Tür hörte man Wasser plätschern. Dazwischen vernahmen sie lautes Juchzen. Hansi planschte vergnügt mit dem Wasser. Frau Frey war einem Zusammenbruch nahe: „Wie kommen wir rein? Was soll ich tun? Mein Hansi ist in Gefahr! Ich drehe durch. Und der Schlüssel steckt von innen! Soll ich die Feuerwehr alarmieren?“
In diesem Augenblick kam Herr Wegler, der das Gejammer der Frau gehört hatte, bestürzt aus der dritten Etage die Treppe herunter. Als er mitbekommen hatte, was geschehen war, mischte er sich sofort ein: „Das dauert viel zu lange, bis die Feuerwehr ran ist!“ Er hatte auch gleich eine Lösung parat und sagte: „Sie sagen, die Balkontür sei offen?“ Frau Frey nickte heftig: „Ja, ja, die ist zu allem Unglück auch noch offen!“ „Vielleicht ist es auch ihr Glück“, sagte Wegler und wandte sich an Fred: „Fred komm mal mit!“ Er stieg die Stufen hinauf. Fred folgte ihm. Als auch Frau Frey folgen wollte, meinte Wegler: „Mutter Frey, sie warten mal lieber vor der Wohnungstür, bis diese aufgeht!“ Völlig verwirrt verstand die arme Frau Frey den Wegler überhaupt nicht. Aber sie tat, was er es ihr geraten hatte.
Oben, in Weglers Wohnung angekommen, sagte Wegler: „Komm mit auf den Balkon!“ Dort lag eine Wäscheleine. Ernst, fest entschlossen, sagte Wegler: „Ich lasse dich an der Leine hinab. Du kletterst in den Balkon der Freys und öffnest dann ihre Wohnungstür!“ Da Fred einen ungäubigen Blick auf ihn richtete, beschwor Wegler, alles würde ohne Probleme ablaufen. Vor Fred stand ein Hüne von Kerl. Einsneunzig groß und mindestens hundert Kilo schwer. Das nahm ihm zwar jegliche Angst. Aber Fred schaute nachdenklich auf den linken, stark verkrüppelten Arm von Wegler, der Freds Bedenken zu zerstreuen versuchte: „Ach, den Arm brauche ich kaum. Ich binde mir die Leine um den Bauch. Und in meinem rechten Arm habe ich dreimal so viel Kraft wie mancher Mann.“ Bei seinen Worten band er sich bereits das Leinenende um den Körper. Fred schüttelte alle Bedenken von sich, schlang sich die Leine unter seinen Achseln um den Oberkörper und machte mehrere Knoten zur Sicherheit. Wie ein Held aus einem Film schwang er sich auf das Balkongeländer. Ein mulmiges Gefühl trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Gegenüber schauten viele Leute aus den Fenstern zu ihm herüber. Ihre Worte, die sie von Fenster zu Fenster riefen, hörte Fred nicht mehr. Er klammerte sich zunächst ganz fest am Geländer, um sich dann sanft in die Schwebe fallen zu lassen. Er schaukelte leicht hin und her. Ein Kribbeln ging ihm durch den Körper. Ununterbrochen fragte er sich: Ob das mal gut geht? Kann mich der Wegler mit seinem krüppligen Arm so lange halten? Zentimeter um Zentimeter näherte er sich dem Balkon der Familie Frey, wo er bereits das Wasserplätschern und Hansis Stimme vernahm. Wegler stand einen Meter vom Geländer ab, hatte die Leine über das Geländer gelegt, um den Zugdruck abzufangen. In seiner gewaltigen Faust lag die Leine, die er Stück für Stück nachgab. Freds sechzig Kilo machten ihm nicht allzu sehr zu schaffen.
Fred dagegen maß mit den Augen immer wieder den Abstand zum Balkon. Sah er nach unten zum Erdboden, wurde ihm doch etwas schwummerig. Er sah in der angespannten Situation Wegler vor sich, wie er in seinem Krüppelarm die Kraft verlor und er ihn nicht mehr zu halten vermochte. Der Gedanke an einen Absturz und an den möglichen Tod lähmte Fred für einen kurzen Augenblick.
Wie ein Lauffeuer hatte sich der Grund seiner artistischen Aktion herumgesprochen. Auf einmal wurde Beifall geklatscht, wurde er angefeuert von den Leuten, die mit Bangen und mit Gänsehaut das Geschehen von überall verfolgten. Unten, zwischen den Mietern aus dem Block, stand auch plötzlich Freds Mutter. Sie fürchtete um ihren Sohn, faltete ihre Hände und murmelte immer wieder vor sich hin: „Lieber Gott, lass meinen Fred nicht abstürzen!“ Fred war mit seinen Gedanken gar nicht so weit entfernt von seiner Mutter. Auch er hoffte, eine höhere Macht würde ihn behüten. Von Minute zu Minute, die nur zäh verflossen, schlug sein Herz heftiger gegen die Brust. Sein Mund war ausgetrocknet, ausgedorrt wie eine Wüste. Endlich konnte er mit seinem rechten Fuß das Geländer berühren. Es gelang ihm aber nicht, sich mit den Füßen heranzuziehen. Also, musste er abwarten, bis seine Hände das Geländer fassen konnten. Er schrie mit gepresster Stimme: „Halt! Stopp!“ Wegler hielt inne. Fred klimmte sich hoch und zog sich über das Geländer. Schnell löste er die Leine vom Körper, eilte zur Wohnungstür und öffnete diese, beugte sich nach vorn und atmete mehrmals tief durch. Die Angst hatte ihm mehr den Atem geraubt, als die Anstrengung.
Hansi rannte mit ausgestreckten Armen auf seine Mutter zu, die ihn hochnahm und innig an ihre Brust drückte. Von draußen klangen Hochrufe an Freds Ohren. Mit Hansi auf dem Arm ging Frau Frey auf den Balkon. Sie wischte sich Tränen aus den Augen und verkündete laut: „Der Fred ist der Held von Brandenburg-Nord! Ein mutiger junger Mann!“
Fred genierte sich, sich auf dem Balkon zu zeigen. Aber er genoss im Stillen diese Ehrung. Vater Frey bedankte sich bei Fred für dessen mutige Rettungsaktion mit einem schönen Präsentkorb.
Im Bus zur Arbeit oder auf der Straße wurde Fred immer wieder angesprochen: „Na, das war ja eine sehr mutige Tat von dir: Kannst stolz auf dich sein!“ Fred winkte dann immer gelassen ab: „Hätte doch jeder gemacht.“ Insgeheim überwältigte ihn doch der Stolz, der Held von Brandenburg-Nord zu sein.
Freds Triebfeder war sein Berufswunsch: Lehrer werden! So war er neben seiner Berufsausbildung und dem Abitur ein Schwerstarbeiter in der so „heiligen gesellschaftlichen Arbeit“, die in jeder Beurteilung an erster Stelle stand. Sie bezeugte seine Treue zum sozialistischen Staat DDR. Aber Fred machte es auch großen Spaß, weiter, trotz höherer Belastungen in der Ausbildung, mit der Patenklasse seiner ehemaligen Schule interessante und schöne Stunden zu verbringen. Nachmittags, sogar Sonntagvormittag büffelte er mit schwachen Schülern Mathe und Deutsch, ab der fünften Klasse auch Russisch. Besonders bemühte er sich um den rundlichen Bäckerssohn Holli, der, mit dem immer fröhlichen Gemüt. Für seine Dienste erhielt Fred leckere Naturalien, ein großes Kuchenpaket für das Wochenende. Holli sollte einmal die Bäckerei übernehmen. Aber er kapierte schwer Gramm, Pfund, Kilogramm, Zentner. Auch das Malrechnen fiel ihm nicht leicht. Doch Fred verstand es, ihm all das einzuhämmern. Holli machte später als Bäcker Karriere.
Einmal in der Woche sah man Fred den Handwagen hinter sich herzotteln, während die Mädchen und Burschen von Haustür zur Haustür zogen, klingelten, und bettelnd herunterbeteten: „Lumpen, Knochen Altpapier, alles ja das sammeln wir – Gläser, Flaschen und auch Schrott für die Martinsöfen!“ Der Löwenanteil floss in die Klassenkasse, der Rest wurde gespendet. Im Wettbewerb belegte Freds Klasse stets den ersten Platz. Dafür gab es Lob und Urkunden vom Direktor. Die Klassenlehrerin, Frau Hauk, war stolz und erhielt zum Lehrertag eine Prämie. Nur Fred musste sich mit einem nackten Handschlag begnügen. Er musste sogar eine Woche von seinem Urlaub opfern, als er mit der Klasse in den Winterferien allein für eine Woche in die Wanderhütte nach Lehnin fahren wollte. Da musste er erkennen: Gesellschaftliche Arbeit wurde nur bei den höheren Chargen vergütet. Das fand Fred ungerecht, und er legte sich folgerichtig mit seinen Vorgesetzten an. Zuerst konfrontierte er seinen Lehrmeister Glasek: „Also, ich finde es ungerecht, dass ich Urlaub nehmen muss, wenn ich mit der Patenklasse eine Woche in die Wanderhütte fahre! Die Kollegen, die mit den Kindern ins Betriebskinderferienlager fahren, bekommen ja auch frei dafür und müssen keinen Urlaub nehmen! Das ist ungerecht!“
Glasek, der Auseinandersetzungen scheute, versuchte sich herauszulavieren: „Also, ich kann dazu keine Entscheidung treffen. Das liegt nicht in meiner Hand!“ Fred brauste sofort auf: „Ja, sie sind ja solch Leisetreter! Bloß nicht mal was auf die eigene Kappe nehmen!“ Wütend drehte er sich um, öffnete die Bürotür, murmelte fluchend: „Schleimscheißer!“ und schloss verärgert die Tür lautstark hinter sich. Glasek zuckte zusammen und brabbelte vor sich hin: „Immer aufmüpfig – dieser Willicke! Der rennt nochmal mit seinem harten Schädel gegen eine Betonwand!“
So Unrecht hatte Glasek nicht, denn Fred war keiner, der zu schnell aufgab. Und so begab er sich schnurstracks zum Lehrobermeister Jach. Der hörte sich geduldig Freds erregten Redeschwall, der einer Anklage glich, an, ruckte dann mit den Schultern: „Dein Lehrmeister hat recht. Für solche Unternehmungen steht dir keine Freistellung zu. Du musst Urlaubstage nehmen. Und hör mal, das mit dem Betriebsferienlager ist eine ganz andere Sache. Die Kollegen leisten wertvolle, politische Arbeit für unsere sozialistische Gesellschaft. Für unsere DDR!“ In Fred würgte es. Er konnte diese Phrasen nicht mehr hören. Nur sehr mühsam unterdrückte er den sich anbahnenden Wutausbruch, bemerkte aber beim Hinausgehen: „Hm, eine schöne, gerechte sozialistische Gesellschaft! Da muss ich lachen!“ Kopfschüttelnd blickte der Lehrobermeister Fred hinterher und dachte bei sich: Der Willicke wird an unserer Berufsschule noch ein harter Brocken werden!
Fred wollte die Fahrt in die Wanderhütte nicht platzen lassen. Außerdem war er stolz darauf, dass man ihm die Kinder anvertraute. Er freute sich genauso wie die Kinder, die schon früh aufgeregt mit Sack und Pack an der Bushaltestelle standen. Eltern legten ihm noch einmal ans Herz, immer und sorgfältig auf ihre Kinder aufzupassen. Abschiedsbussis. Dann ging es los. Winken, bis sie den Blicken entschwunden waren. Dann ein Rascheln und Knistern. Picknick im Bus. Die Jungen und Mädchen waren völlig aus dem Häuschen. Sie knabberten, schmatzten und gluckerten. Fred saß da mit einem Wonnegefühl und sah sich immer wieder verzückt in der Runde um. Die quirlige Fröhlichkeit steckte ihn an. So öffnete er das vom Bäcker mitgegebene Kuchenpaket und biss genüsslich in einen Pfannkuchen, aus dem das Pflaumenmus hervorquoll und ihm fast auf die Hosen tropfte. Plötzlich lachten die Mädchen, zeigten auf Freds musbeschmierten Mund und meinten: „Fred sieht aus wie ein Kannibale nach dem Schmausen!“ Nun lachten alle im Bus. Und Fred war froh, dass er nun doch seinen Urlaub geopfert hatte.
Der Februar war ungewöhnlich mild mit seinen vierzehn Grad Plus. Die Wanderhütte lag am Ortsrand von Lehnin. Die Herbergsmutter war eine freundliche Frau, die Fred und die Kinder herzlich empfing. Neben ihr stand ihr Sohn. Er stellte sich als Hotte vor und war zwei Jahre jünger als Fred. Er packte gleich zu, half den Kindern beim Beziehen ihrer Räume. Zwischen ihm und Fred hatte es sofort gefunkt. Hotte war strohblond. Er hatte einen kecken Blick und eine Stupsnase. Seine flotten Bewegungen glichen Freds Bewegungen. Er hatte etwas Clownhaftes an sich, was Fred imponierte. Seine Redensarten brachten alle zum Lachen. Als er sagte: „Rodelwetter ist leider nicht. Aber ich mach´ mit euch Nachtwanderungen, dass euch das Schlottern kommt. Ganz tief im dunklen Wald, wenn die Wildschweine grunzen.“ Einige Mädchen schüttelten sich: „Puh! Wildschweine? Da hab´ ich Angst!“ Die meisten Jungen brüllten begeistert: „Hotte, los, gleich heute Nacht!“
Fred bremste ihre Begeisterung: „Kinder, mal langsam! Ihr wisst, wir müssen für unser Kabarettprogramm üben. Der Autritt zum Lehrertag ist nicht mehr weit. Also nicht nur Abenteuer! Klar?“ Der dicke Holli, der sich gerade wieder einen Keks in den Mund schob, moserte: „Aber wir haben doch Ferien. Immer üben. Ich spiele lieber Halma. Wer noch?“ Natürlich riefen gleich die Angsthasen: „Lieber Halma, als von den Hauern eines Keilers aufgespießt zu werden!“ Fred winkte ab: „Heute richten wir uns erstmal in der Wanderhütte ein! Und morgen planen wir!“ Da mischte sich Hotte mit einem schiefen Grinsen ein: „Also, sozialistische Planwirtschaft haben wir hier nicht!“ Obwohl die Kinder seine Worte nicht recht verstanden, lachten sie zustimmend.
Dann wurden die Küchendienste und andere Funktionen eingeteilt, denn alles mussten sie in eigener Regie regeln. Da hatte Fred keine Sorgen. Jeder wollte eine Aufgabe haben. Das waren sie schon vom Kindergarten gewöhnt, Aufgaben für die Allgemeinheit zu übernehmen, wenn es auch nur das regelmäßige Blumengießen im Gruppenraum oder im Klassenzimmer war. Niemandem wäre es eingefallen, sich vor Verantwortung zu drücken, denn für jede Funktion gab es Urkunden, die die Kinder stolz machten. So schulte man frühzeitig den Kollektivgeist in einem sozialistischen Kollektiv: Völlige Unterordnung unter einer gelebten Kollektivideologie. Ein Ausscheren wurde schwer geahndet.
Die erste Nacht brach an. Wie die Ameisen auf einem Ameisenbau rannten die Mädchen und Jungen über den Flur in die Zimmer und wieder hinaus. In manchen Winkeln breitete sich Beklommenheit aus. Die Mädchen baten Fred, vor dem Schlafengehen noch einmal in ihr Zimmer zu kommen. Als er die Zimmer betrat, hielten ihm einige ihre Wange entgegen und erwarten einen Gutenachtkuss. Fred zögerte, errötete. Die kleine, drahtige Sabine sprang an Fred hoch, schlang ihre Arme um seinen Hals: „Ohne Nachtkuss kann ich nicht einschlafen!“ Fred dachte an seine Nichte und Neffen, die ihn auch oft so anfallen, wobei er sich nie erwehren kann. So verteilte er hier und da Einschlummermedizin in Form eines leichten Küsschens.
Vom Einschlummern war nichts zu spüren. Bis spät in die Nacht hinein war Leben in der Wanderhütte. Gestalten huschten über den halbdunklen Flur. Auffällig waren die vielen Toilettengänge. Es wurde gekichert, gezischelt und gespenstisch rumort. Fred mahnte immer wieder, aber erfolglos, zum Schlafen. Und am Morgen hockten alle eingesunken und gähnend auf ihren Stühlen. Fred klatschte laut in die Hände: „Hallo! Aufwachen, ihr Murmeltiere!“ Sofort rissen sie ihre Köpfe hoch und blinzelten Fred durch schmale Augenschlitze an. Beim Frühstück herrschte Totenstille. Jeder döste kauend vor sich hin. Trotzdem zog Fred sein Programm durch.
Am Vormittag wanderte Fred mit ihnen in den Ort, um die Klosterkirche zu besichtigen, als Heimatkunde. Sie wurden von einer Diakonissin empfangen. Die Kinder verstummten und schauten sich um, als hätten sie einen bösen Geist zu erwarten. Rolf drängte sich an Fred und flüsterte mit gespenstischem Gesicht: „Darfst du denn mit uns in eine Kirche?“ Noch ein weiterer Schüler meinte: „Iiie! In die Kirche will ich nicht! Gott ist Mumpitz, hat mein Vater gesagt!“ „Da drin ist es nur kalt!“, sagte Sabine fröstelnd. Fred schwoll vor Wut der Kamm, und er fuhr die Nörgler an: „Die Kirche ist unser Kulturgut! Donnerwetter! Und Glaube an Gott ist kein Mumpitz! Genies wie Einstein glaubten an Gott! Und der war wohl nicht dumm! Jetzt mucksmäuschen still und ab hinein! Folgt und lauscht der Frau, die uns alles erklärt!“ Wider erwarten lauschten alle gepannt den Worten der Diakonissin. Die Mädchen hatten aber mehr einen Blick für die Kleidung der Frau mit ihrer weißen Haube, als für die Gemälde an der Wand. Die Jungen hofften, irgendwo eine Geheimtür zu entdecken. Die Sage von der Erbauung der Kirche drang ins Gedächtnis der Kinder. Als sie dann noch zum Schluss den eingemauerten Eichenstamm eingehend bewundern konnten, verließen sie tief beeindruckt die Klosterkirche.
Auf dem Weg zur Wanderhütte bildeten sich Grüppchen, die noch gefesselt waren vom soeben Erlebten und dabei angeregt diskutierten.
Am Nachmittag, bei der Kabarettprobe, übten die Akteure Sketche. Die anderen spielten Karten oder andere Spiele.
Abends wurden sie alle wieder munterer. Die meisten bedrängten Fred und Hotte, noch eine Nachtwanderung zu machen. Und die beiden ließen sich gern überreden. Als es gegen neun Uhr stockdunkel war, rüstete man sich, in den Wäldern um Lehnin herumzustreifen. Die Spannung stieg von Minute zu Minute ins Unerträgliche. Die meisten konnten kaum das Kommando zum Losgehen erwarten. Als es dann von Hotte hieß: „Die Taschenlampen bleiben hier!“, gab es ein lautes Gemaule:
„Das ist gemein!“
„Da kann man die Geister nicht sehen!“
„Wenn uns nun welche überfallen?“
„Wir haben extra Taschenlampen mitgenommen! Wofür brauchen wir die denn sonst?“
„He! Ich bin Nachtblind!“ Dieser Einwand war gleich fünfmal zu hören. Hotte und Fred ließen sich nicht beirren. Sie kontrollierten jeden, ob er nicht doch eine Lampe dabei hatte. Schließlich zogen sie lärmend zum Wald. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto stiller wurde die wilde Meute. Fred und Hotte amüsierten sich. Ab und zu liefen sie ins knackende Unterholz, um hinter dem nächsten Baum mit hexenähnlichem Gekrächze oder mit einem markerschütternden Gejaule hervorzuspringen. Die meisten Mädchen klammerten sich aneinander. Auch die Jungen rotteten sich zusammen und schwangen drohend ihre Stöcke: „Kommt ruhig ihr Geister, ihr Räuber und Bestien!“ Mancher kreischte mit zittriger Stimme und schlottertenden Knien: „Huch! Hilfe! Die bösen Gespenster kommen!“
Plötzlich riss für einen Augenblick die dunkle Wolkendecke auf. Und der Mond warf einen grellen, silbernen Lichtstrahl durch die Baumwipfel. Alles erschien wie eine gefahrvolle Gespensterlandschaft. Knorrige Äste sahen aus wie nach ihnen ausgestreckte Arme. Aufkommender Wind schlug krachend Äste aneinander. Zu allem Übel zuckte auch noch ein Blitz am Himmel. Der Donner jagte den Kindern einen unsagbaren Schreck in die Glieder. Alle liefen zusammen und bildeten ein bibberndes Knäuel um Hotte und Fred. Hotte meinte ziemlich gelassen: „Es ist ein Wintergewitter. Kommt bei uns häufig vor. Keine Bange! Geht gleich vorüber!“ Seine Beschwichtigungsversuche fruchteten aber nicht. Während es einige noch immer sehr spannend und abenteuerlich fanden, sagten einige Angsthasen mit bebender Stimme:
„Wir drehen lieber um!“
„Gewitter ist gefährlich!“
„Sind ja auch schon welche vom Blitz getroffen worden!“
„Mir ist schon ganz schlecht! Ich muss brechen!“, sagte ein Mädchen. Und schon plätscherte ES auf den Waldboden.
Die beiden Anführer gaben nach und traten den Rückweg an. Noch vier-fünfmal zuckten Blitze und grollten Donner. Der Regen blieb aus. Sie kamen noch trocken in der warmen Wanderhütte an.
So vergingen die Tage bei Spiel, Spaß und Abenteuer wie im Fluge. Allen fiel der Abschied von der Wanderhütte und vom lustigen Hotte schwer.
Nach den Winterferien wurde Fred zum Direktor seiner Patenklasse bestellt. Insgeheim freute er sich auf eine Anerkennung, auf ein kleines Geschenk für seinen Einsatz. Als er aber das Direktorzimmer betrat und in die stumpfe Miene des Direktors sah, schwante ihm nichts Gutes.