Ein Narzisst sagt: "Jeder hat ein Recht auf Leiden!" - Nancy Meier - E-Book

Ein Narzisst sagt: "Jeder hat ein Recht auf Leiden!" E-Book

Nancy Meier

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Beschreibung

Kennst Du das, dass Du Dich plötzlich fragst: In was um Himmels Willen bin ich hier nur hineingeraten? Es war diese Frage, die mich dazu führte, diesen Dreiteiler zu verfassen. Es geht um Sozialarbeit in einer Wohngruppe mit Jugendlichen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr zu Hause wohnen können oder wollen. Und was in diesen Wohngruppen hinter den Kulissen wirklich stattfinden kann. Es wird auch eine Geschichte über Lügen und echte Freundschaft, über Lebensfreude und einer vermeintlich unheilbaren Krankheit sein. Es werden Menschen beschrieben, die große Projekte ins Leben rufen und trotz der idealistischen Pläne, die sie anfangs hatten, über ihre eigenen menschlichen Schwächen stolpern und dadurch zerstören, was sie aufgebaut haben. Und es geht darum, was skrupellose Menschen anderen mit Mobbing, Prestigestreben um jeden Preis, Egoismus und Feigheit antun können. Viele denken, dass es sich bei Narzissten um ichbezogene Menschen handelt. Doch Narzissmus ist so viel mehr. Ich schildere hier die schleichenden Prozesse und die Methoden, die von Narzissten angewandt werden, mögliche Folgen und Lösungen. Jeder kann auf Narzissten treffen, in der Familie, in Freundschaften, in Beziehungen oder am Arbeitsplatz. Und jeder kann Eigenschaften besitzen, die für einen Narzissten interessant sind und so zu deren Spielball werden. Deshalb betrifft dieses Thema uns alle.

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Alle Namen der im vorliegenden Text benannten Personen sind zum Schutz der Beteiligten verändert.

Inhaltsverzeichnis

Der Retter

„You are alive!“

“Lehn dich jetzt mal entspannt zurück!“

„Ich habe Kontakt zu Dinah!“

„Sie war wie eine Spinne im eigenen Netz!“

„Danke, dass ihr eure Erinnerungen mit uns geteilt habt!“

„Rede noch mal mit ihr!“

„Das übersetze ich nicht!“

„Wenn das einer hinkriegt, dann Christoph!“

Christoph

„Jetzt haut uns so schnell nichts mehr um!“

„Hör mal auf damit!“

„Ich habe dir deinen Schlüssel gebracht!“

„Wenn jetzt noch was schiefgeht, fliege ich nicht!“

„Du bist sein Leuchtturm!“

„Er ist ja sehr kreativ!“

„Das habe ich nicht!“

„Das ist so ein Waschlappen!“

„Heal the world! – Heile die Welt!”

“You are not alone! – Du bist nicht allein!”

Warten

“Ich muss dahin gehen, wo Attila mich hinschickt!“

„Mein Bruder ist im Krankenhaus!“

„Du stehst auch auf Psychos!“

„Willst du mal sehen, womit ich in den letzten Monaten beschäftigt war?“

Ja, gar nix, wieso?“

Janina

„Sie war ein brodelnder Hormoncocktail!“

„Ich fühle mich langsam wie dein persönlicher Stalker!“

„Ja, das hast du!“

„Die werden sie schon einnorden!“

„Ihr fickt mein Gehirn!“

„Ich muss hier raus!“

Enthüllungen

„Du entziehst dich hier jetzt nicht!“

„Alles wird jetzt seinen Lauf nehmen!“

„Es braut sich was zusammen!“

„Das ist ein guter Ausgangspunkt für eine weitere positive Zusammenarbeit!“

„In diesem Arbeitsbereich gibt es oft schwierige Mitarbeiter!“

„Die Party findet statt, ob du nun dabei bist oder nicht!“

„Erwarte kein Mitleid!“

„Ich bin wohl die Einzige, die sich deswegen Sorgen macht!“

Der Retter

„You are alive!”

Ich stand auf dem Flughafen und wartete auf meinen Flug.

Urlaub! Endlich! Großartig!

Ich wollte nach Kapstadt in Südafrika. Südafrika war schon lange mein Traum, aber ich hatte mich, aufgrund der Infos über die hohe Kriminalität dort, bisher nicht hingetraut. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass ich auch in Kapstadt eine Sprachschule besuchen wollte, um mich auf den Aufenthalt in Mittelamerika vorzubereiten, wo ich am Ende des Jahres wieder Freiwilligenarbeit absolvieren wollte. Dort gab es mitten im Dschungel an einem See ein Freiwilligencamp, in dem durch Wilderer verletzte Tiere wieder aufgepäppelt und dann in die Freiheit zurückentlassen wurden. Die Vorstellung, mich mit Äffchen, Papageien und anderen Tieren zu beschäftigen, faszinierte mich. Schon die Bilder über das Camp fand ich total ansprechend. Jedoch wurde dort Spanisch gesprochen und ich war nicht mal in Englisch kommunikationssicher. Eine komplett neue Sprache zu lernen, hielt ich aufgrund des chronischen Zeitmangels für unrealistisch. Im Freiwilligencamp würde Englisch die Hauptsprache sein, deshalb wollte ich mich wenigstens darin weiter verbessern. In einem Katalog fand ich dann ein Angebot, in Kapstadt eine Sprachschule zu besuchen. Ich rief bei der Agentur an, die die Sprachreise vorschlug, denn ich hatte noch ein paar Fragen, die über die Informationen des Katalogs hinausgingen. Mir wurde ein Rückruf in Kürze versprochen, nachdem sie sich in Südafrika bezüglich meiner Problemchen schlaugemacht hatten. Diesen Anruf erhielt ich aber nie und mir widerstrebte es, mich dort erneut zu melden und um die Auskünfte zu betteln. Kurzerhand stellte ich meine Pläne um. In einem Land mit fremder Sprache musste man sich mit oder ohne Sprachschule in der jeweiligen Sprache verständigen. Ein normaler Hotelurlaub würde dies auch bieten. Außerdem hatte ich nicht das nötige Geld für den ursprünglich geplanten zweiwöchigen Sprachurlaub zusammensparen können. Tatsächlich reichte es dann auf den Cent genau nur für fünf Tage Hotel und Taschengeld für Ausflüge.

Und nun lief ich hier auf dem Flughafen herum und suchte einen Platz, an dem das Rauchen nicht verboten war und war in Gedanken weder hier, noch in Südafrika, noch in Mittelamerika, sondern wieder einmal bei dem Gespräch, das ich mit Carola und Christoph hatte, in dem ich die Zustände in unserer WG schilderte. Dieses Gespräch hallte in mir immer noch massiv nach und der völlig andere - als der bisher erlebte – Umgang mit dieser Problematik setzten mich förmlich unter Adrenalin. Sollte ich jetzt wirklich mal einen Arbeitgeber haben, für den man sich nicht schämen musste? Vertraten sie wirklich dieselben Werte wie ich und spielten das nicht nur wie meine früheren Chefs? Allein der Ausdruck auf ihren Gesichtern, der Schock über das, was ich zu sagen hatte, gaben mir Hoffnung! Und ich trug die Demütigungen nicht mehr mit mir herum, sondern ich hatte die Wahrheit ans Licht gezerrt! Es fühlte sich für mich an, als ließe ich das Gift der Schlange, die mich gebissen hatte, nicht mehr in mir zirkulieren, sondern saugte es aus und ich kam dadurch wieder zu mir selbst!

Endlich hatte ich eine Raucherlounge gefunden und vibrierte freudig dorthin. Kaum hatte ich ein Plätzchen in Beschlag genommen, schob sich die Tür wieder auf und Carola stand vor mir. Ich dachte, ich hätte eine Erscheinung! Eben hatte ich noch an Christoph und sie und das Gespräch in den Geschäftsräumen von HuKo gedacht und nun stand sie leibhaftig vor mir. Und zwar auf dem Flughafen, was ja eigentlich kein üblicher Platz für zufällige Begegnungen war. Wir starrten uns einen Moment fassungslos an und begrüßten uns dann. Während des Rauchens tauschten wir uns über unsere Reisepläne aus. Carola hatte auch gerade Urlaub und wollte mit einer Freundin nach Spanien, um dort die spanische Sprache zu lernen. Ihr Traum war eine Reise durch Südamerika und darauf bereitete sie sich ebenfalls mit dem Besuch einer Sprachschule vor. Ich riet zu einem Besuch der südamerikanischen Sprachschulen, so könnte man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Da Carolas Flug bereits ausgerufen war, mussten sie und ihre Freundin sofort zu ihrem Gate zurück.

„Wir sind bestimmt die letzten!“, kicherte Carolas Freundin.

„Oh Gott, stell dir vor, die rufen uns mit Namen aus! Dass wäre ja total peinlich!“, belustigte sich Carola.

„Und wenn ihr als letzte ins Flugzeug steigt und alle darin euch vorwurfsvoll wegen der Verspätung anstarren, könnt ihr völlig ungerührt und locker sagen: `Wo ist das Problem? Irgendwer muss doch der Letzte sein!`“, gab ich begeistert meinen Senf dazu. Carola und ihre Freundin flitzten lachend los, um ihren Flug zu erreichen.

Auch für mich wurde es Zeit und über einen Zwischenstopp in Dubai erreichte ich dann Kapstadt. Geschlafen hatte ich während des langen Fluges nicht. Ich flog mit der Fluggesellschaft Emirates, wo jeder Passagier seinen eigenen Fernseher hatte. Man konnte zwischen gut dreihundert Filmen wählen, darunter aktuelle Kinofilme und es gab ungefähr einhundert Musikkanäle. Wie sollte man da die Ruhe für Schlaf finden?

Bei der Abholung in Kapstadt beging ich übermüdet so gleich den Anfängerfehler. Ich setzte mich im Auto auf die rechte Seite und der Fahrer drückte mir grinsend den Autoschlüssel in die Hand.

„Was soll ich damit? Ich meine: For what?“, fragte ich entsetzt und ungute Erinnerungen an die Fahrschule geisterten mir durch den Kopf. Dann bemerkte ich selbst, dass ich das Lenkrad vor mir hatte und wechselte auf den Nachbarsitz.

Der Fahrer zeigte mir die Townships vor der Stadt, wo ein Großteil der Bevölkerung lebte. Wegen der Fifa 2010 und um einen besseren Eindruck zu erwecken, wurden ein Teil der Hütten durch Steinhäuser ersetzt. Vorübergehend hatte die Fifa für eine Menge neuer Arbeitsplätze gesorgt, inzwischen war aber wieder alles beim Alten.

Vom Hotel war ich sofort schlichtweg begeistert! Dass das Personal nicht nur nett, sondern wirklich warmherzig war, dass sie prima zusammenarbeiteten, stellte ich zwar erst im Laufe der Zeit fest, doch die phantasievolle Ausstattung fiel mir sofort auf. Schon beim Einchecken an der Rezeption sah ich flimmernde Tafeln, die jeden neuen Gast namentlich begrüßten. Aus dem Fahrstuhl mochte ich gar nicht mehr aussteigen. Ein Fahrstuhl war wie eine Kabine gestaltet, die auf den Tafelberg fuhr - mit der entsprechenden Aussicht. Der andere Fahrstuhl ahmte das Käfigtauchen nach und hinter den eingebauten Käfigstäben waren Bilder von Haien, die den Käfig umschwärmten. Mein Zimmer war klein und gemütlich. Von der langweiligen Aussicht auf die Straße wurde ich durch meinen Fernsehapparat abgelenkt. Dass eine durchsichtige Duschkabine mitten im Zimmer stand, irritierte mich zunächst etwas, aber ich fand schnell den Vorteil heraus: man konnte während des Duschens weiter fernsehen und verpasste nichts. Der Swimmingpool, den ich als nächstes in Augenschein nahm, war statt eines Zauns von Surfbrettern umgeben. Überall im Hotel konnte man immer wieder lustige neue Kleinigkeiten entdecken. Eine öffentliche Toilette beispielsweise war über und über mit Plakaten aller Art beklebt, die Wand hinter dem Büchertauschregal mit echten Zeitungsseiten. Als ich den Raucherraum entdeckte, fand ich darin einen großen Grabstein vor, auf dem stand, dass der Besitzer des Grabsteins 99 Jahre wurde, obwohl er täglich 40 Zigaretten rauchte. Ein Blick nach oben an die Decke gab einem aufgrund der Deckenbebilderung das Gefühl, in einem Grab zu sitzen, während oben die Trauergäste umherstanden. Ich war restlos begeistert. In diesem Hotel fand ich ständig Neues, es war phantastisch. Nichtsdestotrotz interessierte mich auch die Umgebung.

Mit der Hilfe des Hotelpersonals buchte ich mir einige Ausflüge, bei denen ich gleich direkt am Hotel abgeholt wurde. Zu Beginn meines Urlaubs traute ich mich kaum allein auf die Straße. Meinen ersten Einkauf machte ich begleitet von unserem Türsteher, um mich für die fünf Tage mit ausreichend Süßigkeiten und Cola einzudecken. Auch den Guavensaft, den ich aus Namibia schon kannte, entdeckte ich erfreut wieder.

Auf dem ersten Ausflug lernte ich Teile von Kapstadt kennen und fuhr zum berühmten Tafelberg hinauf. Am nächsten Tag ging es an der Küstenstraße entlang zum Kap der guten Hoffnung, von dort zu einer kleinen Pinguinkolonie und dann zu einem Weingut. Am folgenden Tag nahm ich an einer Safari, einige Stunden Fahrt von Kapstadt entfernt, teil. Der Guide dieser Tour war der erste Südafrikaner, der mir ziemlich unsympathisch war. Er war ungewöhnlich dick und stalkte die ganze Zeit über eine Mitreisende, die sich ebenfalls auf die Safari freute und der er mit seinem Verhalten den Ausflug ein Stück weit vermieste. Egal, welches Ablenkungsmanöver wir anderen probierten, er kam immer wieder darauf zurück, diese Frau zu belästigen. Davon abgesehen war es aber ein schöner Trip mit Nashörnern, Zebras, Löwen und was so dazu gehört. Da dieser Ausflug nicht eingeplant war, zahlte ich hier mit Kreditkarte und nicht cash, wie ich es sonst tat. Am vierten Tag in Kapstadt fuhr ich zum Haitauchen, einer Spezialität Südafrikas. Als ich auch in einen Käfig steigen konnte, der dann ins Wasser gelassen und von Haien umkreist wurde, bekam ich jedoch Angst und blieb lieber auf dem Schiff. Ich beschränkte mich aufs Fotografieren und schaute den anderen zu. Auf der Rückfahrt mit dem Auto ins Hotel schlief ich ein und wurde vom Türsteher unseres Hotels geweckt, als er scheppernd die Autotür aufriss und mir fröhlich entgegenrief: „You are alive – Du lebst!“ Verpennt antwortete ich, während ich aus dem Auto taumelte und mir dabei den Kopf stieß: „And not bitten“ – meiner Version von: „Und ich wurde nicht gebissen!“ Mit den weißen Südafrikanern fand ich es schwieriger, mich auf Englisch zu verständigen, da ich große Probleme mit dem Akzent beim Verstehen hatte. Leichter fiel es mir bei der dunkelhäutigen Bevölkerung. Eingebildet dachte ich, dass ich das doch eigentlich mit der Verständigung auf Englisch nun schon recht gut hinbekam.

An meinem letzten Tag traute ich mich dann auch allein auf die Straße und fuhr mit dem Hop-on-Hop-off-Bus, den ich bereits von Edinburgh kannte, die Sehenswürdigkeiten in und um Kapstadt ab. Im Bus konnte man auf verschiedenen Sprachen Wissenswertes zur Stadt und zu besonderen Plätzen und Geschehnissen erfahren. An diesem Tag bekam ich noch jede Menge Anregungen, was ich mir gern genauer angesehen hätte, wäre ich noch länger hier. Aber am nächsten Tag stand schon wieder der Rückflug auf dem Plan.

Die Armut der schwarzen Bevölkerung Südafrikas machte mir allerdings zu schaffen. Vor allem die vielen Menschen, die im Alter noch arbeiten mussten, um zu überleben und Probleme hatten, sich gegen die Konkurrenz der jüngeren Arbeitslosen durchzusetzen. Für Kinder fanden sich immer Initiativen, die sich bemühten, wobei ich auch Kinder in Abfällen nach Essbarem wühlen sah, aber für ältere Menschen passierte nicht mehr so viel. Jeder Südafrikaner zeigte sich wirklich von Herzen dankbar, wenn ich ihm Süßigkeiten schenkte oder wenn ich etwas kaufte, ein großzügiges Trinkgeld dazulegte.

Der Abschied fiel mir nicht leicht und ich kaufte für die Hotelangestellten noch ein paar Leckereien, weil sie sich während meines Aufenthalts so lieb um mich gekümmert hatten.

Zurück in Deutschland googelte ich mich einen Tag lang durch die Geschichte Südafrikas, Nelson Mandelas und Desmond Tutus. Die Ideen zur Wahrheits- und Versöhnungskommission zur Verarbeitung der Apartheid faszinierten mich.

Kurzer Einschub aus dem Jahr 2020: anlässlich der zahlreichen und teils überaus grausamen Morde von Südafrikanern an weißen und schwarzen Farmern musste ich diese Ideale leider als gescheitert ansehen...

Am nächsten Werktag fuhr ich dann zu meiner Bank, weil auf dem Flughafen beim Rückflug meine Kreditkarte nicht mehr funktioniert hatte, als ich noch eine Stange Zigaretten kaufen wollte. Es war schon wirklich ärgerlich, wenn man eine Kreditkarte brauchte und diese dann nicht arbeitete... In der Bank erwachte ich dann jäh aus meiner wohligen Urlaubsentspannung. Es stellte sich heraus, dass meine Kreditkarte wohl kopiert und das Guthaben nicht nur komplett abgeräumt, sondern sogar überzogen wurde. Das Geld ging unter anderem für einen Hotelaufenthalt in Südafrika zu einem Zeitpunkt drauf, wo ich längst wieder auf der Arbeit erwartet wurde und rund sechzig Euro wurden in einem Süßwarengeschäft ausgegeben. Soviel Geld habe ich – obwohl bekennender Vielfraß – noch nie auf einen Schlag für Süßkram ausgegeben. Ich war schockiert. Da die Karte die ganze Zeit im Hotel versteckt in meinem Tresor gelegen hatte und nur einmal für das Buchen der Safari zum Einsatz kam, war für mich schnell klar, dass nur der unsympathische Tourguide dafür verantwortlich sein konnte. Immerhin war er eine Weile mit den Kreditkarten aller verschwunden gewesen. Ich erstattete Anzeige bei der Polizei und informierte in Südafrika mein Hotel sowie den Anbieter der Ausflüge darüber. Das Hotel wandte sich daraufhin ebenfalls an den Anbieter für die Touren und versprach mir jederzeit Unterstützung. Der Ausflugsanbieter seinerseits versprach, meinen Beschuldigungen nachzugehen und diese aufzuklären. Einige Wochen später erfuhr ich, dass die Anzeige bei der Polizei aus Mangel an Beweisen eingestellt wurde. Was ich nicht nachvollziehen konnte… Für den entstandenen Schaden kam zum Glück die Kreditkartengesellschaft auf. So hatte ich den restlichen Urlaub noch gut mit den Nachwirkungen meiner kurzen Reise zu tun. Es war ein trauriger Abschluss für ein bis dahin großartiges Erlebnis...

Gegen Ende meiner freien Tage rief Savannah an und berichtete, was sich auf Arbeit so getan hatte. Das war leider nicht so viel. Sie erzählte, dass unsere Gruppenkönigin immer noch in unserer WG ihr Unwesen trieb. Als Kristin aus einem erneuten Krankenstand zurückgekehrt war, hetzte sie wohl gleich wieder über mich. Savannah habe versucht dagegenzuhalten, kam aber gegen Kristins Flut schräger Ansichten kaum an und war nach dem Gespräch völlig geschlaucht. Gerda war ebenfalls zu Savannahs und meinen Aussagen von der Leitung befragt worden.

„Und?“, fragte ich aufgeregt dazwischen.

„Sie sagte, sie schaltet oft einfach ab, wenn Kristin was sagt! Sie konnte nicht bestätigen, dass Kristin uns empfohlen hat, dass wir uns krankschreiben lassen sollen, wenn wir in eine andere WG gerufen werden!“

Ich war enttäuscht von Gerda. Savannah auch. Savannah berichtete weiter, dass ein Gespräch geplant sei mit Attila, Christoph, Carola und Kristin. Dass wir mit ihrem Leitungsstil Probleme hatten, war ja nun zweifelsfrei erwiesen! Kristin sollte damit konfrontiert und es musste eine Einigung gefunden werden.

„Ich glaube, es wäre besser, sie käme nach diesem Gespräch nicht mehr zu uns in die Wohngruppe zurück!“, meinte ich.

„Das denke ich auch!“, gab Savannah mir recht. „Aber es gibt keinen Ersatz für sie so auf die Schnelle!“

Na, da war ich schon gespannt, was mich nach meinem Urlaub auf Arbeit erwartete…

„Lehn dich jetzt mal entspannt zurück!“

Am 26. Mai, meinem ersten Tag auf der Arbeit nach dem Urlaub, fühlte ich mich morgens wirklich unsicher. Dabei gab es dafür gar keinen Grund. Gerda und Savannah freuten sich, dass ich zurück war und auch Christoph strahlte mich an. Er sagte mir, dass es viel zu besprechen gebe und er sich telefonisch bei mir melden würde, sobald er die Zeit dafür finde.

Kristin kam erst später zur Teamsitzung und das war mir nur recht. Als sie dann da war, stellte ich schnell fest, dass sie ihre spitze Zunge nicht verloren hatte. So mokierte sie sich darüber, dass ich vor meinem Urlaub rote Ordner gekauft hatte.

„Wir benutzen doch hier nur gelbe! Das wirst du doch in der Zeit, die du hier arbeitest, gemerkt haben oder nicht? Haha!“, lachte sie.

Die Zeiten, wo ich mir von Kristin dumm kommen ließ, waren vorbei. Und vor allem wegen so was! Wütend schmetterte ich zurück: „Es waren aber keine da! Ist es besser, wenn hier ein Haufen Zettel rumfliegen und verloren gehen und das bloß, weil wir hier nur gelbe Ordner benutzen?“

„Ja, aber in der Geschäftsstelle liegen doch gelbe Ordner, die wir jederzeit abholen können, haha!“, rechtfertigte sie sich.

„Fünf Minuten von hier entfernt ist ein Schreibwarenladen! Da fahre ich doch nicht eine halbe Stunde zur Geschäftsstelle hin und eine halbe hierher zurück und mache damit sinnlose Überstunden!“, donnerte ich zurück.

Christoph mischte sich mit salomonischer Ruhe ein. Er schlug vor, wenn jemand von uns das nächste Mal in die Geschäftsstelle komme, solle sie einfach ein paar gelbe Ordner für die WG mitbringen. Dann könnten die roten gegen die gelben Ordner ausgetauscht werden und die roten sollten wir einfach für Notfälle liegen lassen.

`Statt das Ende meines Urlaubs abzuwarten, um sich wieder darzustellen, hätte Kristin genau das doch längst erledigt haben können!`, dachte ich wütend.

Das Thema Bianca beherrschte die Teamsitzung. Bianca machte weiter nichts: keinen Schulbesuch, keine Ableistung der Sozialstunden, keine Einhaltung der Regeln in der WG. Häufig kam sie betrunken in die Wohngruppe und animierte Mitbewohner zum gemeinsamen Trinken. Klärenden Gesprächen entzog sie sich. Kürzlich wurde sie von der Mordkommission vernommen, da sie Augenzeugin war, als ein Mord begangen wurde. In Kürze sollte sie nun einen gerichtlich verhängten Jugendarrest antreten. Wir waren gespannt, ob sie dies tat oder ob die Polizei in der WG aufkreuzen musste, um Bianca abzuholen. Das Jugendamt hatte verständlicherweise die Nase voll. Unterbringungen in Jugendhilfeeinrichtungen kosteten viel Geld und wenn Bianca nicht mitmachen wollte, konnte man die Unterbringung in der Wohngruppe auch beenden.

Ronny, der ambulante Mitarbeiter unseres Vereins, der Biancas Familie betreute und auch zum Leitungsteam von HuKo gehörte, informierte die Eltern über das geplante Ende der Maßnahme. Darauf rief die Mutter in der WG an und schimpfte, dass man das nicht einfach so machen könne. Das fand ich schon interessant. Jedes Mal, wenn es nicht so lief, wie sie wollte, sagte sie: ´Dann hole ich meine Tochter wieder zu uns!´ Nun, wo genau das umgesetzt werden sollte, lehnte sie es derart vehement ab. In den folgenden Tagen wurde mit Jugendamt, Familienhelfer und uns vereinbart, dass wir alle erst die Entwicklung nach dem Arrest abwarteten, damit Bianca die Chance bekam, die Kurve doch noch zu kriegen.

Gerda war nach der Teamsitzung noch eine Weile in der WG. Sie fragte mich, wie ich Janina, unsere neue Kollegin, fand. Gerda fand sie ganz toll. Ich äußerte Bedenken, ich fühlte mich in Janinas Nähe nicht wohl. Sie war meist kalt und distanziert, manchmal auch recht sympathisch, aber dann wieder aufs Neue kalt und distanziert und das Hin und Her fand ich schwierig. Auch bekam ich bei ihr jedes Mal das Gefühl, als stünden wir in Konkurrenz miteinander. Gerda schaute mich enttäuscht an.

„Mal sehen, wie es jetzt nach dem Urlaub ist!“, versprach ich ihr. „Vielleicht war das ja auch nur Unsicherheit, weil es für sie ein neuer Arbeitsplatz ist.“

Amy und Astrid sprangen ins Büro. „Du bist wieder da!“, rief Astrid. Und Amy fragte, wie es in Südafrika war. Ich zeigte den Beiden, während ich das Mittagessen für die Bewohner kochte, die Fotos, die ich mitgebracht hatte. Als ich von bettelnden Kindern und den alten Menschen erzählte, die ausgezehrt an den Straßen standen, um ein bisschen Geld zu verdienen, kamen wir auch auf Freiwilligenarbeit zu sprechen. Amy und Astrid wollten schließlich auch einen Katalog für Volunteering bestellen, was wir nebenbei gemeinsam erledigten. Dann wurden wir durch einen Anruf von Kristin unterbrochen. Ich sollte für sie mal schnell einen Fahrradladen googeln. Als sie danach wieder dazu überging, über jemanden - diesmal Christoph - schlecht zu reden, unterbrach ich sie und sagte kühl, dass ich mich jetzt um das Mittagessen kümmern musste, bevor es anbrannte.

„Ach, Essen kann anbrennen?“, kicherte sie hysterisch.

„Na logisch, das kann schon passieren!“, antwortete ich kühl. „Sonst noch was?“

Eigentlich verlief der erste Tag nach dem Urlaub ganz gut. Christoph schaffte es jedoch nicht anzurufen und ich hatte auch keine Minute Zeit, um den aktuellen Stand bei ihm zu erfragen. Abends kurz vor dem Schlafengehen verließ Bianca die Wohngruppe. Ich telefonierte alle halbe Stunde hinter ihr her, sie ging auch immer ans Telefon und sagte bei jedem Anruf, sie komme gleich zurück, habe aber eben gerade den Bus verpasst und sei daher zu ihren Freunden zurückgegangen.

„Wie wär´s, wenn du einfach an der Bushaltestelle bleibst und auf den nächsten Bus wartest, um ihn nicht wieder zu verpassen?“, schlug ich genervt vor.

„Viel zu kalt dafür!“, antwortete Bianca und legte auf.

Gegen ein Uhr nachts hatte ich genug und informierte die Polizei, dass wir eine abgängige Jugendliche hatten. Ich glaubte nicht, dass Bianca diese Nacht noch zurückkam, außerdem hatte sie am Telefon sturzbetrunken geklungen. Da musste dann die Polizei informiert werden.

„Ach, die Bianca wieder!“, wurde mir vom Polizeirevier gelangweiltgenervt mitgeteilt. Was ich gut verstehen konnte! Eine Stunde später erschienen zwei Polizisten und nahmen die Vermisstenanzeige auf. Kurz darauf meldete sich auch Bianca, sie sei in den falschen Bus gestiegen und es dauere noch, bis sie in die WG zurückkomme. Lieber würde sie jetzt aber ein Taxi nehmen, sie sei müde.

„Ich bin auch müde!“, bellte ich. Ein Taxi konnte sie nehmen, aber das würde sie dann vom Taschengeld bezahlen müssen, sagte ich ihr. Gegen 3.30 Uhr klingelte sie und taumelte müde und noch immer betrunken die Treppe hoch. Das hieß, dass ich jetzt noch die Polizei informieren und warten musste, bis sie sich vergewissert hatten, dass Bianca wirklich in ihrem Bett lag, welches sie bis Mittag höchstwahrscheinlich nicht mehr verlassen würde. Die Polizisten waren gegen vier Uhr da und ich hatte nun noch anderthalb Stunden Ruhe, bis ich offiziell wieder aufstehen musste. So eine Scheißnacht!

Als Janina mich mittags aus dem Dienst ablöste, war ich todmüde und wartete nur noch darauf, dass Christoph meine Mail absegnete, die ich bezüglich des Polizeieinsatzes wegen Bianca ans Jugendamt schicken musste. Wenn Polizei involviert war, musste der zuständige Mitarbeiter des ASD zeitnah darüber informiert werden. Janina war wieder kühl wie Hundeschnauze! Herablassend las sie meine Mail, korrigierte daran umher und sagte, dass ich sie jetzt so schicken konnte. Dann zog sie sich den Laptop wieder heran und schrieb sinngemäß an Christoph:

„Hallo Christoph,

ich bin mit Nancy die Mail noch mal durchgegangen, damit sie diese vor ihrem Feierabend noch schicken kann. Ich habe den kompletten Mittelteil herausgenommen…“

Natürlich war es nett von Janina, sich meiner Mail anzunehmen, zumal ich aufgrund des Schlafmangels ohnehin nicht mehr klar denken konnte. Aber die Art, wie sie es gemacht hatte, dieses Profilieren, diese Selbstdarstellung, als ob ohne sie der ganze Laden zusammenbrechen würde – das erinnerte mich doch stark an Kristin. Und das störte mich! Obwohl sie am Anfang große Töne gespuckt hatte, hatte sie sich Kristin inzwischen völlig unterworfen. Was sie leistete, das machte sie durch ihre Kälte wieder zunichte. Doch einen warmherzigeren Menschen würde ich aus ihr wohl nicht machen können. Ich fragte sie, ob sie noch mitkam, eine rauchen - so wie ich mit Gerda und Savannah nach der Übergabe auch eine rauchte. Ohne den Kopf vom Bildschirm abzuwenden, sagte Janina distanziert: „Ich habe gerade, danke!“

´Na, dann nicht!´

Als mich nach meinem nächsten Dienst Gerda ablöste und wir gemeinsam eine rauchten, sagte ich ihr, dass ich vor meinem Urlaub bei der Leitung gewesen war und dort erzählte, wie Kristin hier regierte und dass ich meine Versetzung angeboten hatte. Gerda zog an der Zigarette und blies dann den Rauch aus.

„Hoffentlich bleibst du hier und hoffentlich schmeißen sie Kristin raus!“, sagte sie dann. Gerda überraschte mich immer wieder. Sie mischte sich in nichts ein, ließ alles an sich vorbeiziehen, solange es sie nicht persönlich betraf. Man konnte glauben, nichts interessierte, nichts berührte sie. Und dann überraschte sie einen alle paar Monate mit einer doch klar formulierten Ansicht. Mehr war ihr zu diesem Thema aber nicht zu entlocken und so drang ich nicht weiter in sie. Das war schon mehr, als ich erhofft hatte. Gerda sprach von ihrem Urlaub, auf den sie sich sehr freute und der sie nach Kanada führen sollte. Ich bestellte bei ihr ein Foto von dort. Und das sollte so aussehen: Gerda winkt mir aus einem Nationalpark inmitten von Bergen unter Bäumen zu und zwischen den Bäumen muss ein See im Hintergrund zu sehen sein. Als wünschenswert, aber nicht notwendig, konnte auch ein Bär irgendwo auf dem Bild auftauchen. Gerda lachte und versprach, ihr Bestes zu tun.

Am folgenden Tag, dem fünften seit ich aus dem Urlaub zurück war, rief mich Christoph ziemlich groggy am späteren Abend an. Er entschuldigte sich mehrfach, dass er sich jetzt erst meldete, er habe es vorher einfach nicht geschafft. Im Moment sei die Hölle los, er wisse gar nicht, wo anfangen mit dem Arbeiten und er wollte mich doch eigentlich längst gesprochen haben.

„Jetzt um…“, ich schaute auf´s Handy, „…21.20 Uhr arbeitest du immer noch?“ Ich staunte, das war mal Engagement!

Christoph lachte. „Naja, was muss, das muss, sozusagen!“

Er erzählte, dass in Kürze ein Gespräch mit Kristin geplant war, an dem Attila, Tony und er teilnehmen würden. In dem Gespräch sollte ausgelotet werden, wie es mit Kristin weitergehen konnte. Am besten wäre es, sie würde versetzt, aber es sei nicht wirklich klar, wohin. Eine Lösung würde wohl noch etwas dauern.

Sofort hatte ich Einwände: „Wenn ihr mit ihr gesprochen habt und dann kommt sie zu uns in die WG zurück, ist alles möglich! Was, wenn sie einen offenen Krieg im Team anfängt? Wenn sie Janina auf ihre Seite zieht und dann gegen uns vorgeht? Oder wenn sie versucht, die Kids gegen uns aufzuhetzen? Oder…! - Ich meine, könnt ihr sie nicht einfach fristlos kündigen, so wie sie uns behandelt? Das hat sie sich doch redlich verdient!“

Christoph lachte wieder. „Fristlos kündigen, das geht nicht!“, erklärte er. „Lehn dich jetzt mal entspannt zurück! Wir von der Leitung machen das schon! Es war für uns sozusagen auch ein Schock, zu hören, was du erzählt hast, aber wir glauben euch und ich habe mir auch ein Bild von der Situation gemacht! Wir haben noch nicht den perfekten Fahrplan, wie wir damit umgehen werden! Aber das ist jetzt unsere Aufgabe! Insbesondere sozusagen meine, da ich jetzt für euch verantwortlich bin! Ich kümmere mich darum! Du kannst dich jetzt wirklich entspannt in deinem Sessel zurücklehnen! Ihr seid doch ein tolles Team! - Weiß Janina eigentlich Bescheid, dass du bei uns warst?“

„Nee!“, meinte ich. „Sie macht schon gute Arbeit, aber sie ist immer so kühl und distanziert, da war so ein Gespräch bisher nicht möglich! Ich bin mir bei ihrer herablassenden Art auch nicht sicher, ob Kristin mich bei ihr nicht sowieso schon schlechtgemacht hat! Am Anfang hatte sie große Klappe, aber inzwischen hat sie sich vor Kristin komplett gebeugt! Deshalb habe ich ja Sorge, dass Kristin sie auf ihre Seite zieht!“

Ich hörte Christoph abermals lachen. Dann wurde er wieder ernst. „Savannah, Gerda und du – ihr seid sozusagen tolle Menschen! Bei Janina stimmt der Kompass! Ich glaub, ich werde mal mit ihr reden!“ Er machte eine Pause. Dann fragte er stockend und klang dabei so verunsichert wie ein kleiner Junge: „Ich ... ich verstehe sozusagen nicht, ... warum … warum du dich an Carola gewandt hast ... und weswegen du nicht sozusagen – weswegen du nicht gleich zu mir gekommen bist?“

`Weil ich davon ausgegangen bin, dass du ein Arschloch bist!`, dachte ich und stellte dabei verwundert fest, wie sehr ich inzwischen meine Meinung über ihn verändert hatte. `Lehn dich zurück, ich mache das!`, wann hatte ich je von einem meiner Chefs so etwas gehört?

„Ja … weil … mit Carola hab ich ja schon einige Krisen durchgestanden mit Bianca oder auch bei Rohit damals diese Selbstmordversuchsgeschichte! Irgendwie wurde sie so zu meiner Krisenberaterin!“, sagte ich dann. Ich schaute auf die Uhr. „Mach mal Feierabend jetzt!“, empfahl ich Christoph dann. „Wir quatschen schon ´ne Stunde!“

„Och!“, rief er erschrocken. „Schon? Na, ein paar Sachen muss ich heute noch erledigen! Aber leg du dich jetzt mal schlafen! Dann wünsche ich dir sozusagen eine gute Nacht und mache dir keine Sorgen! Ich kümmere mich um alles! Bis bald!“

„Bis bald!“, gähnte ich und legte auf.

Die Zusicherung der Leitung, dass sie auf unserer Seite standen und uns unterstützten, beflügelte Savannah und mich. Kristin konnte keine Spitze mehr auf irgendjemanden schießen, ohne mit Gegenwehr zu rechnen. Das änderte ihr Verhalten allerdings nicht. Es hielt sie auch nicht davon ab, weiter bei uns über die Leitung lästern zu wollen. So kreuzte sie bei mir mittags im Dienst auf und schimpfte auf Christoph. Für alle Wohngruppen des Vereins wurde eine gemeinsame Sommerferienfahrt geplant. Kristin, als unsere organisatorische Leitung, nahm an den Vorbereitungstreffen teil. Wütend schnaufte sie danach in die Wohngruppe und schimpfte sofort los, dass das Treffen sinnlos gewesen sei, total sinnlos! Vor Diana, die Protokoll führte, habe sie sich bezüglich ihrer Vorbereitungen rechtfertigen müssen. „Die ist gerade 25 Jahre, frisch vom Studium, hat so was noch nie gemacht und ich soll der Rede und Antwort stehen, wie unsere Vorbereitungen laufen!“, tobte Kristin außer sich. „Völlig aufgeblasen war die, total aufgeblasen! Ich habe der Leitung bereits ein Konzept geschickt zur Planung, da war alles drin und das wurde gar nicht beachtet…!“

Ich hätte damit leben können, wenn Kristin nur Frust ablud und sich Luft machte. Das machten viele, ich auch. Aber was sie tat, war hetzen, sie wollte Leute auf ihre Seite ziehen! Wahrscheinlich hätte sie es am liebsten gesehen, wenn andere sich für ihre Ansichten bei der Leitung einsetzten, damit sie selbst sich herausziehen und wieder den Leitungsgroupie spielen konnte. Das kannte ich schon von Janette aus St. Mobbing. Ich versuchte, mich in Gerda reinzufühlen, wie sie es machte, Leute um sich herum mit Gefühlsausbrüchen ins Leere laufen zu lassen. Halbwegs schaffte ich das wohl, denn Kristin verstummte schließlich und sah mich zornzitternd und wütend an.

„Ich fahre jetzt mal in die Geschäftsstelle, die brauchen die Formulare hier!“, meinte ich in die eingetretene Stille und wedelte mit den Papieren. Beim Rausgehen rief ich über die Schulter: „Ach ja, ich bringe dann gleich noch gelbe Ordner mit! Da hast du ja offenbar vorhin nicht dran gedacht!“

Auf der Fahrt zur Geschäftsstelle dachte ich über Kristins Wutausbruch nach. Diana hatte ich gleich an meinen ersten Arbeitstagen bei HuKo kennengelernt. Ich hatte zwar nett mit ihr geschwatzt, aber richtig warm geworden war ich mit ihr auch nicht. Sie wurde als organisatorische Leitung in der dritten eröffneten Wohngruppe des Vereins eingesetzt und arbeitete eng mit Christoph zusammen, der auch Dianas WG unter seiner Obhut hatte. Ob Kristin sich jetzt zu Recht oder Unrecht über Diana aufregte, konnte ich nicht sagen, aber ich war der Meinung, es schadete Kristin gar nichts, auch mal einen Dämpfer zu kriegen!

In der Geschäftsstelle traf ich auf Carola und fragte sie, wie ihre Sprachreise gelaufen war. Sie erzählte begeistert davon und befragte dann mich zu Südafrika und ich berichtete von meinen Erfahrungen inklusive dem Kreditkartendrama. Dann checkte ich die Post für die Wohngruppe und siehe da, ich hatte auch einen Brief erhalten. Ich riss gleich den Umschlag auf. Mein neuer Arbeitsvertrag war angekommen und offenbar hatte ich auch eine Gehaltserhöhung erhalten. Das war sehr nett, aber wieso war mein Arbeitsvertrag erneut befristet? Es hieß doch, nach einem Jahr erhalte jeder einen unbefristeten Vertrag! Vertraute die Leitung mir nicht? Verstört verließ ich die Geschäftsstelle. Nachdem ich draußen ungefähr zehn Schritte gelaufen war, fiel mir ein, dass ich diese blöden gelben Ordner vergessen hatte. Also schlich ich noch mal zurück und klemmte mir ein paar unter den Arm. Auf dem Nachhauseweg rief ich Savannah an. Savannah war auch verwundert über den befristeten Vertrag und sie war ebenfalls gerade grantig auf Kristin. Die Kids hatten Savannah erzählt, dass Kristin auf abwertend-lustige Weise herumgefragt habe, wieso Savannah bei den Bewohnern denn überhaupt so beliebt wäre. Astrid hatte gelacht und gesagt: „Ich glaube, Savannah könnte mir eine runterhauen und ich würde sie trotzdem toll finden!“ So eine vielsagende und trotzdem nichtssagende Erklärung passte zu Astrid. Ich kicherte. Savannah erkundigte sich telefonisch bei Ronny von der Leitung bezüglich des befristeten Arbeitsvertrages. Mir widerstrebte es, danach zu fragen, wieso ich keinen unbefristeten erhielt. Dann rief Savannah mich wieder an und erzählte, dass die Leitung nach der Erfahrung mit Kristin beschlossen habe, niemandem mehr nach einem Jahr einen unbefristeten Vertrag zu geben. Nun wolle man die Zeit zum Prüfen neuer Mitarbeiter ausnutzen. Das beruhigte mich. Einen unbefristeten Vertrag wollte ich sowieso nicht. War doch das Ende eines Vertrages immer meine ´Ich-komme-aus-dem-Gefängnis-frei´-Karte von einem Arbeitsplatz gewesen!

In der nächsten Teamsitzung erfuhr ich, dass wir einen neuen Jugendlichen namens Kenny aufnehmen würden. Er würde mein Bezugskind werden. Hoffentlich würde es mit ihm erfreulicher laufen als mit Bianca!

Nach der Teamsitzung ergab sich eine Gelegenheit, Christoph zuzuflüstern, wie Kristin sich über Diana nach dem Vorbereitungstreff für die Reise geäußert hatte. Christoph grinste stolz und flüsterte zurück: „Ich habe Diana sozusagen angewiesen, dass sie sich nicht von Kristin dumm kommen lassen soll! Kristin sagte übrigens zu Carola, dass sie Ende des Jahres den Verein verlassen will!“

„Ich habe Kontakt zu Dinah!“

Regelmäßig gab ich seit der Trennung die Namen meiner Geschwister bei ´google´ ein. Ich hoffte, ein Foto von ihnen zu finden. Für mich waren sie ja noch die kleinen Kinder, die ich damals zurücklassen musste. Ich fand aber nie etwas, keine Information, kein Bild!

Doch im Frühjahr 2011 war ich endlich erfolgreich. Meine kleine Schwester schrieb offenbar für die Schülerzeitung ihrer Schule und ich entdeckte ein paar Artikel von ihr. Ich war so stolz auf meine Kleine! Ich las die Berichte immer wieder und versuchte, aus ihnen etwas zur Befindlichkeit meiner Geschwister herauszufinden. So wie ihr Beitrag formuliert war, glaubte ich, mich selbst wiederzuerkennen, so wie ich mich früher auch geäußert hatte. Mit Witz und Humor versuchte meine Schwester eine Normalität zu beschreiben, die sie eigentlich nicht selbst kannte. Genauso hatte ich mich in ihrem Alter auch ausgedrückt, um niemanden hinter die Familienkulissen schauen zu lassen, damit wir wie eine normale Familie wirkten. Dass sie auch ein Liebesgedicht geschrieben hatte, verdutzte mich allerdings über alle Maßen. Da hatte es zu Hause bestimmt Ärger gegeben, war meine Mutter doch Liebesdingen gegenüber äußerst feindlich eingestellt. Ich hatte davon wohl auch was abgekriegt. Aber bei mir war es eher in Ironie, Mitleid oder Desinteresse umgeschlagen, je nach Situation. Bedingt durch das Vorbild meiner Eltern und eigener Erfahrung glaubte ich jedenfalls längst nicht mehr an das Ideal der romantischen Paarbeziehung, die uns Kino und Fernsehen vermittelten. Ich glaubte inzwischen eher, dass Liebe nur eine Illusion war. Ich empfand es so, dass eher schwache Menschen in Beziehungen leben mussten, die einen, die jemanden brauchten, der sie kommandierte und die anderen, die selbst jemanden zum Kommandieren brauchten. Ja, ich weiß, das klingt sehr desillusioniert und lässt sicher den einen oder anderen empört aufschreien, aber so sah ich es eben. Ich war froh, in einer Zeit leben zu können, in der es so leidlich akzeptiert war, als Frau allein durch das Leben zu gehen.

Ich durchforschte die Schülerzeitung weiter und fand ein weiteres Gedicht, in dem es um ein Mädchen ging, dem eine Puppe geschenkt wurde. Sinngemäß ging es so:

„…Ich nenn´ die Puppe Nancy.

Jetzt bin ich nicht mehr allein, du bist wieder bei mir!

Jetzt sind wir beide nicht mehr allein,

jetzt sind wir stark…!“

Dieses Gedicht war nicht von meiner Schwester geschrieben worden. Aber es elektrisierte mich, nicht nur weil die Puppe meinen Namen erhalten hatte oder weil gewisse Parallelen erkennbar waren. Vor einigen Monaten hatte ich einen Traum von meiner kleinen Schwester. In dem Traum war sie als Teenager abgehauen und lebte als Straßenkind in einer fremden Großstadt. Sie trug immer eine kleine Puppe als Talisman mit sich und die war eine Miniaturkopie von mir. - Und nun dieses Gedicht! Was sollte ich davon halten? War das Ganze ein verschlüsselter Hilferuf oder wollte ich nur die Dinge sehen, die ich mir wünschte?

Ich überlegte, in ihrer Schule anzurufen, aber ich war unsicher. Ich wollte nicht wieder eins meiner Geschwister in eine Situation bringen, wie ich es damals ungewollt mit meinem Bruder tat, als ich an seiner Schule aufgekreuzt war. Was sollte ich tun? Sollte ich überhaupt etwas tun?

Ich war gerade zu Hause beim Wäsche aufhängen, als Talisha anrief. Talisha war eines meiner Mädchen, die ich in der Kum betreute und einer der führenden Köpfe der Revoluzzer gegen Tamia und ihrer Pläne gegen mich. Talisha meldete sich noch häufig bei mir und zwischen uns hatte sich nun eher eine kleine Freundschaft entwickelt. Mit den meisten der anderen jungen Mütter war der Kontakt inzwischen eingeschlafen. Talisha und ihr kleiner Sohn waren vor einigen Monaten aus der Kum aus- und bei der Familie ihres Freundes eingezogen. Talisha war als kleines Kind adoptiert worden, hatte dann aber wohl nicht die Erwartungen ihrer Adoptivmutter erfüllt und war – so mein Empfinden – regelrecht verstoßen worden. An allem, was jemals im Leben der Adoptivmutter schiefgegangen war, gab sie nun Talisha die Schuld. Selbst an dem Herzinfarkt von Talishas Adoptivvater und später an dessen Tod! Damals im Rahmen meiner Arbeit musste ich gelegentlich mit der Adoptivmutter telefonieren und bei ihrer Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt, dem verbohrten Festhalten an ihren Ansichten und den endlosen bösen Beschimpfungen gegen Talisha, stellte ich jedes Mal eine geistige Verwandtschaft zu meiner Mutter fest. Talisha war, so wie ich sie kennenlernte, immer auf der Suche nach einem Zuhause gewesen, einem Platz, an den sie gehörte. Ich denke, das war auch ein Grund, warum sie so zeitig Mutter wurde. Sie hatte gehofft, ein Heim bei der Familie ihres Freundes zu finden, stellte nun aber gerade fest, dass dem nicht so war.

Ich freute mich, dass Talisha sich meldete, wollte aber trotzdem mit der Hausarbeit fertigwerden. Das zwischen Ohr und Schulter eingeklemmte Handy rutschte mir während des Wäscheaufhängens runter. Ich fing es aber noch rechtzeitig auf und schob es wieder zwischen Schulter und Ohr zurück.

„Sag mal, hast du jetzt Freisprech an, ich hör dich auf einmal so schlecht!“, fragte ich Talli, wie ich sie nannte.

„Ich hör dich auch gerade ganz schlecht!“, hörte ich sie leise.

„Warte, ich guck mal nach dem Empfang!“, meinte ich, schaute, lachte los und konnte nicht mehr aufhören.

„Was ist denn?“, lachte Talli mit.

Ich musste mich erst fangen, bis ich ihr unterbrochen von neuen Lachanfällen sagen konnte, dass ich, nachdem das Handy fast abgestürzt war, es falsch herum zwischen Schulter und Kopf geklemmt hatte, so dass ich nun in die Kamera des Handys gesprochen hatte.

Ich gab das Wäscheaufhängen auf und konzentrierte mich auf das Telefonat.

Talisha war noch immer tief betrübt, da nun auch ihre Adoptivmutter gestorben war. Sie war sogar zur Beerdigung gegangen. Ich bewunderte Tallis Fähigkeit zur Vergebung auf der einen Seite, auf der anderen Seite war ihre Adoptivmutter für Talli nur eine bösartige Hexe gewesen und es gab nichts, was Talisha durch ihren Tod wirklich verloren hatte. Doch Talisha sah das anders. Sie erinnerte sich auch an die schönen Begebenheiten mit ihrer Adoptivmutter, die zwar Jahre her waren, aber eben doch geschehen waren. Ich sah die Dinge eher unter dem Jetzt-Aspekt. Schöne Erinnerungen - schön und gut, aber man sollte auch nicht vergessen, wie der Stand aktuell jetzt im Moment war. Um meine These mit Fakten zu untermauern, erzählte ich ihr kurz von meiner Mutter und meinen Geschwistern und dem erzwungenen Kontaktabbruch zwischen den Kindern und mir.

„Deshalb hast du nie von deiner Familie gesprochen!“, stellte Talisha fest.

„Ach, das habt ihr gemerkt?“, fragte ich verdutzt.

„Ja klar, wir haben da ab und zu mal spekuliert, weil andere Betreuer gelegentlich von Familienbesuchen oder so erzählten! Du nie! Wir dachten, du hättest Streit oder so! Aber damit habe ich nicht gerechnet! Das ist ja so traurig! Aber deine Geschwister würden sich bestimmt freuen, wenn sie von dir hören würden!“

„Da bin ich nicht so sicher!“, meinte ich. „Denk an deine Mutter! Die ließ an dir auch kein gutes Haar! Hättest du Geschwister gehabt, hätte sie die auch gegen dich aufgehetzt, so dass sie mit dir nichts zu tun haben wollen!“

„Das glaube ich nicht! Das kann nicht klappen! Es wären ja meine Geschwister!“, widersprach Talisha überzeugt.

„Täusch dich nicht!“, sagte ich traurig und berichtete dann von meinen Versuchen, den Kontakt von Anfang an zu meinen Brüdern und meiner Schwester aufrechtzuerhalten. Und dann erzählte ich ihr stolz, dass meine Schwester für die Schülerzeitung schrieb, die online gestellt wurde und dass ich darin gerade gelesen hatte. Ich sprach auch von dem Puppengedicht und erzählte von den Parallelen zu meinem Traum. Das fand Talli ebenfalls unglaublich.

„Das muss ich selbst lesen! Wo finde ich das denn im Internet?“, fragte sie. Talisha las sich die Artikel durch und rief dann wieder an.

„Vielleicht hat deine Schwester der Dinah, die das Puppengedicht geschrieben hat, von dir erzählt und darauf schrieb Dinah das Gedicht! Oder deine Schwester schrieb es selbst, konnte es aber nicht unter ihrem Namen veröffentlichen wegen deiner Mutter!“, überlegte sie.

„Hab´ ich auch schon dran gedacht!“

„Deine Geschwister würden sich bestimmt freuen, von dir zu hören! Sie wissen ja gar nicht, was du heute für ein Mensch bist!“, sagte Talli überzeugt.

„Du kennst meine Mutter nicht! Stell dir das nicht normal und einfach vor! Die Kinder haben eine langjährige Gehirnwäsche hinter sich! Es bringt nichts! Ich hab´s aufgegeben!“, sagte ich traurig, aber bestimmt. Doch Talisha blieb unbeirrt bei ihrer Meinung, dass man sich freute, wenn verschollene Familienmitglieder wieder auftauchten.

Wir beendeten das Gespräch dann bald. Es ging bereits auf Mitternacht zu.

Ich hatte widersprüchliche Gefühle. Auf der einen Seite war ich überzeugt, dass sich meine Geschwister der Gehirnwäsche meiner Mutter nicht entziehen konnten. Aber auf der anderen Seite war die Hoffnung! Wie damals nach diesem Weihnachtsfest war ich ratlos. Als mir klargeworden war, dass ich nicht mehr zu meiner Mutter zurückkonnte…

Was war richtig? Was war falsch?

Ein paar Tage später meldete sich Talisha erneut.

„Ich habe Kontakt zu Dinah, die das Puppengedicht geschrieben hat!“, sagte sie.

„Was hast du?“, rief ich.

„Ich habe Kontakt zu Dinah, die das Puppengedicht geschrieben hat!“, wiederholte Talisha. Sie berichtete, dass sie über Facebook mit allen Redaktionsmitgliedern versucht hatte, Kontakt aufzunehmen. Dinah war die Einzige gewesen, die antwortete. Talli schickte mir die Unterhaltung per Mail. Demnach hatte sie Dinah nach dem Ort, an dem sie lebte, gefragt und ob sie an einer Schülerzeitung mitarbeiten würde. Dinah hatte keine Lust gehabt, die Informationen rauszurücken und beide hatten sich erst mal ganz schön angezickt. Als Talli ihre gewünschten Infos schließlich doch erhalten hatte, schrieb sie sinngemäß:

„Also, wie ich schon sagte, meine Freundin sucht ihre Schwester und hat letztens in einer Schülerzeitung Artikel von ihr gefunden. Die Mutter ihrer Schwester möchte nicht, dass sie Kontakt haben, aber meine Freundin möchte das. Sie weiß nicht, ob ihre Schwester Kontakt wünscht oder nicht.“

Dann verriet Talisha noch den Namen meiner Schwester und der ganze Ton der Konversation änderte sich sofort schlagartig. In etwa schrieb Dinah zurück:

„Ja, klar! Ich kenne sie! Tut mir ja so leid, wie ich mit dir geredet hab, ich habe an einen Fake geglaubt! Ich wusste doch nicht, dass es um so etwas Ernstes geht! Sag deiner Freundin, ich tue echt alles, um euch zu helfen!“

Dinah legte sich wirklich ins Zeug. Sie studierte inzwischen, aber sie fuhr zu ihrer alten Schule, um mit meiner Schwester zu sprechen. Sie traf sie auch an und sagte ihr, dass Talli versuchte, sie über Facebook zu adden und sie die Freundschaftsanfrage annehmen sollte. Doch meine Schwester schaltete auf stur und nahm Talishas Angebot nicht an.

Dinah beschrieb meine Schwester als schüchtern, ruhig und zurückhaltend. Meine Erinnerungen an sie waren anders, aber ich wusste auch, dass die Erziehung meiner Mutter ihre Kinder dahin drängte – bis sie ausbrachen.

Ich wollte nicht, dass Talisha und Dinah alles über meinen Kopf hinweg machten und entschieden und mischte mich nun auch ein. Ich hatte weiterhin kein gutes Gefühl dabei. Aber vielleicht hatten die beiden ja Erfolg mit ihrem unbeirrbaren Glauben an das Gute?

Ich schrieb Dinah eine Dankesmail und schickte ihr einen Brief an meine Schwester mit. Ich bat sie, ihr diesen zu geben.

Dinah berichtete Talisha dann ein paar Tage später, dass meine Schwester den Brief nicht haben wolle und gesagt habe, dass sie auch sonst nichts von mir wolle. Meine Schwester habe sich freundlich, aber distanziert verhalten.

„Okay, dann Schluss, setzt meine Schwester nicht unter Druck! Sie wird zu Hause schon genug Druck haben!“, sagte ich zu Talli.

So war ja alles wieder so gelaufen, wie ich es erwartet hatte! Wieder ein Tiefschlag! Meine Geschwister hassten mich!

Dann rief Talisha mich wieder an und fragte: „Sag mal, trinkt deine Mutter?“

„Was? Wieso? Denk nicht, jedenfalls hat sie früher nicht getrunken. Wie kommst du denn darauf?

„Ich habe gerade mit ihr gesprochen und sie war sehr nett, aber sie klang betrunken.“

„Was hast du?“, rief ich außer mir. „Wieso rufst du meine Mutter an?“

Talisha berichtete, dass Dinah in den nächsten Tagen mit dem Brief zu meiner Schwester nach Hause gehen wolle, um dort mit ihr in Ruhe zu sprechen. Und Talisha wollte meine Schwester telefonisch auf diesen Besuch vorbereiten, damit sie Dinah auch anhörte. Wir seien doch Schwestern, das könne doch so nicht alles enden! Aber meine Mutter habe eben am Telefon gesagt, meine Schwester sei nicht da und Talli solle später noch mal anrufen.

Ich schnappte nach Luft. Das durfte doch nicht wahr sein!

„Talli, hier geht es nicht um das, was normal und was wünschenswert wäre! Es geht allein um meine Mutter! Solange sie es nicht will, werden meine Geschwister mit mir nichts zu tun haben wollen! Weil sie es nicht dürfen! Hast du dir mal überlegt, was du meiner Schwester damit antust? Das ist doch kein Spiel! Jetzt wird meine Mutter sie in die Zange nehmen und alles aus ihr herausleiern, falls sie es meiner Mutter nicht sowieso schon gesagt hat! Glaubst du, sie ist dir dankbar, wenn sie nachher von meiner Mutter zusammengekloppt wird wegen deines Anrufs?“

„Daran habe ich nicht gedacht!“, sagte Talisha betroffen.

„Deshalb solltet ihr so was doch auch mit mir absprechen und nicht allein irgendwas entscheiden! Wenn meine Schwester meiner Mutter erzählt, dass ich versuche, mit ihr Kontakt aufzunehmen und das über eine ehemalige Mitschülerin meiner Schwester, sind damit Familiengeheimnisse nach außen gedrungen! Ein absolutes No-Go für meine Mutter! Und Dinah ist jemand aus demselben Ort, die es anderen erzählen könnte! Das ist unentschuldbar für sie! Wer weiß, was sie jetzt wieder anstellt, sich ´ne neue Telefonnummer geben lassen, umziehen, wer weiß! Damit verliere ich die letzten Punkte, an denen man andocken könnte! Ich weiß, ihr meint es nur gut, aber das war wirklich Mist, Talli! Bitte, stellt jetzt nichts mehr an und ruf dort um Gottes Willen nicht noch einmal an!“

Nachts träumte ich von meiner Mutter. In meinem Traum waren wir im selben Zimmer und meine Mutter wusste über die Aktion Bescheid. Sie war zornbrodelnd, eher hassbrodelnd! Wie irre starrte sie mich an und versuchte mit einem Messer auf mich zu einzustechen, sobald ich mich von ihr abwandte und sie nicht mehr im Blick hatte. In meinem Traum schreckte sie selbst vor Mord nicht zurück, um ihr Geheimnis, dass ich mich von ihr, aber nicht von meinen Geschwistern abwandte, zu bewahren!

Am nächsten Morgen rief ich Talli an, erzählte von dem Traum und sagte ihr, sie solle unbedingt Dinah Bescheid geben, sich von der Wohnung meiner Mutter fernzuhalten. Ich konnte einfach nicht einschätzen, was meiner Mutter heute zuzutrauen war.

Talisha schrieb Dinah darauf, dass sie nichts mehr tun solle. Danach hörten wir von Dinah nichts mehr.

Und wie stand ich nun zu dieser ganzen Geschichte? Ich kam mir so blöd vor! Wie hatte ich mir einreden können, dass es sich um einen verschlüsselten Hilferuf handelte! Was für eine dumme Aktion!

Aber sie hatte doch etwas bewirkt. In mir!

Ich war bisher immer nur traurig wegen des Verlustes meiner Geschwister gewesen. Jetzt wurde ich zum ersten Mal ärgerlich auf sie! Ja, ich weiß, sie sind jahrelang aufgehetzt worden, haben eine Gehirnwäsche bekommen, aber sie waren nun in einem Alter, wo man auch mal selbst etwas hinterfragen konnte und nicht mehr blind die Informationen aus der Kindheit glauben musste. Hatten meine Geschwister denn so viele Menschen, die sich wirklich um sie sorgten, dass sie so wählerisch sein konnten? Wohl nicht! Wer hatte das schon?

Ich schwor mir, dass ich nie wieder auf meine Geschwister zugehen würde. Wenn sie ihr Leben ohne mich leben wollten, dann würde ich das nun endlich mal akzeptieren müssen! Sie waren wohl einfach noch zu jung gewesen, als ich gegangen war, um sich an mich erinnern zu können und es war wohl nun auch zu viel Zeit vergangen, die sie unter dem Einfluss meiner Mutter gestanden hatten.

Ich wusste, dass ich selbst mich in dieser Situation an ihrer Stelle nicht anders als meine Geschwister verhalten würde und dennoch war es befreiend, die Ohnmacht der Trauer endlich zu verlassen und mich der Lebendigkeit der Wut hinzugeben. Es war, als wäre ich nun endlich aufgewacht und das Gefühl genoss ich.

„Sie war wie eine Spinne im eigenen Netz!“

Ich hörte den Anrufbeantworter meines Handys ab. Christoph hatte draufgesprochen. Er klang verlegen und fragte, ob ich heute in seiner anderen WG einspringen könnte, eine Mitarbeiterin müsse wegen Krankheit abgelöst werden. Er hoffe sehr, dass ich das einrichten konnte, denn außer mir gebe es keine andere Alternative. Er habe die Dienstpläne der Mitarbeiter immer wieder gecheckt und es tue ihm sehr leid, dass ich an meinem freien Tag einspringen musste.

Ich warf gerade ein paar Sachen in meinen Rucksack, die ich für einen 24-Stunden-Dienst in der WG brauchte, da rief er erneut an. Ich ging ans Handy und meldete mich mit: „Ich pack gerade meine Tasche und fahr gleich los!“

„Och, Gott sei Dank!“, schnaufte er. „Hallo! Ich habe sozusagen keinen anderen finden können, es ist echt zum Verrücktwerden! Wenn du nicht hättest einspringen können, dann hätte ich jetzt alle Termine absagen und selbst den Nachtdienst schieben müssen! Saskia Peitschenknall ist krank geworden und wartet…!“

„Wer?“, kicherte ich los.

Er lachte kurz und wurde dann wieder ernst: „Saskia Peitschenknall heißt sie!“

„Ist ja ein cooler Name!“, amüsierte ich mich. „Also, ich fahre gleich los, muss nur noch schauen, wie ich mit Bus und Bahn dahin komme!“

„Ah, großartig! Du bist meine Rettung, mein Herz!“ Christoph klang erleichtert. „Wo wohnst du noch mal, dann kann ich dir sozusagen gleich sagen, wie du fahren musst!“

In der WG angekommen, erwartete ich eine todkranke Kollegin, aber Saskia Peitschenknall sah doch recht fit aus. Ich hatte gedacht, dass sie gleich nach Hause wollte oder zum Arzt, aber sie blieb noch fast zwei Stunden, erzählte mir ganz viel über die Bewohner dieser Wohngruppe und was heute über den Tag so anstand. Sie machte einen recht netten Eindruck. Als sie weg war, langweilte ich mich bald und rief Gerda aus meiner WG an, die gerade bei uns den Dienst machte. In meiner WG hätte ich zu tun gehabt, aber hier war ich einfach nur da und hatte nichts zu erledigen. Mit den Kids dieser Wohngruppe war alles soweit entspannt. Gegen 22 Uhr rief Christoph an und fragte, wie es bei mir gelaufen war, ob die Jugendlichen artig waren und ob sich bei mir vielleicht im Lauf des Tages noch irgendwelche Fragen ergeben hatten.

„Nö, alles gut hier!“, meinte ich.

„Und ist Saskia gleich los, als du kamst?“

„Nein, sie war noch fast zwei Stunden hier und hat mir alles erklärt!“

„Was?“, rief Christoph. „Saskia sagte mir, sie muss sofort abgelöst werden, weil ihr schlecht ist und sie sich übergeben hat und dann bleibt sie noch so lange?“

„Wie jetzt? Schlecht geworden? Ich denke, sie hatte Kreislaufprobleme!“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Na, das hat sie mir vorhin gesagt!“, meinte ich verdutzt.

Christoph klang nun ebenso verdutzt wie ich. „Was?“ Dann fing er sich wieder: „Vielen Dank auf jeden Fall noch mal, dass du eingesprungen bist und dafür auf zwei freie Tage verzichtet hast!“ Dann verabschiedete er sich herzlich.

Ein paar Tage darauf gestand mir Savannah, dass sie im Moment schon wieder reichlich desillusioniert war. Zwei Monate und einen Tag lag mein Gespräch bei der Leitung nun zurück und bisher hatte sich nichts bezüglich Kristin getan.

„Ich fühle mich gerade genauso!“, gab ich zu. „Christoph hat doch mit euch auch gesprochen wegen Kristin! Was brauchen die von der Leitung denn noch? Das sollte doch arbeitsgerichtlich standhalten, was die haben, oder? Wie lange soll Kristin uns denn noch terrorisieren? Wenn die schon reinkommt mit ihrem breiten Grinsen im Gesicht, um dann gleich wieder Spitzen zu schießen oder irgendwen durch den Kakao zu ziehen, kommt mir regelmäßig meine Vanillecola wieder hoch!“

Savannah war sehr betrübt und ich versuchte sie aufzuheitern. „Übrigens habe ich letzte Nacht einen crazy Traum von dir gehabt!“

„Ach ja?“, fragte sie desinteressiert. „Was hast du denn geträumt?“

„Ich habe geträumt, dass du dich in irgendeinen Typen verknallt hast und dir nichts mehr wichtig war - nur er! Die Arbeit war dir scheißegal, ich war dir übrigens auch scheißegal, du hattest nur noch ihn im Kopf!“

„Wie sah er denn aus?“

„Wie ein Yeti! Also ich meine wie der Mann aus den Bergen, ein Naturbursche!“

Nun war Savannahs Interesse geweckt. „Wirklich? Das ist ja unglaublich! So jemanden habe ich mir immer gewünscht! Ich stand schon als Kind auf die Serie `Der Mann in den Bergen´. Ich würde gern selbst meine Zelte abbrechen und irgendwo in der Natur leben!“ Savannah wollte nun exakt alles über meinen Traum wissen, aber viel mehr als das bisher Gesagte hatte ich nicht an Informationen. Doch mein Plan war aufgegangen, sie war nicht mehr so deprimiert.

Ganz so, wie wir es zu dem Zeitpunkt empfanden, war es übrigens nicht. Kristin wurde bereits in kleinen Schritten entthront. In wichtigen Fragen wandten wir uns nicht mehr an sie, abgesehen davon, dass wir sie bei Fragen oder in einer Krise ohnehin nur in den seltensten Fällen telefonisch zu fassen bekommen hatten. Stattdessen suchten wir nun gemeinsam mit Christoph nach einer Lösung. Die Lösungen, die wir mit ihm erarbeiteten, waren gut und funktionierten, was man von dem Quatsch, den Kristin uns häufig als Lösungsweg aufgetragen hatte, nicht behaupten konnte. Dass wir Christoph als eine Art neues Teammitglied freudig willkommen hießen, verärgerte sie. Auf Christoph Spitzen zu schießen, um ihn kleinzuhalten und ihm zwischen den Zeilen Unfähigkeit vorwerfen, wie sie es bei uns gern tat, war für sie aufgrund seiner höheren Position auch nicht so einfach! So nutzte sie jede Möglichkeit, um über ihn zu lästern. „Auf den hören wir nicht mehr, der kommt immer zu spät!“, schlug sie beispielsweise mit einer Mischung aus spaßigem Unterton und ernstem Hintergrund am Anfang einer Teamsitzung vor. Sie übernahm die Leitung ganz selbstverständlich, wenn Christoph aufgrund irgendwelcher Termine nicht rechtzeitig zu Beginn der Teamsitzung erschien. Kam er dann durch die Tür, strahlten wir ihn an, etwas, was Kristin so nie von uns erlebt hatte. Wie kannst du auch jemanden anstrahlen, der dir ständig sagt, wie dämlich du bist, aber selbst mit größter Überzeugung mehr Mist als was Sinnvolles verzapft? Christoph dagegen gab uns das Gefühl, dass wir sein volles Vertrauen hatten und seine volle Unterstützung.

In der nächsten Supervision sprach Kristin davon, dass es sie ärgerte, dass wir in den Teamsitzungen so viel Zeit damit verplemperten, Christoph unsere Bewohner ausführlich vorzustellen, statt gleich eine Lösung zu bestimmen, um dann zum nächsten Bewohner überzugehen.

„Er arbeitet sich eben ein, das kostet anfangs mehr Zeit!“, warf ich ablehnend ein. Ich wollte nicht, dass Kristin die Teamsitzung wieder an sich riss und wir unter ihrer Leitung erneut unprofessionelle Entscheidungen akzeptieren mussten.

„Für uns ist es auch gut, wenn wir manche Bewohner mal etwas gründlicher anschauen und durchsprechen und nicht nur auf die aktuelle Situation bezogen agieren!“, mischte sich auch Savannah ein und wir warfen uns einen verschwörerischen Blick zu.

„Genau!“, sagte ich.

„Eben!“, ergänzte Savannah und lachte.

Nach der Supervision verschwand Gerda kurz zu Attila, um ihn zu begrüßen. Früher hatten sie beide auf demselben Arbeitsplatz gearbeitet und sie waren sich noch immer verbunden. Ich wartete auf sie und als Gerda aus Attilas Büro kam, zog sie mich gleich in eine Ecke und flüsterte mir aufgeregt zu, dass Kristin wohl jetzt doch nicht mehr zum Ende des Jahres den Verein verlassen wolle. „Attila sagte mir, wenn sie bleibt, wird sie in Christophs andere Wohngruppe versetzt! Da ist sie unter Beobachtung und sie wird dort nicht als Gruppenleitung, sondern als normale Mitarbeiterin eingesetzt!“

„Das weiß ich schon!“, meinte ich gelangweilt. „Pläne, immer nur Pläne! Aber bis jetzt ist noch nichts passiert! Das ist so entmutigend!“

Christoph hatte mich vor ein paar Tagen angerufen, da Saskia Peitschenknall schon wieder aus dem Dienst abgelöst werden musste. ´Ich kann erst ab abends einspringen, ich habe heute den ganzen Tag über volles Programm!´, hatte ich ihm gesagt.

´Dann muss sie eben warten! Das letzte Mal hatte sie es ja sozusagen auch nicht so eilig, aus der WG zu kommen!´, hatte er geantwortet und mir dann diesen aktuellen Plan zu Kristin mitgeteilt.

Die Kids der anderen WG hatten sich gefreut, als ich mies gelaunt schon wieder bei ihnen anrückte. Saskia sagte mir mit betretenem Lächeln: ´Tut mir leid, ich wusste nicht, dass es wieder dich trifft!´

´Es ist für jeden blöd, an seinem freien Tag zur Arbeit gerufen zu werden!´, hatte ich ihr mürrisch geantwortet.

Am Tag nach der Supervision erfuhren wir, dass Kristin sich für einen knappen Monat krankgemeldet hatte. „Dann haben die von der Leitung jetzt mit ihr geredet!“, vermutete ich sofort.

Christoph bestätigte kurz darauf unsere Überlegung. Er erschien wieder zur Teamsitzung und berichtete, dass mit Kristin gesprochen wurde. „Das Gespräch ist sozusagen sehr fair verlaufen!“, urteilte er. Dennoch kam gleich danach die Krankmeldung.

„Sie war wie eine Spinne im eigenen Netz! Sie hat die Infos von uns an euch weitergegeben und von euch an uns! Keiner konnte merken, wenn sie Dinge verdreht dargestellt hat! Und trotzdem hätte sie damit rechnen müssen, dass das Kartenhaus irgendwann mal zusammenbricht!“, sinnierte er.

Wir mussten nun allerdings Kristins Dienste, die sie nicht machen würde, neu besetzen. Ich arbeitete einen Vorschlag aus, wie wir dieses Wochenende arbeiten konnten, ohne dass dadurch so viele andere Mitarbeiter außerhalb unserer WG an ihren freien Tagen bei uns aushelfen mussten. Christoph checkte die Planung und strahlte mich dann an: „Du bist ein Goldstück!“

Dieser Tag war ein glücklicher für Savannah, Gerda und mich. Wäre da nicht Janina gewesen, die total hochdrehte und sich ständig in den Mittelpunkt schieben wollte. Ständig verwickelte sie Christoph in sinnlose Debatten und profilierte sich. In Kristins Gegenwart hatte sie sich nie so affig verhalten. Das nervte! Was stimmte nicht mit ihr?

„Weißt du, wir wären mit der Teamsitzung schneller durch, wenn du nicht ständig so einen überflüssigen Blödsinn quatschen würdest, der mit dem Thema nichts zu tun hat!“, sagte ich nach der Teamsitzung zu ihr unter vier Augen und versuchte es, dabei ruhig zu bleiben. Janina verschanzte sich wieder hinter ihrer kühlen unnahbaren Rüstung. Savannah sah mich fragend an. Ich erzählte ihr kurz, was ich zu Janina gesagt hatte und fügte hinzu: „Es tut nicht Not, dass wir hier mit Janina die nächste Kristin bekommen! Sie führt sich ja auf, als könnte jetzt sie uns kommandieren! Ich sage dir, die hat genauso einen Machttrieb wie Kristin!“

Eine Aushilfe brauchten wir am Wochenende aber doch. Manfred, ein ambulanter Mitarbeiter, der eigentlich nicht in der Wohngruppe arbeitete, sondern Familien, die Unterstützung brauchten, zu Hause aufsuchte, sprang in unserer WG ein. Er versuchte, mich wegen Kristin auszufragen, wieso sie so lange krank war? Ob hier irgendwas los wäre? Manfred schien bereits zu ahnen, dass was im Busch war, aber ich war nicht sicher, ob er vertrauenswürdig war und redete mich daher raus: Nichts sei hier los. Was Kristin hatte, dass sie so lange krank war, wussten wir nicht.

Wussten wir ja auch wirklich nicht!