Ein Porträt von dir - Madeleine Vulff - E-Book

Ein Porträt von dir E-Book

Madeleine Vulff

3,0

Beschreibung

Die verträumte und künstlerisch unvergleichlich talentierte Elina trifft auf ihr genaues Gegenstück. Leopold, ein verschlossener, wohlhabender und unverschämt attraktiver Mann kann ab dem ersten Moment ihrer Begegnung an nichts anderes mehr denken, als an ihre tiefgründigen, grünen Augen. Er bietet Elina einen Job an, etwas für sie Unvorstellbares - er wünscht von ihr porträtiert zu werden. Obwohl Elinas Verstand sich dagegen mit Händen und Füßen wehrt, lässt sie sich auf den Job ein, doch schnell entwickelt sich eine einzigartige Verbindung zwischen den beiden. Elina öffnet sich ihm mit jeder Stunde mehr, während Leopold von einer unsichtbaren Last niedergedrückt wird, von der er sich nicht zu lösen imstande sieht. Doch auch sie verbirgt ein dunkles Geheimnis. Gelingt es den beiden, die Narben ihrer Vergangenheit zusammen zu überwinden, bevor sie die schmerzliche Wahrheit erbarmungslos zu verschlingen droht?

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Buecherwurm1910

Nicht schlecht

Der Roman erzählt eine ansprechende Geschichte über zwei schwer traumatisierte Menschen, die sich ineinander verlieben, aber ihre Vergangenheit noch nicht hinter sich gelassen haben. Stellenweise zieht sich aber leider der Inhalt durch den Schreibstil etwas in die Länge, was auf Kosten der Handlung geht. Hier hätte etwas gekürzt werden können. Auch die Spice-Szenen, die ca. ein Drittel des Buches einnehmen, hätte man kürzer halten können. Aber das ist Geschmacksache und nur meine persönliche Meinung. Im Großen und Ganzen handelt es sich um eine gute Geschichte mit interessanten Charakteren. Nur Elina hätte ich gegen Ende des Buches gerne geschüttelt, denn dieses Ende hat sie ganz alleine zu verantworten.
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Für Alexander

Die Quelle all meiner Inspiration. Danke, dass es dich gibt.

»Jedes Porträt, das mit Empfindung gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht dessen, der ihm sitzt.«

Das Bildnis des Dorian Gray (Oscar Wilde)

Inhaltsverzeichnis

1 ELINA

2 ELINA

3 ELINA

4 ELINA

5 LEOPOLD

6 ELINA

7 LEOPOLD

8 ELINA

9 ELINA

10 ELINA

11 LEOPOLD

12 ELINA

13 ELINA

14 ELINA

15 LEOPOLD

16 ELINA

17 ELINA

18 LEOPOLD

19 ELINA

20 LEOPOLD

21 ELINA

22 ELINA

23 LEOPOLD

24 ELINA

25 ELINA

26 ELINA

27 ELINA

28 ELINA

29 ELINA

1 ELINA

Warmes Sonnenlicht fällt hell und golden schimmernd durch die bodentiefen Fenster des gemütlichen Bistros, in dem ich seit drei Wochen beschäftigt bin. Die gleißenden Strahlen knistern behaglich sanft auf meiner Haut, wie die gedehnte Umarmung eines alten Freundes.

Der Duft des abklingenden Regens nach durchfeuchteter Erde und frischem Tau, der gestern Nacht bis in die frühen Morgenstunden durch ganz London gewütet hat, erfüllt herrlich die Luft. Gott sei Dank hatte ich am Weg in die Arbeit meinen grünen Regenschirm bei mir, eine Angewohnheit, die sich jeder, der nach London zieht, genauso wie ich gezwungenermaßen sehr schnell aneignen wird.

Obwohl es in meinem Heimatort East Sussex nicht selten regnet, habe ich den Eindruck, dass London in dieser Hinsicht einen vollkommen eigenen Kopf hat. Das musste ich leider einmal am eigenen Leib erfahren, bevor ich zu dieser Erkenntnis gelangt bin. Ohne Schirm wäre ich sonst öfter als dieses eine peinliche Mal völlig durchnässt mit durchsichtiger Bluse im Bistro aufgetaucht. Einen weiteren solchen Fauxpas kann ich mir beim Beliebtheitsgrad, den ich bei meiner Chefin derzeit genieße, nun wirklich nicht leisten.

Gierig sauge ich den wundervollen Geruch ein, nehme alles in mir auf und schließe genüsslich die Augen, während subtile Hintergrundgeräusche von plauschenden Kunden und klappernden Kaffeetassen meine äußere Hülle umspülen. Abgesehen von meiner nicht gerade sympathischen Chefin fühle ich mich an meinem neuen Arbeitsplatz sehr wohl. Ein paar klassische Elemente wie der Stuck an den Wänden und der goldene Kronleuchter verleihen dem Lokal seine besondere Note. Doch nicht nur das einladende, gemütliche Ambiente, sondern vor allem die herausragende Qualität der angebotenen Getränke und Speisen sind der Grund, weshalb das Bistro Fernando stets so gut besucht ist.

Der erste Morgenansturm ist bereits abgeebbt und einer sonderbaren Ruhe gewichen, da die meisten Menschen nun schon in der Arbeit sitzen, geschäftig ihren Zielen nachstreben, aufgepumpt mit Koffein und Transfetten. Unterdessen sitze ich hier und ertappe meine Wenigkeit abermals dabei, wie ich mich so manchen Tagträumen hingebe.

Ich weiß, dass ich daran arbeiten muss, denn meiner Karriere ist dies nicht gerade dienlich. Selbst wenn es sich bei diesem Job als Kellnerin nicht gerade um meinen Traumberuf handelt, so ist er nichtsdestotrotz eine gut bezahlte Übergangslösung, wenigstens bis ich einen passenderen Job gefunden habe.

»Die Tassen auf Tisch drei räumen sich nicht von selbst ab!«

Die krächzende Stimme meiner Chefin Camilla Theoden hinterlässt immer einen grauenvollen Nachklang in meinen Ohren, der meinen Geduldsfaden mittlerweile bis aufs Äußerste abgenagt hat. Die zwei jungen Mädchen sind doch gerade eben erst aufgestanden, denke ich insgeheim und frage mich, ob ich ihnen die Tasse beim Genießen des letzten Schluckes Tee direkt hätte entreißen sollen.

Dennoch möchte ich mich bemühen, sie nicht zu verärgern. Ich will meinen neuen Job schließlich nicht nach drei Wochen schon wieder verlieren. Ich presse schließlich die Lippen aneinander, streiche meine Schürze glatt und rufe ihr wie ein artiges Schulmädchen zu: »Natürlich, ich kümmere mich sofort darum.« Selbstverständlich setze ich dabei mein freundlichstes, möglicherweise ein klein wenig gekünsteltes Lächeln auf.

»Ach und Elsa?«, bellt sie aus ihrem Büro im hinteren Bereich des Bistros zur Theke hervor, wo ich mit zittrigen Beinen und pochendem Herzen auf die nächste Gemeinheit ihres bissigen Mundes warte. «Bei der Gelegenheit kannst du auch gleich die Serviettenspender auffüllen, aber beeil dich! Ich bezahle dich schließlich nicht fürs Nichtstun!«

Geknickt presse ich die Lippen aneinander, doch das Mahlen meines Kiefers ist kaum zu überhören. »Ja, natürlich.« Knapp, bemüht um einen möglichst neutralen Tonfall. Obwohl es mir alles abverlangt, trotz ihres mehr als gewöhnungsbedürftigen Kommunikationsgeschickes einen freundlichen Ton rauszubringen. Wenn sie mich noch einmal Elsa nennt, kann ich für nichts garantieren.

Wie schwer kann es bloß sein, sich jemandes Namen zu merken? Vor allem nach geschlagenen drei Wochen, auf den Tag genau, die ich jeden Morgen pünktlich hier erschienen bin und für acht Stunden ihre persönliche Sklavin gespielt habe. Am liebsten würde ich ihr eine Bratpfanne über den Kopf ziehen, oder ihr einmal ganz heftig meine Meinung geigen. Das darf die Schwelle meiner Lippen natürlich niemals überqueren. Zumindest nicht, wenn sich Cruella de Vils böser Zwilling in Hörweite befindet.

Einen tiefen Atemzug später springe ich auf und mache mich an die Arbeit, tue wie mir befohlen. Ich weiß, dass sie mich nicht leiden kann, aber das ist in Ordnung. Man kann sich nicht mit jedem verstehen. Solange sie es mir gestattet, neben ihr zu koexistieren und dem Job nachzukommen, für den sie mich schließlich engagiert hat, sollte ich mich glücklich schätzen, ein Dach über dem Kopf zu haben und meine Rechnungen bezahlen zu können.

»Na, da hast du dir aber ordentlich Zeit gelassen«, knurrt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie würdigt mich nicht einmal eines Blickes, als ich meinen Kopf todesmutig in ihr Büro recke, um ihr mitzuteilen, dass soweit all ihre Anweisungen erledigt seien. »Das wäre einstweilen alles«, bemerkt sie absichtlich gelangweilt. Mit einer wedelnden Handbewegung bedeutet sie mir, schleunigst wieder aus ihrem Büro zu verschwinden. Ein Befehl, der keinerlei Widerworte duldet.

Es fällt mir verdammt schwer, ihre fürchterliche Art nicht persönlich zu nehmen. Ich weiß, dass ich mich über sowas nicht ärgern dürfte, schließlich kann ich Camilla nicht ändern. Niemand würde das bewerkstelligen. Ich kann nur meine eigene Reaktion auf ihre Gemeinheiten beeinflussen.

Mit glühend pochenden Wangen ziehe ich mich erneut hinter der Theke zurück. Meinen Herzschlag kann ich bis ins Mark spüren. Als mich Camillas Worte einzunehmen drohen, schließe ich die Lider und atme tief ein und aus. Ein und wieder aus. Ein stetiger Rhythmus, auf den ich mich immer verlassen kann.

Das dumpfe Geräusch von ineinander verschwimmenden Stimmen gräbt sich in meine Ohren, ein dumpfes Rauschen wie von weit her. Jede Minute friedlicher Stille, in der ich nicht angebrüllt oder herumkommandiert werde, wird von mir mit offenen Armen willkommen geheißen. Erneut in Gedanken vertieft schwirren mir dabei Gretas Worte und ihre eindringliche Mahnung vor Camilla durch den Kopf.

»Bitte tu’s nicht«, hat sie mich mit gefalteten Händen angefleht. Bei Greta handelt es sich um meine Cousine, die mit mir in Sussex bloß zwei Straßen entfernt von meinem Elternhaus aufgewachsen und fürs Studium nach London gezogen ist. »Bitte tu dir das nicht an. Sie ist schrecklich, glaube mir das.« Fast schon mütterliche Fürsorge in ihrem Tonfall, obwohl wir ungefähr gleich alt sind. Doch offenkundig hatte meine Dickköpfigkeit eine undurchdringliche Mauer um mich herum erbaut, an der ihre warnenden Worte abgeprallt sind wie Pingpongbälle an einer massiven Steinwand.

Zwei Tage vor meinem ersten Tag im Bistro waren Greta und ich feiern, haben auf unsere beiden Studienabschlüsse und meinen neuen Job geprostet, sowie auf die aufregende Reise durch Südeuropa, die meine wunderschöne Cousine bereits von langer Hand geplant hatte. In den Monaten zuvor gab es kein anderes Thema. Eine frische weiße Leinwand hatte sich vor ihren Augen aufgetan, der sie sie neu zu bemalen voller Vorfreude und Angst zugleich entgegengesehen hat.

Während Greta vom Alkohol beflügelt lauthals rausposaunt hat, erheblich zu meinem Unbehagen beitragend, ich solle mir dreimal überlegen, ob ich mir von der Hexe die Seele aussaugen lassen wolle, habe ich mir einzureden versucht, Greta würde in ihrem Rausch bloß ein wenig übertreiben. Sie für ihre Person hatte den Job unter Camillas Herrschaft lange ausgehalten, ihr ganzes Studium um genau zu sein, bis sie ihn mir sozusagen direkt vererbt hat.

Aber Greta ist eine besonders starke Persönlichkeit. Sie lässt sich nicht so schnell von solchen Gemeinheiten unterkriegen. Mit jedem Tag, den ich hier im Bistro verbringe, zweifele ich zunehmend daran, für diesen Job gemacht zu sein. Doch aus irgendeinem Grund zwingt mich eine leise Stimme tief in mir drinnen dazu, noch nicht aufzugeben.

»Camilla hat mich mindestens genauso gehasst, wie alle anderen Kollegen und Kolleginnen auch, die nach der Reihe das Handtuch geworfen haben, wenn nicht sogar mehr, aber durch meine Art, mich durch ihre Sticheleien nicht kränken zu lassen, hat mir glaube ich eine gewisse Form von Respekt verschafft«, erinnere ich mich an ihre Erklärung damals, ein Glas Rotwein in der Hand schwenkend. Ihren Vorgängerinnen war es deutlich schlechter ergangen. Es schien für jeden von ihnen ein Unding, eine langfristige Karriere unter Camillas Terrorherrschaft aufzubauen.

Ehrlich gestanden besteht mitunter ein nicht unwesentlicher Grund, weshalb ich diesen Job noch nicht an den Nagel gehängt habe, im mehr als großzügig ausfallenden Trinkgeld der zahlungskräftigen Kundschaft. Und um die Wahrheit nicht unnötig zu dehnen, sei gesagt, dass ich das mit großer Freude bereits am ersten Tag getan hätte, doch die finanzielle Sicherheit, die mir dieser Job verschafft, hat mich letztendlich doch überzeugt, dem Ganzen eine richtige Chance zu geben.

Das Bistro Fernando ist in einer der besten Gegenden Londons lokalisiert, in Belgravia, einem von Londons Nobelbezirken. Die meisten Kunden sind Anzugträger, Businessmänner und Frauen in schicken Kleidern, hauptsächlich Anwälte und Immobilienmagnaten, die in der Nähe arbeiten und sich morgens auf die Schnelle ein Frühstück zu besorgen suchen. Für die meisten dieser Kunden und Kundinnen spielt Geld keine Rolle. Im Durchschnitt kann man mit zwanzig oder sogar dreißig Prozent Trinkgeld rechnen, wodurch sich mein bescheidenes Grundgehalt ordentlich aufstocken lässt. Und wenn man den dampfend heißen Becher dann noch mit einem freundlichen Lächeln serviert, greifen diese Menschen sogar oft noch tiefer in die Tasche.

Ich schiebe mein leicht angeknackstes Ego beiseite und versuche, an etwas Schöneres zu denken. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag ein wenig, als ich frischen Filterkaffee aufkoche und mich sein gewohnt köstlicher Geruch wie eine tröstende Decke einhüllt. Die Aromen der herben Röstung steigen in der warmen Luft auf und vermengen sich mit dem Duft aufgeschäumter warmer Milch, Zimt und Vanilleschoten. Gleichwohl der Herbst eindeutig noch eine Weile auf sich warten lässt, vermag dieser Umstand meine Geschmacksknospen dennoch nicht davon abzuhalten, das ganze Jahr über nach diesen harmonischen winterlichen Gewürzen zu gieren. Sie wecken schlichtweg zu viele schöne Erinnerungen an Zuhause, den tröstlichen Schoß der Familie und meine Kindheit.

Heute schreiben wir Mittwoch der letzten Augustwoche. Für gewöhnlich erwarten wir einen großen Mittagsansturm, unsere warme Küche kommt bei den Kunden dank Paul wahnsinnig gut an. Unter der Woche kann man außerdem Mittagsmenüs bestellen, die ein wenig günstiger sind, mit frischen und hauptsächlich regionalen Produkten.

Paul läuft gerade mit zwei Tellern in den Händen an mir vorbei, um einem älteren Ehepaar ihre Clubsandwiches zu servieren. Er ist der Koch und mein Verbündeter im Fernando. Ein vielsagendes Grinsen auf den Lippen kann weder er noch ich mir verkneifen, als wutentbrannte Flüche aus Camillas Richtung pfeifen.

»Die Tische beim Fenster gehören abgeräumt!«, schnarrt die mir durchaus bekannte krächzende Stimme aus der Hinterkammer, während ich gerade damit beschäftigt bin, einen Kunden zu bedienen.

Wie kann sie das nur immer so schnell bemerken? Hat sie etwa Augen in ihrem Hinterkopf, die wir Normalsterblichen nicht sehen können? Ich schwöre, ich würde so einiges dafür geben, ihr eine freche Antwort vor die Füße spucken zu können. Aber ich will diesen Job nicht verlieren, ich brauche ihn wirklich dringend. Wenigstens bis sich etwas Besseres ergibt.

Ich zucke zusammen und suche Pauls Blick, der den meinigen sofort mit rollenden Augen auffängt und sich an die ihm auf so freundliche Weise aufgetragene Arbeit macht.

»Ja, Miss Theoden! Ich bin schon dran«, antwortet er mit übertrieben aufgesetzter Höflichkeit und wirft mir einen vielsagenden Blick zu, dann murmelt er lautlos etwas auf Spanisch, was ich nicht verstehe, über dessen Bedeutung ich mir allerdings aufgrund seiner Mimik eine ganz passende Vorstellung zusammenreimen kann. Ich kichere lautlos und wende mich ab, damit ich nicht lautstark über die darauffolgende Impression, die er basierend auf Camillas eisiger Gestik zum Besten gibt, lospruste.

Pauls Mutter ist Spanierin, sein Vater kommt aus London. Er selbst ist gebürtiger Engländer, ist seiner spanischen Seite allerdings sowohl vom Äußeren als auch vom Inneren sehr verbunden. Seine braun gebrannte Haut gepaart mit den dunklen lockigen Haaren strahlen eine Attraktivität aus, derer sich kaum eine Frau erwehren kann. Ich habe das in den letzten Wochen genau beobachtet. Jedes Mal, wenn er mit diesen langen verführerischen Wimpern und seinem traumhaften, mit schneeweißen perfekten Zähnen untermalten Lächeln die Speisen serviert, schmelzen Kundinnen und Kunden gleichermaßen dahin.

Angesichts Camillas feindseliger Art bin ich überaus glücklich, einen Verbündeten an meiner Seite zu wissen. Mit dem lustigen und loyalen Paul als Unterstützung lässt es sich gut aushalten.

Wir beide führen allerdings eine rein platonische Beziehung, das war vom ersten Moment unserer Begegnung klar. Er erzählt mir immer von seinen Dates, während ich ihm wie gebannt an den Lippen hänge. Er ist schon ein ziemlicher Aufreißer, aber er wäre auch ein wundervoller fester Freund, wenn man danach urteilt, wie liebenswert, lustig und rücksichtsvoll zu mir und seinen Mitmenschen ist. Er hat mir sogar erzählt, dass er seit kurzem ein Mädchen trifft, mit dem es irgendwie gefunkt hat. Sie haben sich schon einige Male getroffen, und er meinte, es könnte sogar mehr daraus werden. Ich würde es ihm auf alle Fälle mehr als wünschen.

Ein flüchtiger Blick auf meine Armbanduhr verrät mir das baldige Ende meiner Schicht. Ich kann es kaum erwarten, dass Lindsay mich endlich für den Spätdienst ablöst.

Obgleich der heutige Arbeitstag bisher ruhiger als sonst verlief, kann ich nicht umhin, eine beinahe lähmende Müdigkeit meine Wirbelsäule hinaufkriechen zu spüren. Ich glaube, die scheußliche Art von Camilla, wie sie mit mir und eigentlich allen Untersetzten umgeht, macht meiner empfindsamen Seele weit mehr zu schaffen, als ich zuzugeben wage.

Lediglich Paul scheint mit Camillas Schreckensherrschaft ohne Probleme klarzukommen. Manchmal beobachte ich ehrfürchtig, wie unkompliziert er mit ihr umgeht und ihren Garstigkeiten Retourkutschen entgegenbringt, die vor Wortgewandtheit und Schlagfertigkeit nur so strotzen, und dennoch in einer höflichen Form verpackt sind, um ihm keinen Strick daraus drehen zu können. Eigenartig finde ich daran aber, dass Camilla ihm diese frechen Seitenhiebe durchgehen lässt. Entweder sie ist selbst nicht immun gegen seinen Charme, oder sie versteht ihr Business einfach gut und weiß, dass Paul einer der besten Köche ganz Londons ist und sofort das Etablissement verlassen würde, würde sie ihm blöd kommen. Das Boeuf Bourguignon, das er auf dem Herd zaubert, schmeckt derart herrlich, dass mir jedes Mal bereits das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn ich ihn bloß beim Schneiden der Karotten ertappe.

Ich setze frischen Filterkaffee auf, der neuerdings von vielen Menschen gegenüber dem italienischen Automatenkaffee bevorzugt wird, während sich Paul für eine Zigarettenpause in den Hinterhof zurückzieht. Derweilen wandern meine Augen im hellen, Licht durchfluteten Raum umher und bleiben an einer älteren Dame hängen, die mit ihrer zerschlissenen Handtasche und einem grünen Sommerhut auf einer Sitzbank vor dem Bistro sitzt, die Hände im Schoß gefaltet, den Blick unergründlich in die Ferne gerichtet.

Ich ziehe mich auf den Hochstuhl hinter der Theke zurück. Dort befindet sich der für mich einzige Zufluchtsort, um mich vor dem feindlichen Einfluss aus dem Hinterzimmer mit dem Namen Camilla Theoden abzuschirmen. Während der Kaffee geräuschvoll blubbernd kocht und der herbe Geruch in meiner Nase wabert, zücke ich das Notizbuch und einen Stift aus meiner Hosentasche.

Augenblicklich lasse ich meine gesamte Umgebung hinter mir. Sie zieht an mir vorbei, streift dabei mit kalten Krallen über meine Haut, als wolle sie sich mit aller Kraft an mich heften. Doch ich kann nichts anderes tun, als tatenlos dabei zuzusehen und die sofortige Erleichterung zu genießen, die damit einhergeht. Die meinen Körper durchzuckt wie das elektrisierende Gefühl, nach einer langen Zeit wieder das salzige Meerwasser auf der Haut zu spüren. Sobald der Stift seinen Weg in meine Hand findet, ist es, als würde ich dem Alltag und dem grauen, schnelllebigen Treiben entfliehen, stattdessen in eine Welt voller Farben, Glückseligkeit und Lebendigkeit eintauchen. Ich spüre es in jeder Pore meines Wesens, die Intimität und Bedeutung dieser Momente. Die endlose Freude, die tief in mir drin aufzüngelt wie loderndes Feuer.

Eingehend mustere ich die zierliche, gebrechliche Gestalt der Frau vor meinen Augen. Als sich eine neugierige Krähe der Bank nähert, greift sie in die Tasche und wirft dem Vogel ein paar Brotkrümel zu. Gierig pickt die Krähe die Spende auf und hüpft aufgeweckt zwischen den Beinen der Dame umher. Ihr ohrenbetäubendes Krächzen hallt durch die sonnenbeschienenen Fenster des Bistros.

Als Nächstes fällt mein Blick auf das Gesicht der alten Dame. Ihre Mundwinkel und Augen werden von zarten Fältchen gesäumt, die wie tiefe Schluchten über ihre Haut ziehen, als ihr der Anblick der schnabulierenden Krähe ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ihre grauen Haare sind unter dem Hut zu einem strengen Dutt verknotet. Aufmerksam betrachte ich ihre langen, dünnen Finger, die ein wenig zittern, als sie nach und nach weitere Brotstückchen abreißt, um sie abermals der Krähe vor die Füße zu werfen. Es ist schwierig einzuschätzen, wie viele Jahre die Frau bereits auf ihrem Rücken trägt, doch die Falten und bräunlich gefärbten Altersflecken ihres Handrückens lassen erahnen, dass es mindestens siebzig Jahre sein müssen.

Ich kann nicht umhin, den Bleistift anzusetzen und damit zu beginnen, die Frau in ihrer Essenz auf einem Blatt Papier einzufangen. Es ist wie ein Reflex, ein ureigener Instinkt, den ich nicht zu kontrollieren weiß. Die meiste Zeit passiert dies beinahe ohne mein Zutun. Meine Finger verselbständigen sich und suchen einer Tätigkeit nachzukommen, die mich vollkommen einnimmt, mich in eine schimmernde Hülle einwickelt, um mich vor der Welt und all ihren negativen Einflüssen abzuschirmen. Wenn ich in dieses hellere, beflügelte Land eintrete, ist es, als würde ich jeglichen schweren, dunklen Ballast von meinen Schultern abwerfen, und der Kunst erlauben, gleichzeitig meine eigene innerste Essenz zutage zu fördern.

Sorgsam beginne ich die Umrisse zu zeichnen, reibe mit dem Mittelfinger darüber, um eine gewisse Weichheit in ihre Gestalt zu bekommen. Mit dem dreckigen Finger streiche ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die mir beim Inspizieren der Frau lästig ins Gesicht hängt. Wie im Nu habe ich einen Rohdiamanten erschaffen, der noch einiges an Feinarbeit bedarf.

Doch da fängt der ganze Spaß erst an.

Völlig unvermittelt trampelt ein Mann mittleren Alters an ihr vorbei, in einem überteuerten Anzug gekleidet, das Handy ans Ohr geheftet. Als er registriert, wie die alte Dame den Vogel füttert, holt er mit dem Fuß aus und tritt nach dem armen Vieh. Er probiert es allerdings nur einmal. Der Vogel weicht ihm gekonnt mit hüpfenden Bewegungen aus und konzentriert sich dann geradewegs wieder auf sein Festmahl. Wutentbrannt verzieht der Mann das Gesicht. Er öffnet den Mund und sagt irgendetwas, das ich nicht verstehen kann. Lippenlesen zählt leider noch nicht zu meinen Fähigkeiten, wobei es mir in der Vergangenheit durchaus das ein oder andere Mal von Nutzen hätte sein können.

Mit Argusaugen verfolge ich weiter das Spektakel vor dem Bistro. Dabei entgeht mir fast, wie meine Hände geflissentlich weiter ihrer Arbeit nachgehen, etwas Neues, Lebendiges schaffen. Es versetzt mir einen Stich in der Brust, als der Mann zuerst der Dame und dann dem gefiederten Tier einen verächtlichen Blick zuwirft. Er schüttelt angewidert den Kopf und zischt ihr im Vorbeigehen irgendetwas nach, die wedelnden Hände dabei zornig in die Luft gereckt.

Erneut gilt meine Aufmerksamkeit dem Gesicht der alten Dame. Bei ihrem Anblick keimt eine Woge Mitleid in mir auf, wie sie dasitzt, friedlich und genügsam, offensichtlich nur glücklich darüber, einem hungrigen Lebewesen Futter geben zu können. Unbewusst durchforste ich ihre Züge nach Zeichen von Zorn oder Trauer eingedenk der Ungerechtigkeit, die dieser Mann an den Tag legt, doch ich kann nichts dergleichen erkennen. Ihre hellbraunen Augen blicken dem Mann für einen kurzen Moment nach, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das schwarz gefiederte Lebewesen richtet und unbeeindruckt portionierte Stücke vom Brot abreißt, diese der Krähe vor die Füße wirft.

Als hätte sie von der Störung keinerlei Notiz genommen.

Als könne diese Form von Bösem in ihrer Wahrnehmung gar nicht existieren.

Ihre dünnen, trockenen Lippen formen ein Lachen. Über die reife, sonnengegerbte Haut legt sich ein wunderschöner Schleier aus Frieden und Glückseligkeit. Die hellbraunen Augen funkeln wie glänzende Kastanien. Sie registriert gar nicht, wie eingehend ich sie betrachte und dabei vor Ergriffenheit kaum atmen kann. In meiner Brust verknotet sich etwas, während ich das Bild vor meinen Augen aufs Papier bringe, wie sie auf dieser Parkbank sitzt, scheinbar gänzlich sorgenlos und unabhängig in ihrer Gefühlswelt wie ein Vogel. Frei von dem erdrückenden Weltschmerz, der den menschlichen Abgründen der Boshaftigkeit innewohnt.

Konzentriert blicke ich zwischen dem Blatt Papier und meinem auserwählten Modell umher, sauge unbewusst die Unterlippe ein und beiße darauf herum, was ich scheinbar immer zu tun pflege, wann immer ich fokussiert arbeite. Zumindest macht mich Timo, mein Mitbewohner und bester Freund, immer darauf aufmerksam. Ich male und wische, kreiere und bewahre, befinde mich in einer Art Trance, gebe mein Bestes, den Moment einzufangen, der in meinen Augen an Perfektion nicht zu überbieten ist. Die Schönheit und Reinheit des Duos, die inmitten der düsteren Umgebung wie durch ein unsichtbares Schild in ihrer puren Unschuld konserviert zu werden scheint.

Während die Krähe die letzten Krümel Brot verspeist, vergräbt die Dame ihre gefalteten Hände im Schoß. Ihre Augen strahlen pure Freundlichkeit aus und funkeln zufrieden gen Himmel. Sie seufzt auf die Art, wie es eine stolze Mutter beim Anblick ihres Kindes tut, das gerade seinen Schulabschluss absolviert hat. Ein genügsames Lächeln zeichnet sich auf ihren Zügen ab.

Herzzerreißend.

Formvollendet.

Wunderschön.

»Was soll das werden?«, reißt mich Camilla aus meinen Tagträumen. Vorbei mit den Farben, der Glückseligkeit und Lebendigkeit. Rasiermesserscharf schneidet ihre Stimme in meine Gefühlswelt, reißt ein abgrundtiefes Loch in die Eintracht, die mich vor wenigen Sekunden noch durchflutete.

»Wenn dir langweilig ist, hätte ich eine Aufgabe für dich.« Ihre Stimme klingt freundlicher als sonst. Okay, freundlich ist vielleicht übertrieben. In ihrem Tonfall schwingt bloß weniger Ekel mit, als ich es von ihr gewohnt bin.

Bevor sie erkennen kann, was ich da gerade mache, ziehe ich das Stück Papier vor ihrer Nase weg und verstecke es unter lose auf der Theke herumliegenden Rechnungen. Sie kräuselt die Lippen und verengt die Augen zu bösartigen Schlitzen. Schwer zu sagen, ob sie das registrierte, doch ich springe vom Stuhl auf und wische mir die Hände an meiner Schürze sauber.

»Oh, ja ... ich meine, sehr gerne. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Miss Theoden?«, überspiele ich den unangenehmen Moment und bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Das Letzte, was ich vorhabe ist, mich von ihr ins Bockshorn jagen zu lassen. Dann setze ich das freundlichste und gleichzeitig künstlichste Lächeln auf, das meine Züge zustande bringen und stehe wie angewurzelt da, warte auf den nächsten Befehl aus ihrem kalten Gesicht, von dem ich sicher bin, dass er zeitnah folgen wird.

»Hier unten steht eine Schachtel mit Süßstoff- und Zuckerpäckchen.« Mit ihren perfekt manikürten Fingern deutet sie auf den Schrank unter der Kaffeemaschine und bedeutet mir mit einer abschätzigen Geste, ihn in ihrem Beisein zu öffnen. »Die müssen geordnet werden. Kriegst du das hin?« Der dunkel glühende Hass in ihren Augen springt mir förmlich entgegen. »Oder muss ich dir hierfür eine eigene Einführung geben?«

Es gibt Momente im Leben, in denen ich liebend gerne eine dicke Cremetorte mit vollem Karacho in jemandes Gesicht versenken würde. Und das ist definitiv einer solcher Momente.

Eine Welle giftigen Zorns tost durch meinen Körper. Mit zusammengebissenen Zähnen balle ich beide Hände zu Fäusten. Die Arme starr an beide Flanken gepresst nicke ich bloß betreten, unfähig eine neutrale Antwort zu formulieren. Ich darf mir meinen Unmut auf keinen Fall anmerken lassen, also entscheide ich mich zu schweigen. Die sicherste Option.

Mit pochender Hitze in den Schläfen wende ich mich der Schachtel zu, um dem Auftrag nachzugehen. Oder eher der Beschäftigungstherapie. Heimlich spreche ich ein Gebet aus, sobald sie sich umdreht und mich mit den Zuckerpäckchen allein lässt.

»Ach ja, noch etwas«, ertönt es erneut aus Camillas Kehle, als sie auf dem Absatz kehrt macht und in einer bedrohlichen Bewegung zu mir herumwirbelt. Sie presst die Lippen zu einer geraden Linie zusammen und streicht mit den langen knöchernen Fingern die Tischkante nach, ihre Augenbrauen kampflustig stirnwärts gezogen. »Ich erwarte eine vernünftige Arbeitskleidung, wenn du in meinem Etablissement zu arbeiten gedenkst«, züngelt sie in einem sogar für ihre Verhältnisse ungewohnt boshaften Ton. »Und das hier«, sie zeigt mit dem knöchrigen Zeigefinger missbilligend an meiner Kleidung auf und ab, »entspricht nicht diesen Erwartungen.« In einer schlangenartigen Drehung wendet sie sich von mir ab, lässt ihren Worten noch ein verachtendes Schnauben folgen. »Unsere Kundschaft erwartet ein gepflegtes und vor allem elegantes Auftreten«, zischt sie zähneknirschend.

Heiße ungeweinte Tränen brennen in meinen Augen. Beschämt blicke ich an mir hinunter und spüre, wie mir die Schultern einsinken, als ihre Worte die volle Wirkung in meiner Mitte entfalten.

Ich kann ihre Kritik beim besten Willen nicht nachvollziehen. Jetzt arbeite ich schon volle drei Wochen hier, zudem trage ich jeden Tag ungefähr die gleiche Art von Kleidung. Noch nie zuvor hatte sie etwas daran auszusetzen. Abgesehen davon habe ich die bunte Blumenbluse aus Seide und den schwarzen Faltenrock schon zweimal getragen, und sie hatte nichts auszusetzen. Nun gut, die weißen Sneakers sind vielleicht nicht die allerbeste Kombination, aber was soll’s. Die braune Schürze mit dem gelb-blauen Logo verdeckt ohnedies den größten Teil meines Outfits.

Warum gerade jetzt? Woher kommt ihre plötzliche Wut? Vielleicht hat sie ja doch mitbekommen, dass ich schon wieder während der Arbeitszeit gezeichnet habe. Andererseits hätte sie mich dafür auch direkt rügen können, ohne den Umweg über mein Erscheinungsbild zu wählen. Vielleicht ist Camilla heute auch einfach nur besonders schlecht aufgelegt, noch mehr als sonst, falls die Naturgesetze das zulassen.

Blut strömt in meine Wangen, lässt sie förmlich erglühen. Die zitternden Finger verberge ich, indem ich die Hände erneut zu Fäusten balle.

Kaum hat sie den Satz beendet, verschwindet sie schon wieder hinter dem grauen Vorhang in ihrem Büro.

Erleichtert atme ich aus.

Jedes Mal, wenn sie den Raum verlässt, dünkt mir, eine bleierne Last falle auf einen Schlag von meinen Schultern ab. Geräuschvoll schnaufend stütze ich mich auf den Knien ab und schließe die Augen, erinnere mich daran, wer ich bin und was ich hier tue, insbesondere dass mein Selbstwert nicht von ihrer oder sonst jemandes Bestätigung abhängt. Dieser Trick entstammt dem Oberstübchen meines Vaters. Und ich schwöre bei Gott, er hat mich noch nie im Stich gelassen. In diesem Augenblick klammere ich mich so verzweifelt daran wie an einen Strohhalm inmitten des weiten Ozeans.

Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, was Camilla wohl in ihrem kurzen Leben zugestoßen war, dass sie sich zu so einem Menschen entwickelt hat. Das kann nichts anderes als ein Schutzmechanismus sein. Ich weigere mich vehement, Gegenteiliges zu glauben. Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen, dass sie ohne jeden Grund so ist, wie sie eben ist. Kein Mensch ist grundlos gemein und gefühlskalt. Vielleicht, und allein bei dem Gedanken daran schnürt sich meine Brust zusammen, hat man sie zu dem gemacht.

Ich benötige ein paar Augenblicke, bis ich mich wieder fange und die Kontrolle über meine Beine zurückerlange. Ich stemme die Hände in die Hüfte, schließe nochmals für einen Moment die Augen, ehe ich mich ans Werk mache. Mit Kraft hebe ich die schwere Kiste aus dem Regal, entscheide mich dafür, sie auf dem Boden stehen zu lassen und von dort aus zu sortieren.

Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüstert mir unterdessen amüsiert zu, dass Camilla mir im Falle eines Bandscheibenvorfalls wohl nicht frei geben würde.

Mit leicht brennenden Oberschenkeln hocke ich also vor der riesigen Schachtel rosa und weißer Päckchen, die ich jeweils nach Kaloriengehalt separieren soll. Die Süßstoffpäckchen fummele ich aus dem Haufen Papiersäckchen heraus und lege sie in einen anderen leeren Papierkarton, um später die Zuckerschälchen auf den einzelnen Tischen mit der neuen Ware aufzustocken.

Jäh zerrt das schrille Klingeln der Türglocke an meiner Aufmerksamkeit und lässt meinen Blick zum Eingang schweifen, doch ich bin zu klein, um von meiner hockenden Position aus über die Theke linsen zu können.

»Bin gleich bei Ihnen«, begrüße ich die Kundschaft und schiebe die zwei Kartons zur Seite. Ich klopfe meine Schürze glatt, auf der etwas Kristallzucker hängen geblieben ist und rappele mich stöhnend auf.

Ich muss dringend öfter Sport machen und meine Beinmuskeln trainieren.

»Guten Tag«, stößt der Mann, der in dem Augenblick die Türschwelle überschritten und meine Person in derselben Sekunde anvisiert hat, mit rauchiger, dunkler Stimme aus.

Der schönste Mann, den ich je gesehen habe.

2 ELINA

Unter der mächtigen Gestalt des groß gewachsenen, jungen Mannes scheint der ohnehin schon spärliche Raum noch mehr zu schrumpfen. Der unwahrscheinlich attraktive Gast, wie es mir nur sehr beiläufig durch den Kopf schießt, schließt die Glastür sorgsam hinter sich, wendet sich mir dann in einer geschmeidigen und unvergleichlich eleganten Bewegung zu, bis seine Augen meine direkt durchbohren.

Mit einem Mal habe ich das Gefühl, als würde mir die Stimme den Hals runterrutschen und mit einem gewaltigen Plumps in der Magengegend zu liegen kommen. Ich öffne den Mund, bin jedoch der Fähigkeit beraubt, irgendeinen eloquenten Ton zu formen. Stattdessen räuspere ich mich und bedeute ihm mit einer einladenden Handbewegung einzutreten. Da fällt mir auf, dass er eigentlich schon mitten im Raum steht, und fahre die Hand verlegen durchs Haar, um diese Peinlichkeit zu überspielen. Im Stillen bete ich, dass er davon nichts bemerkt hat.

»Guten Morgen«, erwidere ich schließlich seine Begrüßung, mehr ein Hauchen im Wind als artikulierte Worte.

Stumm bleibt er an der Theke stehen, stützt sich mit den Händen ab und mustert mich, wobei eine verblüffte Miene in sein Gesicht gleitet.

Ein Gesicht, von schmerzlich überirdischer Schönheit gezeichnet.

Seine Finger gleiten geräuschlos an der Kante entlang, ehe er eine Hand ans Kinn führt und die Finger nachdenklich über seine Konturen streichen lässt. Wie hypnotisiert folge ich jeder seiner mühelos anmutigen Bewegungen, bis er die Lider zu Schlitzen verengt und mir mein unangebrachtes Verhalten vor Augen führt. Peinlich berührt wende ich den Blick ab und wische mit dem Küchentuch über einen unsichtbaren Fleck.

»Ich meinte, guten Abend … Tag. Darf ich Ihnen ... ich meine, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, frage ich mit heiserer Stimme.

»Sie sind neu hier«, stellt er entschieden fest und hebt eine Augenbraue, offenbar entschlossen, meine Frage zu ignorieren. Eisernes Selbstbewusstsein strömt durch jede seiner Poren. Mir entgehen die verstohlenen Blicke aus der Richtung der belegten Tische keineswegs. Keine zwei Minuten befindet er sich im Bistro und schon beherrscht er den ganzen Raum, bewaffnet lediglich mit einer überirdischen Ausstrahlung.

»Ja«, murmele ich und runzele die Stirn, sichtlich überrascht über den brüsken Tonfall, »ich arbeite hier seit… « Ich halte für einen kurzen Augenblick inne und überlege angestrengt, sauge sodann deutlich vernehmbar Luft ein, »ich habe vor drei Wochen hier angefangen.« Aus irgendeinem Grund spüre ich unangenehme Hitze in meine Wangen aufsteigen, die sich zweifelsohne mit scharlachrotem Kielwasser darauf erkennbar macht. Am liebsten würde ich auf der Stelle im Erdboden versinken.

»Dachte ich mir schon«, entgegnet er mit einem süffisanten Grinsen, beide Ellbogen dabei auf den Tresen gestützt. Seinen Kopf reckt er einige Zentimeter in meine Richtung, entblößt dabei einen langen, eleganten Hals.

Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, dem so viel Anmut und Grazie innewohnt, wie dem Mann vor mir mit einem Gesicht, das wie aus Veilchenknospen und Honig geformt zu sein scheint. Mir fallen mir sofort seine durchdringenden mahagonibraunen Augen auf, die von langen, dichten Wimpern gesäumt werden. Seine dunklen, beinahe schwarz erscheinenden Haare schimmern in verschiedenen gold-braunen Nuancen, als die späten Sonnenstrahlen durchs Fenster strömen und auf seinem Haupt ihr Ziel finden. Als hätte das Licht seit jeher nur auf diesen einen Moment gewartet.

Widerspenstig fällt ihm das glänzende Haar in natürlichen Wellen um die Schläfen, umrahmt sein Gesicht und bringt seine markant geschnittenen Konturen zur Geltung. Intuitiv huscht meine Aufmerksamkeit zu seinen pfirsichfarbigen Lippen. Voll und ausdrucksstark sitzen sie unter der großen geraden Nase. Ein dezenter Glast tanzt darauf, als hätte er gerade mit der Zunge darüber geleckt. Umrandet werden sie von einem dichten Dreitagebart, dessen Anblick in meinen Handflächen ein merkwürdiges Kribbeln hervorruft.

Für einen Moment trügt mich das Gefühl, die Zeit steht still. Eine Sekunde seines prüfenden Blickes auf mir und ich könnte schwören, dieser Moment dauert Stunden an. Mein Gesicht fühlt sich mit einem Mal vollkommen blutleer an. Ich muss wohl zu schnell aufgestanden sein, versuche ich mir das ziehende Gefühl in meiner Magengegend zu erklären.

»Alles in Ordnung?« Seine Worte reißen mich aus meinem Gedankenkino. Der Tonfall ruhig, aber bestimmt. Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine kleine Falte, während er den Blick für keine Sekunde von mir nimmt.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihn mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck anstarre und schlage augenblicklich die Augen nieder. Mühselig schlucke ich den Kloß herunter, der sich beim Anblick dieser wunderschönen Kreatur in meinem Hals gebildet hat. Ich balle die Hände zu Fäusten und trete mir gedanklich in den Hintern. Reiß dich zusammen, denke ich und setze ein mehr krampfartig als gewolltes Lächeln auf, versuche unterdessen die Nervosität abzuschütteln wie einen nassen Umhang.

»Ja, natürlich«, antworte ich mit gespannten Kiefermuskeln. Ich straffe das Kinn und schiebe die Schulterblätter zusammen. »Wieso auch nicht?« Ein kläglicher Versuch, eine Prise gelöste Lässigkeit in meine Stimme zu schmuggeln.

Wem mache ich eigentlich etwas vor? Selbst das ergänzende Schulterzucken und der absichtlich gelangweilte Tonfall vermögen niemanden zu täuschen.

»Was darf es sein?«, frage ich schließlich, unfähig, den Blick von diesem schönen Geschöpf zu wenden, »Blaubeermuffins gibt es heute zum halben Preis, wenn Sie auch einen Cappuccino nehmen.«

Mein Herz schlägt rasend schnell, während er sich mit unerträglicher Zärtlichkeit durchs Haar fährt. Unsere Köpfe befinden sich keinen halben Meter voneinander entfernt. Essenzen seines Duftes von Vanille und Lavendel schwängern die schwere Luft zwischen uns. Ich verdächtige sein Shampoo als den mutmaßlichen Übeltäter.

»Die Blaubeermuffins schmecken wirklich toll. Wenn Sie mich fragen, zählen Blaubeeren überhaupt zu den besten Obstsorten aller Zeiten. Roh schmecken sie schön kalt und erfrischend mit der perfekten Portion Süße, aber wenn man sie erst wärmt … Mann o Mann, dann verwandeln sie sich in diese zuckersüße, umwerfende Mixtur, die mit dem Zimt und gehackten Haselnüssen kombiniert zu einem formvollendeten Teig werden, dessen Geschmack an Göttlichkeit kaum zu übertreffen ist.«

Der junge Mann blickt mich ganz verdutzt an, ein amüsiertes Grinsen kitzelt seine Mundwinkel. Er leckt sich kurz über die sinnlich geschwungenen Lippen, wobei weiße, ebenmäßige Zähne zum Vorschein treten. Er trägt ein weißes TShirt und eine schwarze Jeans, die sich wie angegossen um seine langen Beine legt. Eine braune Lederjacke umschmeichelt seine breiten Schultern, abgewetzte Converse Chucks runden die legere Erscheinung ab.

»Oder möchten Sie unsere frisch gebackenen Zitronen-Mohn-Muffins probieren?«, schwafele ich weiter, unfähig, sein gedehntes Schweigen zu ertragen, »Blaubeeren schmecken toll und alles, aber alle Teigwaren mit Zitronengeschmack sind einfach der Hammer. Ich dachte früher immer, dass das gar nicht passen würde, weil Zitrone doch eigentlich sauer schmecken sollte, wissen Sie? Aber dann habe ich einmal ein kleines Stück Zitronenkuchen gekostet. Okay, es war vielleicht nicht ganz so freiwillig, aber ich habe alle meine Vorurteile der Zitrone gegenüber sofort zurückgenommen. Ich habe mich richtig mies gefühlt. Die arme Zitrone kann ja nichts für ihr Dasein als saures Obst. Hat sie sich doch auch nicht ausgesucht, Babys die Tränen in die Augen zu treiben, nicht wahr?« Bei dem Gedanken an die Videos von Kindern, die nach dem ersten Genuss von purem Zitronensaft die entsetzlichste aller Schnuten ziehen, stoße ich ein unwillkürliches Lachen aus.

»So einen trübseligen Ausdruck kann man wohl schwer fälschen, denken Sie nicht auch?« Ich werfe den Kopf in den Nacken und lasse den anflutenden Lachsalven freien Lauf, doch urplötzlich wird mir Camillas Präsenz in ein paar Meter Entfernung schmerzlich bewusst, woraufhin ich meine Kinnlade mit sofortiger Wirkung zuklappe.

Der Mann mir gegenüber inspiziert mich unentwegt mit Argusaugen, doch ich meine das Bemühen um ein unterdrücktes Lachen erkennen zu können. Er legt den Kopf schief, kräuselt die Lippen und stützt sich weiterhin mit den Ellbogen am Tresen ab. Dann streicht er sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr, zieht es allerdings weiterhin vor, seinem augenscheinlich gerade abgelegten Schweigegelübde treu zu bleiben.

Wenn all die Contenance dieser Welt in einem kompakten Medium zusammengefasst werden könnte, so fände sich dies zweifelsfrei in diesem makellosen Gesicht.

»Oder wie wäre es mit einem Frischkäse-Bagel?«, durchschneide ich die knisternde Stille. »Etwas Warmes kann ich Ihnen auch anbieten? Bei uns gibt es das beste Boeuf Bourguignon in ganz London, Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.« Ich sehe zu, das dümmliche Grinsen zu unterdrücken, das sich mittlerweile auf meinem Gesicht ausgebreitet hat wie Raureif, allerdings keine Anstanden macht, sich in näherer Zukunft zu verabschieden. Um seine Aufmerksamkeit von mir zu lenken zeige ich in Richtung der Vitrine, wo Muffins, Croissants und alle anderen Leckereien aufgebahrt liegen. Doch selbst für die Sekunden, die er den Blick von mir wendet, um die von mir angepriesenen Bäckereien zu begutachten, spüre ich sein sonderbares Interesse auf mir wie eine warme, blumige Sommerbrise.

»Wir können auch alles ein paar Sekunden in der Mikrowelle erhitzen. Das katapultiert den Geschmack der Backwaren in komplett andere Dimensionen, glauben Sie mir«, erkläre ich in einem möglichst professionellen Ton, als hätte ich die Lehre von Backwaren studiert. Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, schäme ich mich eingedenk meiner Unbesonnenheit.

Gedankenverloren fährt er sich erneut durchs Haar und blickt mir unter seinen dichten, prominenten Brauen hervor tief in die Augen, die Mundwinkel zucken immer noch in Andeutung eines Schmunzelns. Die warme Nachmittagssonne taucht seine Haare in einen Farbtopf tausend verschiedener Nuancen, so wunderschön anzusehen, dass es mir die Sprache verschlägt. Nur mit Mühe widerstehe ich dem Drang, mich über den Tresen zu lehnen und die Finger durch dieses seidig glänzende Haar zu fahren, sein geschmeidig samtiges Gefühl auf meiner nackten Haut zu fühlen.

Bin ich froh, dass er meine Gedanken nicht lesen kann, schießt es mir unvermittelt durch den Kopf. Insgeheim hoffe ich schwer, dass sich die explosiven Vernetzungen meiner Synapsen, die sich in diesem Moment in meinem zentralen Nervensystem abspielen, nicht unfreiwillig auf meinen Zügen abzeichnen. Es verlangt mir wahrlich alles ab, eine teilnahmslose Miene aufzusetzen.

»Wir bieten sie nur für kurze Zeit an. Alle Zutaten sind natürlich aus biologischer Landwirtschaft«, informiere ich ihn, während sich meine Kehle auf einmal unangenehm trocken anfühlt. Fast wie von außen höre ich mir beim Schwafeln zu, muss mir daraufhin innerlich an die Stirn fassen. Ich fühle mich wie ein Idiot, doch ich kann einfach nichts daran ändern. Mein Mund scheint seinen eigenen Willen zu haben, der losgelöst und nicht mehr unter der Kontrolle meines Geistes zu stehen scheint.

Warum sagt er bloß nichts? Er steht nur da, betrachtet mich eingehend und gewährt meinem ausschweifenden Bericht über Blaubeermuffins und Boeuf Bourguignon alle Bühne.

Als ich mir auf die Lippe beiße und das Wort gezwungen abschneide, richtet er sich langsam auf, rollt jeden Zentimeter seiner beachtlichen Körpergröße auf einer unsichtbaren kerzengeraden Schnur aus, um tief Luft zu holen. Dann vergräbt er eine Hand mit einem tiefen Knurren in seiner Hosentasche.

»Mein Name ist Leopold«, stellt er sich mir vor und hält mir die andere Hand hin. Offenbar hat er sich dafür entschieden, meine Angebote zu ignorieren. »Leopold Cullingham.« Er hebt ein wenig die Brauen und kräuselt die Lippen. »Und Sie sind?«

Wie hypnotisiert recke ich die rechte Hand, folge dem Ruf der seinen. »Ich bin ... ich meine, mein Name ist ...« Ich lege meine Hand in die seine und spüre augenblicklich ein Knistern, das mir ohne Umwege bis in die Knochen schnellt.

Das Gefühl einer Offenbarung.

Mit dem Daumen streicht er kaum merklich über meinen Handrücken, den Blick stets an mich geheftet. Seine Finger umhüllen meine Hand, üben nur ganz leichten Druck darauf aus.

»Elina«, vollende ich leicht verdattert den Satz und löse mich aus seinem Griff, ehe sich meiner Kehle ein gedehntes Seufzen entringt.

Wieder steigt mir dieser Duft von Vanille und Lavendel in die Nase, wodurch ich Mühe habe, einen klaren Kopf zu bewahren. Unter seinem penetranten Starren wird mir ganz unbehaglich zumute. Meine Stimme scheint auch nicht die meine zu sein. Sie wirkt fremd. Unvertraut. Wie ein entfernter Cousin, den man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich meinen Kopf leicht gebückt halte. Ich recke das Kinn und ziehe die Schulterblätter zurück, strecke dabei die Muskeln meines gesamten Oberkörpers.

Für einen kurzen Moment scheint die Zeit wie zäher Kaugummi in die Länge gezogen zu werden. Ein paar wenige Sekunden, seine durchdringenden mahagonibraunen Augen, die mich unter der gerunzelten Stirn heraus mustern und zu lesen suchen. Das geheimnisumwitterte Zucken um seine Mundwinkel.

All das und dann doch wieder nichts.

Ich werde nicht ganz schlau aus seiner Körpersprache und seinem Verhalten. Will er nun einen Muffin oder wieso starrt er mich so an?

»Sie dürfen mich gerne Elina nennen«, füge ich schließlich mit einem flüchtigen Blick über die Schulter hinzu. Ich werfe das Haar zurück und wage einen erneuten Blick in das imposante Gesicht, in dessen Züge sich nun ein wenig Weichheit geschlichen hat. Seine Augen funkeln mich belustigt an, das Zucken seiner Mundwinkel sticht nun klar und deutlich hervor.

»Darf ich Ihnen nun einen Kaffee oder sonst etwas anbieten?« Aus irgendeinem Grund beschleicht mich das Gefühl, Camilla könnte mich beobachten. »Wir haben heute sogar noch ein paar Wraps vom Mittagsmenü übrig, wenn Sie daran Interesse haben«, sage ich absichtlich in einem ausgesprochen lauten Tonfall, damit Camilla keine falschen Schlüsse zieht. Sie soll nicht denken, ich sei ein Faulpelz und vernachlässige meine Arbeit.

Unwillkürlich wandert mein Blick zu den samtenen Lippen, die einen schmalen Spalt breit geöffnet sind. Eine seiner Haarsträhnen rutscht trotz mehrmaligen aus der Stirn Streichens widerspenstig in sein Gesicht, kitzelt unterdessen seinen Augenwinkel, wie sich unschwer an dem Blinzeln erkennen lässt.

Nichtsdestotrotz scheint er in Sachen Frisur von irgendeiner hohen Gottheit gesegnet worden zu sein. Ich habe keine Ahnung, was dieser Mann für ein Shampoo verwendet, oder ob er sich jeden Tag von einem persönlichen Stylisten die Haare frisieren lässt, doch die Art, wie diese im Licht goldig schimmern und bei jeder seiner Kopfbewegungen anmutig fallen und perfekt zu liegen kommen, weckt beinahe das Gefühl von Neid in mir.

Sein bohrender Blick ruht nach wie vor auf mir wie Granit. Die dunklen Augen blitzen tückisch, als verstecke er in ihnen ein ganzes Universum.

Mit dem Zeigefinger zeichnet er das kleine Grübchen auf seinem markanten Kinn nach. Meine Aufmerksamkeit wandert für einen kurzen Augenblick zu seinen langen grobgliedrigen Fingern, die mit gepflegten Nägeln bestückt sind, aber mir fallen auch abheilende Wunden und Schrammen auf den Fingerknöchel auf.

Kein Ehering, schießt es mir beiläufig durch den Kopf. Das könnte mich allerdings kaum weniger interessieren.

Als er meinen verstohlenen Blick auf seine Hände erspäht, streicht er sich eine seiner kinnlangen Haarsträhnen aus dem Gesicht und verschränkt die Hände vor seiner Brust, wie um mir die Aussicht auf diese zu verwehren.

Ich erröte und wende sofort den Blick zu Boden.

Der Grund erschließt sich mir nicht ganz. Schließlich kenne ich diesen Mann nicht und werde ihn nach dem heutigen Tag wahrscheinlich auch niemals wieder zu Gesicht bekommen. Wen interessiert es also, dass ich seine perfekten Finger mustere und er mich dabei ertappt?

Diese eleganten Finger, lang und ästhetisch, die Haut aalglatt und seidig. Mit verschrammten Knöcheln unklarer Genese.

Richtig, es interessiert keinen. Und am allerwenigsten mich.

Ungeachtet dessen kratze ich ein wenig verlegen meine Schläfe und tue so, als suche ich irgendetwas in der Zettelwirtschaft von Rechnungen und Inventurlisten auf dem Tresen, der uns voneinander trennt.

Unsere Körper trennt.

»Ich will Sie nicht bei der Arbeit stören«, sagt er und räuspert sich mit der Miene eines Mannes, der seinen eigenen Worten keinen Glauben schenkt. Seine gutmütigen mandelförmigen Augen gleiten abwechselnd über meine hektischen Handbewegungen und den Zettelberg, der die Barriere zwischen unseren Körpern darstellt. »Ich wollte bloß…«

Mitten im Satz fällt sein Blick auf die Zeichnung, die ich vorhin aus einer Laune heraus angefertigt habe. Seine Augen weiten sich kaum merklich, doch er beherrscht sich schnell wieder, findet zum beinahe gelangweilten, majestätischen Ausdruck zurück, den er wie eine festgewachsene Maske trägt.

So schnell, dass ein normaler Mensch es nicht bemerkt hätte.

Verdammter Mist.

Die Zeichnung hatte ich schon komplett vergessen. Für gewöhnlich sind solche Zeichnungen ausschließlich meiner Augen vorbehalten. Das meine ich wortwörtlich. Ich gestatte niemanden Einsicht in meine Werke, außer vielleicht Timo, meinem besten Freund seit Kindheitstagen.

Unweigerlich geht mir der zornige Gesichtsausdruck meiner Chefin durch den Kopf, den ich mit Gewissheit bei einem neuerlichen Ertappen dieser Missetat über mich ergehen lassen müsste. In meiner ersten Arbeitswoche hat sie mich schon einmal dabei erwischt, als ich an einem ruhigen Nachmittag kurz vor Ladenschluss auf dem Boden hinter dem Tresen gesessen und komplett vertieft in meinem kleinen Notizbuch gemalt habe. Es hat nicht viele Worte ihrerseits gebraucht, um die Drohung unmissverständlich auszudrücken. Sie würde so ein Verhalten bloß einmal dulden.

Ehe ich das Corpus delicti in Sicherheit bringen kann, schnellt eine große, männliche Hand hin und reißt es mir vor der Nase weg. Völlig verdattert starre ich in seine Richtung, doch er macht einen Schritt rückwärts, um meine Zeichnung mit genügend Abstand beäugen zu können. »Haben Sie das etwa gezeichnet?«, will er von mir wissen. Ein verblüffter Ausdruck legt sich auf seine Züge.

Dieser Tonfall.

Als breche er gleich in schallendes Gelächter aus, ob der Lächerlichkeit meiner Skizze.

Übelkeit wogt durch meinen Körper. Dunkle, kalte Abneigung.

In derselben Sekunde habe ich alles Unbehagen und die Nervosität von gerade eben verschluckt, vergessen, als hätte es sie nie gegeben. Seine Reaktion hat alles verändert.

Unweigerlich kocht eine Woge Zorn in mir auf, zischt glühend heiß durch meine Adern, bis meine Schläfen beinahe platzen.

»Geben Sie mir das auf der Stelle zurück«, fordere ich mit mahlendem Kiefer. »Jetzt. Sofort.«

Keine Bitte.

Eine Drohung.

Meine Hände sind so fest zu Fäusten geballt, dass meine Nägel in mein Fleisch schneiden. Der Zorn in mir, aber auch Panik und ein Anflug von Scham drohen mich zu übermannen. Ich könnte versuchen, zu ihm zu schnellen und ihm das Stück Papier gewaltsam zu entreißen, doch ich fühle mich in diesem Moment zu jeglicher Bewegung unfähig. Ich kann spüren, wie meine Unterlippe leicht zu zittern beginnt und sauge scharf Luft ein.

Als er keinerlei Notiz von mir zu nehmen scheint, steckt mich die sengende Hitze der in mir tosenden Rage fast in Brand. Selbst als ich ein wütendes Knurren ausstoße, sieht er für keine Sekunde zu mir auf, sondern starrt wie gebannt auf das Porträt der alten Dame.

Meine Zeichnung vom Akt purer Güte inmitten einer Welt, die das genaue Gegenteil nährt. Das seltene Juwel unserer Menschheit, das es um jeden Preis zu bewahren gilt. Das Licht in der Dunkelheit, die in unsere Seele zu kriechen sucht, unter Dämonen, gegen die wir jeden Tag aufs Neue ankämpfen müssen, um unsere Tugend zu bewahren. Unser wertvollstes Attribut.

Erbost über die Dreistigkeit, die dieser Kerl an den Tag legt, stoße ich erneut ein wutentbranntes Keuchen aus. Doch er ignoriert geflissentlich meine Einwände.

Erst reißt er sich ungefragt meine Zeichnung unter den Nagel, und dann wagt er es auch noch, sich auf meine Kosten zu mokieren.

Was fällt ihm eigentlich ein?

Schlimm genug, dass er sich ohne Erlaubnis eines fremden Eigentums bemächtigt … aber dann das? Was denkt er eigentlich, wer er ist, über das Bild zu spotten, das ich mit meinen eigenen Händen angefertigt habe?

Das wird er noch bereuen.

»Für wen halten Sie sich eigentlich, Sie eingebildeter Hornochse?«

Meine Kopfhaut beginnt unangenehm zu prickeln, und ich stelle fest, dass ich die Arme stocksteif an meine Flanken gepresst habe, jeder einzelne Muskel meines Körpers angespannt und auf Rufbereitschaft einprogrammiert.

Genau das ist, unter anderem, der Grund, weshalb ich prinzipiell niemandem einen Blick auf meine Malereien gestatte. Niemand, und damit meine ich wirklich niemand, hat über das zu lachen, was ich auf Papier bringe. Und jeder, der es auch nur wagt, wird den Tag bereuen, an dem er geboren wurde, wenn ich erst mit ihm fertig bin.

Während er mit einer Hand fest die Zeichnung umklammert, ruht die andere Hand auf der Marmorplatte des Verkaufstresens. Zunächst sieht er mich völlig entgeistert an, als könnte er nicht glauben, was hier gerade geschieht. Angedeutet kräuselt er die Lippen zu einem schalkhaften Grinsen, doch er runzelt verwirrt die Stirn.

»Haben Sie mich gerade Hornochse genannt?«, will er von mir wissen. Seine dunkle, kräftige Stimme erfüllt den Raum, raubt mir beinahe die Luft zum Atmen.

»Hören Sie mich etwa nicht?« Mit vor Zorn verschleierten Augen strecke ich die Hand aus und nicke mit dem Kopf Richtung Zeichnung, zum Zeichen, er möge mir mein Eigentum auf der Stelle retournieren, mein Blick bleibt dabei eisern auf die Zeichnung fixiert. Seinen Kommentar ignoriere ich geflissentlich.

Nachdenklich tippt er mit den Fingern auf ein paar alten Rechnungen. Sein Ausdruck entzieht sich meinem Verständnis. In den dunklen Augen lauert etwas, das ich nicht zu deuten imstande bin.

Stumm wendet er den Blick ab, lässt die Augen fahrig über das Papier gleiten, wobei ein seltsames Glänzen darin entfacht. Doch bloß für einen Moment. Dann atmet er deutlich hörbar ein und beißt sich auf die Unterlippe. »Das ist die alte Dame draußen«, stellt er mit einer kurzen Kopfdrehung in Richtung Parkbank und einem siegessicheren Grinsen fest.

»Rasiermesserscharf kombiniert, Sherlock.« Ich speie ihm die Worte vor die Füße. So schneidend wie eine Machete.

Als ich gerade drauf und dran bin, ihm an die Kehle zu springen, vernehme ich eine Veränderung seiner Mimik. Kaum zu erkennen für das ungeübte Auge, versteckt unter dieser perfekt einstudierten Maskerade.

Welches Geheimnis seiner Seele er bloß damit zu verbergen sucht?

Abermals flackert ein Funkeln in seinen Augen auf, nicht länger als einen Herzschlag lang. Unsichtbare Fäden zupfen an seinen Mundwinkeln. Er entscheidet sich dafür, mein Kommentar keiner verbalen Antwort zu würdigen. »Das ist richtig gut«, bemerkt er ungezwungen, während ein zunehmend entzückter Ausdruck sein Gesicht ziert.

Kaum haben die Worte seinen Mund verlassen, lockern sich meine Fäuste ein wenig, und auch der Knoten in meiner Brust entkrampft sich zu einem kleinen Teil.

Für einen Moment hält er inne und nickt wohlwollend. Fast scheint es, als suche er in meinem Gesicht nach der Antwort auf eine Frage, die er bloß sich selbst im Geiste gestellt hat.

Ohne ein Wort zu verlauten registriere ich, wie sich seine Augen erneut weiten und darin schließlich so etwas Ähnliches wie Erstaunen aufblitzt. Herzzerreißender Sanftmut schwimmt jetzt in seinem Antlitz, doch es gelingt mir nicht, den Zorn runterzuschlucken, der unablässig durch meinen Körper pocht. Das Zucken seiner Mundwinkel weicht einer sonderbaren Grimasse, die ich nicht recht zu deuten verstehe. Doch jetzt dehnen sich seine Lippen zu … einem Grinsen?

Es verlangt mir einen zweiten kontrollierenden Blick ab, um mich dieser Tatsache zu vergewissern. Doch es stimmt tatsächlich. Zweifelsfrei hat sich ein breites, das halbe Gesicht überlagerndes Grinsen in sein Antlitz gegraben. Die mahagonibraunen Augen funkeln voller Begeisterung, doch ich habe den Eindruck, dass er einer Zurschaustellung dieser Gefühlsregung keine Erlaubnis erteilt hat, als hätte sich dieses Lachen ohne seine Zustimmung in sein Gesicht geschlichen. Als habe es dabei eine unsichtbare Grenze überschritten, die er allem Anschein nach schon vor sehr, sehr langer Zeit zwischen seiner äußeren Hülle und der Welt gezogen hat.

Für einen Moment, so flüchtig wie ein Wimpernschlag, meine ich einen Anflug von Sehnsucht in seinen Zügen aufblitzen zu sehen. Sehnsucht nach Erleichterung, nach einem Lichtblick in der Dunkelheit, die ihn zu umgeben scheint, nach Leichtigkeit inmitten der lähmenden Schwere. Eine auf seinen Schultern lastende Schwere, die er perfekt zu kaschieren gelernt hat. Es wirkt, als schöpfe er für diesen kurzen Augenblick eine lange tot geglaubte Hoffnung. Hoffnung auf etwas, das er sich selbst nicht einzugestehen wagt. Das sich seinem Verständnis vollkommen entzieht.

Genauso wie es sich meinem Verständnis entzieht.

Nach einer schier niemals enden wollenden Minute reißt er sich von der Zeichnung los und starrt mir direkt in die Augen.

Direkt in mein Inneres.

Die Sehnsucht und die silbrig glänzende Hoffnung in seinem Blick erreichen mich an einem Ort, den ich seit geraumer Zeit bewusst unter Verschluss gehalten habe.

Ein Ort, an dem ich von niemandem erreicht werden will. Der nur mir gehört.

Ein Ort, wo gleichermaßen Lebensfreude und Finsternis hausen. Tief drinnen in mir begraben.

Ein Ort, den ich lieber weiter unter Verschluss gehalten hätte.

Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie ich unter seinem eindringlichen Blick zusammenzucke. Bevor ich zu einer Antwort ansetzen kann, wird der Moment durch Camillas ohrenbetäubende Stimme unterbrochen.

»Leopold!«, kreischt sie und stapft mit lautstarken Schritten zu ihm hin.

Instinktiv straffe ich die Schultern, wobei mein Herzschlag abermals an Geschwindigkeit zulegt und wie wild gegen meinen Brustkorb hämmert.

Ein flüchtiger Blick in sein Gesicht verrät mir, dass sich dieser unverfälschte, verletzliche Ausdruck aus seiner Miene gerissen hat.

»Wie schön, dass du es heute noch geschafft hast. Deine Mutter war letzte Woche hier zum Essen und hat mir erzählt, dass du heute zurückkommen wirst.« Sie schüttelt sofort seine Hand und überrascht mich mit einem zuckersüßen Lächeln, mit dem sie dieses schöne Exemplar Mann augenscheinlich zu verhexen sucht. »Wo genau warst du eigentlich?«

So sehr sie sich um seine ungeteilte Aufmerksamkeit bemüht, spüre ich, wie er vom Augenwinkel aus zu mir hinüberspäht. Sein Zeigefinger streicht über die Schläfe, als er die Zeichnung hinter seinem Rücken versteckt, wofür ich ihm mehr als dankbar bin. Mein warnender Blick gerade eben war wohl schwer zu fehlinterpretieren.

»Meine Mutter ist oft sehr gesprächig.« Der Tonfall knapp, distanziert. Das ist seine einzige Antwort auf ihre Frage, und ich bin mir, seinem Blick nach zu urteilen, ziemlich sicher, dass sich daran nichts ändern wird.

Camilla lässt sich davon nicht beirren. Sie kennt ihn offenbar persönlich, und scheint ihm eine Menge erzählen zu wollen, also begebe ich mich vorsichtig aus der Schusslinie und schnappe mir einen Lappen, um die Glasvitrine zu säubern. Diese ist zwar nicht schmutzig, aber beschäftigt und in die Arbeit vertieft zu sein ist immer ein recht praktisches Abwehrmittel gegen Camillas Angriffe.

Also tue ich exakt das. Ich schrubbe wie eine Wilde mit Reinigungsmittel über die makellose Vitrine, zeige dabei der erbärmlichen Gestalt mit den viel zu großen Augen und aktuellen Mangel an Rückgrat, die mir gegenüber im Glas tadelnde Blicke zuwirft, einen mentalen Stinkefinger.

»Es ist sehr viel Arbeit, aber auch sehr lohnend«, höre ich Camilla blöken, »das Anstrengendste sind sowieso die Angestellten. Bis sie die Dinge so machen, wie du es dir vorstellst, machst du es am besten lieber selbst, nicht wahr?« Für den letzten Satz lehnt sie sich extra näher zu ihrem Bekannten mit den mahagonibraunen Augen hin und senkt die Stimme alibihalber um ein Hundertstel Dezibel. Die Aussage vollendet sie mit einem niederträchtigen Lachen.

Indes kommt mir eine Idee, für wen der Finger besser bedient wäre.

Als ich mich bücke, um ein paar Krümel vom Boden aufzusammeln, trifft sein Blick für einen Moment meinen. Camilla nimmt davon sofort Notiz, sieht verblüfft und verärgert zugleich zwischen ihm und mir hin und her.

Absichtlich wende ich mich ab und tue so, als konzentriere ich mich ganz und gar auf das Reinigen der Arbeitsfläche, doch ich spüre, wie Camillas hasserfüllter Blick unerträglich schwer auf mir ruht wie eine bleierne Last.

Verächtlich und durchbohrend.

Wären wir jetzt allein, wäre sie schon an meiner Gurgel, da bin ich ganz sicher. Ich habe das Gefühl, sie zerfleischt mich gerade in ihren Gedanken. Wenn sie könnte, hätte sie mich sicherlich schon in Flammen aufgehen lassen.

Ich wünschte, er würde aufhören, mich so penetrant zu taxieren und auf Camillas Gesprächsversuche einsteigen, um ihre Aufmerksamkeit von mir zu lenken. Damit sie mich endlich in Ruhe lässt.

Ich spüre, wie meine Eingeweide unter ihrem Todesblick gefrieren, doch ich schiebe das Gefühl beiseite wie einen ungebetenen Gast.

»Wieso hast du dem Herrn seinen üblichen doppelten Espresso noch nicht zubereitet?«, faucht sie mich jäh mit widerlichem Ton von der Seite an. »Unsere Stammkunden erwarten eine schnelle Bedienung!«

Mit einem Mal spüre ich, wie mein Herz mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern in meine Schuhe katapultiert wird. Als würde ich Glassplitter einatmen, röchele ich leise, blicke auf und will zur Widerrede ansetzen, doch ihr eisiger Ausdruck gestattet mir keinerlei Spielraum zur Verteidigung. Resigniert balle ich die Hände zu Fäusten und schlucke deutlich vernehmbar den Kloß herunter, auf dem ihr Name steht.

Kaum haben die Worte ihren Mund verlassen, wendet sie sich wieder dem Mann mit den mahagonibraunen Augen zu. »Ich kümmere mich umgehend selbst darum. Was soll man schon von den Angestellten erwarten?«, verlautbart sie in salbungsvollem Ton. Ein diabolisches Lächeln in seine Richtung sendend, schiebt sie mich grob an der Hüfte zur Seite und bereitet den doppelten Espresso selbst zu.

Ein eigenartiges Bild. Mir war gar nicht bewusst, dass Camilla selbst Kaffee zubereiten kann, meiner bisherigen Erfahrung mit ihr nach zu urteilen.

Unsicher werfe ich einen Blick zu Paul, der gerade bei der jungen Frau am Ecktisch abserviert und mitfühlend die Achseln in meine Richtung zuckt. Ich kann einen Anflug von Scham nicht unterdrücken, der wie glühende Asche in meinen Mund schießt.

»Jetzt mach mal halblang, Camilla«, er hebt beide Hände, »die Dame hat mich bereits bedient, ich habe nur noch keine Bestellung aufgegeben.« Seine Stimme klingt herrisch und kalt, was sich auch im Blick widerspiegelt, mit dem er Camilla aus verschränkten Armen bedenkt.

Mit einem Mal herrschen arktische Gegebenheiten im Bistro. Ich könnte schwören, dass die Temperatur hier drinnen gerade in den Minusbereich abdriftet. Camillas Gesicht erscheint plötzlich blutleer, der Mund weit aufgerissen, unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu verlauten.

Wie in Zeitlupe, und ironischerweise auch mit ganz schön viel Schadenfreude in den Zügen, beobachte ich, wie das sonst so perfekt geschminkte, gekünstelt lächelnde Gesicht meiner Chefin binnen Millisekunden gefriert und dieses scheußliche Lachen in sich zusammenkracht wie ein Kartenhaus. Viel mehr als ein peinlich berührtes Grunzen kriegt sie nicht heraus, doch dann fängt sie sich schnell wieder und überspielt ihre kurzweilige Fassungslosigkeit prompt mit einem umso gekünstelteren Lächeln.

Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich sein und mein Blick erneut. Mit einem Fünkchen Mitgefühl und etwas anderem, das sich schwer ausmachen lässt, funkeln mich seine Augen wie flüssiges Gold an. Dabei dreht sich mir der Magen um. Ich hasse es, mit diesem Blick angesehen zu werden. Und das auch noch, nachdem er sich an meiner Zeichnung vergangen hat. Zornesröte in mir aufsteigend drehe ich mich weg, während ein Teil von mir in Verwirrung ertrinkt.

»Mit Honig fängt man mehr Fliegen, als mit Essig, weißt du?« Er hält die Hände verschränkt vor seiner Brust, sein harter Blick straft Camilla. »Kleiner Tipp unter Freunden, oder so ähnlich«, fügt er augenzwinkernd hinzu.

Doch sie hört gar nicht, was er sagt. Oder will es nicht hören. Ungeachtet dessen, was ihr der Mann mit den atemberaubenden Augen gerade an den Hals geworfen hat, setzt sie ihr unechtes Lächeln auf.

»Bitte schön, Leo.« Sie schiebt ihm einen heißen Becher über den Tresen zu und murmelt kaum vernehmbar, dass er nichts zahlen müsse, weil die Bestellung aufs Haus gehe. Ihr Blick über die Schulter fängt mich für einen Moment ein. Dunkle Flammen wabern in ihren kalten Augen, die allerdings auf der Stelle verrauchen, als sie sich wieder zu ihm dreht.

Seinem verblüfften Blick nach zu urteilen stellt sogar für Paul eine Camilla Theoden mit geknicktem Ego eine wahre Sensation dar. Wie verdattert beobachtet er von der Küche aus das Spektakel.

Ich für meine Wenigkeit starre beschämt zu Boden, unsicher, was man in solch einer Situation sagen soll. Den Mund zu halten erscheint mir dann doch als die zuverlässigste Option, also presse ich die Lippen zu einer strengen Linie zusammen und lasse mich von der gespannten Stimmung verschlucken.

»Danke«, stößt er gelassen aus, ein bedeutungsvoller Blick in meine Richtung, der nicht länger als einen Herzschlag andauert. »Aber das kann ich mir gerade noch leisten.« Klirrende Kälte in jedem Wort.

Obwohl er bei mir nicht gerade viel Sympathie genießt, kann ich mir doch ein heimliches Schmunzeln ob seiner Bissigkeit Camilla gegenüber nicht verkneifen. Es lässt sich nicht leugnen, dass mich das Ganze auch ein bisschen amüsiert. Irgendwer muss meiner fürchterlichen Chefin auch mal die Stirn bieten, damit sie von ihrem hohen Ross runterkommt und nicht denkt, sie könne alle Menschen wie Fußabtreter behandeln und damit unversehrt durchkommen.