Ein Satz an Herrn Müller (eBook) - Elmar Tannert - E-Book

Ein Satz an Herrn Müller (eBook) E-Book

Elmar Tannert

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Beschreibung

Herr Müller ist Gestalter von Wohnräumen und Erfüller von Wohnträumen. Er nimmt sich Zeit, um das genau auf seine Kunden zugeschnittene Interieur zu entwerfen, das ihre Persönlichkeit widerspiegelt. An dem Schriftsteller jedoch, der ihm in einem gigantischen Monolog, einem einzigen langen Satz, die Ansprüche schildert, die sein ideales Domizil erfüllen müsste, kann Herr Müller nur scheitern. Denn als Wohnungsflüchter erfährt dieser Schriftsteller gerade an anderen Orten Inspiration und Hingabe an den Schaffensprozess. Unter welchen Bedingungen ist eine Künstlerexistenz heute überhaupt noch möglich, ohne in bittere Not und die gnadenlose Maschinerie von Literaturbetrieb und Markt zu geraten? Und könnten noch so einfühlsam gestaltete Räume wirklich Erlösung bringen für die schmerzvolle Sehnsucht, Rettung für den, der dazu verdammt ist, sich immer wieder unglücklich zu verlieben und das Herz brechen zu lassen?

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Elmar Tannert

 

Ein Satz an Herrn Müller

 

Roman

 

 

 

ars vivendi

 

Auf Wunsch des Autors erscheint dieses Buch in alter Rechtschreibung.

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage April 2017)

 

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Annalena Weber – Buchdesign

Druck: CPI books GmbH, Leck

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-779-7

 

Inhalt

Ein Satz an Herrn Müller

Dank

Der Autor

 

 

Ich hasse das, was du sagst, aber ich gäbe mein Leben dafür, daß du es sagen kannst.

Evelyn Beatrice Hall

 

 

Die Poesie ist die Aussicht aus dem Krankenzimmer des Lebens.

Jean Paul

 

Vor diesem Text habe ich Angst, ich fürchte mich vor ihm.

Bohumil Hrabal

 

Ein Satz an Herrn Müller

Seit ich vor vielen Jahren Ihre nähere Bekanntschaft gemacht habe, lebt in mir der unerfüllbare Wunsch, der Traum, mir von Ihnen eine Wohnung einrichten zu lassen,

unerfüllbar nicht, weil es mir an Geld fehlen würde, obwohl es mir ja tatsächlich an Geld fehlt, doch wenn nur dies der Grund wäre, würde ich ohne Skrupel alten Damen die Handtaschen entreißen, bis ich den nötigen Betrag beisammenhätte,

unerfüllbar auch nicht, weil ich Ihnen, Herr Müller, nicht vertrauen, Ihnen nicht zutrauen würde, meinen Traum zu erfassen und ihn auf Ihren nächtlichen Fahrten über Land Gestalt werden zu lassen,

ganz wie der Märchenkönig, denke ich oft, wenn ich an Sie denke, wie der Märchenkönig, der in mondhellen Nächten die Pferde vor die Kutsche oder den Schlitten spannen ließ, über Land fuhr und von den Schlössern träumte, die er noch bauen würde,

manchmal stelle ich mir vor, daß Sie es dem Märchenkönig gleichtun, morgens um drei an der Haustür eines Einödhofs klopfen und um ein Glas Milch ersuchen, das Sie anderntags den braven Leuten durch einen livrierten Boten königlich vergüten,

oder frage mich, ob Sie, während Sie in Wahrheit an einer Tankstelle stehen, wo die Vision der schlichten weißen Milch von Tausenden bunt verpackter Dinge überstrahlt wird, wenigstens davon träumen, aus der Hand einer schlaftrunkenen Magd ein Glas Milch zu empfangen,

in einer nächtlichen Tankstelle würden Sie stehen, unseren Gesprächen nachsinnend, wenn ich Sie beauftragt hätte, mir die ideale Wohnung, den idealen Arbeitsraum zu gestalten, wie Sie es immer tun, wenn Sie einen schwierigen Kunden haben, einen anspruchsvollen, würden an unsere Gespräche denken,

in einer Tankstelle würden Sie stehen und sich gewiß daran erinnern, daß wir zum ersten Mal nachts an einer Tankstelle zusammengetroffen sind, wo Sie vor vielen Jahren mein Kunde waren,

damals waren Sie noch nicht der Paradiesvogel, der Sie heute sind, damals fuhren Sie in einem Geländewagen vor, damals trugen Sie Jeans, Springerstiefel und eine grüne Bomberjacke und kamen zu mir in die Tankstelle, um ein Paar Würstchen zu essen,

lange Zeit hatte ich damals darüber nachgedacht, was wohl Ihr Beruf sein könnte, und selbst heute noch scheue ich mich, Ihnen zu sagen, was für einen Verdacht manche Kunden aussprachen, nachdem Sie die Tankstelle wieder verlassen hatten,

manchmal kauften Sie auch vier Magnum-Eis und brausten weiter durch die Nacht, und erst Jahre später gestanden Sie mir, daß Sie, entgegen meiner Vermutung, es befänden sich Freunde in Ihrem Wagen, stets allein unterwegs waren und die vier Magnum-Eis alle selbst aßen,

schon wenige Monate aber, nachdem wir uns kennengelernt hatten, erzählte ich Ihnen von meinem geheimen Leben, und Sie sagten mir, ich solle einen Blick in die neueste Ausgabe der Zeitschrift Madame werfen, um zu erfahren, was Ihr Beruf ist,

und ich las, daß Sie die Wünsche und Sehnsüchte, die Vorlieben und Abneigungen Ihrer Kunden aufspüren und erspüren, las nachts in der Tankstelle, daß Sie versuchen, in ihre Seelen zu blicken, in sie hineinzulauschen, um ihnen ihr Traumhaus oder ihre Traumwohnung zu entwerfen, und sich mit Vorliebe nachts durch die Welt bewegen, wenn sie von Träumen durchflattert wird, die Sie erhaschen können,

tagsüber dann bringen Sie Ihre Beute zu Papier und lassen Ihrem Kunden ein eigenes Reich entstehen, in dem alles, vom Lichtschalter bis zum Bücherregal, von der Hausbar bis zur Badewanne, vom Gemälde bis zur Zeichnung an der Wand, sorgsam von Ihnen ausgewählt, komponiert und installiert wird,

ich frage mich nur, wann Sie überhaupt schlafen, Herr Müller,

und dort, in der Tankstelle, würde Ihnen bewußt, daß ich nicht nur schwierig bin, sondern der schwierigste Kunde, dem Sie jemals seine geheimsten Wünsche abgelauscht haben,

dort würde Sie die Vision von der einzigen Möglichkeit, meinen Traum zu erfüllen, überfallen, die zugleich eine Unmöglichkeit ist, weil Sie erkennen würden, daß ich kein Wohner bin, sondern ein Wohnungsflüchter, was in aller Deutlichkeit Ihnen zu sagen ich bisher nicht gewagt habe,

und das, obwohl ich in meiner Wohnung ein Arbeitszimmer habe, mithin in meiner Wohnung bleiben und arbeiten sollte, um nicht restlos zu verelenden,

doch dient mir dieses sogenannte Arbeitszimmer nur dazu, einen Teil der Miete und der Nebenkosten steuerlich absetzen zu können, für das Finanzamt habe ich meine gesamte Wohnung ausgemessen und einen Plan gezeichnet, aus dem sich ein Anteil von 27,78 % für das Arbeitszimmer ergab, in dem ich nie arbeite,

nur als Kulisse für Fotografen erfüllt es einen gewissen Zweck, alle paar Jahre kommt ein Fotograf vorbei, der den Plan gefaßt hat, Schriftsteller zu porträtieren, um die Fotos in Ausstellungen und Büchern zu veröffentlichen, ein frevelhaftes Unterfangen, wie ich finde,

weil die Fotografen etwas einfangen wollen, was nicht einzufangen ist, weil sie eine Lüge festhalten, wenn sie den Schriftsteller dazu nötigen, sich in einem Akt der Scheinentblößung an den Schreibtisch zu setzen und zu schreiben,

jeder halbwegs intelligente Mensch, der das Foto betrachten wird, kann sich ja denken, daß darauf kein Augenblick der Inspiration festgehalten ist, sondern die Hand auf dem Papier im Augenblick der Fotografie nur Kringel oder Schlangenlinien malt, die Hände auf der Tastatur nur sdajüiojgasdfoigjfaüi oder nbvpasfdjkgunvpwerzg hineinhacken,

bei Raymond Chandler wären solche Schriftstellerfotografen an den Richtigen geraten,

Chandler konnte Schriftstellerfotos nicht ausstehen, die meisten Schriftsteller, hat er ge­schrieben, sind gräßlich aussehende Menschen, und schon oft habe ihn ein Schriftstellergesicht auf dem Buchumschlag so sehr abgestoßen, daß er das Buch nicht lesen konnte,

ich bin mir sicher, nur wegen der allgemeinen Fotografier- und Bildersucht konnte es soweit kommen, daß attraktive junge Frauen mit magersüchtigen Plagiatsgeschichten zu Stars werden,

ich bin mir sicher, Chandler hätte Journalisten, die ihn mitsamt Kameraleuten für ein Interview heimsuchten, sofort hinausgeworfen, wenn sie an ihn das Ansinnen gerichtet hätten, ihn beim Schreiben zu filmen,

ich habe das Schreiben nie bereut, Herr Müller, hingegen das Publizieren des Geschriebenen mitsamt seinen Begleitumständen bestimmt schon millionenmal, und frage mich, wie oft ich es noch ertragen muß, mein eigenes Gesicht abgedruckt zu sehen,

wie oft ich es noch ertragen muß, Fotografen in der Wohnung zu haben, aus deren Gesicht ich sofort ablesen kann, daß meine Dinge nicht mehr meine, sondern ihre Dinge sind, die sie nach ihrem Belieben in die Hand nehmen und umplazieren und umarrangieren dürfen, weil meine Wohnung vorübergehend ihr Atelier geworden ist,

»das also ist Ihr Arbeitszimmer«, sagt der Fotograf, sagen die Fotografen und Kameraleute und sehen sich um, betrachten den großen Arbeitstisch in der Mitte, auf dem ich eine malerische Unordnung kultiviere, die einem IKEA-Spezialisten nicht besser gelingen könnte, Bleistifte, Notizhefte, Bleistifte, Notizbücher, Bleistifte, ungeöffnete Post in Kuverts mit amtlichem Aussehen, Bleistifte, bunte Klebezettelchen, Bleistifte,

dabei ist ihnen anzumerken, daß sie sich vorstellen, wie es aussieht, wenn ich an diesem Tisch sitze und arbeite, nein, nicht nur das, sondern daß sie es für völlig normal und plausibel halten, daß ich an diesem Tisch sitze und arbeite, und daß sie es für absurd hielten, wenn ich ihnen verriete, wo ich wirklich arbeite, weil sie dort, wo ich arbeite, nur herumsitzen und das tun, was sie »Leute beobachten« nennen,

»ich sitze gern im Café und beobachte die Leute«, sagen sie, und es klingt, als fühlten sie sich wie Zuschauer einer Theatervorstellung, als kämen sie gar nicht auf den Gedanken, daß sie nicht nur Täter, sondern auch Opfer sind, obwohl doch mindestens jeder zweite, der in einem Café sitzt, entweder Leute beobachtet oder wenigstens so aussieht, als behaupte er, daß er gern Leute beobachtet, aber niemals hört man einen Menschen sagen »ich sitze gern im Café und lasse mich von den anderen beobachten«,

nur das Finanzamt traut meinem Arbeitszimmer nicht, jeder neue Sachbearbeiter, der mir zugeteilt wird, schreibt mir, er könne nicht erkennen, daß mein Arbeitszimmer den Mittelpunkt meiner Tätigkeit darstelle, und jedes Mal, wenn ich einen solchen Brief bekomme, packt mich die Angst, der Finanzbeamte könnte mich beschattet haben,

und während ich den Brief beantworte,

während ich schreibe, daß mein Arbeitszimmer sehr wohl den Mittelpunkt meiner Tätigkeit darstelle,

daß der Finanzbeamte nicht den Fehler begehen dürfe, zu denken, ich hielte mich mehr auf Lesebühnen als zu Hause auf,

während ich dem Finanzbeamten klarmache, daß all das, was ich in der Öffentlichkeit vorlese, irgendwann einmal geschrieben worden sein muß,

daß in einer Stunde vorgelesener Literatur die Arbeit von Wochen und Monaten steckt, die ich selbstverständlich in meinem Arbeitszimmer, wo sonst, geleistet habe,

während ich dies schreibe, sehe ich vor mir, wie der Finanzbeamte über meine Lügen in sardonisches Gelächter ausbricht,

weil er mir gefolgt ist in die Cafés, bis nach Pilsen sogar, in die Měštànská beseda oder in den Speisesaal des Hotels Slovan,

weil er mich beobachtet hat, wie ich stundenlang Seite für Seite meines Notizbuchs mit ziellosen Notizen fülle, und mit seinen Beweisfotos die wahren Schriftstellerpor­träts gemacht hat,

Notizen übrigens, von denen ich nur hoffen kann, daß aus ihnen einmal so etwas Ähnliches wie Literatur wird,

weil er die abfotografierten Notizen, meine unfertigen, zusammenhanglosen Skizzen, an die er sich mit der Kamera herangezoomt hat, mit meiner dreisten Behauptung vergleicht, daß ich Literatur schreibe,

weil er bereits seinen Plan gegen mich gefaßt hat,

weil er meine brieflichen Beteuerungen vervielfältigen wird, mit dem Stapel von Kopien von Zimmer zu Zimmer gehen und jeder Kollegin, jedem Kollegen ein Exemplar meines Briefes auf den Tisch legen wird, um die Empörung über meinen Arbeitszimmerbetrug im ganzen Amt auflodern zu lassen, um alle Kollegen zu mobilisieren, in der Mittagspause über meine Wohnung herzufallen wie eine Horde Staatsameisen und alle Nachlässigkeiten meiner Buchführung ans Tageslicht zu bringen,

vielleicht, überlege ich, während ich mit dem Finanzamtbrief in der Hand zum Briefkasten gehe, findet man unter den Menschen, die äußern, sie säßen gern im Café und beobachteten andere Leute, überdurchschnittlich viele Finanzbeamte, die Schriftstellern ihre Arbeitszimmer aberkennen wollen und ihnen zusehen, wie sie ihre »Manuskripte erstellen«,

um die grausame Sprache der Cheflektoren der Großverlage zu verwenden, die einen Schriftsteller als Ersteller eines verkaufsfähigen Manuskripts definieren,

eine Definition, die bewirkt, daß mir, sobald ich an sie denke, der Bleistift aus der Hand gleitet und für den Rest des Tages kein Gedanke mehr einfällt, ein Zustand, der mich bis auf den Grund meiner Seele peinigt, wie soll ein Mensch wie ich, der nichts kann außer schreiben, den Tag ohne einen einzigen Gedanken verbringen, es gibt für einen Menschen wie mich, der, Sie wissen es, nicht das besitzt, was andere Leute ihre Hobbys oder Interessen nennen, keine anderen Möglichkeiten,

ich kann, wenn ich nicht schreibe, nur nichts tun,

nicht, weil ich Chandlers Rat befolgen will, ein Schriftsteller solle, wenn er nicht schreibt, lieber gar nichts tun als irgend etwas,

nein, beim Nichtstun beruhigt mich die Gewißheit, daß ich dann nicht so schnell altere,bei allen Beschäftigungen vergeht die Zeit so schnell, nur beim Nichtstun so wohltuend langsam, und während ich nichts tue, gebe ich mich meinem Neid auf die bildenden Künstler hin,der mich nicht nur bei dieser, auch bei anderen Gelegenheiten überkommt und den ich mir nicht wegtrinken kann,

weil ich in Wahrheit ein verhinderter Maler bin, weil ich all meine Geschichten und Romane lieber malen als schreiben, das gesamte entstehende Werk lieber auf einer Leinwand vor mir hätte, auf der ich stets alles im Blick behalte und hier etwas wegnehmen, dort etwas hinzufügen kann, kein Mensch, der nicht schreibt, ahnt ja, was für eine Anstrengung es bedeutet, den Überblick über die Schlangenlinien von Schrift zu bewahren, die sich auf unzähligen Blättern in Notizbüchern ausbreiten,

auch wenn ich an Sie denke, Herr Müller, überkommt mich der Neid, weil ja auch Sie ein Künstler sind, ein Künstler wie der Bildhauer Flaminio Bertoni sind Sie, denke ich mir oft, der zeit seines Lebens nicht in der Öffentlichkeit stand, aber mit seiner Göttin, seinem rollenden Kunstwerk Citroën DS die Straßen eroberte,

Sie haben im Lauf von Jahren und Jahrzehnten Häuser in Wohnkunst verwandelt, Menschen wie Sie bringen Kunst dorthin, wo sie hingehört, nicht in Museumsfriedhöfe, sondern ins Leben, und wäre ich selbst ein Künstler, so gäbe es nicht mein Leiden am unerfüllbaren Traum,

Künstlern kann man einen leeren Raum geben, der nur einen Ofen und ein Radio haben muß, den Rest erledigen sie selbst, fahren zu einem derjenigen Läden, deren Sortiment mich magisch anzieht und zugleich verhöhnt, besorgen sich dort, wo ich gelegentlich meinen lächerlichen kleinen Einkauf aus Notizheften und Bleistiften tätige, ihre mannigformatigen Skizzenbücher, Aquarell- und Zeichenblöcke mit Zweihundert-Gramm-Papier, ihre Ölfarben in Neapelgelb, Indigo und Englischrot, ihre Acrylfarben in Chinacridonrosa, Phthalotürkis und Van-Dyck-Braun, ihre Aquarellfarben in Kadmiumscharlach, Indanthrenblau und Alizarin-Karmesin, ihre Wachskreiden und Schwarzsteinstifte,

Dinge, die ich staunend und ehrfürchtig betrachte, in die Hand nehme, wieder an ihren Platz lege, wie ein Fünfjähriger, der heimlich die Schmink- und Frisierkommode seiner Mutter inspiziert, und würde ich je versuchen, ein Bild zu malen, hielte es jeder Betrachter für das Werk eines Fünfjährigen, niemals für das Werk des zehnmal so alten Mannes, der ich bin,

ein Teil meiner Seele, müssen Sie wissen, hat das Stadium des Fünfjährigen niemals verlassen, mit fünf Jahren nämlich bin ich eingeschult worden, was ein Versehen der Schulbehörde gewesen sein muß, gegen das meine Eltern nicht eingeschritten sind, und so kam ich als Fünfjähriger in eine Schulklasse, in der ich mit Abstand der Jüngste war, umgeben von Sechs- und Siebenjährigen, die aus meiner Sicht halbe Erwachsene waren, ausgeliefert an eine kinderhassende Lehrerin, die kurz vor ihrer Pensionierung stand,

ich konnte nichts, Herr Müller, als ich in die Schule kam, außer Lesen und Schreiben, aber ich war nicht einmal fähig, mich selber an- und auszuziehen,

vor und nach dem Sportunterricht wurden Mädchen aus höheren Klassen zu mir geschickt, die mich ausziehen und anziehen, mir die Knöpfe öffnen und schließen, die Schnür­senkel lösen und binden mußten, weil ich selbst es nicht konnte,

nicht, weil ich dumm war, Herr Müller, nur unpraktisch war ich,

und doch ist es der kinderhassenden Lehrerin gelungen, mich zum Idioten der Klasse zu machen, indem sie mir jeden Tag den Stift aus der linken Hand schlug und ihn in meine rechte stopfte und mich zwang, mit dem Schreiben noch einmal ganz von vorn anzufangen,

aber denken Sie nun nicht falsch von mir, denken Sie nicht, ich wollte mich darüber beschweren, nein, durchaus nicht, ich finde, man muß vom Leben Ohrfeigen verabreicht bekommen, damit man sich selbst findet, zu sich selbst kommt, anders geht es nicht,

und ich muß es als Glück bezeichnen, daß es meine Linkshändigkeit war, die mir die ersten beiden Schuljahre verdorben hat,

Gott sei Dank nämlich hat man als Linkshänder bis heute keine öffentliche Lobby, sonst wäre ich womöglich noch, wer weiß, der Versuchung erlegen, gegen die Unterdrückung der Linkshänder vorzugehen, hätte mich einer despotischen Vereinigung angeschlossen, die sich an dem vergreift, was ihr nicht gehört, der Sprache nämlich, und fordert, daß Ausdrücke wie »link«, »linkisch« oder »zwei linke Hände haben« verboten werden,

wäre genau so ein unerträglicher Mensch geworden wie alle anderen, die sich als Kind diskriminiert fühlten und es als Erwachsene in die Welt hinausposaunen,

lieber habe ich mich nach fünfunddreißig Jahren Rechtshändigkeit kuriert und von einem Tag auf den anderen nur noch mit der linken Hand den Stift ergriffen, habe mir innerhalb eines Jahres wieder die Linkshändigkeit zurückerobert und bin froh darum, Herr Müller, so froh, daß es mir nichts ausmacht, wenn jemand, der mich schreiben sieht, mich anspricht, um mir zu sagen, es komme ihm wider die Natur vor, jemanden so schreiben zu sehen wie mich,

geblieben ist mir aus der Schulzeit, daß ich mich bis heute, wenn ich einen Raum betrete, in dem sich fremde Menschen aufhalten, wie ein Fünfjähriger fühle, der alle anderen um sich herum als größer, stärker und klüger wahrnimmt als sich selbst,

ich bin mir sicher, dieses Gefühl würde sich auch dann nicht ändern, wenn ich einen Raum beträte, den Sie eingerichtet haben, und auch das läßt mich daran zweifeln, daß Sie mich wirklich retten können mit Ihrer Kunst, zumal ich gar nicht weiß, ob ich dieses Gefühl wirklich loswerden will,

es wird dafür sorgen, daß ich mich bis zu meiner letzten Lebensminute wie ein Kind fühlen werde, man muß nur mein Sterbebett in einen Raum mit fremden Menschen schieben,

und Sie können sich denken, Herr Müller, daß meine kindliche Hilflosigkeit noch größer ist, wenn ich einen jener Läden betrete, die mir die Grenzen meines schreibenden Schwarzweißdaseins vor Augen führen, die Läden, in denen Künstler ihre Einkaufsorgien feiern, um hernach, ins Atelier zurückgekehrt, im frisch erworbenen bunten Material zu schwelgen, sich die Welt zu verwandeln, den Raum mit Bildern, aber nicht nur mit Bildern zu füllen,

ich bin, Herr Müller, schon in unzähligen Künstlerateliers gewesen und habe gestaunt, wie Menschen mit Sinn für Ästhetik, Menschen, deren Sehsinn dem meinen überlegen ist, wie solche Menschen um sich herum das Gegenteil der ästhetischen Ordnung produzieren, die in ihren Bildern waltet, was mir die Frage nahelegt, ob ordentliche Menschen überhaupt malen können,

und deshalb muß ich mir, wann immer ich in einer Kunstausstellung bin, vorstellen, wie es im Atelier des Künstlers aussehen mag,

die schlimmsten Visionen überfallen mich beim Anblick von Collagen, deren jede, wie ich weiß, aus Stapeln von Büchern und ­Zeitschriften gewonnen wurde und einen Papierschnipselberg auf dem Fußboden hinterlassen hat, der erst dann seinen Weg in die Altpapiertonne findet, wenn der Künstler umzieht und das Atelier besenrein hinterlassen muß,

nur ein bibliophiler Mensch, der ich zum Glück nicht bin, wird beim Anblick von Collagen von noch schlimmeren Visionen heimgesucht und muß an die Bücher denken, die der Collagenkünstler geschlachtet und ausgeweidet hat, um sie skrupellos seiner Kunst zu opfern, und würde am liebsten den Collagenkünstler ebenso behandeln,

ich bin bei einigen Umzügen bildender Künstler dabeigewesen, und von allen Umzügen am besten im Gedächtnis geblieben ist mir der Umzug des genialen Zeichners und Fotografen Alfred Wahnschaffe, ein Künstler, der imstande ist, während er sich mit Ihnen beim Bier ins Gespräch vertieft, die Realität mit Blei- und Farbstiften in eine querformatige Miniatur zu verwandeln, ohne dagegen der praktischen Bewältigung der Realität gewachsen zu sein, die er mit prophetischer Sehergabe durchdringt, wie es nur ein wahrer Künstler kann,

ich bin mit ihm während der Fußballeuropameisterschaft in Hersbruck gewesen, wohin er mit mir gefahren ist, um seiner Kollektion von fränkischen, oberpfälzischen und böhmischen Biergärten einen weiteren Biergarten hinzu­zufügen, den mitten auf dem Marktplatz installierten Biergarten der Metzgerei Kratzer mittels Bleistift und Papier einzusammeln,

eine Bühne war aufgebaut, für Musikkapellen einerseits, für Fußballübertragungen andererseits, und die Biertische und -bänke waren allesamt entweder schwarz oder rot oder gelb überzogen, nur die Bierauswahl hatte dem Anlaß der Europameisterschaft nicht entsprochen, Schwarzbier und Rotbier vom Schanzenbräu in Gostenhof hätte sich die Metzgerei Kratzer besorgen sollen, damit man sich mit Schwarzbier, Rotbier und Hellem durch die deutschen Nationalfarben trinken kann, und ich erlebte an jenem Nachmittag zum ersten Mal, mit welcher Leichtigkeit sich Wahnschaffe gleichzeitig einem Gespräch, einem Bier und einer Zeichnung widmen kann,

fortwährend erfaßte sein Auge, während er mit mir sprach, die Umgebung, und seine rechte Hand führte in unglaublicher Geschwindigkeit und Genauigkeit die Befehle aus, die sie vom Auge empfing, man hätte an einen Pianisten denken können, der ein begnadeter Vom-Blatt-Spieler ist und die Noten in einem Kurzschluß zwischen Augen und Händen in Musik verwandelt,

wie eine Notenwelt kommt einem in Wahnschaffes erschaffender Gegenwart die Welt vor, die seine Hand neu interpretiert, als komponiere er die Welt nach, und man könnte darüber vergessen, daß ja in Wahrheit die Komposition das Vollkommene und Makellose ist, die Interpretation dagegen das Fehlerhafte, und jeder Komponist damit leben muß, daß sein Werk von übenden Anfängern verunstaltet wird,

an dieser Stelle, Herr Müller, muß ich Sie als erschaffenden Menschen fragen, was für ein Verhältnis Sie haben zur Erschaffung der Welt, ob Sie sich ebensosehr wie die Wissenschaftler dagegen sträuben, daß die Welt etwas Erschaffenes ist, oder ob Sie, gleich mir, Wissenschaftler für armselige Menschen halten, die zu nichts anderem fähig sind, als die Welt mit überflüssigen Erklärungen zu entzaubern und sie mit seelenerstickender Nüchternheit zu füllen,

für mich, Herr Müller, könnte sich die Sonne ebensogut um die Erde drehen, die Erde könnte von mir aus eine Scheibe sein, weil es mich in meinem Innersten nichts angeht,

was sind das für Menschen, die am Leben vorbeidenken und vorbeiforschen,

die sich dafür interessieren, ob sie ihr Ausgesetztsein an das Leben, ihr Ausgeliefertsein an sich selbst, ihre Lust und ihren Schmerz auf einer Kugel oder auf einer Scheibe erleben müssen,

oder dafür, in wieviel Milliarden Jahren die Sonne die Erde verschlingen wird,

oder dafür, wie der Urknall zustande gekommen ist,

Wissenschaftler, denke ich mir oft, sind wie Menschen, die ein Gemälde untersuchen und versuchen, seinem Sinn auf die Spur zu kommen, indem sie die chemische Zusammensetzung der Farben, die Dicke des Farbauftrags, die Schwünge und Richtungen des Pinselstrichs analysieren und bei ihren Untersuchungen und Analysen nicht nur nicht berücksichtigen, sondern leugnen und wegdiskutieren, daß das Werk einen Schöpfer hat, so tun, als wäre das Werk durch einen Zufall oder Urknall entstanden, aber um Gottes willen nicht, niemals durch den Geist und die Hand eines erschaffenden Wesens, weil es ja zum Wesen der Wissenschaft gehört, alles zu leugnen, was sie nicht erfassen kann und was größer sein könnte als sie selbst, nur den Außerirdischen, die sie selbst erfunden haben, gestehen die Wissenschaftler zu, etwas Größeres zu sein als der Mensch, aber von Engeln wollen sie nichts wissen,

ich halte es für eine Wahrheit, Herr Müller, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, ein oft mißbrauchter Satz, der zu merkwürdigen Gottesvorstellungen und -bildnissen führte und doch nur bedeutet, daß der Mensch ein ebenso erschaffenes wie erschaffendes Wesen ist, in jedem Kind steckt die ungebrochene Lust am Erschaffen, jeder erwachsene Mensch, der sein Erwerbsleben damit hinbringt, Busse zu steuern, Waren über einen Kassenscanner zu ziehen, Betriebsabläufe zu optimieren, war einmal ein erschaffendes Kind, und deshalb sind heute alle im Herzen unglücklich, weil die Industrie sie nicht mehr erschaffen läßt und die Dienstleistung sie in Sklaven verwandelt,

gewiß, es ist anstrengend gewesen, das Leben eines Schmiedes zu führen, eines Steinmetzes, eines Küfers, aber es hat den erschaffenden Anteil im Menschen erfüllt, und wie sehr der Wunsch zu erschaffen seit Jahrzehnten unerfüllt bleibt und immer unerfüllbarer wird, sieht man daran, wie die Kunstakademien von Kunststudenten, von denen längst nicht jeder zur Kunst berufen ist, hoffnungslos überrannt werden,

an Alfred Wahnschaffe habe ich erlebt, daß nur derjenige zur Kunst berufen ist, der die Sehergabe hat und sie in sein Werk einfließen läßt,

während Wahnschaffe im Lauf des Nachmittags den Ausschnitt Welt vor seinem Auge neu erschuf, sagte er mir, ihm komme das gesamte Arrangement in Kratzers Biergarten in Hersbruck wie eine Aussegnungshalle vor, und er werde seiner Zeichnung den Charakter einer schwarz-rot-goldenen Aussegnungshalle verleihen,

wer an Magie glaubt, könnte denken, Wahnschaffe habe die Zwei-zu-eins-Niederlage gegen Italien, die Deutschland eine Woche später durch Balotelli erleiden sollte, herbeigezeichnet, indem er Kratzers Biergarten in Hersbruck auf dem Papier in eine Aussegnungshalle verwandelte,

doch ich bin mir sicher, Wahnschaffe hat nur gesehen, was auf die deutsche Nationalmannschaft zukommen würde, und die vorgefundene Realität des Kratzerschen Biergartens mit seiner Vision beseelt,

nicht anders als ein Musiker die vorgefundene Realität der Noten mit seiner Vision beseelt,

und so geriet ihm Schwarz-Rot-Gold zur Trauerfarbe,

müssen Sie, Herr Müller, dabei nicht auch an Kokoschka denken, der, erst vierundzwanzigjährig, den Psychiater Auguste Forel porträtierte, so porträtierte, daß Forel erst zwei Jahre später, nachdem er einen Schlaganfall erlitten hatte, seinem Porträt glich,

und nur ein Narr würde behaupten, Forel habe sich so maßlos über das ihm unähnliche Porträt geärgert, daß er einen Schlag­anfall bekommen mußte, Kokoschka mithin den Schlaganfall herbeigemalt hat,

wenn ich Herrn Wahnschaffe beim Zeichnen zusehe, muß ich oftmals auch darüber nach­denken, wie er die Welt sieht, ob er sie bereits in querformatigen Miniaturausschnitten vor sich sieht und ob sein Auge die Welt zusammenzieht, damit möglichst viel von ihr in sein präferiertes Format hineinpaßt,

egal aber, wie er die Welt sieht, sicher ist, daß er sie besser sieht, als ich sie sehe,

was ich höre, kann ich mir merken, aber was ich sehe, verflüchtigt sich wieder, sobald ich den Blick abwende,

am schlimmsten ist es mit Farben, Herr Müller, wenn ich mir merken will, in welchen Farben ein Raum gestaltet ist, so muß ich mir vorsagen, die Wände sind hellgrün, die Vorhänge bordeauxrot, und so fort, und diesen Satz merke ich mir dann, was keineswegs bedeuten soll, daß Sie mir als ideales Domizil eine Schwarzweißwelt unter­jubeln können, es bedeutet nur, daß alle Frauen, die ich je berührt habe, mehr als Stimme denn als Gestalt in mir weiterleben,

um aber auf Wahnschaffes Umzug zurückzukommen, ich bin, als er mich eines Tages anrief, um mir zu sagen, daß sein Umzug ihm all seine Kräfte raube, sofort zu seinem Domizil in Schweinau gefahren, habe ihn dort aber nicht etwa Dinge sortierend, Dinge in Kartons packend vorgefunden, nein, die nötigen Kartons waren noch nicht einmal besorgt, wie auch,

denn so zielsicher Wahnschaffe den Bleistift über das Papier zu führen vermag, zielsicherer als ich, wenn ich schreibe, so wenig vermag er einen Kraftwagen oder auch nur ein Fahrrad zu steuern, schon gar nicht einem Ziel entgegen, und daher ihm die Kräfte allein dadurch geraubt wurden, daß er, so habe ich ihn angetroffen, reglos an seinem Arbeitstisch saß, reglos wie ein Kaninchen unter Drogen, dem jeder Gegenstand auf dem hoffnungslos überfüllten Tisch zu einer Schlange wurde,

es war mit einem Blick zu erfassen, daß Wahnschaffe den Zeitpunkt seines Umzugs weiter als bis zum Äußersten hinausgeschoben hatte, weil der Tisch, größer als ein Tapeziertisch zwar, keine Kapazitäten mehr besaß, weitere Gegenstände aufzunehmen,

über Jahre hinweg hatte sich Wahnschaffe die zum Zeichnen nötige Fläche stets und nur dadurch erobert, daß er alles, was auf dem Tisch lag, beiseitegeschoben hatte, und gerade Ihnen als Einrichtungskünstler, Herr Müller, wird augenblicklich einleuchten, daß eine Arbeitsfläche, die man sich durch Beiseiteschieben erobert, im Lauf der Jahre unweigerlich immer kleiner werden muß, daß sämtliche auf dem Tisch liegenden Gegenstände zu einem wuchernden Dschungel werden, gegen den sich der Blei- oder Farbstift leider nicht in eine schneisenschlagende Machete verwandelt, im Gegenteil, Wahnschaffes Blei- und Farbstifte gehörten ja zu eben den Werkzeugen, die den Dschungel noch weiter wuchern ließen, bis er über den Tisch hinauswuchs und die gesamte Wohnung eroberte,

und so hat es mich angesichts der Arbeitsfläche nicht überrascht, daß Wahnschaffes Kunst sich in einer vollkommenen Einheit des Schaffens und Lebens im Lauf der Zeit zum Miniaturquerformat entwickelt hat,

durch den überfüllten Arbeitstisch hat Wahnschaffe zu seiner Form gefunden, in der er die Welt auf Papier verdichtet, wie es kaum einem anderen gelingt, und die Einheit von Leben und Schaffen durchdringt ihn bis in die unscheinbarsten Details,

ich bin mit ihm beim Fuchsbeck in Sulzbach-Rosenberg gewesen, ein Gasthaus, auf dessen Speisekarte das Wort Bratwurst so oft erscheint wie auf keiner anderen Speisekarte, die mir in meinem Leben gereicht wurde, und habe ihm zugesehen, wie er, bis unsere Bratwürste serviert wurden, das hölzerne Tor abzeichnete, das den kleinen Biergarten mit seinen acht Tischen von der Straße abschließt, wie er mit schnurgeraden Linien in exakt gleichen Abständen die Bretter abzeichnete, aus denen das Tor gezimmert ist,

dann, als die Bratwürste serviert wurden, konnte ich beobachten, wie Wahnschaffe Bratwurst für Bratwurst in exakt gleich große Scheiben schnitt, ehe er sich anschickte, sie zu verzehren,