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Nach der schmerzhaften Begegnung mit der Wache flüchten Sefia und Archer sich in den Schutz der Wälder. Doch vor den qualvollen Bildern der Vergangenheit gibt es kein Entkommen. Um diese zu vertreiben, beschließen sie, die Organisation der Impressoren zu zerschlagen und die gefangenen Jungen zu befreien. Doch jeder Kampf macht Archer mehr und mehr zu dem unerbittlichen Krieger, der er früher war. Sefia will ihm beistehen und sucht in ihrem Buch nach Antworten. Denn Archers Schicksal stellt nicht nur ihre Freundschaft auf die Probe – auch die Sicherheit Kelannas steht auf dem Spiel. Band 2 der packenden Fantasy-Trilogie, in der Realität und Fiktion miteinander verschmelzen. Alle der Bände der meisterhaft erzählten Serie: Ein Meer aus Tinte und Gold Ein Schatz aus Papier und Magie Die Schlacht um Wörter und Blut (erscheint im April 2019)
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Traci Chee
Ein Schatz aus Papier und Magie
Nach der schmerzhaften Begegnung mit der Wache flüchten Sefia und Archer sich in den Schutz der Wälder. Doch vor den qualvollen Bildern der Vergangenheit gibt es kein Entkommen. Um diese zu vertreiben, beschließen sie, die Organisation der Impressoren zu zerschlagen und die gefangenen Jungen zu befreien. Doch jeder Kampf macht Archer mehr und mehr zu dem unerbittlichen Krieger, der er früher war. Sefia will ihm beistehen und sucht in ihrem Buch nach Antworten. Denn Archers Schicksal stellt nicht nur ihre Freundschaft auf die Probe – auch die Sicherheit Kelannas steht auf dem Spiel.
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Leseprobe
Für Charles, Zach und Paul,die zu früh gehen mussten.
KAPITÄN – Kannek Lees
ERSTER STEUERMANN
ZWEITER STEUERMANN – Lind
SCHIFFSKELLNERIN – Aly
KOCH – Cooky
ZIMMERMANN – Ross
ÄRZTIN / SEGELMACHERIN – Doc
STEUERMANN – Jubi
MATROSEN
Jules – Vorsängerin der Backbordwache
Theo – Vorsänger der Steuerbordwache
Goro
Senta
Marmelade
Archer träumte schon wieder, und in seinen Träumen hatte er keinen Namen. Er wusste nicht, wo er ihn verloren hatte, aber jetzt nannten ihn die Männer Junge oder Stiefellecker, wenn sie ihn überhaupt anredeten.
Er stand in einem Kreis aus Steinen, die groß und blass wie Totenköpfe waren. Um den Ring drängten sich Männer und Frauen, deren Gesichter vom Licht der Fackeln zu hässlichen Fratzen verzerrt waren, und verspotteten ihn. Wenn er das Gewicht verlagerte, bohrten sich Steinchen in seine Fußsohlen.
»Das soll dein neuer Kandidat sein, Habicht?«, sagte ein Mann verächtlich. Er war bleich und hatte schwarze tief liegende Augen.
»Den hab ich vor ein paar Monaten in Jocoxa aufgegabelt«, sagte Habicht. »Und dann hab ich ihn trainiert.«
Habicht war stämmig, hatte rötliche Haut und pulte immer an halb verheilten Wunden.
Der namenlose Junge fasste sich an den Hals und tastete nach der Narbe an seiner Kehle. Habicht hatte ihn gebrandmarkt.
Der bleiche Mann lächelte. Seine Zähne waren klein und spitz wie bei einem Frettchen. »Von solchen unterernährten Hündchen wie dem hier hat Argo schon vier Stück fertiggemacht.«
Der Junge ohne Namen drehte sich um und sah Argo auf der anderen Seite des Rings, auf vier erhabenen Brandmalen an seinem rechten Arm flackerte das Licht. Er trug den dunklen Bart kurz gestutzt und grinste mit offenem Mund.
Die Menge klatschte und johlte. Vielleicht ein Zeichen.
Argo kam auf den Jungen ohne Namen zu. Der wollte einen Schritt zur Seite machen, aber er stolperte.
»Pass doch auf!«, rief Habicht.
Der Junge ohne Namen drehte sich verwirrt um und suchte in der Menge nach Habichts wässrigen Augen, als Argo angriff.
Seine Fäuste waren überall, sie prasselten auf Gesicht, Kopf und Brust des Jungen nieder. Er konnte kaum noch atmen, kaum noch etwas sehen.
Die Schläge wurden schneller, fester, wie Hagel.
Der Junge ohne Namen krümmte sich, stieß mit dem Gesicht gegen sein Knie. Der Boden kam ihm entgegen.
Undeutlich hörte er Habicht rufen: »Steh auf! Steh auf, du kleiner …«
Aber er stand nicht auf.
Argo warf ihn auf den Rücken, setzte sich auf seine Brust und hob die Faust, um zuzuschlagen.
Da begriff der Junge ohne Namen: Das hier war das Ende. Er würde sterben.
Er würde nicht mehr atmen. Nicht mehr sein. Keine Schmerzen mehr haben. Es würde ganz leicht sein.
Doch er wollte nicht sterben.
Und als ihm klar wurde, dass er leben wollte, so schwer es auch war und wie weh es auch tat, brach etwas in seinem Inneren auf, etwas Starkes und Hässliches.
Argo wurde langsamer.
Alles wurde langsamer.
Als ob sich die Sekunden zu Minuten dehnten, die Minuten zu Stunden, sah der Junge ohne Namen, wo der Kampf angefangen hatte, sah jeden Schlag, den er seitdem eingesteckt hatte, in allen Einzelheiten. Er sah Prellungen und frisch verheilte Knochenbrüche unter Argos Haut, spürte Druckstellen in seinen Gelenken wie Knospen, die aufspringen wollten.
Die Faust kam auf ihn zu, aber der namenlose Junge wehrte sie ab, sodass sie den Boden traf. Er nahm Argos Bein mit seinen eigenen in die Zange, dann drehte er sich herum. Jetzt hatte er seinen Gegner unter sich.
»So ists recht, Junge. Wehr dich!«, rief Habicht.
Der Junge hätte zuschlagen können. Doch stattdessen sprang er auf und schaute in die Runde.
Er sah alles. Er wusste, welche Fackeln er am einfachsten aus dem Boden reißen könnte und wie lange er bis zu jeder einzelnen brauchen würde. Er wusste, welche Steine, die den Ring begrenzten, die besten Waffen abgaben. Er zählte die Revolver und versteckten Messer in der Menschenmenge, und er sah, wo der Boden nicht fest war und man leicht den Halt verlieren konnte. All das sah er.
Als Argo aufstand, schlug der Junge ohne Namen ihm ins Gesicht. Das Fleisch gab nach. Er schlug Argo wieder und wieder, schnell und hart, dort, wo es am meisten wehtat und ihn am meisten verletzte.
Es war leicht.
Ganz natürlich.
Wie atmen.
Argos Kniescheibe knackte. Bänder rissen. Der Junge ohne Namen schlug ihm aufs Schlüsselbein. Er konnte fast sehen, wie die Knochen unter der Haut splitterten.
Argo weinte. Er versuchte aus dem Ring zu krabbeln, doch seine Arme und Beine versagten ihm den Dienst. Er war vollkommen verdreckt.
Die Menge schrie nach Blut.
Der Junge ohne Namen kniete sich hin und nahm einen Stein mit spitzen Zacken.
Jetzt war es fast vorbei. Er konnte das Ende sehen. Es war ganz nah.
Argo hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen. Er blutete aus dem Mund, als er um sein Leben flehte.
Doch der Junge ohne Namen hörte ihn nicht.
Leben bedeutete Töten. Das begriff er jetzt. Er wusste, was er zu tun hatte.
Er schlug Argo mit dem Stein ins Gesicht. Er spürte die Wucht, wie sich Fleisch und Knochen verformten. Das Flehen war verstummt.
Er hob den Stein aufs Neue.
DIES
1. KAPITEL
Sefia schaute zu Archer hinab, der zusammen mit ihren Habseligkeiten in einer versteckten Nische zwischen den Felsen lag. Er rührte sich kurz, zog sich die Decke von der Brust und lag dann wieder reglos da. In den zwei Stunden, seit der Mond am Himmel stand, war er so oft aufgewacht und wieder eingeschlafen, aufgewacht und wieder eingeschlafen, war immer wieder in seine Träume getaucht, um bald darauf nach Luft schnappend zurück ins Bewusstsein zu kehren.
Selbst jetzt schien er nicht zu ruhen, seine Stirn war gerunzelt, seine Finger zuckten, die Lippen waren zu einem Fauchen oder einem stummen Schrei verzogen. Sefia wollte zu ihm gehen, seine Stirn glätten und seine Fäuste öffnen, doch seit ihrer Flucht war er anders, verschlossen. Die Begegnung mit der Wache hatte ihn und ihr Zusammensein verändert.
Alles hatte sich verändert.
Sefia hockte auf einem Granitfelsen und zog die Decke fester um die Schultern. Sie hätte lieber ihre Hängematte gehabt, als in dieser Nische zu verharren, aber die Hängematte war zusammen mit dem Großteil ihres Proviants in Tanins Büro zurückgeblieben.
Und Nin. Ihre Tante, die sie geschworen hatte zu retten. Die Tante, die sie im Stich gelassen hatte. Ein kleiner Körper unter einem Bärenfellmantel.
Sefia schauderte, als sie daran dachte, was danach passiert war: das blitzende Messer und wie Tanins Haut unter der Klinge aufgeplatzt war. Ihr zweites Opfer.
Die Wache würde Sefia teuer bezahlen lassen. Jetzt waren zwei ihrer Anführer von Sefias Familie getötet worden.
Alle paar Minuten spähte sie angestrengt in den Wald. Sie tastete nach dem speziellen Sinn, den sie mit ihrer Mutter – und auch ihrem Vater – gemeinsam hatte, suchte ihre magischen Kräfte.
Sie waren immer da, ständig in Bewegung, wie ein mächtiger Ozean unter einer Eisschicht. Denn die Welt war mehr als das, was man sehen, hören und anfassen konnte. Wenn man die Gabe hatte, war die Welt illuminiert – jeder Gegenstand schwamm in seiner eigenen Geschichte, jeder Moment war zugänglich, wenn man nur wusste, wie man ihn finden konnte.
Sefia blinzelte und wirbelnde Goldströme wurden vor ihren Augen lebendig, Millionen winziger heller Flecken bewegten sich im Wind, Bäume reckten sich empor, zerfallende Materie schwebte sanft zu Boden. Weiter unten im Tal, keine zwei Meilen von ihrem Lager entfernt, erstreckte sich die ferne Bergstadt Cascarra am Fluss Olivin. Aus der Nähe sah Sefia Lichter wie Goldperlen, die die Straßen und Holzlager schmückten, Lastkähne zerrten sachte an ihrer Vertäuung, Rauch kringelte sich von den spitzen Dächern. Doch nichts störte den Frieden.
Sefia blinzelte erneut und ihre Vision – die von der Wache als Tiefenblick bezeichnet wurde – verblasste. Sie und Archer waren vorerst in Sicherheit. Die Wache hatte sie noch nicht aufgespürt.
Aber früher oder später war es so weit. Sie würden sie finden, genauso, wie sie Sefias Eltern gefunden hatten.
Lon und Mareah.
Als sie an die beiden dachte, rollte ihr Herz sich ein wie ein Blatt bei Frost. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass sie zu einem Geheimbund von Mördern und Entführern gehört hatten – diese sanftmütigen Menschen, die sie großgezogen, beschützt und geliebt hatten. Aber dann fiel ihr ein, wie ihre Mutter das Messer herumgewirbelt hatte, bevor sie Gemüse klein schnitt. Wie sie einen Kojoten im Hühnerstall mit einem einzigen Messerwurf getötet hatte. Und sie dachte an ihren Vater, wie er mit seinem Teleskop am Fenster gestanden und den Ozean betrachtet hatte. Erst jetzt begriff Sefia, dass er nach Hinweisen für die Wache Ausschau gehalten hatte. Nach den Leuten, die ihnen auf den Fersen waren.
Ihre Eltern hatten ihr so vieles verheimlicht – wer sie waren und was sie getan hatten. Wegen der Geheimnisse ihrer Eltern musste sie weglaufen, anstatt zu kämpfen. Musste sich verstecken, anstatt frei zu sein. Nin war tot, weil Sefia nicht vorbereitet gewesen war. Bei aller Liebe zu ihren Eltern konnte sie ihnen das nicht verzeihen.
Und sich selbst auch nicht.
Und jetzt war sie schon wieder auf der Flucht.
Vor fünf Tagen waren sie und Archer mit einem Boot vor den Fährtenlesern der Wache geflohen. Sie waren an der Felsküste von Deliene entlang Richtung Norden gesegelt. Erst als sie ein anderes Schiff hinter sich entdeckten, das rasch aufholte, riskierten sie es, an Land zu gehen. Das Boot versenkten sie, um die Verfolger abzuschütteln.
Sie waren über den Hohen Grat geklettert, die Bergkette, die ins Herzland mitten im Königreich führte. Zwischen den Gipfeln waren sie in Richtung Cascarra gewandert. Dort hofften sie auf ein Flussschiff, das sie zurück zum Meer bringen könnte.
Dann waren sie immer weiter gerannt, solange sie konnten. Gejagte für den Rest ihres Lebens.
Sefia betrachtete den in Leder eingehüllten Gegenstand in ihrem Schoß. Bücher waren ohnehin selten in Kelanna, von der Wache wurden sie gehortet, während alle anderen durchs Leben gingen, ohne lesen und schreiben zu können. Aber dies war kein gewöhnliches Buch. Es war das Buch – unendlich und voller Magie. Es war das Protokoll von allem, was je gewesen war und je sein würde, alle Zeitalter mit feiner schwarzer Tinte aufgezeichnet.
Wie jeden Abend, seit sie wieder auf der Flucht war, nahm sie das wasserfeste Leder behutsam ab.
Sie könnte herausfinden, wer ihre Mutter und ihr Vater wirklich gewesen waren und warum sie so gehandelt hatten … aber sie brachte nie den Mut auf, hinzusehen.
Archer zuckte im Schlaf und die bösen Verbrennungen an seinem Hals wurden sichtbar. Hinter ihm knackten trockene Zweige, die wie Gewehrschüsse in der Stille hallten.
Sefia schaute verstohlen in den Wald, doch nichts regte sich im Unterholz.
Seufzend lehnte sie sich wieder zurück. Der Einband des Buchs war rissig und fleckig, mit verfärbten Einkerbungen, wo sich einmal Edelsteine und Filigranarbeiten befunden hatten. Die einzigen sichtbaren Zeichen des wertvollen Metalls waren die Schnallen und die mit Gold beschlagenen Ecken.
Aus Gewohnheit zog sie mit dem Finger das Symbol in der Mitte nach.
Zwei gebogenen Linien für ihre Eltern. Eine für Nin. Die gerade Linie für sie selbst. Der Kreis für das, was sie zu tun hatte: herausfinden, wofür das Buch da war. Nin retten. Und, wenn sie konnte, die Verantwortlichen bestrafen.
Aber sie konnte sich nicht überwinden das Buch aufzuschlagen. Konnte der Wahrheit immer noch nicht ins Gesicht sehen. Sie wollte das Buch gerade wieder in den Lederumschlag packen, als in der Ferne ein Ast knackte.
Ihr Körper spannte sich an, sie blinzelte und Gold strömte in ihr Blickfeld. Im Osten sah sie Männer, die vom Bergkamm hinabstiegen. Wie schwarze Fische in einem schwarzen Teich strömten sie ins Mondlicht und wieder hinaus, ihre Flossen blitzten an der Oberfläche auf, bis sie wieder untertauchten.
Fährtenleser. Sie mussten die Umgebung von der anderen Seite des Bergs aus abgesucht haben, und jetzt kamen sie näher.
Archer wand sich und warf seinen Rucksack um. Klappernd stieß die Feldflasche gegen die Klinge seines Schwerts.
Einen Moment lang verharrten die Fährtenleser. Dann wandten sie sich in ihre Richtung. Ihre Augen glühten in der illuminierten Welt, flackernd suchten sie die Dunkelheit ab.
Sie kamen näher.
Geübt durch die Jahre der Flucht schalteten sich Sefias Instinkte ein. Schnell packte sie das Buch und sprang zwischen den Felsen nach unten.
Archer schlug nun um sich, er fuhr mit den ausgestreckten Armen über den Boden. Er war so laut. Sefia schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest. Unter ihnen knisterten die herabgefallenen Kiefernnadeln wie Feuer.
Er riss die Augen auf, groß und golden. Panik spiegelte sich in seinem Gesicht. Er klappte den Mund auf und zu, auf und zu, schnappte nach Luft, sein Herz hämmerte. Dann wehrte er sich wie ein Kaninchen in der Falle. Sie lockerte den Griff.
»Archer«, flüsterte sie.
Er stieß sie gegen die Felsen. Schmerz durchzuckte sie.
»Archer«, sagte sie jetzt verzweifelt. »Alles ist gut. Ich bins, Sefia. Archer.«
Er erstarrte, sein Atem ging zu schnell und zu laut.
Diesmal ließ er sich von ihr umarmen, sein Puls raste. Wenn er so nah war, streifte sein Atem ihre Wange. Sie biss sich auf die Lippe. Fünf Tage waren seit dem Kuss vergangen. Fünf Tage und sie spürte immer noch seinen Mund auf ihrem, hatte immer noch das Verlangen nach Wiederholung.
Als Archer die Schritte hörte, sah er auf. Sefia kannte die Geräusche, auf der Jagd mit Nin hatte sie sich selbst genauso bewegt. Pirschende Schritte und dazwischen langes stilles Lauschen. Hundert Fuß entfernt? Fünfzig? Sie zeigte in den Wald und formte mit den Lippen stumm das Wort Fährtenleser.
Er nickte und blinzelte schnell. Leise wie Schnee zog er ein Stück Quarz aus der Tasche und strich langsam mit dem Daumen darüber – ein Ritual, das Sefia ihm vor über einem Monat beigebracht hatte, um ihn von seiner panischen Angst zu befreien, ihn daran zu erinnern, dass er in Sicherheit war.
Aber sie waren nicht in Sicherheit.
Durch einen Felsspalt sah sie die Schatten, die sich zwischen den Bäumen bewegten. Die Fährtenleser waren jetzt überall um sie herum, mit Sternenlicht auf den Gewehren und Schatten in den Augen suchten sie den Boden nach Fußspuren ab.
Sie werden uns finden. Jeder, der auch nur ein bisschen vom Spurenlesen verstand, würde ihr kleines Lager entdecken. Sefia musste dafür sorgen, dass sie weiterzogen, und zwar bald.
Sie aktivierte wieder ihren Tiefenblick, dann schnippte sie mit den Fingern. In der illuminierten Welt spannten sich die Lichtfäden und sprangen zurück wie die Sehne eines Bogens. Die Goldstreifen kräuselten sich. Zehn Meter weiter, auf dem Hang nach Cascarra, knackte ein toter Ast.
Die Fährtenleser duckten sich. Ihre Gewehre fuhren in die Höhe. Sie waren so leise … und so schnell.
Sie machte es noch einmal, diesmal weiter entfernt.
Der Anführer winkte seine Truppe zum Flusstal hinüber und sie krochen auf das Geräusch der knackenden Äste zu, in Richtung Stadt, weg von Sefia und Archer.
Ihr Puls beruhigte sich und jetzt wurde sie Archers Körper gewahr, der mit ihrem eigenen verschlungen war. Er rieb nicht länger den Stein und lag ganz still. Mit müden Augen sah er sie an. »Hab ich dir wehgetan?«, flüsterte er.
Seine Stimme überraschte sie auch nach fünf Tagen noch mit ihren Klangschichten aus Feuer und Dunkelheit, wie ein Tigerauge.
»Nein.« Sie kniete sich hin und versuchte nicht zusammenzuzucken, obwohl es zwischen ihren Schulterblättern wehtat. Sie mussten weiter, bevor die Fährtenleser merkten, dass sie nicht in Cascarra waren. Sie nahm ihre Decke.
»Als ich aufgewacht bin und nicht wusste, wo ich war … als ich mich nicht bewegen konnte, dachte ich … Es tut mir leid, ich …« Er richtete sich auf und sie erwartete, dass er weitersprach. Doch er klappte den Mund zu und berührte die Narbe am Hals, das Brandmal, mit dem die Impressoren alle Jungen als Kandidaten kennzeichneten. Seit Jahren suchte die Wache nach dem Jungen, der sie in dem blutigsten Krieg, den Kelanna je erlebt hatte, in den Sieg führen sollte. Ein Killer. Ein Anführer. Ein Feldherr.
Weil er einer ihrer Kandidaten gewesen war, hatte Archer alles verloren – seinen Namen, seine Stimme, seine Erinnerungen – und war nur noch eine leere Hülle.
Vieles war bei ihrer Begegnung mit der Wache zurückgekommen. Aber seinen wahren Namen hatte Archer ihr immer noch nicht verraten, und in solchen Momenten wie jetzt hatte sie das Gefühl, ihn noch weniger zu kennen als zuvor.
Genau wie meine Eltern, dachte sie bitter.
»Sie hätten uns fast geschnappt«, sagte Archer und steckte den Quarz wieder ein.
»Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie so nah waren.«
»Hättest du aber wissen können.« Sein Blick fiel auf das Buch. »Du könntest immer wissen, wo sie gerade sind. Dann wären wir ihnen immer einen Schritt voraus.«
Sefia wurde innerlich steif. Er hatte natürlich recht – das Buch enthielt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jeder Schritt der Wache war irgendwo dort drin, tief vergraben in der Geschichte. Wenn sie diese Informationen hätten, könnten sie der Wache leicht ausweichen. Wenn sie schlau genug wären, könnten sie sich dem Feind sogar für immer entziehen. Und vielleicht wären sie dann frei.
Aber sie hatte Angst. Angst davor, was sie finden würde, wenn sie das Buch aufschlug.
Davor, was es ihr über ihre Familie erzählen würde … und vor den schrecklichen Taten, die sie womöglich begangen hatten.
Aber wenn sie damit Archer vor der Wache beschützen könnte? Archer, der für sie gekämpft, Hunger und schlaflose Nächte in Kauf genommen hatte? Archer, der, seit seine Erinnerungen zurückkamen, in gewisser Weise noch kaputter zu sein schien als vorher?
Sie sah ihm fest in die Augen. »Na gut.«
Im Mondschein legte sie das Buch wieder in den Schoß. Sie beugte sich so tief hinab, dass sie mit den Lippen fast das auf dem Einband berührte, und murmelte: »Zeig mir, was die Wache gerade macht.«
Sie holte tief Luft und öffnete die Schnallen. Die Seiten raschelten unter ihren Fingern und kamen zur Ruhe wie zwei von Tinte zerfurchte Felder.
Sie spürte Archer neben sich, wartend.
»Das Schlafgemach war völlig zerstört«, las Sefia flüsternd vor, als könnte die Wache sie hören. Mit einem Schaudern sah sie sich um, aber die Fährtenleser waren längst verschwunden. Sie waren in Sicherheit. Vorerst.
Sie las weiter. »Aufgeschlagene Bände und Papierrollen lagen überall auf dem Bett verstreut, wuchsen zu Bücherstapeln und Pergamentbergen an …« Ihr Blick huschte über die Zeilen. »O nein. Nein.«
Sie hatte sich getäuscht.
Sie würden nie in Sicherheit sein. Und ganz gleich, wie weit sie auch rannten und wie gut sie sich versteckten, sie würden niemals frei sein.
IST EIN
Das Schlafgemach war völlig zerstört. Aufgeschlagene Bände und Papierrollen lagen überall auf dem Bett verstreut, wuchsen zu Bücherstapeln und Pergamentbergen an, eine zerstörte Landschaft aus Fragen, die ins Nichts mündeten, und Antworten auf Rätsel, die sie nicht gestellt hatte.
Zu dieser späten Stunde hätte Tanin längst schlafen sollen. Aber in letzter Zeit schlief sie wenig.
Es gab viel zu tun.
Sie fuhr mit den schlanken Händen über das Bett, warf Federhalter und unbrauchbare Seiten weg.
Dieser Bibliothekar hier schrieb, das Buch sei überall zugleich.
Nutzlos.
Der hier schrieb dicke Absätze über das Paradoxon eines unendlichen Buchs.
Unwichtig.
Dieser Meister behauptete, die Bibliothek werde dreimal von Feuer heimgesucht werden.
Tanin fand nichts darüber, wo sich das Buch in diesem Moment befand. Sie hatte es in den Händen gehalten – rissiges Leder, knisternde Seiten –, genau wie das verbrannte Blatt es prophezeit hatte.
Doch sie hatte es verloren. Sie hatte alles verloren – ihre Kraft, ihre Stimme, sogar ihren Titel.
Mit zitternden Händen entkorkte sie ein neues Tintenfass, um ihre Aufzeichnungen fortzusetzen.
Fast augenblicklich beschleunigte sich ihr Puls. Ihre Brust zog sich zusammen. Etwas stimmte nicht. Während sie in den Taschen ihres Nachtgewandes tastete, ging ihr Atem flacher und schneller.
Sie hätte um Hilfe klingeln können. In ihrem geschwächten Zustand waren Komplikationen nicht ungewöhnlich. Es kam vor, dass Opfer einen Angriff mit beinahe tödlichem Ausgang nicht überlebten.
Aber das hier war keine Komplikation.
Es war ein Anschlag.
Kleine Ampullen mit Puder und Tinkturen fielen ihr aus den zitternden Fingern und es wurde immer schwerer zu atmen, zu denken, zu handeln. Eine Ampulle nach der anderen nahm sie in die Hand, versuchte die Etiketten zu entziffern, doch die Buchstaben verschwammen und Schmerz ergriff ihren Körper.
Aber das war nicht der erste Angriff auf ihr Leben, seit sie Sefia begegnet war, und es würde nicht der letzte sein.
Schließlich fand sie die richtige Ampulle und brach sie über dem offenen Tintenfass auf. Als sich der schwarze Puder mit der Flüssigkeit vermischte, zischte und qualmte es. Ein schwacher Geruch von Orangenschalen erfüllte ihre Sinne.
Das Engegefühl in ihrer Brust ließ nach. Ihr Herz schlug wieder langsamer. Die vergiftete Tinte, die an der Luft einen toxischen Dampf ausdünstete, war unschädlich gemacht.
Schon wieder daneben, Steingold.
Sie lehnte sich zurück in die Kissen, atmete tief durch, dann hob sie die restlichen Ampullen auf und ließ sie mit einem Klirren in ihre Tasche fallen.
Tanin fasste sich an den Hals, sie dachte an das Messer und wie das Leben heiß aus ihr herausgeflossen war. Wäre Rajar, der Soldatenlehrling, nicht gewesen, der den Blutverlust mithilfe von Manipulation eingedämmt hatte, wäre sie jetzt tot.
Wenn sie nicht aufpasste, könnte sie es bald sein.
Es war üblich, dass die fünf Meister einen Interimsdirektor aus ihren Reihen wählten, wenn der Direktor verhindert war. Es war ebenfalls üblich, dass der Interimsdirektor versuchte den Direktor zu ermorden, um die Position zu halten – sofern er glaubte, er könnte damit davonkommen, ohne den Rest der Wache ins Chaos zu stürzen.
Offensichtlich glaubte der jetzige Interimsdirektor Darion Steingold, ihr Meisterpolitiker und der König von Everika, er könnte damit davonkommen, jedenfalls wenn er es wie einen Unfall aussehen ließ.
Nach der Ermordung von Edmon wäre Steingold eigentlich sein Nachfolger gewesen. Er war der geborene Anführer und mithilfe des Meistersoldaten hatte er die erste Phase des Roten Krieges bereits abgeschlossen – die Vereinigung Everikas.
Doch Erastis hatte Tanin den Rücken gestärkt und auf ihn hörten alle Mitglieder der Wache. Deshalb wurde Tanin als Verwaltungslehrling vor Steingold und ihrem eigenen Meister zur Direktorin der Wache gewählt.
Der Politiker wartete seit Jahrzehnten auf eine Gelegenheit, sie zu töten, und jetzt war ihre Stellung innerhalb der Wache prekär genug, um es zu versuchen – wenn auch nicht so prekär, dass er sie geradewegs hätte ermorden können. Sie hatte immer noch einige Unterstützer in der Wache und die könnte sie zusammenrufen … wenn sie das Buch hätte.
Doch wegen solcher Anschläge auf ihr Leben lief ihr die Zeit davon.
Tanin schlug die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Das Nachthemd umspielte ihre nackten Fesseln. Bis zur Bibliothek war es nur ein kurzer Weg durch den Flur.
Sie schaffte drei Schritte, dann fiel sie hin. Bücherstapel kippten um. Eine Vitrine krachte zu Boden und bedeckte sie mit Scherben. Ein einzelnes Blatt Papier, zerknittert und vergilbt, flatterte herab.
Eine Weile lag sie da und betrachtete den hastig hingekritzelten Plan, eher Traum als Strategie, mit Anmerkungen in verschiedenen Tintenfarben versehen, die im Lauf der Jahre von verschiedenen Menschen hinzugefügt worden waren.
Und ganz oben groß und deutlich:
Der Rote Krieg
Es klopfte an der Tür.
Tanin machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber bei der Bewegung fuhr ihr ein zuckender Schmerz in die Kehle wie brennendes Papier. Sie blinzelte, beschwor den Tiefenblick herauf und ließ ihre Hand durch die Goldströme gleiten. Die Tür ging auf.
Sie nahm das alte Stück Pergament und zerknüllte das spröde Papier mit den Fingern. Sie war nicht machtlos, beim besten Willen nicht. Als sie in die Wache eingeführt wurde, war sie ein verängstigtes Kind gewesen. Wenn sie es damals geschafft hatte, sich aufzurappeln, dann konnte sie immer wieder auf die Beine kommen.
Erastis trat ein, sein samtenes Gewand streifte beim Gehen den Boden. Er war jetzt fast neunzig, sein Gesicht eine Landkarte aus Falten, seine verbliebenen Haare fast ganz weiß, doch sobald er sie in den Scherben liegen sah, eilte er überraschend flink herbei. Als er ihr zurück ins Bett half, errötete sie und legte Lons ursprünglichen Plan für den Roten Krieg auf den Nachttisch.
»Dachte ich’s mir doch, dass da was gekracht hat«, sagte Erastis und deckte sie zu. »Ich weiß, wie gern du rausmöchtest, aber du musst diese Zeit nutzen, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Tanin tastete nach dem Holztablett neben sich. Sie glättete ein Stück Pergament und tauchte eine Feder in die Tinte. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, schrieb sie.
Erastis blinzelte durch die Brillengläser auf ihre Worte. »Schon wieder ein Anschlag?«
Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Tintenfass und er hob es an die Nase.
»Gift? Man sollte meinen, er wäre klüger, als die Waffe einer ehemaligen Verwalterin gegen sie selbst anzuwenden. Unser Politiker scheint allmählich ziemlich verzweifelt zu sein.« Der Bibliothekar ließ sich im Sessel nieder. »Ich werde herausfinden, wer das Tintenfass eingeschleust hat, und mir denjenigen vorknöpfen. Darion muss wissen, dass ich Mordversuche im Hauptsitz nicht dulde.«
Tanin schluckte. Früher einmal hätte Erastis Steingold vielleicht aufhalten können. Doch der Meisterbibliothekar war alt und sein Einfluss nicht mehr derselbe.
Abgesehen von den Dienern war er in der vergangenen Woche ihr einziger Gefährte gewesen, er hatte ihr Handschriften gebracht und ihr geholfen in der riesigen Sammlung der Bibliothek nach Hinweisen auf das Buch zu suchen.
Es machte ihr Sorgen, dass die anderen Mitglieder der Wache nicht da waren. Viele waren im Einsatz, aber wenigstens mit dem Verwalter Dotan, ihrem alten Meister, hätte sie gerechnet.
Hatte er sich gegen sie gewandt? Oder war er nur mit Phase II des Kriegs beschäftigt? Sie blickte auf den Nachttisch.
LIKKARO — Rajar (Soldatenlehrling)
Rajar wird Serakeen.
Serakeen blockiert Likkaro und gewinnt Macht / Einfluss über die korrupte Regierung
Serakeen nutzt seinen Einfluss, um politische Verbündete für die Übernahme der Macht des Königreichs zu stärken!
Tanin tauchte die Feder wieder ein und schrieb: Sefia?
Erastis faltete die Hände. »Unsere Fährtenleser sind genauso unerbittlich wie du. Hab Geduld. Nicht mehr lange, dann finden sie die beiden Kinder.«
Tanin kratzte Sefias Namen aus. Letztes Mal hatten sie das Glück gehabt, über die Kritzeleien des Mädchens zu stolpern. DIES IST EIN BUCH hatte sie in Baumstämme geritzt und wie Fußspuren im Matsch hinterlassen. Sie konnten sich nicht darauf verlassen, dass sie noch einmal solches Glück haben würden.
»Sie ist wie ihre Eltern, nicht wahr?«, sagte der Meisterbibliothekar. »Ganz die Tochter von Lon und Mareah.«
Früher einmal hatte Tanin Lon und Mareah nähergestanden als irgendjemand sonst, außer vielleicht Rajar. Die vier waren unzertrennlich gewesen – Bibliothekar, Jägerin, Soldat, Verwalterin. Vor Jahren hatten sie sich heimlich verschworen, um alle fünf Inseln unter den Einfluss der Wache zu stellen. Mithilfe des Roten Krieges wollten sie die Königreiche erobern, die sich mit anderen Mitteln nicht umstimmen ließen. Und dafür brauchten sie den Jungen aus den Legenden.
Die Impressoren waren Lons Idee gewesen. »Wir brauchen einen Jungen mit einer Narbe um den Hals?«, hatte er gesagt. »Dann suchen wir ihn eben.«
»Wie denn?«, hatte Mareah gefragt. »Dafür haben wir nicht genug Leute.«
Er hatte sich eifrig vorgebeugt und seinen Plan erklärt. »Wir gründen eine Organisation, die uns Jungen mit den Narben beschafft. Mar, du kannst ihnen beibringen, wie man Kandidaten ausfindig macht und trainiert. Wir müssen nur einen entsprechenden Lohn bieten, dann haben wir den Jungen garantiert auf unserer Seite, wenn der Rest des Plans aufgeht.«
Rajar hatte von allen am meisten Zweifel gehabt. »Du kannst das Schicksal nicht selber bestimmen, Lon. Du bist zwar gut, aber so gut ist niemand.«
Lon reckte das Kinn und seine Augen glänzten wie geschmolzener Obsidian. »Nicht allein. Aber zusammen schaffen wir alles.«
Die Spitze von Tanins Feder stach in das Blatt.
»Immer noch so wütend?« Erastis seufzte.
Du etwa nicht?
Mit einem Finger berührte er das Blatt Papier auf ihrem Nachttisch und zeichnete die Phasen des Roten Krieges nach, Königreich um Königreich:
PHASE I Eroberung von Everika
PHASE II Bündnis mit Likkaro
PHASE III Bündnis mit Deliene
PHASE IV Eroberung von Oxszini & Roku
Sie würden über die fünf Inseln herrschen. Und die Gesetzlosen vernichten. Kelanna würde ihnen gehören. Nun ja … nicht ganz. Nicht mehr.
»Warum auf die Toten wütend sein?«, murmelte Erastis.
Weil sie gelogen haben. Sie haben gesagt, dass sie mich lieben. Aber wenn sie mich geliebt hätten, dann hätten sie mir vertraut und an mich geglaubt. Und sie wären nie weggegangen.
Der Meisterbibliothekar schüttelte den Kopf und ließ die Hand sinken.
Wieder jagte Tanins Feder über die Seite. Hast du Hinweise auf das Buch gefunden?
Erastis beugte sich vor und las, was sie geschrieben hatte. »Leider n…«
Sie unterbrach ihn mit einer schwungvollen Bewegung ihrer Feder. Tinte spritzte über die Bettdecke. Würdest du es mir sagen, wenn du etwas gefunden hättest?
Der Meisterbibliothekar sah sie traurig an.
Sie schluckte und die Schuldgefühle brannten in ihrer Kehle. Lon und Mareah hatten es vielleicht gestohlen. Sefia hatte es vielleicht verteidigt. Aber Tanin hatte es verloren. Und alle in der Wache wussten das.
»Meine Liebe.« Erastis tätschelte ihr die Hand. »Ich liebe dich so, wie ich die beiden geliebt habe. Noch mehr sogar, weil du geblieben bist. Zweifle nicht daran, dass du Freunde hast.«
Freunde, dachte sie verächtlich. Gegen Darion Steingold brauchte sie Verbündete.
Erastis und seinen neuen Lehrling konnte sie wohl dazu zählen, aber was war mit Rajar? Mit Dotan und seinem Verwaltungslehrling? Mit der Ersten Jägerin?
Sie brauchte ihre Loyalität und Unterstützung, nicht ihre Liebe.
Vor allem aber brauchte sie das Buch.
Und dafür musste sie Sefia finden.
2. KAPITEL
Fassungslos starrte Sefia auf das Buch. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie Tanin getötet hatte – ihr überraschtes Gesicht, das viele Blut –, so sicher, ihre Familie gerächt zu haben.
Sie hatte sich getäuscht. Sie hatte sich in vielen Punkten getäuscht.
»Die Impressoren waren die Idee deines Vaters?«, fragte Archer. Er sah verletzt aus, sein Blick war hart. Zufällig sah sie auf die runzlige Narbe an seinem Hals.
Archers Entführung. Seine Narbe. Seine Albträume. Alles das Werk ihrer Eltern. Die vielen Brandmarkungen, die Folter, die Kämpfe. All die toten Jungen.
Ihre Eltern. Die Eltern, die sie geliebt und bewundert hatte. Wie konnten sie zu so etwas fähig sein?
Einen Moment lang wünschte sie, Archer würde sie in die Arme nehmen, sie festhalten und erst loslassen, wenn die Welt wieder in Ordnung war.
Aber sie konnte ihn nicht darum bitten, jetzt nicht mehr. »Es … es tut mir leid. Das hab ich nicht gewusst«, flüsterte sie.
Ein Muskel in Archers Kiefer zuckte. Die Sehnen an seinem vernarbten Hals spannten sich an. »Du konntest es nicht wissen«, sagte er schließlich. Aber er sagte nicht, dass alles gut sei. Vielleicht würde nichts zwischen ihnen je wieder gut sein.
»Sie haben es mir nicht erzählt. Keiner hat mir was erzählt.« Sefia knickte die Ecke der Seite um und klappte das Buch zu. Das Emblem auf dem Einband schien sie zu verhöhnen. Zwei gebogene Linien für ihre Eltern. Eine gebogene Linie für Nin. Die gerade Linie für sie selbst. Antworten. Vergeltung. Rache.
Wie naiv sie gewesen war. Am liebsten hätte sie den Einband abgerissen, irgendwas in Fetzen gerissen. Tanin dafür, dass sie Nin getötet hatte. Ihre Eltern dafür, dass sie ihr so viel verheimlicht hatten. Die Wache, die für all das verantwortlich war.
Aber sie konnte nur eins tun. Nur eins hatte sie gelernt. Fliehen. Sie steckte das Buch in den Lederumschlag, schob es tief in ihren Rucksack und strich sich eine Locke aus den Augen. »Bist du noch dabei?«
Archer sah sie so lange an, dass sie fast beobachten konnte, wie die Erschöpfung blaue Schatten unter seine Augen zeichnete. Warf er ihr die Taten ihrer Eltern vor? Wollte er sie nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, im Stich lassen?
Bitte nicht.
Schließlich nickte er, aber er wandte den Blick ab.
»Dann lass uns gehen.«
Archer fasste sich kurz an die Schläfe und zeigte nach Cascarra. Die Sonne war schon fast aufgegangen und die Straßen füllten sich mit Leben.
»Nein, auf dem Weg kommen wir nicht mehr aus Deliene raus. Wir müssen Richtung Norden.«
Als sie ihre Sachen packten, beschrieb sie die Szythischen Berge, die über den nordwestlichen Ufern von Deliene thronten. Im Sommer boten die spitzen Gipfel dem einen oder anderen Hirten mit seiner Herde eine Heimat, doch jetzt, da der Herbst kam, würden bald alle weg sein. In den kalten Monaten wagte sich niemand ins Hochland. Dann waren Essen und Brennholz knapp und die Temperaturen sanken unter null.
»Szythia ist nicht gerade meine erste Wahl«, sagte sie. »Aber was bleibt uns anderes übrig?«
Eine unangenehme Stille entstand, während sie ihre Rucksäcke schulterten. Als Archer noch nicht sprechen konnte, hatten sie ganze Tage schweigend verbracht. Damals hatte sich sein Schweigen angenehm und vertraut angefühlt. Es hatte sie umhüllt wie ein Mantel.
Jetzt war sein Schweigen verzerrt durch die Wahrheit über ihre Eltern, die Vergangenheit, die er nicht mit ihr teilen konnte, die Erinnerung an einen Kuss.
Sie dachte an das, was Tanin über Lon und Mareah gesagt hatte, und auch ihr versetzten ihre Geheimnisse einen Stich … genauso wie Archers Geheimnisse. Wenn du mich lieben würdest, würdest du mir vertrauen.
Sefia umfasste die Riemen ihres Rucksacks. »Komm«, sagte sie.
Schnell verwischten sie ihre Spuren und schlichen davon, während die Morgendämmerung die Gipfel erreichte und das Tageslicht sie durch die Spitzen der Kiefern jagte.
Um die Szythischen Berge zu erreichen, mussten sie zuerst das weitläufige Herzland von Deliene durchqueren – sanfte, wellenförmige Hügel, ein Ozean aus Gold, der von Schafen gesprenkelt und vom Wind gekräuselt wurde – offen, ungeschützt und voller Gefahren.
Auf dem letzten Gipfel der Bergkette hielt Archer eine Hand schützend über die Augen und blickte über das weite Land mitten im nördlichen Königreich.
»Hast du das Herzland schon mal gesehen?«, fragte Sefia und reichte Archer die Feldflasche.
»Ich bin vorher nie aus Oxszini rausgekommen.«
Sie sah zu ihm auf und betrachtete sein Profil mit der schiefen Nase. Dann stammte er also tatsächlich aus dem Waldkönigreich, wo sie ihn vor über einem Monat in einer Holzkiste mit dem darauf gefunden hatte. Sie fragte sich, ob er von Schiffsbauern abstammte oder von Holzfällern im Landesinneren. Vielleicht waren sie Mitglieder der Königlichen Marine gewesen. Möglicherweise war er ein Waisenkind und seine Eltern waren vor fünf Jahren ums Leben gekommen, als Everika, das Steinkönigreich im Osten, Oxszini den Krieg erklärt hatte.
Hat das auch zum Plan meines Vaters gehört?
Sie schluckte und befestigte die Feldflasche wieder an ihrem Rucksack. »Wenn wir unbemerkt nach Szythia kommen wollen, müssen wir uns von den Straßen fernhalten.«
Archer rieb sich müde die Augen, als hätte er Mühe, zwischen Schlafen und Wachen zu unterscheiden. »Und dann?«
Sie marschierte weiter in Richtung Norden. »Dann überleben wir hoffentlich den Winter.«
»Und danach?«, fragte er. »Was machen wir dann?«
»Ich weiß es nicht. Weiterlaufen.«
Aber irgendwie schien das nicht mehr auszureichen.
Auf dem Weg durch die verdorrten Hügel folgten sie einem Viehpfad, so blieben sie abseits der Hauptwege und fern von neugierigen Blicken. Doch schon bald merkten sie, dass sie nicht die Einzigen waren, die nicht entdeckt werden wollten.
Zwischen der rissigen Erde und Mist fanden sich neben Radspuren zahllose Abdrücke von Pferdehufen und Stiefeln. Einer so großen Gruppe wollte sie lieber nicht über den Weg laufen.
Mit einem Blinzeln schaltete Sefia den Tiefenblick ein. Flackernde Goldströme durchfluteten ihr Blickfeld. Die unzähligen Informationen in der illuminierten Welt überwältigten sie jedes Mal aufs Neue und verursachten ihr Schwindel. Ein Sturm der Geschichte, der ihr das Bewusstsein aus dem Körper fegen und sie als leere Hülle zurücklassen konnte. Aber sie hatte geübt und jetzt brauchte sie nur einen Fixpunkt – einen Kratzer, eine Kerbe oder eine Narbe –, irgendeinen Anker für ihre Wahrnehmung.
Während sie sich auf die staubigen Abdrücke konzentrierte, sah sie, dass zwanzig Leute, manche zu Fuß, manche zu Pferd oder mit Wagen, diesen Weg nur wenige Stunden zuvor passiert hatten.
Sie zog scharf die Luft ein. Die Wagen waren mit Holzkisten beladen, alle mit einem gebrandmarkt – dem Symbol des Buchs, das sie schon vor sechs Wochen gesehen hatte, als sie Archer aus genau solch einer Kiste gerettet hatte.
Sie blinzelte noch einmal und konnte wieder normal sehen.
Archer fasste sich mit den Fingerspitzen an die Stirn, seine alte Art, eine Frage zu stellen. Was ist?
Sie hätte lügen können. Sie hätte es vor ihm verheimlichen können. Aber sie wollte nicht, dass auch das noch zwischen ihnen stand.
»Impressoren«, flüsterte sie.
WORT
3. KAPITEL
Impressoren. Das Wort rief die Erinnerungen wach, die Archer überrollten, sobald er die Augen schloss: Habicht, Rotbart, Palo Kanta, die Kämpfe, Ketten und Kisten, das Brandeisen auf dem Oberarm – das Brutzeln von Fleisch und der Gestank von versengtem Haar –, jedes Brandmal ein Zeichen für seinen Sieg.
Für jeden Jungen, den er getötet hatte.
Für das Tier, das er gewesen war.
Er starrte auf den staubigen Weg, Wagenradspuren und Stiefelabdrücke verschwammen ineinander. Er legte die Finger über die Verbrennungen, die die Impressoren ihm am Arm zugefügt hatten. Sie hatten es den »Zählerstand« genannt, die offizielle Bilanz seiner Siege. Fünfzehn Kämpfe, die von Schiedsrichtern beurteilt wurden. Fünfzehn Tote, für die Habicht eine ansehnliche Summe eingestrichen hatte. Fünfzehn Brandmale, um ein letztes Mal in den Ring zu steigen – in Jahara, wo ein weiterer Sieg ihm eine Audienz bei der Wache verschaffen sollte.
Er grub die Nägel in seinen Arm. Er hatte so viel mehr als fünfzehn getötet. Und jetzt wusste er es. Im Büro der Wache unterhalb von Corabel hatte Rajar seine Erinnerungen wieder wachgerufen, und mit ihnen waren seine Stimme, sein Gewissen, die Schuldgefühle zurückgekommen.
Er machte die Augen zu und der Traum vom Morgen überkam ihn wieder, so lebendig, als würde alles noch einmal geschehen. Er hatte Argos Gesicht vollkommen zerstört – Zähne und Knochenstücke bohrten sich durch Muskeln und Fleisch.
In seinem Blut rauschte es.
»So ist es richtig, Junge!« Habichts Gesicht verschwamm vor ihm, rötliche Haut und wässrige Augen. »Mit dir machen wir jede Menge Schotter!«
Er ging Habicht an die Gurgel.
»Archer!«
Er schlug die Augen auf. Sefia sah ihn besorgt an.
Er taumelte rückwärts, fast hatte er Angst, er könnte sie in seinem Delirium angreifen. »Sind sie nach Westen gezogen?« Seine Stimme klang wie ein Knurren und war ihm selbst fremd.
Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Archer …«
Aber er wich wieder zurück. Die Arme und Beine taten ihm weh, sie wollten den Sprung vollenden, wollten zupacken, kämpfen, verletzen. Sein Körper lechzte danach. »Sind sie nach Westen gezogen?«, fragte er noch einmal.
Einen kurzen Moment musterte Sefia ihn und er entdeckte eine Spur von schlechtem Gewissen in ihren tränenförmigen Augen. Die Augen ihres Vaters, wie sie ihm einmal gesagt hatte.
Er wusste, dass sie nichts dafür konnte. Sie war nicht ihre Eltern. Als sie all die schrecklichen Dinge getan hatten, war Sefia noch nicht mal auf der Welt gewesen. Aber wie konnte er sie jetzt anschauen, ohne die Impressoren zu sehen, die Kämpfe, die Toten? Wenn sie wüsste, was er getan hatte und was für eine Gewalt immer noch in ihm tobte, würde sie ihn nie so mitfühlend ansehen.
Schließlich nickte sie.
Er fasste den Griff seines Schwerts und ging Richtung Westen. Ausnahmsweise einmal lief Sefia hinterher.
Bei jedem Schritt wirbelte Staub an seinen Fersen auf. Mit jedem Schritt kam er seinem Feind näher. Seine Schritte wurden zu einem Singsang: Bald. Bald. Bald. Er lenkte seine ganze Wut dort hinein – in das Versprechen auf Vergeltung. Bald.
Archer und Sefia nahmen die Rucksäcke ab, schlichen weiter, spähten durch das Laub.
Das Lager befand sich zwischen Weidengestrüpp und mehreren Bächen, die unter den Ästen schwach glitzerten. Männer und Frauen saßen herum, während Wachen das Gelände abschritten und Wagen und Pferde bewachten. Die Jungen hockten neben einem kümmerlichen Feuer.
Als er sie sah, loderte Wut in ihm auf. Bald. Die Jungen waren schmutzig und zerlumpt, an Händen und Füßen gefesselt. Alle hatten eine rosafarbene Brandwunde am Hals.
Archer fasste sich an die eigene Kehle, strich über die runzlige Haut. Die Jungen waren wie er – Kandidaten, dazu bestimmt, die Wache im Roten Krieg in den Sieg zu führen.
Der Legende zufolge sollte der Junge mit der Narbe der größte Feldherr sein, den die Welt je gesehen hatte. In der blutigsten Auseinandersetzung der Geschichte würde er alle fünf Inseln erobern.
Und bald darauf würde er sterben. Allein.
Er hatte wieder Rajars Stimme im Ohr, leise und schroff: Wer bist du, Junge? Bist du der, den wir suchen?
Die Blätter raschelten, als Sefia sich neben ihm regte. »Sieben Jungen?«, flüsterte sie. »Ich dachte, die Impressoren hätten immer nur einen.«
Archer zählte bereits ihre Waffen, beobachtete das Muster, das die Wachposten zeichneten, während sie die Lichtung abschritten. In seinem Innern braute sich ein Sturm zusammen und war kurz davor, auszubrechen. »Als ich entführt wurde, hatte Habicht fünf«, sagte er und zog seinen Revolver aus dem Holster. »Der letzte starb, ein paar Wochen bevor du mich gefunden hast.«
Manche wurden beim Training getötet, andere im Ring. Aber als Archer einen Kampf nach dem anderen gewann und sich so gewaltbegabt zeigte, dass sogar seine Entführer ihn fürchteten, hatte Habicht sich nicht mehr mit den anderen Kandidaten abgegeben.
Wusste er irgendwas, was ich nicht wusste?, fragte sich Archer. Hatte er eine Vermutung?
»Ich kümmere mich um die Impressoren«, sagte er und spürte den bevorstehenden Kampf in den Fingerspitzen. Bald. »Befreist du die Jungen?«
Sefia berührte ihre Jackentasche mit den Dietrichen darin. »Das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann«, sagte sie.
Vergeblich versuchte sie zu lächeln, das schlechte Gewissen war ihr anzusehen. Er streckte die Hand aus und strich über die grüne Feder in ihrem Haar.
Er hätte sie küssen können, trotz allem. Er wollte sie küssen. Denn falls er es nicht schaffte, wollte er es noch ein letztes Mal tun.
Aber er verdiente sie nicht, das wusste er jetzt. Er war ein Mörder. Ein Tier, das nicht aufhören konnte zu töten. Selbst wenn es wollte.
Bevor sie etwas sagen konnte, stürmte er zwischen den Ästen hindurch und schoss zweimal ab, noch ehe die Impressoren schreien konnten.
Zwei Männer waren auf der Stelle tot.
Und wie ein plötzlicher Wolkenbruch, der ihm den Staub vom Körper wusch, brach der Kampf über ihm aus – leuchtend, reinigend, klar –, er sah jede Bewegung, jeden Angriff und Gegenangriff, jede Finte, jede Parade und jeden Schlag in allen Einzelheiten. Wie Zauberei. Wie das Lesen, von dem Sefia erzählte.
Schrecklich … und schön.
Rufe wurden um die Lichtung herum laut, als die Impressoren ihre Schwerter und Pistolen griffen, doch sie waren zu langsam. Viel zu langsam.
Er rannte auf einen Mann zu und durchbohrte ihn mit dem Schwert, der Stahl bebte, als er auf Knochen traf.
Seine Nerven summten vor Aufregung.
Aus dem Augenwinkel sah er Sefia zu der Gruppe der gefesselten Jungen flitzen. Als sie an einem Impressor vorbeikam, warf sie eins ihrer Messer. Es traf ihn an der Schulter.
Knurrend zog er seinen Revolver.
Instinktiv wollte Archer sie beschützen. Ihr Deckung geben. Aber er war zu weit entfernt.
»Sefia!«, brach es aus ihm heraus.
Der Schuss löste sich. Es gab eine Explosion aus Pulver und Feuer.
Mit lodernden Augen richtete Sefia sich zu ihrer vollen Größe auf, wie schwarzes Wasser flossen ihr die Haare über die Schultern.
Sie hob die Finger und lenkte die Kugel mit einer bloßen Drehung des Handgelenks zur Erde.
Dem Impressor klappte die Kinnlade herunter. Sefia grinste. Mit einer weiteren Handbewegung stieß sie ihn gegen einen Baum. Zweige knackten. Er landete neben dem Stamm auf dem Boden, ein Arm unter dem Körper verdreht.
Sie brauchte keinen Beschützer.
Mit einem Lächeln wandte Archer sich wieder dem Kampf zu. Er ritzte einer Frau über den Bauch und duckte sich, er benutzte sie als Schutzschild, als die anderen auf ihn schossen. Bei jedem Schuss zuckte sie, dann blieb sie reglos. Heißes Blut lief über seinen Arm, ein gutes Gefühl.
Er schob die Tote zu einem Impressor in seiner Nähe und ging dann auf die Bande los. Er schlug um sich, als wäre der Kampf ein Tanz, dessen Schritte er im Schlaf konnte.
Aber selbst für ihn waren es zu viele. Zu viele Kugeln, denen er ausweichen musste. Zu viele Schläge, vor denen er in Deckung gehen musste. Ein Schuss streifte ihn, dann noch einer. Jemand schnitt ihm in den Oberschenkel – Schmerz durchzuckte ihn.
Auf der anderen Seite der Lichtung befreite Sefia einen der Jungen. Dann noch einen.
Eine Frau zielte auf Archers ungeschützte Seite. Er sah das Schwert kommen, sah den gebogenen Stahl. Er konnte nicht schnell genug ausweichen.
Die Klinge traf ihn und drang tief ein. In Erwartung des Schmerzes biss er die Zähne zusammen. Doch ehe die Impressorin den Schlag zu Ende führen konnte, sprang ein anderer Junge mit einer Narbe am Hals herbei und schlug ihr mit seinem gekrümmten Schwert den Kopf ab.
Einen kurzen Moment sahen sie sich an. Der Junge hatte schwarze Haare und grüne Augen und unter der Schmutzschicht zeichnete sich die hellbraune, wettergegerbte Haut von jemandem ab, der am Eis wohnte – kurze Sommer, eiskalte Winter. In Gorman vielleicht, der nördlichsten Provinz Delienes. Eine tiefe Narbe verlief wie eine Wasserspur über seine Wange.
Als Archer und er sich ansahen, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Dann kämpften sie Seite an Seite, vertrieben Impressoren, kämpften und töteten, ihre Klingen glänzten vor Blut und Feuerschein. Zusammen waren sie schrecklich, triumphierend, unbesiegbar. In dem Wirrwarr hörte Archer den Jungen lachen, seine ungezügelte Freude war ansteckend, während sie einander verteidigten, sich Rückendeckung gaben, zustießen. Sie waren wie Blitz und Donner, zwei Teile eines Ganzen.
Gemeinsam kämpften sie, bis die Impressoren flüchteten oder sich ergaben. Als der Rausch des Kampfs vorüber war, sah Archer sie an, wie sie hilflos blutend auf der Erde lagen. Er hätte sie töten können. Er wollte sie töten.
Undeutlich hörte er Argos feuchte, gebrochene Stimme: Bitte nicht. Bitte, ich flehe dich an. Bitte …
Und er dachte daran, wie er ihn trotzdem getötet hatte. An den Moment, als der Stein traf. Als die Worte zu unverständlichem Gemurmel wurden … und verstummten.
Vor Archers Augen drehte sich alles. Seine Wunden pochten. Seine Waffen waren so schwer, dass sie in seinen Händen zitterten. Er war nicht mehr das Tier.
Aber tief im Innern meinte er das Donnergrollen zu hören.
Auf der anderen Seite der Lichtung starrte der Junge ihn wieder an, seine grünen Augen glitzerten so sehr vor unterdrückter Freude, dass Archer zu seiner Überraschung zurückgrinste, als wären sie kleine Jungs, die ein großartiges Geheimnis miteinander teilten.
Sefia befreite den letzten Jungen von seinen Ketten und wandte sich zu Archer, ihr Gesicht war erhitzt und ehe er sichs versah, waren sie zusammen, er schlang die Arme um sie, als wäre er ein verirrtes Schiff und sie sein sicherer Hafen.
Er strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr, seine Fingerspitzen brannten dort, wo er ihre Stirn berührt hatte, ihre Schläfe, ihren Hals. Sefia verharrte vollkommen still in seinen Armen, als wagte sie nicht einmal zu atmen.
Küss sie. Der Gedanke war plötzlich da, bohrte sich in seinen Kopf. Ehe du an deine Wut denkst, deine Schuld, deine Brutalität. Ehe …
Doch ein plötzlicher Schrei aus dem Lager riss sie auseinander.
Er ließ die Arme sinken, kalt, schmerzhaft, leer.
Die Jungen hatten die Gefangenen umzingelt, sie verspotteten sie und traten nach ihnen, sie ärgerten sie mit den Spitzen der erbeuteten Waffen. Man hörte Fleisch auf Fleisch klatschen, und jemand lachte. »Na los, Knochensauger, wer will als Erster?«
UND EIN
4. KAPITEL
Als Archer und Sefia auf die Gruppe zugingen, machten die anderen ihnen Platz und gaben den Blick auf vier kniende Gefangene mit gesenkten Köpfen frei.
»Vier kleine Impressoren, die warn uns einerlei.« Zu seinem Singsang stach einer der Jungen jeden der Impressoren mit der Spitze eines Dolchs. »Einer hat nicht aufgepasst, da warens nur noch drei.«
Es war ein Kinderreim für Kinderspiele.
Aber sie waren keine Kinder und das hier war kein Spiel.
»Was macht ihr da?«, unterbrach Sefia ihn.
Archers Mundwinkel zuckten in einem Anflug von schwarzem Humor nach oben. Er wusste Bescheid. Und er wusste nicht recht, ob er wollte, dass sie aufhörten.
Der Junge mit dem Dolch hielt inne. Er war groß und dunkel, die weißen Flecken um Mund und Augenbrauen ließen ihn noch wilder erscheinen. Es sah aus, als hätte seine Haut sich an einigen Stellen geschält und wäre darunter schneeweiß. Er richtete die Klinge auf den Impressor, der ihm am nächsten war.
Der grünäugige Junge nahm sein gekrümmtes Schwert. »Tut mir leid, Magierin«, sagte er mit einem Achselzucken. »Ich bin als Erster dran.« Ehe Sefia ihn aufhalten konnte, trat er einen Schritt vor.
Eine Sekunde lang hätte Archer am liebsten mit den anderen gejubelt. Er wollte sehen, wie dem Gefangenen der Kopf abgeschlagen wurde, wollte hören, wie der Kopf auf die Erde fiel, wollte ihn rollen sehen.
Aber er wollte nicht der Junge sein, der das alles wollte.
Er wollte der Junge sein, der es verdient hatte, neben dem Mädchen an seiner Seite zu stehen.
Als die glänzende Klinge niederging, zog Archer sein eigenes Schwert und lenkte die Waffe des Jungen zu Boden. Steinchen flogen hoch und prasselten wieder hinab wie Regen.
Der Junge sah ihn durch dunkle Locken hindurch wütend an. Er war kleiner als Archer, aber nicht weniger gefährlich – wachsam und angriffslustig wie ein in die Enge getriebenes Tier.
Das war nicht sein Partner, mit dem er eben noch gekämpft hatte. Es war ein wildes Tier, das seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen durfte. Ein Tier, das Archer nur zu gut von sich selbst kannte.
Es kribbelte ihm in den Fingern. Er wusste genau, wie es weitergehen würde – kämpfen, zustechen, aufschlitzen, Blut fließen sehen. Es würde brutal zur Sache gehen. Befriedigend.
Bei dem Gedanken ließ er den Arm sinken.
Der andere Junge richtete sich auf. »Wir sind dir zu Dank verpflichtet, mein Freund, aber wenn du wüsstest, was sie uns angetan haben, würdest du sie nicht beschützen.«
Archer verkniff sich eine Antwort. Er war beschimpft und beleidigt worden, gestoßen und geschlagen. Sie hatten ihm eingebläut, er hätte nur die Wahl zwischen Töten und Sterben. Hatten ihn in einen Killer verwandelt. Ein Tier. Mit der freien Hand riss er seinen Kragen herunter und zeigte den anderen die Narbe an seinem Hals.
Der Junge machte große Augen. »Dann weißt du es vielleicht doch.« Er sah Sefia an, als wollte er überprüfen, ob sie auch so eine Narbe hatte, dann schaute er wieder zu Archer. »Wie heißt du, mein Freund? Woher kommst du?«
»Archer. Aus Oxszini.«
»Ich bin Kaito Kemura. Aus dem Norden.« Der Junge fasste Archer am Arm und berührte fast die beiden Brandmale, die unter dem Ärmel hervorlugten. »Wie viele hast du …?«
Blitzartig hatte Archer seine Opfer vor Augen – verletzt, entstellt, aufgespießt, jeder Einzelne überrascht.
»Zu viele«, murmelte er.
Der Gedanke durchzuckte ihn, bevor er ihn aufhalten konnte: Und nicht genug.
»Wie wärs mit einem weiteren?« Kaito winkte ihn zu den Impressoren. Wie auf Kommando wichen die anderen Jungen zurück. »Das hast du dir verdient.«
Archer umfasste sein Schwert fester. Für seine Taten hatte er eine Menge verdient. Verdiente er das hier für alles, was man ihm angetan hatte?
Der Impressor ihm gegenüber blinzelte ihn durch blutverkrustete Wimpern an.
Wässrige Augen wie die von Habicht.
Es wäre einfach. Und richtig.
»Archer«, flüsterte Sefia.
Der Name holte ihn zurück. Sein Name, nicht Junge oder Stiefellecker. Er war nicht mehr dort. Er musste nicht töten, er musste nicht das sein, was sie aus ihm gemacht hatten.
Er schüttelte den Kopf.
»Wie du willst«, sagte Kaito und wollte selbst zuschlagen.
Und wieder lenkte Archer den Schlag ab.
Die anderen Jungen buhten ihn aus.
»Ich mag dich, Archer«, sagte Kaito wütend, »aber wenn du das noch einmal machst, wirst du mich nicht mehr mögen.«
Archer steckte das Schwert in die Scheide. Er hatte in den letzten zwei Jahren gegen zu viele Jungen gekämpft, hatte zu viele getötet. Er würde es nie wieder tun. »Damit kannst du nicht ungeschehen machen, was sie dir angetan haben«, sagte er.
»Es macht aber Spaß.«
Er dachte daran, wie die Gewalt ihn wie eine Welle mitgerissen hatte, tosend, unabwendbar, bevor sie wieder zurückwich und ihn leer und dürstend nach mehr zurückließ. »Aber nicht sehr lange«, sagte er.
»Spaß dauert nie besonders lange.«
»Und wenn es vorbei ist, was dann?«
»Vorbei?« Kaitos Augen blitzten auf wie grünes Glas. »Das wird niemals vorbei sein.«
»Das will ich nicht glauben«, sagte Archer leise.
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Kaito auf ihn losgehen. Als würde er gegen alles und jeden kämpfen, ohne Grund, nur um des Kampfes willen. Aber dann trat er einen Schritt zurück und leckte sich die Lippen. »Du hast uns gerettet, mein Freund, also sind wir dir diesen Gefallen schuldig«, murmelte er. »Du willst die Verantwortung für diese Knochensauger? Kannst du haben. Aber sorg dafür, dass ich das nicht bereuen muss.«
»Das wirst du nicht«, sagte Sefia.
Er rieb sich die Narbe auf der Wange. »Also gut.« Er nickte den anderen zu und sie zogen die Impressoren auf die Beine und trieben sie ziemlich grob zu den Kisten.
Als Kaito zu ihnen gehen wollte, fasste Archer ihn am Ellbogen. »Danke«, sagte er.
»Ich will deinen Dank nicht.« Der Junge strich die dunklen Locken aus den Augen. »Ich will dein Wort darauf, dass das, was du mit den Impressoren vorhast, genauso gut ist wie ihr Tod.«
Nach einem Seitenblick zu Sefia nickte Archer.
»Na schön.« In einem plötzlichen Stimmungswandel schlug Kaito ihm auf die Schulter. »Kommt, ich stelle euch den anderen vor.«
Auf Sefias Drängen löschten Archer und die anderen die Feuer, beluden die Wagen mit Vorräten und den Gefangenen und ließen die Toten zurück. Einige Impressoren liefen immer noch frei herum, deshalb war es zu riskant zu bleiben.
Auf dem Rücken der gestohlenen Pferde machten sie sich davon in die Nacht.
Jetzt, da Archer sich nicht länger auf einen Kampf freuen konnte, holte ihn die Erschöpfung ein. Seine Glieder waren schwer wie Blei. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Und obwohl er seit zwei Jahren nicht auf einem Pferd gesessen hatte, nickte er im Sattel ständig ein, um sich dann ruckartig wieder aus den Träumen zu reißen.
Er lauschte darauf, ob sie verfolgt wurden, doch er hörte nur das gleichmäßige Hufgetrappel, das Wasser und das Flüstern der Jungen. Sie waren neugierig auf Sefia – wer sie war und woher sie ihre magischen Kräfte hatte.
Sie verriet nur wenig: dass Archer und sie von Serakeens Fährtenlesern verfolgt wurden und dass sie die magischen Kräfte von ihren Eltern geerbt hatte. Halbwahrheiten, die sie schützen sollten.
Weder Archer noch sie erwähnten das Buch oder die Wache – oder dass Sefias Eltern etwas mit den Impressoren zu tun gehabt hatten.
Archer sah, wie sie vorausritt und die anderen durchs Wasser führte. Selbst wenn sie kein schlechtes Gewissen wegen Lon und Mareah hätte, hätte sie ihnen geholfen. So war sie.
Als sie ihn fand, war er ein Nichts gewesen – kein Mensch und kaum ein Tier. Er hatte sich neu erschaffen müssen, um Archer zu werden: der Junge ohne Vergangenheit und mit einer strahlenden Zukunft an der Seite seiner Retterin.
Aber jetzt, da ihm wieder einfiel, was er alles getan hatte, konnte er nicht einfach Archer sein. Oder das namenlose Tier aus seinen Erinnerungen. Oder der Junge, der er vorher gewesen war – der Leuchtturmwärter, der noch nie in seinem Leben gekämpft hatte.
Ganz gleich, wer er jetzt war, er wusste, dass er sie nicht verdient hatte.
Sie hielten erst an, als sie meilenweit vom Lager der Impressoren entfernt waren. Dort striegelten sie ihre Pferde und errichteten ihnen ein Nachtlager. Archer stellte Wachposten auf. Sie breiteten ihre Schlafsäcke und Decken aus. Aber keiner wollte sich schlafen legen.
Stattdessen saßen sie unter den Sternen und redeten. Sie redeten stundenlang, erzählten, wen sie getötet, verstümmelt und gefangen genommen hatten, nannten die Namen ihrer Heimatstädte und der Familien, die sie für tot hielten – und immer, wenn die Müdigkeit sie überfiel, schüttelten sie sich wieder wach und fingen eine neue Geschichte an.
Es war, als brauchten sie die Geschichten mehr als Schlaf, Wasser oder Luft. Als würden die Geschichten sie von dort zurückholen, wo auch immer sie all die Monate – Jahre – hatten hingehen müssen, um zu überleben.
Erst wunderte sich Archer, wie viel sie noch wussten. Doch je länger er zuhörte, desto mehr begriff er: Es lag an Kaito. Kaito war ihr Anführer, er hatte dafür gesorgt, dass sie in der Nacht miteinander geflüstert hatten, als sie gefesselt waren, dass sie ihre Namen wiederholten, um sie nicht zu vergessen. Er hatte ihnen Zusammenhalt gegeben, selbst wenn sie einander beim Training verletzen mussten.
Er war der geborene Anführer, einen besseren Waffenbruder hätte man sich nicht wünschen können. Hätte Archer einen Freund wie Kaito gehabt, läge vielleicht nicht mehr ein so langer Weg vor ihm.
Bei der nächsten Gesprächspause räusperte Archer sich und beugte sich vor. Sefia neben ihm richtete sich ein wenig auf. Er spürte den Druck ihres Arms an seinem, als wollte sie ihm sagen: Ich bin bei dir.
»Ich …«, setzte Archer an. »Den ersten Jungen, den ich …«
Aber da hörte er wieder Habichts Stimme und den Schuss, sah Blut und Gehirnmasse spritzen, spürte, wie es heiß und nass seine Wange streifte.
Panik jagte durch seine Adern. Sein Puls ging schneller. Er konnte nicht atmen. Er konnte kaum sehen.
Er tastete in der Tasche nach dem Sorgenstein und hielt ihn so fest, dass er sich in seine Haut eingrub. Ich bin nicht mehr dort, sagte er sich. Mir kann nichts passieren. Langsam beruhigten ihn die Worte. Er entspannte sich. Sein Blut floss langsamer. Mir kann nichts passieren. Mir kann nichts passieren.
Aber er konnte den anderen nicht erzählen, was er getan hatte. Wenn er alles, was er in seinen Albträumen tat, ans Licht holen würde, könnte er nicht mehr wegschauen. Es wäre Wirklichkeit. Dann wäre er das Monster, das er zu sein fürchtete.
Sefia lehnte sich wieder zurück. Er ertrug die leise Enttäuschung in ihrem Gesicht nicht und er ertrug sich selbst nicht, weil er sie enttäuschte. Doch er hatte nichts anderes verdient als das, ihr hartes Urteil, ihren Widerwillen. Er versuchte ihren Blick aufzufangen und ihr zu sagen, dass es ihm leidtat, doch sie wich ihm aus.
In der Stille stand Kaito auf. »Komm«, sagte er und gab Archer ein Zeichen. »Die Wachposten können bestimmt mal eine Pause gebrauchen.«
Die Wache war erst vor einer knappen Stunde gewechselt worden. Aber Kaito hatte Archers Unbehagen gespürt und er passte auf ihn auf wie auf alle anderen.
Als Archer sich erhob, war Sefia plötzlich voll und ganz mit ihren Haaren beschäftigt, sie zupfte an den gespaltenen Spitzen, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt.
»Lass das!« Frey neben ihr holte ein Springmesser heraus und reichte es ihr. »Du musst sie abschneiden, sonst wird es nur noch schlimmer. Als meine Mutter noch lebte, hat sie immer mit mir geschimpft, weil ich mir damit die Haare kaputt gemacht hab. Zum Glück hat sie mir beigebracht, wie ich sie pflegen muss, denn meine Brüder haben sich nach dem Tod meiner Eltern kein bisschen darum gekümmert …«
Frey verstummte, während Archer und Kaito in die Dunkelheit verschwanden. Sie schickten Versil, den Jungen mit dem Dolch, und seinen Zwillingsbruder Aljan zurück zu der Gruppe.