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Die Geheimnisse und Sehnsüchte einer Adelsfamilie: Der Englandroman »Ein Sommer in Duntan Hall« von Mary Sheepshanks als eBook bei dotbooks. Eine englische Kleinstadt, in der alles auf wundersame Weise verbunden ist … Schon lange hat Sonia, die junge Lady von Duntan Hall, das Gefühl, sich selbst verloren zu haben. Ihr Ehemann Archie ist ihr fremd geworden und seit der Geburt ihres vierten Kindes hat sie kaum mehr eine Minute für sich. Umso hartnäckiger hält sie dafür an dem alten Familienanwesen fest, das mit seiner langsam bröckelnden Fassade allerdings nicht mehr den schönen Schein aufrechterhalten kann, der Archie so wichtig ist. Also schmiedet Sonia einen verwegenen Plan, um Duntan Hall zu neuem Glanz zu verhelfen – doch weder hat sie mit ihrer gewitzten Schwiegermutter und deren ungewöhnlichen Freunden gerechnet noch mit Simon Hadleight, dem viel zu charmanten Gutachter für Denkmalschutz … »Zugleich bezaubernd weise und wunderbar humorvoll.« The Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Familienroman »Ein Sommer in Duntan Hall« von Mary Sheepshanks. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 413
Über dieses Buch:
Eine englische Kleinstadt, in der alles auf wundersame Weise verbunden ist … Schon lange hat Sonia, die junge Lady von Duntan Hall, das Gefühl, sich selbst verloren zu haben. Ihr Ehemann Archie ist ihr fremd geworden und seit der Geburt ihres vierten Kindes hat sie kaum mehr eine Minute für sich. Umso hartnäckiger hält sie dafür an dem alten Familienanwesen fest, das mit seiner langsam bröckelnden Fassade allerdings nicht mehr den schönen Schein aufrechterhalten kann, der Archie so wichtig ist. Also schmiedet Sonia einen verwegenen Plan, um Duntan Hall zu neuem Glanz zu verhelfen – doch weder hat sie mit ihrer gewitzten Schwiegermutter und deren ungewöhnlichen Freunden gerechnet noch mit Simon Hadleight, dem viel zu charmanten Gutachter für Denkmalschutz …
»Zugleich bezaubernd weise und wunderbar humorvoll.« The Times
Über die Autorin:
Mary Sheepshanks wurde 1931 geboren und wuchs am Eton College auf, wo ihr Vater arbeitete. Ihre Ferien verbrachte sie jedoch oft im Haus ihrer Großeltern in Wales, wo sie ihre Liebe für das ruhige Landleben und ungezähmte Landstriche entdeckte, die später in ihre Romane einfloss. Ebenfalls Einfluss fanden ihre Jahre in Eton sowie Unterrichtsstunden in Windsor Castle. Mary Sheepshanks lebt und schreibt heute in Schottland. Ihre zahlreichen Enkelkinder nennen sie gern »wild writing granny« – unter diesem Titel erschienen daher ihre Memoiren.
Bei dotbooks veröffentlichte Mary Sheepshanks auch ihre Romane »Der Himmel über Glendrochatt«, »Die Sterne über Boynton Park« und »Die Frauen von Longthorpe«.
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eBook-Neuausgabe September 2022
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »A Price for Everything« bei Random House UK. Die deutsche Erstausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Sommer der Eisvögel« bei Bastei Lübbe.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 by Mary Sheepshanks
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1996 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock.
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98690-233-9
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Mary Sheepshanks
Ein Sommer in Duntan Hall
Roman
Aus dem Englischen von Erna Tom
dotbooks.
Für meine geliebten Töchter und meine Schwiegertochter Belinda, Susannah und Alice
Besucher, die zum erstenmal nach Duntan kamen und nicht wußten, daß die kleine Straße durch das Dorf zur Kirche und von dort zur hinteren Einfahrt führte, bogen von der oberen Straße in die Haupteinfahrt ein. Tore gab es längst nicht mehr, man hatte sie während des Krieges eingeschmolzen, und nach dem Krieg war die Erhaltung von Haus und Grund mit so vielen Schwierigkeiten verbunden gewesen, daß niemand auch nur auf den Gedanken kam, sie zu ersetzen. Nur die steinernen Greifen thronten noch auf den Pfeilern, in denen einst die Tore verankert waren. Sie erinnerten an Kampfhähne, die sich zwischen zwei Runden ausruhten. Der eine hatte eine Klaue verloren, der andere schwere Verletzungen am Schnabel davongetragen, aber trotzdem machten sie nicht den Eindruck, als hätten sie das Kriegsbeil begraben.
»Haben sie heute morgen gekämpft?« fragte Birdie, die auf den Namen Henrietta getauft war, aber nur selten so gerufen wurde, mit aufgeregter Stimme vom Rücksitz des Wagens. Immer stellte sie diese Frage und immer an dieser Stelle.
»Ich glaube nicht, nein, heute nicht.«
»Woher weißt du das?«
Sonia verlangsamte das Tempo und schaltete in einen niedrigeren Gang, bevor das Auto über den Viehrost rumpelte.
»Heute sind sie gar nicht außer Atem, und außerdem hatten sie ja erst letzte Woche einen großen Kampf. Wahrscheinlich erholen sie sich noch davon.« Sonia war nicht in der Stimmung, Geschichten zu erzählen. Tom versuchte, gelangweilt und desinteressiert dreinzuschauen. Er wäre lieber gestorben, als zuzugeben, daß ihm die Sage von den Greifenkämpfen ganz und gar nicht behagte; daß vor allem nachts, wenn der Wind ums Haus heulte, die Vorstellung keineswegs beruhigend war, das unheimliche Klirren und Schlagen könnte von den gewaltigen Schwingen dieser riesigen Wesen mit Löwenleib und Adlerkopf stammen, die in den Lüften miteinander kämpften. Das war seltsam, denn eigentlich war Birdie für schwache Nerven zuständig in der Familie.
Auf der Hauptstraße deutete nichts darauf hin, daß das Gelände so steil abfiel. Erst nach der ersten Kurve sah man, daß sich der Park zu beiden Seiten des Weges senkte. Die gewaltigen Buchen, die so kerzengerade in die Höhe ragten, daß man den Eindruck gewinnen konnte, der Himmel habe sie als Senkschnur vorgesehen, betonten das steile Gelände noch mehr. Auf halbem Weg hinunter stand, auf einer Art Plateau über dem Fluß, das Haus; dahinter fiel das Gelände weiter ab, und noch weiter hinten erstreckten sich unendlich erscheinende Wiesen und Weiden, die in weiter Feme mit dem Blau des Himmels verschmolzen.
Das Haus sah wunderschön aus, aber im Innern kränkelte es, auch wenn die perfekte Symmetrie und der poröse Stein keine Anzeichen der lebensbedrohenden Krankheit erkennen ließen. Die Farbe des Steins veränderte sich im wechselnden Licht – an trüben Tagen schien er grau wie der düstere Himmel, an sonnigen Tagen dagegen verfärbte er sich gelb und schien von innen heraus zu leuchten.
Jedesmal, wenn Sonias Blick auf Duntan fiel, war sie erneut von seiner Schönheit hingerissen. Sie dachte, daß sie sich niemals satt sehen konnte, daß sie das Haus jedesmal so sehen würde wie damals bei ihrem allerersten Besuch.
Die Auffahrt wand sich hinunter zum vorderen Eingang, aber Sonia fuhr durch den Torweg linker Hand und gelangte so in den dahinterliegenden Stallhof. Sie entschied sich für diesen Weg, zum einen, weil es der kürzeste zur Küche war, und zum anderen, weil sie wußte, daß sie, würde sie den anderen Eingang benutzen, unweigerlich auf die Briefe stieße, die mit der Morgenpost gekommen waren. Die lagen noch immer auf dem kleinen runden Tischchen, wo sie sie heute morgen ungeöffnet hatte liegenlassen, weil sie sich nicht stark genug fühlte, sie zu öffnen. Sie wußte, daß der eine ihren Kontoauszug enthielt, und obwohl sie sich ungefähr ausrechnen konnte, wie es um ihre Finanzen stand, verspürte sie kein Verlangen nach Bestätigung. Der zweite Brief, ebenso unerwünscht wie der erste, dabei jedoch ungleich schwerer einzuschätzen, trug die ausladende Handschrift ihrer Schwiegermutter. Sonia hatte verzagt festgestellt, daß der Brief in London abgestempelt war, obwohl sie ihre Schwiegermutter in sicherer Entfernung in New York vermutet hatte; dieser Brief beschwor die drohende Möglichkeit eines bevorstehenden Besuches herauf. Nachdem jedes Lebenszeichen aus dieser Ecke Unheil bedeutete, beschloß sie, daß sie auch jetzt noch nicht in der Lage war, ihn zu lesen. Die Notwendigkeit, die eingekauften Lebensmittel aus dem Auto in die Küche zu schaffen, schien mit einem Mal äußerst verlockend.
An diesem Vormittag wankte Sonia, beladen bis unters Kinn, über den Hof. Birdie lief ihr nach und las die Orangen auf, die aus der Tüte gefallen waren und nun über das unebene Pflaster purzelten, Tom dagegen war spurlos verschwunden, wie so oft, wenn er hätte zur Hand gehen sollen.
»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, entschuldigte sich Sonia, während sie die erste Ladung auf den blanken Holztisch inmitten der Küche plumpsen ließ, »aber im Supermarkt war heute die Hölle los; alle Einkaufswagen schienen sich verschworen zu haben, ständig nur im Kreis zu fahren, nichts war mehr am gewohnten Platz, so daß natürlich kein Mensch etwas finden konnte.«
Minnie, die Arme bis zu den Ellbogen mit Mehl bestäubt, rümpfte verächtlich die Nase. »Ich konnte diese Läden noch nie ausstehen. Früher hat Mr. Moss in seinem weißen Kittel regelmäßig die Bestellungen bei Ihrer Großmutter abgeholt und das Bestellte dann am darauffolgenden Mittwoch geliefert. Er kam jedesmal in die Küche, wo ihm Mrs. Barrett eine gute Tasse Tee hinstellte und ihm hinterher aus den Teeblättern noch die Zukunft las. Es war natürlich noch richtiger Tee und nicht dieses Sägemehl in den lächerlichen kleinen Beuteln.« Und dabei bedachte sie die riesige Sparpackung, die Sonia eben ausgepackt hatte, mit geringschätzigem Blick.
»Aber, Min, sie konnte ihm doch unmöglich jeden Mittwoch die Zukunft lesen. So oft konnte die sich doch gar nicht ändern.« Birdie liebte Geschichten aus der guten alten Zeit, wo Minnie in die Dienste der Familie getreten war.
»Jeden Mittwoch«, versicherte Minnie noch einmal. »In einer Woche kann viel passieren. Und tatsächlich hat sie eines Tages große Veränderungen in Mr. Moss’ Teetasse gesehen, und am darauffolgenden Freitag fand Mr. Moss Mrs. Moss mausetot auf dem Teppich vor dem Kamin. Aus einem Teebeutel hätte sich das nie herauslesen lassen.«
»Vielleicht auch gut so.« Sonia schwankte mit der letzten Schachtel voller Lebensmittel herein. »Wenn Sie den Wasserkessel schon aufgesetzt haben, liebe Minnie, dann hätte ich jetzt gern eine hübsche, harmlose Tasse Nescafé, und unterstehen Sie sich, in meiner Tasse nach zukünftigem Unglück Ausschau zu halten. In der Halle liegt ein Brief von Lady Rosamund, das reicht mir für heute vollkommen.«
»Diese Frau«, meinte Minnie düster, »bringt Unheil so sicher wie der Ostwind Gänsehaut. Sie sollten versuchen, sie abzuwimmeln, Sonia, sonst haben wir hier alle keine ruhige Minute mehr.«
»Magst du Großmama nicht?« wollte Birdie wissen und schob sich dabei einen Klumpen Kuchenteig in den Mund.
»Ich würde mir nie anmaßen, meine persönliche Meinung zu äußern«, antwortete Minnie mit geheuchelter Zurückhaltung. »Und bitte, nimm die Finger aus der Schüssel, Birdie, sonst klebt dein Bäuchlein bald zusammen, und dann tut es schrecklich weh. Soll ich die Sachen wegräumen, Sonia, oder machen Sie das? Ich habe gedacht, Sie wollten heute morgen malen.«
»Nein, nein, mach’ ich schon. Ich will nur vorher schnell die Post lesen. Malen kann ich später, wenn ich hier aufgeräumt habe.«
Noch während sie sprach, fragte sie sich, warum Arbeiten, die sie überhaupt nicht mochte, sie so oft von der Arbeit abhielten, die sie eigentlich gerne tat. Höchstwahrscheinlich hätte Minnie die Sachen mit Freuden weggeräumt, während es für sie nichts als eine lästige und ungeliebte Pflicht war. Im tiefsten Innern wußte sie, daß es hauptsächlich Angst vor Versagen war, die sie zurückhielt. »Sonia ist wirklich begabt, müssen Sie wissen. Sie war eine vielversprechende Künstlerin, bevor sie Archie geheiratet hat.« Solche Bemerkungen lösten stets ein angenehmes Gefühl aus, und daraufhin ließ es sich noch leichter und ohne weitere Anstrengung auf diesen halbverdienten Lorbeeren ausruhen. »Ist sie nicht bewundernswert? So begabt, und gleichzeitig wird sie den Kindern und diesem riesigen alten Haus und natürlich Archies Ansprüchen gerecht, aber es ist ja auch eine wunderbare Ehe.« Sonia fragte sich, wann die Risse, die sich langsam aber sicher in ihrer Ehe bemerkbar machten, so sichtbar würden wie die Risse im Haus.
Eigentlich lagen ja drei Briefe auf dem Tischchen in der Halle. Sonia beschloß, den Kontoauszug einfach zu ignorieren und erst dann einen Blick darauf zu werfen, wenn sie sich etwas gestärkt fühlte. Der Brief von ihrer Schwiegermutter erforderte womöglich eine Entscheidung und konnte deshalb nicht ungeöffnet bleiben. Sie riß ihn mit einem Finger auf. Archie öffnete seine Briefe stets säuberlich an der oberen Kante mit einem Papiermesser aus Elfenbein. An Weihnachten brachte er die Kinder damit zur Verzweiflung, daß er an jedem Päckchen jeden einzelnen Knoten mühsam aufknotete, anstatt Bänder und Papier einfach aufzureißen und sich auf das Geschenk zu stürzen. Deshalb gab es nie einen Zweifel, ob er oder Sonia einen Brief geöffnet hatte. Sonia starrte auf das Papier und las mit wachsender Verzweiflung:
Meine liebe Sonia,
ich denke oft daran, wie schwierig es für Dich und Archie sein muß, richtige Entscheidungen zu treffen, die mit der Zukunft des Hauses verbunden sind. Wie Du weißt, nehme ich großen Anteil an Euren Sorgen, und diesmal hat es den Anschein, als könnte ich Euch tatsächlich behilflich sein, man könnte fast von einer Fügung sprechen! Ich hatte zwar die Absicht, den Sommer mit Martha in den Staaten zu verbringen, aber da ich auf keinen Fall selbstsüchtig sein möchte, wenn Ihr beide mich womöglich braucht, habe ich beschlossen, nach England zurückzukehren. Irgendwann später nehme ich mir vielleicht eine Wohnung in London – im Moment wohnen wir bei der guten Mimi –, aber die liebe Martha könnte nach dem langen Winter in New York wahrlich etwas gute Landluft vertragen. Ich habe Dir ja so viel zu erzählen, und deshalb kam mir der Gedanke, daß wir Euch vielleicht einen kleinen Besuch abstatten könnten. Ich habe sogar daran gedacht, den Sommer bei Euch zu verbringen??! Ich sehne mich ja so nach den lieben Kleinen und kann es kaum erwarten, Euch beiden endlich richtig zu helfen. Bitte ruf mich doch unter obiger Nummer an, meine Liebe, dann können wir alles weitere besprechen. Wie immer, Deine R.
Was führt die alte Hexe im Schilde? fragte sich Sonia. Fügung – nicht selbstsüchtig – Landluft? O nein. Das hat mir gerade noch gefehlt.
Der dritte Brief kam von Heritage at Risk, kurz HAR genannt, einem Verband zur Erhaltung und Pflege ererbten Eigentums, der Besitzern historischer Gebäude Beratung anbot. Sonia hatte gegen Archies Rat an den Verband geschrieben; nach Archies Überzeugung war es sinnlos, Geld, das sie sich dazu erst noch leihen mußten, in ein Haus zu stecken, das seiner Meinung nach nur Belastung und Bürde war. Der Verband bedankte sich für ihre Anfrage und schlug vor, daß ein Mr. Simon Hadleigh Duntan schon in Bälde einen Besuch abstatten sollte, um sich ein Bild vom Zustand des Hauses, dem Gesamtwert des Besitzes und den daraus resultierenden Möglichkeiten zu verschaffen. Sie wußte, daß sie Archie den Brief zeigen mußte, schließlich gehörte ihm das Haus, doch im Grunde ihres Herzens ließ sie bezüglich der Zukunft des Hauses nur Ratschläge gelten, die ihren eigenen Vorstellungen entsprachen und den insgeheim gehegten leidenschaftlichen Wunsch unterstützten, weiterhin dort wohnen zu können.
Es war merkwürdig, daß Archie nicht genauso fühlte, aber sein Interesse galt in erster Linie dem Grundbesitz; der Grund bedeutete ihm mehr als das Haus, obwohl es, von seinen Vorfahren erbaut, seit mehr als zweihundert Jahren von der Familie bewohnt wurde. Er war im Grunde sehr viel mehr traditionsgebunden als sie, und so hatte sie erwartet, daß er das Haus auch halten wollte. Um so größer war die Enttäuschung darüber, daß er sich offenbar leichten Herzens davon trennen konnte. Was sie daran festhalten ließ, war nicht der Stolz, in einem so herrlichen alten Haus zu wohnen. Es war vielmehr so, als hielte das Haus selber sie fest. Zwischen ihr und diesem Haus bestand eine Liebesbeziehung, und wie so viele Liebesbeziehungen war auch diese alles andere als angenehm.
Allein um das Haus abzudichten, mußten riesige Summen in das Dach gesteckt werden, von anderen Schwachstellen, die nach und nach sichtbar wurden, ganz zu schweigen. Natürlich hatten sie schon zu Lebzeiten seiner Großmutter gewußt, daß das Anwesen immer mehr verfiel, aber gerade die verblichene Eleganz hatte ihm einen ganz eigenen Charme verliehen – geradeso wie der Großmama. Nach ihrem Tod waren sie plötzlich von Feuchtigkeit, Schimmel und Verfall umgeben, geradeso als würde der Kampf der Greifen, der nur ihrer Phantasie entsprungen war, nun zu unausweichlicher Realität. Irgendeine Macht kämpfte eine Art Guerillakrieg im Haus, und es war unmöglich zu bestimmen, aus welcher Richtung die jeweils nächste Attacke kam. Das war kein angenehmes Gefühl.
Sie steckte die Briefe in die Hosentasche ihrer Jeans, um sie Archie zu zeigen, denn so konnte sie den Augenblick selbst bestimmen, statt sie auf dem Tischchen liegenzulassen, wo er sie, wenn er zum Lunch nach Hause kam, als erstes sehen würde. Seine Ansichten durften sich auf keinen Fall noch weiter verhärten, solange sie nicht Gelegenheit gehabt hatte, ihn auf entsprechende Weise zu beeinflussen, obwohl sie mit beunruhigender Gewißheit feststellen mußte, daß ihr Einfluß auf ihn merklich nachgelassen hatte, und daß seine Bewunderung für sie in letzter Zeit allzu oft von Unzufriedenheit überschattet wurde.
Als Sonia zurückkam, hatte es sich Cassie, das jüngste ihrer vier Kinder, mit einem Stapel von Küchenhandtüchern aus Minnies Wäschekorb im Rücken, in einem Pappkarton unter dem Küchentisch bequem gemacht, derweil Birdie auf allen vieren auf dem Fußboden herumkroch und dabei Laute von sich gab, die an das Brüllen eines Esels erinnerten. Cassie hatte Sonias weißen Sonnenhut auf, ansonsten war sie splitternackt. Sie machte einen zugleich zufriedenen und erhabenen Eindruck, wenn sie ihnen ab und zu huldvoll aus dem Karton zuwinkte, wie die Königin bei der Parade in Ascot.
»Komm, Cassie«, sagte Minnie. »Zeit für dein Schläfchen.«
»Kein Schläfchen«, protestierte Cassie. Ihr kleiner Körper und ihre Füße, die über den Kartonrand hingen und nun trotzig dagegen hämmerten, versteiften sich vor Bockigkeit.
»Sie ist das kleine Jesuskind in der Krippe«, fuhr Birdie erklärend dazwischen, »und ich bin der Ochse und der Esel und das Schaf, und ich bete sie an.«
»Sonst noch was?« erkundigte sich Minnie. »Wie ich das sehe, wird sie bald das Jesuskind im Bettlein sein.« Dabei zog sie die Krippe unter dem Tisch hervor und wedelte lockend mit den ausgezogenen Kleidern. Cassie hielt sich krampfhaft an ihrem Hut fest, als sei er der letzte Rest von Anständigkeit in einer verdorbenen Welt, und fing an zu schreien.
»Sie will, daß ich sie weiter anbete«, meinte Birdie, die oft Cassies Dolmetscher war und die, obwohl drei Jahre älter, bei ihren Spielen immer die Nebenrolle übernahm. »Und ihr Hut ist ein Heiligenschein, genau wie im Fenster in der Kirche. Laß sie doch noch bleiben, Min, bitte. Sie läßt sich doch so gern anbeten.«
»Das glaub’ ich gern – es muß wirklich sehr angenehm sein –, aber wir haben keine Zeit für solch närrische Spiele. Komm jetzt, junge Dame, Zeit fürs Bettchen.« Minnie hob das laut protestierende Jesuskind aus der Krippe und trug es brüllend aus der Küche.
»Sie hat alles kaputtgemacht. Es wird nie wieder so sein. Es war ein herrliches Spiel«, lamentierte Birdie.
»O Liebling, es tut mir leid. Ich versteh’ dich ja, aber Cassie ist so unleidlich, wenn sie mittags nicht schläft, das weißt du doch. Ich werd’ die Sachen hier schnell wegräumen, und dann könntest du, wenn du magst, mitkommen und ein bißchen malen.« Sonia betrachtete die untröstliche Birdie, die mit dem Fuß leise an das Tischbein stieß. Birdie, der die laute Unbekümmertheit ihrer Geschwister fehlte, war manchmal das schwierigste der Kinder.
»Wirklich malen, in deinem Studio?«
Sonia nickte. Wenn das kein Geschenk war! Ein besonderes Vergnügen, denn das Studio war der einzige Raum im ganzen Haus, den sogar ihre Kinder nur mit ausdrücklicher Genehmigung betreten durften. Birdie war im Nu versöhnt.
Sonias Studio befand sich oben, im ehemaligen Nähzimmer. Die tiefen Schubladen der Kommode mit den darüber liegenden offenen Regalen, auf denen sich einst Flickwäsche gestapelt hatte, waren der ideale Aufbewahrungsort für ihre Malutensilien. Archies Großmutter hatte ein Doppelwaschbecken für Sonia einbauen lassen, damit sie ihre Pinsel auswaschen und auch sonst alles saubermachen konnte, obwohl es im Studio meist nicht so aussah, als würde hier viel geputzt. Archie, seinerseits eher penibel, war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie in diesem chaotischen Studio solch makellose Bilder entstehen konnten. Er hielt seine Frau überhaupt für schlampig und desorganisiert, und deshalb wollte es nicht in seinen Kopf, nachdem sie alles, was sie anpackte, in ein Chaos verwandelte, sich jedes Chaos letztendlich immer in nahezu perfektes Wohlgefallen auflöste. Halbfertige Bilder, die an der Wand lehnten, und Farbtöpfe, die auf dem Boden herumstanden, machten es schwer, ohne Farbflecken auf den Kleidern das Studio wieder zu verlassen. Türklinken und Lichtschalter waren, weil Sonia mit farbverschmierter Hand allzu hastig die Tür geöffnet oder das Licht ein- oder ausgeschaltet hatte, mit verschiedenen Farbschichten überzogen. Auf den Regalen standen Vasen und Einmachgläser, ideale Behälter für Blüten und Blätter, die ihr als Vorlage für ihre Bilder dienten, denn Pflanzen- und Laubmotive waren ihre Spezialität. Was ihre Bilder vom künstlerischen Standpunkt aus so einmalig machte, waren jedoch diese seltsamen, surrealistischen Hintergründe, aus denen ihre naturgetreu wiedergegebenen botanischen Motive heraustraten. Sie machten ihre Bilder zu etwas Besonderem, zu mehr als nur dekorativem Wandschmuck, und genau das hatte in ihren Anfangsjahren, vor allem bei ihrer Abschlußausstellung für das Diplom, große Anerkennung bei einigen Kritikern gefunden. Aber irgendwie war es bei diesem vielversprechenden Anfang geblieben, und sie war unglücklich, wenn sie an ihre Gefährten von der Kunstakademie dachte, die sich, obwohl keineswegs begabter als sie, im Laufe der Zeit einen Namen gemacht hatten, während sie ihre erste Chance ungenutzt hatte verstreichen lassen. Sie wußte, daß Begabung allein nicht genügte, und daß ihr bisher Antrieb und Entschlossenheit gefehlt hatten, die nötig waren, um sich als Künstlerin zu verwirklichen und durchzusetzen. Sie wußte auch, daß, wäre sie mit ihrem Dasein als Ehefrau und Mutter zufrieden gewesen, das andere keine Rolle gespielt hätte; aber diese innere Gespaltenheit führte dazu, daß sie oftmals von einer nervösen Unzufriedenheit erfüllt war und das Gefühl von Unzulänglichkeit in beiden Rollen nicht los wurde.
Anfänglich war das Studio ausschließlich ein Platz zum Arbeiten gewesen, aber je drohender sich die Unzufriedenheit über ihre Ehe vor ihr auftürmte, desto deutlicher spürte sie, daß es mehr als ein Arbeitsraum wurde, denn nach und nach brachte sie geliebte Bücher und Gegenstände mit hierher, wie ein Hund, der Knochen in seine Hütte trägt. Sie verbrachte auch immer mehr Zeit in ihrem Studio mit Dingen, die sie früher woanders im Haus erledigt hatte – und malte immer weniger. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, war ihr, als hätte sie zusammen mit dem restlichen Haushalt auch einen Teil von sich selbst zurückgelassen.
Es war dieses Gefühl, daß sich Sonia vor ihm verschloß und ein Teil von ihr vollkommen unzugänglich war, das Archie so quälte. In den Anfangsjahren ihrer Ehe hatte sie manchmal versucht, ihn einzulassen, ihre tiefsten Gefühle und Sehnsüchte mit ihm zu teilen, aber er hatte sich als unfähig erwiesen, an ihrer geheimsten Welt teilzunehmen, er hatte gescheut wie ein verängstigtes Pferd. Jetzt betrat er ihr Studio nur noch selten, denn nichts beschwor diese ungute Spannung zwischen ihnen mit solcher Sicherheit herauf wie das. Zu oft hatte sie ihn wie einen unwillkommenen Eindringling behandelt. Und seit kurzem ließ er sie spüren, daß sie in seinen Augen ein verzogenes Kind war, das in egoistischer Manier zu viel Zeit einzig und allein mit einem geliebten Spielzeug verbrachte. Archie hatte darauf bestanden, daß sie ein Telefon ins Studio bekam, denn die Farbkleckse auf dem Hörer in ihrem Schlafzimmer waren mehr, als er ertragen konnte. Die Telefonrechnungen sorgten übrigens für regelmäßig wiederkehrende Reibereien.
»Du gehst auf die Jagd – ich telefoniere«, rechtfertigte sich Sonia ärgerlich, wenn er sie am Vormittag wieder einmal während eines langen Gesprächs mit einer Freundin unterbrach. Seit er nicht mehr in der Armee war, sondern selbständiger Gutsbesitzer, war er für ihren Geschmack viel zuviel zu Hause, und nicht selten kam ihr der alte Spruch in den Sinn: »In guten und in bösen Tagen – aber nicht zum Lunch.«
Die Kinder liebten das Studio aus eben dem Grund, aus dem Archie es ablehnte. Weil sie sich ihrer Mutter und ihrer Liebe zu ihnen so sicher waren, stellte das Studio für sie keine Bedrohung dar, sondern übte vielmehr die unwiderstehliche Faszination der Dinge aus, die nicht immer verfügbar sind. Polly malte sogar ziemlich gut, sie schien begabt, aber weil sie von Natur aus immer Ansprache brauchte – ob Lob oder Kritik spielte keine Rolle –, konnte sich Sonia, wenn Polly bei ihr war, nur sehr schwer auf die eigene Arbeit konzentrieren. Tom, der überhaupt keinen Draht zum Malen hatte, schwirrte jedesmal um sie herum wie eine aufgescheuchte Fliege, wobei er alles in die Hand nahm, um es sogleich wieder hinzustellen. Das machte sie so nervös, daß sie letztendlich immer klein beigab und sich mit schwacher Stimme bereit erklärte, statt dessen mit ihm Pingpong oder Tennis zu spielen oder ihn auf einer wichtigen Unternehmung zu begleiten, denn Tom war ein tatendurstiger Junge. Da ihm die Fähigkeit der Mädchen fehlte, sich in eine Phantasiewelt zurückzuziehen, mußte er am meisten von allen Kindern beschäftigt werden.
Birdie war das friedfertigste und ruhigste Kind, und sie war bald so mit ihrem Blatt Papier und ihren Stiften beschäftigt, daß sie alles andere um sich herum vergaß. Im Moment zeigte sie zwar keine außergewöhnliche künstlerische Begabung, aber durch ihre Selbstvergessenheit gelang es ihr stets, sich eine glückliche Alternative zu der für sie manchmal recht bedrohlichen Realität zu schaffen. In Birdies Phantasiewelt kümmerte sich eine Mutter ausschließlich um das Wohlergehen ihrer Kinder, ein Vater führte ein wenig aufregendes Leben und schwang sich im Gegensatz zu ihrem eigenen Vater weder mit einem Gleitschirm durch die Lüfte, noch ging er auf die Jagd oder fuhr Rennen in Schnellbooten. Gestritten wurde in ihrer Traumwelt nie. Vor allem stritten Vater und Mutter nicht miteinander. Ihre Zeichnungen stellten meist steife Damen in seltsamen dreieckigen Kleidern dar, an deren Saum kräftige Beine baumelten. Diese starren Damen, die unter blumenverzierten Hüten auf runden Köpfen spazierten, schoben immer Kinderwagen vor sich her oder trugen wohlgenährte Säuglinge auf dem Arm. Jedesmal, wenn Sonias Blick auf diese Comics von ereignislosem Familienleben fiel, nahm sie schuldbewußt zur Kenntnis, wie sehr sich doch Birdies wirkliches Familienleben von dieser Idealvorstellung unterschied. Birdie hatte in der Schule ein Gedicht verfaßt, das derzeit am Kühlschrank hing und Sonia wie eine Mahnung schien:
Mutter, Mutter, sanft und lind,
liebt sie so, ihr kleines Kind.
Tröstet sie, wie’s auch sein mag
und liebt und liebt es alle Tag.
»Das ist grammatikalisch völlig falsch«, hatte Polly sie verächtlich belehrt. Aber trotz der Grammatik hatte sich Birdie standhaft geweigert, etwas zu verändern, obwohl Polly sie zum Weinen bringen konnte, indem sie die Worte immer wieder lautlos nachahmte, als würde sie mit jemandem sprechen, der von den Lippen lesen konnte. Eine Spottversion von Tom hatte Sonia verbieten müssen. Sie lautete folgendermaßen:
Birdie, Birdie, tränenfeucht,
liebt, was alles kreucht und fleucht,
nur nicht, was in Schleimesspur
glitscht und glitscht in einer Tour.
Nachdem sich Birdie vor Würmern, Schnecken und überhaupt vor jedem Kriechtier ekelte, hatte er mit dem Gedicht mitten ins Schwarze getroffen. Auch Sonia mußte darüber lachen, aber der Sturzbach von Tränen der Verletzung, der sich über die Wangen der Dichterin ergoß, machte ein Verbot der Spottverse erforderlich. Leider war die arme Birdie viel zu dünnhäutig zur Welt gekommen.
Ungefähr eine Stunde lang arbeiteten sie beide schweigend Seite an Seite. Sonia bemühte sich, Bilder für eine Ausstellung fertigzustellen, die im Spätsommer in einer kleinen, vor kurzem eröffneten Galerie stattfinden sollte. Der Termindruck war ihr angenehm und nützlich, denn er half ihr, gegen ihre zweite Begabung anzugehen, die darin bestand, Dinge unendlich aufzuschieben.
Sie war nicht in der richtigen Stimmung, Traumwelten auf der Leinwand zu erschaffen. Einerseits hätte sie mehr Zeit dazu gebraucht, und andererseits konnte der inspirierende Funke schon durch die kleinste Störung zunichte gemacht werden. Darum entschloß sie sich, das zarte Aquarell der »Engelstränen«-Narzissen zu beenden, mit dem sie am Vortag begonnen hatte. Wenn sie noch länger wartete, bestand die Gefahr, daß die Blüten sich zu weit öffneten. Später vielleicht würde der Titel ihre Phantasie für einen passenden Hintergrund beflügeln. Für diese Art von Arbeit war mehr das Auge als die Phantasie gefragt, deshalb schweiften ihre Gedanken ab.
Warum hatte sie Archie geheiratet? Gewiß hatte das Haus von Anfang an einen Zauber auf sie ausgeübt, sie in ein Gefühl von Beständigkeit gehüllt, das sie in den wechselnden Armeeunterkünften, in denen sie ihre Kindheit verbrachte, nie verspürt hatte, aber sie konnte guten Gewissens sagen, daß die Gewißheit, Archie würde das Haus eines Tages erben, ihren Entschluß nicht beeinflußt hatte. Sie war damals auch von ihm sehr angetan gewesen, und außerdem bot eine Ehe die perfekte Gelegenheit, den Selbstzweifeln zu entfliehen und die Entscheidung für oder gegen ein Leben als Künstlerin noch ein wenig aufzuschieben. Archie war im Regiment ihres Vaters Subaltemoffizier gewesen. Als Tochter eines Generals hatte sie viele junge Offiziere kennengelernt, die meisten waren von ihrem Temperament, ihrem Humor, ihrem Talent und ihrer unkonventionellen Art hingerissen gewesen; Archie war da keine Ausnahme. Sie hatte in seinem allzeit bereiten herzlichen Lachen irrtümlicherweise einen ihr eigenen Sinn für Ironie vermutet, und weil er von jedem ihrer Worte so angetan schien, hatte sie geglaubt, er teile ihre Ansichten. Seine Großmutter, die ihm zwar sehr zugetan, deshalb jedoch keineswegs blind für seine Schwächen war, hatte versucht, sie vor möglichen Unvereinbarkeiten zu warnen, aber sie hatte nicht auf die alte Dame gehört.
Archie hatte zwar durchaus einen gewissen Sinn für Humor, aber es kam ihr fast so vor, als wäre der in seiner freudlosen Kindheit verlorengegangen und als bedürfe er ihrer, um diesen Humor wieder aufzuspüren. Ihre Fähigkeit war es gewesen, ihn zum Lachen zu bringen und ihm die Welt durch eine andere Brille zu zeigen, was ihn anfänglich fasziniert hatte. Sie hatte ihm einen vollkommen neuen Teil seines Selbst gezeigt, von dessen Existenz er bis dahin nicht einmal geahnt hatte, und er war entzückt und begeistert gewesen. Aber jetzt, nachdem er der Armee den Rücken gekehrt hatte und sie gemeinsam auf Duntan lebten, schien dieser Zauber nicht mehr so stark. Während sie malte und die kleinen Blumen auf der Leinwand vor ihr zum Leben erwachten, zerbrach sich Sonia den Kopf über ihre Ehe, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Als Archie mittags heimkam, spürte Sonia sofort, daß er unzugänglicher Stimmung war.
Mit seinen vierzig Jahren war er ein Mann im besten Alter. Er war gut gebaut, er war tatkräftig und außer in Gegenwart seiner Frau, durchaus selbstsicher, und auch wenn sich der Bauch über dem Ledergürtel seiner Hose ein klein wenig vorwölbte, hätte ihn noch niemand dick genannt. Seine gesunde Gesichtsfarbe würde eines Tages ins Rötliche übergehen, aber dieser Tag lag noch in weiter Feme. Obwohl er vielleicht eine Spur zuviel eines teuren Aftershave auflegte, hatte man den Eindruck, als sei er sich nicht zu schade, kräftig zuzupacken. Und wenn er zupackte, dann sicher deshalb, weil er nie einem Untergebenen eine Arbeit befohlen hätte, die er nicht selbst erledigen konnte.
Er hatte sich schon in jungen Jahren einen festen Bestand von Ansichten erworben, die er nie in Frage gestellt hatte bis zu dem Tag, an dem er Sonia traf, und er fühlte sich auch heute noch sehr sicher, weil er sie in sich verschlossen hielt. Archie schätzte Fairneß, Ehrlichkeit und einen Gott, der pünktlich am Sonntag morgen um elf Uhr in der Kirche von England zur Verfügung stand. Er war freundlich, tüchtig und treu, obwohl Sonia beklommen spürte, daß es da möglicherweise doch eine Grenze des Hinnehmens jener kalten Duschen gab, die entweder seine Frau über ihn ergoß oder aus dem Dach seines ererbten Hauses herunterkamen.
»Deine Mutter kommt uns besuchen«, verkündete Sonia.
»Na prima«, sagte Archie. Loyalität gegenüber der Familie entsprach seiner Überzeugung, ganz gleich, wie tief der Stachel früherer Erfahrungen sitzen mochte.
»Deine Mutter«, fuhr Sonia fort, »will den Sommer bei uns verbringen. Sie will uns helfen, die Schwierigkeiten mit dem Haus zu bewältigen. Sie sprach von Fügung.«
»So? Was für eine Fügung?«
»Wahrscheinlich meint sie Fügung von ganz oben. Sie hat es nicht weiter erläutert. Vielleicht durch den Papst oder den Erzengel Gabriel. Wahrscheinlicher ist allerdings Luzifer oder ein neuer Mann.«
Archie schien etwas verwirrt.
»Tja, also wenn sie kommen will, dann soll sie kommen. In gewisser Weise ist sie ja auch hier zu Hause.«
»Ach, das ist ja interessant!! Wenn sie kommt, dann als Gast. Soweit kommt es noch, daß sie die Hausherrin in meinem Haus spielt! Aber wahrscheinlich müssen wir sie eine Weile ertragen. Außerdem ist es besser zu wissen, was sie vorhat, die eilte Intrigantin. Jedenfalls bringt sie einen zum Lachen, wenn man genug Humor hat und sich stark genug fühlt.«
Tatsache war, daß Sonia die Gesellschaft ihrer Schwiegermutter viel eher genoß als Archie. Sie konnte ihr, wenn sie erst einmal da war, eigentlich nicht widerstehen, während Archie, der sie in Abwesenheit stets verteidigte, ihre Besuche als äußerst anstrengend empfand. Minnie behauptete immer, Cassie schlage ihr nach, was eine ereignisreiche Zukunft schwanen ließ.
Archie war größtenteils von seiner Großmutter erzogen worden. Seine Mutter, Lady Rosamund, eine Frau mit unbändigem Drang nach immer neuen Abenteuern, war ihres bodenständigen, kleinkarierten Ehemanns und des Erben, den sie ihm geschenkt hatte, schon nach kurzer Zeit überdrüssig gewesen. Deshalb verabschiedete sie sich zum erstenmal, als Archie zwei Jahre alt war, um einen Ashram in Indien aufzusuchen. Die strenge Ausschließlichkeit spiritueller Suche war jedoch nicht nach ihrem Geschmack, jedenfalls nicht lange, so daß sie sich schon bald einem Radscha zuwandte, der ganze Scharen von Poloponys und Massen von Perlen besaß. Irgendwann war sie zu Archies Vater zurückgekehrt, mit Perlen, aber ohne Ponys und Liebhaber. Sie nahm ihren Platz in der englischen Gesellschaft wieder ein und verwirrte ihren kleinen Sohn hin und wieder mit ihrer Anwesenheit, überließ aber im übrigen seine Erziehung weitgehend ihrer Schwiegermutter und einer Reihe von Kindermädchen.
Eine Affäre mit einem italienischen Grafen hatte schließlich für ihren benebelten Ehemann das Faß zum Überlaufen gebracht. Nach der Scheidung verbrachte sie kurze Zeit in einem Castello in der Nähe von Florenz. Während dieses Zwischenspiels war sie sehr italienisch und außerdem päpstlicher als der Papst geworden. Ihre erste Ehe zähle nicht, sagte sie, da sie lediglich in der Kirche von England geschlossen worden sei, der Radscha sei nur eine kleine fleischliche Sünde gewesen, etwa sowie zu viel Schokolade. Später sollte sich praktischerweise herausstellen, daß auch ihre zweite Ehe nicht zählte: aufgrund der vorausgegangenen Scheidung hatte die Mutterkirche nur ihren halben Segen geben können, die Ehe war deshalb keine wahre Vereinigung im Geiste und sie demzufolge herrlich frei, die nächste Verbindung mit einem amerikanischen Bankier einzugehen, aus der ein Kind, Archies Halbschwester Martha, hervorging. Diese Ehe hatte zur großen Überraschung aller lange gehalten, bis zu dem Tage vor ein paar Jahren, als der Bankier – vielleicht weil er nicht länger in der Lage war, das aufregende Leben Lady Rosamunds zu teilen –, trotz äußerst gesunder Ernährung mit Vollwertprodukten und mehrfach ungesättigten Fettsäuren, gestorben war.
Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß ihr der Witwenstand sehr gut stand. Die kleinen fleischlichen Sünden konnten nun unter dem Aspekt der Erhaltung der eigenen Gesundheit gesehen werden, eine Art Fitneßtraining, um das eigene Wohlbefinden zu steigern. Sie konnte von dem Tag an auch über die Dollars verfügen, was nun gewiß von Vorteil war. Seit Archies Vater bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war – das war während ihrer italienischen Ehe –, konnte sie sich, wenn auch nicht ganz legal, als zweifache Witwe und damit als tragische Gestalt sehen. Obwohl ihr Duntan eigentlich nie gehört hatte, beschloß sie, wann immer es ihr beliebte, hier als Königinmutter aufzutreten, die natürlich auch das Recht in Anspruch nahm, bei seiner Zukunft ein Wörtchen mitzureden.
In all diesen stürmischen und flatterhaften Jahren war die alte Lady Duntan wie ein Fels in der Brandung gewesen, gleichzeitig erbost und amüsiert über die Eskapaden ihrer Schwiegertochter. Sie war keine gefühlskalte Frau, aber dennoch irgendwie angsteinflößend. Sie war sehr darauf bedacht, ihrem Enkel die moralischen Werte einzutrichtern, an denen es seiner Mutter so offensichtlich mangelte. Doch sie hatte ihm auch Beständigkeit vermittelt, und so war Duntan das Nest, in das Archie, ein einsamer, kleiner Junge, immer wieder zurückkehrte, sei es von der Schule oder den Besuchen bei seiner Mutter in den verschiedensten Teilen der Welt.
Da Archie die Nachricht vom bevorstehenden Besuch seiner Mutter anscheinend gleichmütig aufnahm, wagte Sonia einen Vorstoß.
»Da ist noch ein Brief gekommen, den du dir vielleicht ansehen solltest.« Sie ließ den Brief von der HAR über den Tisch segeln, rückhändig, in der Art wie die Kinder Frisbees warfen. Er landete exakt auf Archies Brotteller, ein provozierendes Kunststück, auf das sie stolz war.
»Wer zum Teufel ist das?«
Er las den Brief mit wachsender Verärgerung.
»Sieh mal, Liebling. Es tut mir leid«, sagte Archie, aber der Ton seiner Stimme sagte vielmehr, daß er es leid war, ihr nun mindestens zum zwanzigsten Mal das gleiche erklären zu müssen. »Wir können es uns einfach nicht leisten, weiterhin hier zu wohnen. Die Tatsache, daß du einen schnuckeligen Schwulen an Land gezogen hast, der Leute berät, wie sie am besten Geld ausgeben, das sie gar nicht haben, ändert daran nichts.«
»Das ist nicht fair«, gab Sonia zurück. »Du kennst ihn doch noch gar nicht. Sein Rat kostet nichts und verpflichtet uns auch zu nichts.«
»Was ist ein schnuckeliger Schwuler?« wollte Birdie wissen.
»Shirley Gillespies Mutter sagt«, antwortete Polly, während sie sich Makkaroni mit Käse in den Mund stopfte und die Auseinandersetzung ihrer Eltern nutzte, um eine zweite Cola zu ergattern, »Schwule sind Männer, die miteinander schlafen.«
Der Vorteil, Shirley Gillespie zur besten Freundin zu haben, war der, daß ihre Mutter, die an der Universität Dozentin für Psychologie war, anscheinend sehr viel von schonungslos offenen Gesprächen über die Wahrheit hielt. Irgendeinen Vorteil mußte die Freundschaft ja haben. Shirley Gillespie war nämlich ein ziemlich langweiliges Mädchen, aber das, was ihre Mutter von sich gab, war teilweise faszinierend.
»Der Kunstlehrer an unserer Schule ist schwul«, erklärte Tom. »Wir nennen ihn Blaufinger. Blau, weil er trinkt, und Finger, weil –«
»Das reicht!« Archie bedachte seine Kinder mit einem mißbilligenden Blick. »Wenn ihr Kinder euch eurem Essen zuwenden und den Mund halten würdet, könnten eure Mutter und ich vielleicht ein vernünftiges Gespräch führen.«
Sonia mußte sich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen. Statt dessen sprach sie mit schmeichelnder Stimme.
»Archie, Liebling, bitte überdenk es noch einmal – tu’s für mich. Du weißt doch überhaupt nichts über diesen Mann. Vielleicht hat er ja eine geniale Idee.«
»Genau das befürchte ich«, murmelte Archie düster. »Zu viele gottverdammte geniale Ideen. Aber mach, was du willst. Das tust du ja ohnehin. Laß ihn kommen, wenn’s denn sein muß. Aber eines möchte ich gleich klarstellen: Ich werde unter keinen Umständen, ich wiederhole, unter keinen Umständen, Land verkaufen, um den Erlös in die Erhaltung dieses Hauses zu stecken. Genug ist genug. Ich glaube, du hast nicht die leiseste Ahnung, welches Einkommen nötig wäre, um hier zu leben, ganz zu schweigen von dem, was wir aufbringen müßten, um das Haus in einen halbwegs soliden Zustand zu versetzen.«
Solide war Archies Lieblingswort, das sich ebensogut auf Häuser und Pferde wie auf Politiker und Pastoren anwenden ließ. Sie fragte sich, ob Archie wohl seine Kollegen im Grafschaftsrat, in den er soeben gewählt worden war, abklopfte, um zu hören, ob sie hohl klangen. Es mußte schrecklich für ihn sein, eine Ehefrau und eine Mutter zu haben, die beide durch und durch unsolide waren.
»Und noch eins: Ich wünschte, du würdest endlich einsehen, wieviel besser wir im Dial House leben würden. Welchen Sinn macht es denn, ein Haus zu bewohnen und die ganze Zeit in der Küche zu verbringen, weil überall sonst das Wasser durch die Decke tropft und die Möbel ruiniert?«
»Du meinst nicht besser, sondern großspuriger. Weniger Zimmer, aber dafür mehr Butler.«
Birdie fing an, mit den oberen Zähnen an ihrer Unterlippe zu schaben, und drückte zur Vorsicht die Daumen. Die Auseinandersetzung kam ihr erschreckend bekannt vor, und die Makkaroni mit Käse, so locker und leicht auf dem Teller, ballten sich in ihrem kleinen Magen zu einem unverdaulichen Klumpen zusammen.
»Gegen Butler ist doch nichts einzuwenden. Gut dran ist der, der welche hat.« Archie schwärmte wie über Erdbeeren im Winter. »Und wenn wir schon beim Thema sind: Es könnte nicht schaden, wenn du dich vor Beginn der Jagdsaison nach einer geeigneten Köchin umschautest. Falls es mir gelingt, Jagdgesellschaften zusammenzukriegen, wirst du hier ständig mit vielen Gästen zum Lunch rechnen müssen. Das ist mehr, als du mit Minnie allein bewältigen kannst, und ich weiß, daß du gern ein bißchen mehr Zeit hättest, um dich für deine kleine Ausstellung vorzubereiten«, fügte er etwas freundlicher hinzu.
Sonia machte sich daran, den Tisch abzuräumen.
»Warum mußt du immer von meiner ›kleinen Ausstellung‹ sprechen?« wollte sie wissen, obwohl sie sie eigentlich selbst so nannte. »Das klingt so geringschätzig.«
»Tut mir leid«, gab Archie gezwungen zurück. »Ich wollte dir nur behilflich sein. Andauernd behauptest du, ich interessiere mich nicht für deine Malerei, und wenn ich es doch tue, reißt du mir den Kopf ab.«
»Schon gut, bitte verzeih«, entschuldigte sich Sonia. Diesen Punkt, den Termin mit dem Herrn von HAR, konnte sie also für sich verbuchen. »Warum sich überhaupt aufregen.«
»Ich rege mich ganz und gar nicht auf.«
»Und warum hast du dann einen Schweißfleck unter dem linken Arm?« Ein kleiner dunkler Fleck verunstaltete Archies Hemd mit den breiten blauweißen Streifen. Er hatte an diesem warmen Apriltag seine Armeejacke über die Rückenlehne des Stuhls gehängt, aber jetzt zog er sie zornig wieder an und starrte Sonia wortlos an. Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu, was sie besser nicht getan hätte, denn dieser Moment der Unachtsamkeit genügte, daß ihr Zeh in einem Loch des abgetretenen Linoleums hängenblieb, so daß sie stolperte und die oberen beiden Teller des Stapels, den sie eben in die Küche trug, klirrend zu Boden fielen.
Unbelebte Objekte verhielten sich häufig gemein gegenüber Sonia. Die feingliedrigen Hände, die den Pinsel mit soviel Zartgefühl über die Leinwand führten, hatten mitunter verheerende Auswirkungen auf Porzellan und Glas. Es war einfach ungerecht, daß Archie, obwohl viel größer und breiter als sie, nie mit Tischen und dergleichen zusammenstieß, und ihm nur selten Weingläser in den Händen zerbrachen, er auch nie mit dem Ärmel an der Türklinke hängenblieb, wenn er volle Kaffeetassen in den Händen hielt.
»So ein Pech«, meinte Archie. »Schade, bald haben wir von den Tellern gar keine mehr.«
»Shirley Gillespies Mutter sagt«, ließ sich Polly vernehmen, »daß jede Aggression entweder in Gebietsstreitigkeiten oder Sexualität verwurzelt ist.«
Tom fragte sich, ob dies der richtige Augenblick war, um seinen Vater zu bitten, ihn auf die Taubenjagd mitzunehmen. Cassie hatte diesen gierigen Glanz in den Augen, wie ihn Minnie immer bekam, wenn sie sich im Fernsehen aufregende Ringkämpfe ansah.
»Schluß jetzt mit Shirley Gillespies Mutter«, entschied Sonia.
»Ich glaube, mir wird schlecht«, murmelte Birdie.
Vor genau einem Jahr war Archie aus der Armee ausgetreten, und vor einem halben Jahr war seine Großmutter gestorben. Sie hatten schon immer viel Zeit auf Duntan verbracht, die Ferien und die zwei Jahre, die Archie in Catterick stationiert gewesen war. Sie hatten stets gewußt, daß sie eines Tages für immer dort einziehen würden, und eigentlich war die Entscheidung, daß Archie der Armee den Rücken kehren und nach Yorkshire ziehen würde, um den Besitz zu verwalten und zu bewirtschaften, schon vor einiger Zeit gefallen. Als das Dial House, ein entzückendes kleines Haus auf dem Gut, frei wurde, hatte die alte Lady Duntan angeboten, dort ihren Lebensabend zu verbringen. Weil ihr Arzt vor einer so großen Veränderung strengstens gewarnt hatte, wollte Archie nichts davon hören. Er und Sonia hatten überlegt, ob nicht sie vorübergehend in dieses Haus einziehen sollten, obwohl sie es durch einen Anbau hätten vergrößern müssen, oder aber das große Haus mit ihr teilen sollten. Da hatte der Tod der alten Dame dafür gesorgt, daß sich die Situation drastisch änderte.
Lady Duntan hatte ein gesegnetes Alter erreicht, ihr plötzlicher Tod hätte kein Schock sein dürfen, wäre sie ihnen nicht so unverwüstlich erschienen wie ehemals auch das Haus. Sie war im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen, ging immer noch aufrecht, wie man das in ihrer Generation gelernt hatte, kümmerte sich bis zuletzt um den Garten und interessierte sich für alles, was um sie herum geschah. Sie las, was ihr in die Finger kam, und Sonia tat nichts lieber, als mit ihr über Becher und Musik zu plaudern, und war nicht selten überrascht von den Ansichten der alten Dame, die beileibe nicht immer so waren, wie man es von ihr erwartet hätte. Die Kinder hatten sie angebetet, sie empfanden keine Angst, wie ihr Vater sie als Kind in ihrer Gegenwart verspürt hatte. Lady Duntan behandelte sie wie ihresgleichen, erwartete, daß sie sich anständig benahmen, wurde nur selten enttäuscht und zollte ihren Ansichten anscheinend ebensoviel Aufmerksamkeit wie denen der Erwachsenen. Zweifellos war die alte Dame im Laufe der Jahre nachsichtiger und sanfter geworden, und obwohl es Leute gab, die ihre zuweilen scharfe Zunge und ihren beißenden Spott fürchteten, war sie allseits beliebt.
Sie hatte sich im Gegensatz zu einigen ihrer Vorfahren nie bemüßigt gefühlt, irgendwelche Veränderungen im Haus vorzunehmen, und trotzdem hatte sie diesem Haus einfach durch die Tatsache, daß sie darin lebte, einen Stempel aufgedrückt, der nachhaltiger war, als wenn sie alles umgemodelt hätte. Das Porträt von Lavery, das sie als junge Frau zeigte, hing über dem oberen Treppenabsatz; die feinen, weichen Lederhandschuhe, in denen sie mit geschickter Hand die Rosen geschnitten hatte, lagen immer noch in der Schublade des Büchertisches in der Halle. Die Duftsträuße in den beiden großen Famille-verte-Vasen im Wohnzimmer waren von ihr getrocknet worden, und viele der weichen Kissen mit der feinen Stickerei auf den Sofas und Stühlen verdankten ihre verblichene Schönheit ihren geübten Fingern. Der Charme von Duntan bestand zum Teil, wenigstens für diejenigen, die davon bezaubert wurden, in dem überquellenden Durcheinander von Dingen vieler Generationen, die hier gelebt hatten. Ob eine halbfertige Stickerei oder ein offenes Buch auf dem Fenstersims erst vor zehn Minuten dorthin gelegt worden waren oder schon fünfzig Jahre lang da lagen, wußte niemand zu sagen.
Weder Sonia noch Archie waren auf Duntan gewesen, als die Großmutter starb. Archie war nach Hampshire gefahren, um mit Bill Bruce, einem engen alten Freund, auf die Jagd zu gehen, und Sonia hatte die Gelegenheit genutzt, um ein paar Tage in London zu verbringen, wo sie ohne seine Ungeduld und sein Drängen das tun konnte, wozu sie Lust hatte. Er war enttäuscht und verletzt gewesen, daß sie nicht mit ihm gefahren war, hatte jedoch schließlich, wenn auch widerwillig, die Bruces angerufen und erklärt, Sonia müsse ihre Mutter besuchen und werde bei dieser Gelegenheit gleich die letzten Weihnachtseinkäufe erledigen.
»Sie waren sehr enttäuscht, aber sie haben sich nichts anmerken lassen«, hatte er gesagt. »Sie hatten fest mit dir gerechnet.«
Sonia blieb unnachgiebig. »Ach weißt du, ich bin mir ziemlich sicher, daß Caroline irgendeine reizende Pferdenärrin für dich auftreibt. Geh du ruhig und amüsier’ dich gut, und ich amüsier’ mich auf meine Weise.«
Freilich wünschte sie sich insgeheim einen attraktiven männlichen Begleiter, um mit ihm schöne Stunden zu verbringen; einen Mann, der ihre Interessen teilte und ihre Vorlieben auch ohne lange Erklärungen verstand.
Bevor beide abfuhren, war Birdie furchtbar durcheinander und außer sich gewesen, hatte sie beide beschworen, doch nicht wegzufahren.
»Aber, Liebling, du bist doch immer so glücklich mit Omimi und Min, und deine Geschwister sind doch auch noch da«, hatte Sonia sie beschwichtigt.
»Was ist los, Bird?« hatte sich Archie erkundigt und dabei die Arme um sie geschlungen.
»Es könnte etwas Schreckliches passieren, wenn ihr weg seid.«
»Aber, mein Liebling, was sollte denn passieren?« Birdie wußte es nicht und ließ sich doch nicht beruhigen.
In der Blount Galerie gab es eine Ausstellung von chinesischem Porzellan zu sehen. Sonia ging zweimal hin. Es handelte sich um eine kleine Sammlung, die den Besucher nicht überforderte; die Ausstellung war sozusagen wie eine leichte köstliche Mahlzeit, nach deren Genuß man sich weder übersättigt noch erschöpft fühlt und auch nicht das Gefühl hat, gar nichts gegessen zu haben. Sie hatte zwei Teller aus der Ching-Zeit entdeckt, die sie lange betrachtete. Die einzige Verzierung auf dem perlweißen Porzellan war ein blühender Pfirsichzweig im Famille-rose-Emailefarben-Dekor. Die beiden Teller strahlten eine Weite und heitere Gemütsruhe aus, die sie in Hochstimmung versetzten und ihr das seltene Gefühl inneren Friedens vermittelten. In dieser Stimmung verließ sie die kleine Galerie und hatte jetzt so viel inneren Abstand, daß sie die herrlichen Luxusartikel in den Schaufenstern der Bond Street, die sie normalerweise magisch anzogen, unbeachtet ließ.
Es war einer dieser klaren frühen Novembertage, noch ein bißchen Sommer und doch auch schon Winter. Die Sonne strahlte noch warm, aber die klirrend kalte Luft kündete von kälteren Tagen. Die Blätter der Platanen vollführten einen schwerelosen Tanz, fanden sich kurz am Bordstein zusammen, um im nächsten Augenblick wieder hochzuwirbeln, als spielten sie ein kompliziertes Spiel, das sie zwang, immer wieder auf den Boden zurückzufallen.
Als sie aus dem Bus ausstieg und die King’s Road entlangging, verspürte sie immer noch diese Zufriedenheit, die der Anblick des Porzellans ausgelöst hatte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, außerhalb von Zeit und Raum zu sein, an einem Ort, wo sie frei atmen konnte, wo sie neben sich stand, sich beobachtete und sich gleichzeitig ihres eigenen Körpers und der Dinge, die um sie herum geschahen, sehr bewußt war. Sie empfand das seltene körperliche Wohlgefühl von genau richtiger Wärme. Die Sonne wärmte ihr den Rücken, und der Wind, der ihr helles Haar zerzauste, war frisch und anregend. Sie beschleunigte ihr Tempo, spürte, wie ihr Rock ihre gut geformten Beine umspielte, und war fast traurig, als sie Radnor Walk erreichte, das Haus, in dem ihre Mutter wohnte. Diesen Moment werde ich in Erinnerung behalten, dachte sie; ich werde mein Leben bewußter leben – und freundlicher sein.
Mit dem Schlüssel, den sie besaß, schloß sie die Tür zur Wohnung auf, und von dem Augenblick an nahm der Tag eine andere Wendung. Er sollte für immer in ihr Gedächtnis eingegraben sein.
Ihre Mutter war nicht zu Hause, hatte ihr aber auf dem Tischchen in dem engen Durchgang, der als Korridor diente, eine Nachricht hinterlassen. Den Kindern geht es gut, las sie, und dieser Satz war dick unterstrichen,