Ein vager Verdacht - Helmut Schwarzer - E-Book

Ein vager Verdacht E-Book

Helmut Schwarzer

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Beschreibung

Als der stadtbekannte Juwelier Hermann Veit bei einem Einbruch in seiner Frankfurter Nobelvilla ermordet wird und seine kostbaren südafrikanischen Rohdiamanten spurlos verschwinden, gerät das Ermittlerteam um Kommissar Grunder unter Druck. Der Raubmord ist nur der traurige Endpunkt einer ganzen Serie bislang ungeklärter Einbrüche in der Finanzmetropole. Die fieberhaften Recherchen führen auch in die Niederlande und nach Tschechien und am Ende stoßen sie auf eine schier unfassbare Spur. Bald ist klar: In Frankfurt treibt ein Wolfs im Schafspelz sein Unwesen …

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Für meine EnkelkinderSandra, Marcel, Maria und Fin

Noch heute erinnere ich mich gut an den Sommer 2001 und wie es damals begonnen hat. So viel Gewalt, so viel Leid. Da ich nur am Rande in das Geschehen involviert war, haben mich Heinz Grunder und Kurt Hollmann gebeten, diese Begebenheiten möglichst genau und ohne weiteres Beiwerk zu Papier zu bringen. Natürlich habe ich alle Namen geändert, sodass jede Ähnlichkeit mit verstorbenen oder noch lebenden Personen rein zufällig ist.

***

Langsam lenkte Hendrik Pilgrim seinen dunklen Jaguar XJ in Richtung Frankfurter Innenstadt. Suchend nahm sein Blick den Bürgersteig auf. »Da ist sie ja«, sagte er leise, als er punktgenau vor einer brünetten Frau, die im Lichtschein der Schaufenster wartete, zum Stehen kam. Sie öffnete die Tür und ließ sich auf dem mit weißem Leder bezogenen Beifahrersitz nieder. Behutsam setzte sich der schwere Wagen wieder in Bewegung und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein.

»Ich bin Luzie – wir haben gestern telefoniert. Fahren wir zu Ihnen?«, fragte die junge Frau, während sie ihren kurzen Rock zurechtrückte und etwas weiter hochschob, sodass ihre makellosen Oberschenkel bis zur Hälfte zu sehen waren.

»Was? – nein, das geht auf gar keinen Fall – wir bleiben in meinem Auto.« Pilgrims Tonfall ließ keine Widerrede zu.

»Ja gut – dann besorge ich es Ihnen gleich hier …«, kam die kurze, schnippische Antwort. »Kostet aber etwas mehr, Sie verstehen …«, setzte sie eilig hinzu.

Der Wagen fuhr weiter in Richtung Innenstadt und bog nach einer Weile rechts ab. »Das kenne ich hier, da hinten sind Grünanlagen, da war ich schon mal«, sagte Luzie und warf einen Blick auf den jugendlich wirkenden Freier neben ihr. Sorgfältig taxierte Pilgrim die Umgebung und konstatierte zufrieden, dass um diese Zeit nicht mehr viel los war. Am Ende der Straße parkte er den Jaguar. Sein Herz schlug in freudiger Erwartung bis zum Hals, obwohl es für ihn inzwischen zur Routine geworden war, sich mit jungen Frauen auf diese Art zu vergnügen. Die Gefahr, in einer eindeutigen Situation entdeckt zu werden, war für Pilgrim der besondere Nervenkitzel. Sanft ließ er die Lehne seines Sitzes in eine bequeme Schräglage gleiten und legte erwartungsfroh die rechte Hand auf das Schulterblatt der jungen Begleiterin, die ihren Kopf auf seinen gut trainierten, festen Bauch legte. Pilgrim roch das verführerische Parfüm, was ihn noch mehr auf Touren brachte. Fast gefühlvoll durchstreiften seine Finger ihre halblangen brünetten Haare. Sein Blick ging prüfend über das Armaturenbrett nach draußen, dann in den Außenspiegel, den er nachjustiert hatte – niemand war in der Nähe.

Na dann mal los, dachte er. Luzie richtete sich auf, zog ihre Jacke aus und öffnete langsam – Knopf für Knopf – ihre Bluse, in dem Bewusstsein, dass alle Aufmerksamkeit in diesem Moment auf ihrem schlanken Körper ruhte. Sie war sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst. »Soll es denn etwas Besonderes sein?«, hauchte sie leise mit einer Stimme, die Pilgrim dahinschmelzen ließ.

»Das überlasse ich ganz dir, Kleine. Mir ist alles recht – du machst das schon …«

»In Ordnung«, flüsterte Luzie bedeutungsvoll und legte den Kopf auf seine Brust. Ihre schlanken Hände suchten zielsicher die Gürtelschnalle der teuren Anzughose und trotz der langen künstlichen Fingernägel öffnete sie geschickt den Reißverschluss.

Pilgrims Hand glitt unter ihre Bluse und spürte den warmen Rücken. Voller Leidenschaft tastete er nach dem Verschluss von Luzies Büstenhalter und öffnete ihn geschickt. Er fühlte sich wie ein Pennäler beim ersten Mal. Aufstöhnend überließ sich Pilgrim seinen Gefühlen.

Plötzlich tauchte ein Lichtschein das Innere des Wagens in eine diffuse Atmosphäre.

Pilgrim sah in den Rückspiegel und erkannte die Lampe eines Mopeds, das sich rasch näherte und laut knatternd an ihnen vorbeifuhr. Kurz danach wurde der Innenraum des Jaguars von einem Scheinwerfer grell erhellt. Ein Auto raste mit hohem Tempo an ihnen vorbei. Pilgrim wollte schon erleichtert seine Aufmerksamkeit wieder ganz Luzie widmen, als er sah, wie das Auto vor ihm den Mopedfahrer erfasste. Im Schein einer Straßenlaterne konnte Pilgrim entsetzt sehen, wie der Mann von seinem Gefährt gerissen wurde. Mit brachialer Gewalt knallte der Körper auf dem Fußweg auf und blieb regungslos im fahlen Licht liegen. Das Moped rollte noch ein Stück alleine weiter und verschwand in der Dunkelheit der Grünanlage. Pilgrim war wie erstarrt, wohin gehend Luzie sich immer noch darauf konzentrierte, ihn in Stimmung zu bringen. Mit quietschenden Reifen bremste der Fahrer des Autos, löschte das Scheinwerferlicht und stieg aus. Suchend ging er um seinen Wagen herum, blieb an der rechten Frontseite des Kotflügels stehen und begutachtete ihn gründlich. Dann richtete er sich auf, blickte verstohlen die Straße auf und ab. Es war offensichtlich, dass er sich völlig unbeobachtet fühlte. Erst jetzt näherte sich der Mann dem am Boden liegenden Mopedfahrer und beugte sich über ihn. Wieder schaute er sich nach allen Seiten um, richtete sich auf und stieß mit seiner Schuhspitze gegen den leblosen Körper am Boden. Der Fahrer ging zurück zu seinem Auto, stützte sich auf den Kofferraum und spähte nochmals in alle Richtungen. Instinktiv rutschte Pilgrim ein Stück hinunter und lugte vorsichtig durch das Lenkradkreuz auf die vor ihm liegende makabere Szene.

Das hat mir gerade noch gefehlt – ein Unfall und ich als wahrscheinlich einziger Zeuge. Seine Gedanken rasten. Wie soll ich plausibel machen, was ich hier gemacht habe. Völlig unmöglich ist das. Ein Staatsanwalt am Oberlandesgericht mit einer Prostituierten in der Öffentlichkeit – dann noch in so einer eindeutigen Situation. Nein, das geht wirklich nicht – auf gar keinen Fall! Andererseits habe ich jedoch die verdammte Pflicht … Weiter kam er nicht, denn die Ereignisse auf der Straße zogen wieder seine Aufmerksamkeit auf sich.

»Was ist?«, fragte Luzie, die bemerkt hatte, dass ihr Freier nicht so recht bei der Sache war.

»Nichts, mach’ weiter«, sagte Pilgrim barsch.

Das Unfallopfer lag noch immer regungslos auf dem Fußweg. Hastig ging der Fahrer zur Frontseite seines Wagens und tastete den Schweinwerfer ab. Dann bückte er sich. Offenbar, so dachte Pilgrim, hatte er etwas gefunden. Nach kurzer Zeit war der Fahrer wieder zu erkennen. Hastig ließ er etwas in seiner Jackentasche verschwinden, stieg in seinen Wagen und schloss behutsam die Tür. Dann fuhr er zügig ohne das Licht einzuschalten los. Für ihn schien das Schicksal des Opfers offensichtlich besiegelt. Und jetzt zögerte Pilgrim keine Sekunde mehr – er musste diesem Kerl nach.

»He, Luzie, es ist vorbei – Schluss jetzt!« Pilgrim schob energisch die junge Frau von sich, richtete seinen Sitz wieder auf und startete den Motor. Ohne das Unfallopfer am Boden weiter zu beachten machte er sich daran, dem Auto nachzufahren.

Luzie war eingeschnappt: »Gefällt es dem Herrn etwa nicht? Ich meine – ich mühe mich hier ab und mache, aber der gnädige Herr sagt einfach ›Schluss‹.«

»Ja, sieh’ zu, dass du verschwindest. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.«

»Was ist mit meinem Geld?«, fragte Luzie, während sie sich eilig ihre Bluse zuknöpfte und die Jacke hastig über die Schultern legte.

Der Verfolgte war inzwischen auf der breiten Hauptstraße angekommen, hatte das Scheinwerferlicht wieder eingeschaltet und beschleunigte schwungvoll. Pilgrim heftete sich ihm an die Fersen und folgte in gebührendem Abstand weiter in Richtung Frankfurter Altstadt.

»Also, was ist denn jetzt mit meinem Geld?«, fragte Luzie schnippisch, wenn auch mit belegter und verängstigter Stimme.

Pilgrim griff ohne das Lenkrad mit der Linken loszulassen in die Reverstasche seines Jacketts, angelte hastig einen 50-Markschein heraus und reichte ihn ihr. »Hier, nimm, mach schnell! Ich hab’ keine Zeit!«

Der Verfolgte vor ihm kam gerade an eine große Kreuzung, deren Ampel auf Rot zeigte.

Diesen Moment nutzte Pilgrim und wies mit der Hand nach vorne. »Da ist eine Telefonzelle. Ich lass’ dich da raus, verstanden?«, sagte er kurz angebunden. Sein Blick war starr auf das Auto vor ihm gerichtet.

Luzie stand schon auf dem Bürgersteig, als Pilgrim ihr hastig die Handtasche hinterherwarf, die sie gerade noch auffangen konnte.

»Und wie komme ich jetzt nach Hause?« Luzies Stimme klang weinerlich.

»Mit einem Taxi!«, rief Pilgrim unbeherrscht. Luzie knallte die Beifahrertür zu und trat hastig einige Schritte zurück, denn Pilgrim war schon wieder gestartet.

Nach einiger Zeit bog der Wagen vor ihm in eine Seitenstraße ein und verlangsamte sein Tempo. Was machst du hier in dieser verwahrlosten Gegend?, dachte Pilgrim und bemühte sich, gebührend Abstand zu halten, um nicht vom Verfolgten gesehen zu werden.

Plötzlich hielt der Wagen vor einem Gebäude, das offensichtlich schon bessere Zeiten gesehen hatte und schaltete das Scheinwerferlicht aus. Auf dem Vorplatz hatte wohl einmal eine Tankstelle gestanden, deren Dasein im Zuge der Städtebaureform beendet worden war. Auch Pilgrim stoppte, schaltete das Licht aus und wartete im Dunklen, was geschehen würde. Plötzlich setzte sich der von ihm Verfolgte wieder in Bewegung und fuhr langsam hinter dem Vorplatz auf das Grundstück.

Pilgrim überlegte nicht lange. Er stieg aus, rückte sein Sakko zurecht und ging eilig in die Richtung, in der sein Zielobjekt verschwunden war. Vorsichtig schaute er um die Hausecke in einen unaufgeräumten Innenhof, auf dem das Auto des Unfallfahrers jetzt stehengeblieben war. In diesem Moment ging im hinteren Gebäudeteil das Licht an und der ganze Hof war grell ausgeleuchtet. Pilgrim konnte gerade noch im Schatten eines Mauervorsprungs der Toreinfahrt verschwinden. Vorsichtig sondierte er das Umfeld. Ein heruntergekommenes Firmenschild mit der altmodischen, teilweise abgeblätterten Aufschrift »Karosseriebau und Lackierungen Becker« wies über einer großen Doppeltür auf bessere Tage hin. Der Hofplatz selbst war mit Schrottwagen vollgestellt und machte einen ziemlich verlotterten Eindruck.

Auf einmal öffnete sich die große Doppeltür, der Wagen startete und verschwand dahinter. Sorgfältig den Hofplatz kontrollierend, zog ein älterer Mann anschließend die Türflügel wieder zu und ließ sie krachend ins Schloss fallen. Gespenstische Ruhe kehrte wieder ein. Pilgrim zündete sich nervös eine Zigarette an. Und jetzt? Irgendwie hatte er keinen rechten Plan, aber es drängte ihn unwiderstehlich, seine Verfolgungsjagd jetzt nicht aufzugeben. Er warf die Zigarette auf den Boden und trat sie mit seinem italienischen Designerschuh aus. Bemüht, keinen Laut zu verursachen, schlich sich Pilgrim im Schutz der Dunkelheit am Gebäude vorbei. Sein Ziel war ein großes vergittertes Fenster neben der Doppeltür, hinter der das Auto gerade eben verschwunden war. Glücklicherweise stand eine Palette mit alten Autoreifen davor, sodass Pilgrim hinaufklettern und ins Innere spähen konnte. Da das Fenster einen Spalt weit geöffnet war, konnte er auch gut hören, was dahinter gesprochen wurde.

Pilgrim erkannte eine Werkstatt, die wohl vor vielen Jahren einmal modern gewesen sein musste. Jetzt war der rote, mit Klinkern ausgelegte Fußboden an manchen Stellen durch eingetretene Altölspuren richtiggehend unappetitlich geworden.

An der gegenüberliegenden Seite des Fensters an dem Pilgrim stand, befand sich eine lange Werkbank, davor eine Grube. Rechterhand der Halle stand eine Hebebühne mit einem aufgebockten Auto. In der Mitte der Werkstatt parkte der von Pilgrim verfolgte Unfallwagen. Der Fahrer und der ältere Mann, der ihm geöffnet hatte, unterhielten sich lautstark.

»Warum kommst du Schwachkopf gerade hierher? Direkt zu mir?«, fragte der Ältere und tippte sich vielsagend an die Stirn.

»Ja wo hätte ich denn hingehen sollen? Kannst du mir das vielleicht sagen? Auf jeden Fall muss die Karre weg – und das möglichst schnell!«, brüllte ihn der jüngere Mann an.

»Was hast du denn überhaupt gemacht? Sind deine ›Geschäfte‹ schiefgegangen?«, fragte der Ältere jetzt etwas ruhiger, offensichtlich darauf bedacht, die Situation zu entschärfen und seinen Gesprächspartner nicht weiter zu reizen.

»Nein, ist alles in Ordnung. Aber ein Typ auf seinem Moped ist mir in Bornheim dazwischengekommen.«

»Ein Unfall? Und was ist mit ihm? Tot?«

»Keine Ahnung Mann. Er hat sich jedenfalls nicht mehr gerührt. Schöne Scheiße.«

»Sehe schon, der Scheinwerfer ist kaputt. Hast du die Scherben mitgenommen?« Prüfend und ohne auch nur die geringste Gefühlsregung zu zeigen ging der Ältere um den Wagen herum. »Klar, bin doch nicht blöd. Was denkst du denn?«

»Na, besonders clever war das ja wohl nicht, was du dir da geleistet hast. Hat dich jemand gesehen?«, fragte der Ältere eindringlich.

»Nee, war keiner da.«

»Was machst du überhaupt in der Ecke – und das um diese Zeit?«

»Na ›Geschäfte‹, wie du eben so treffend bemerkt hast. Ich kam gerade von Alex, du kennst die Kneipe, und da …« Weiter kam er nicht.

»Was ist mit dem Typ und dem Moped?«, unterbrach der Ältere den Redeschwall. »Hast du dich um den gekümmert?«

»Hätte ich vielleicht in dieser Situation die Bullen rufen sollen? Mit so viel Bier in der Birne?«

»Na«, der Ältere machte eine abfällige Handbewegung, »du hättest ja vielleicht einen Krankenwagen rufen können. Dafür brauchst du nicht einmal deinen Namen zu nennen. Die rufen dann die Bullen und alles wäre geritzt. Aber was soll’s – so bist du nun mal. Ich sage dir, was wir jetzt machen werden: Wir nehmen die Nummernschilder ab und holen das Öl raus, dann bringe ich den Wagen morgen zu Schmidtke.«

»Ich kann keine weiteren Mitwisser brauchen.«

»Mann! – Schmidtke ist der Mann fürs Grobe – draußen an der 661. So, nun räum’ aber die Karre endlich leer, ich nehme die Schilder ab. Den Rest mache ich dann morgen in der Früh.« Der Ältere ging zur Werkbank, durchwühlte dort einen unaufgeräumten Werkzeughaufen und kam mit einem Schraubendreher wieder.

Pilgrim konnte das Nummernschild gut erkennen und holte einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche. Er schob die Plastikhülle von einer Zigarettenschachtel und notierte sich darauf das Kennzeichen F-PB 721. Er war sich sicher, dass ihm diese Information einmal von Nutzen sein würde.

»Was ist mit der Motornummer?«, fragte der Jüngere, als er die Sachen aus dem Handschuhfach auf einen Werkzeugwagen legte.

»Ich hab’ dir doch gerade gesagt, dass ich alles vorbereite. Ich nehm’ das Schild mit der Fahrgestellnummer weg und die Motornummer wird auch weggefeilt. Die Nummer am Rahmen schneid’ ich mit der Trennscheibe ’raus. Die Karre kommt dann auf den Trailer unter die Plane und wenn sie dann morgen bei Schmidtke ist und er die Kohle von dir hat – das kostet übrigens wieder ein paar Mark –, dann ist sie endgültig Geschichte, kapiert?«, brummelte der Ältere.

»Ist ja gut! Ich gebe dir morgen Nachmittag das Geld, aber ich brauche einen Ersatzwagen – hast du einen für mich?«

»Hm«, überlegte der Ältere. »Draußen steht ein Omega, der ist zugelassen und hat noch eineinhalb Jahre TÜV. Den kannst du nehmen – wenn du willst. Der kostet dich aber ’ne Kleinigkeit.«

»Ja, okay, ich nehme ihn – danke!«

Plötzlich erstarrte der Ältere in seinen Bewegungen und sah zum Fenster. »Sag mal«, begann er langsam, »ist dir auch wirklich niemand gefolgt? Mir war so …« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich hör’ wahrscheinlich schon wieder Gespenster.«

»Ich hab’ dir gesagt, dass ich allein war.«

»Ja, hast du gesagt. Ich dachte ja auch nur …«

»Wo steht denn der Omega?«

»Draußen auf dem Hof.«

Pilgrim fuhr erschreckt zusammen. Vorsichtig stieg er von seinem Beobachtungsposten herunter und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Als er jedoch an seinem Bein heruntersah merkte er, dass er mit einem Schuh in einer schmierigen Pfütze stand. »Verdammter Mist«, fluchte er leise und ging zu einer Rasenfläche, die sich an der Grundstücksgrenze befand. Mühsam wischte er sich die Ölspuren von seinem italienischen Schuh. Er wollte den Hof gerade verlassen, als sich die große Doppeltür quietschend und ächzend öffnete. Schnell duckte sich Pilgrim hinter einem Mauervorsprung. Er wagte kaum zu atmen.

»Wo steht der Omega?«, hörte er den Jüngeren.

»Dort hinten! Mist, ich habe die Schlüssel vergessen. Bin gleich wieder da.«

Beide Männer verschwanden wieder im Innern der Werkstatt. Diese Gelegenheit nutzte Pilgrim. Er schlich sich vorsichtig an der Mauer entlang – den Blick starr auf die Tür gerichtet – zurück zur Straße. Als er vor seinem Auto stand, atmete er tief durch. »Geschafft«, entfuhr es ihm erleichtert. »Jetzt aber ab nach Hause.« Der Jaguar setzte sich in Richtung Königstein in Bewegung und glitt nach etwa einer halben Stunde fast lautlos auf ein parkähnliches Grundstück zu, das von einem eisernen Rolltor an der Straße begrenzt wurde. Mit einem Summen gab das Gitter den Weg frei. Langsam fuhr Pilgrim über den knirschenden Kiesweg durch die alten Platanenreihen bis zum imposanten Eingangsportal seiner Villa. Der durch antikisierende Säulen getragene Frontbalkon verlieh dem Gebäude eine ganz besondere edle Note.

Pilgrim sah auf seine Armbanduhr. Hm, gleich halb vier. Er lauschte den ersten Vögeln, die mit ihrem Gesang den Morgen einleiteten. Aber an Schlaf war nicht zu denken, zu sehr hatten ihn die Ereignisse der Nacht aufgewühlt. Pilgrim wollte sich erst noch einen Schluck genehmigen und ging daher in sein großzügiges, mit teuren Antiquitäten und Designermöbeln ausgestattetes Wohnzimmer. Am Servierwagen blieb er stehen und suchte zwischen den vielen halbvollen Flaschen nach einem Tropfen, der seinem Geschmack gerecht wurde. Er griff sich die Flasche mit dem Brandy und schenkte sich ein großes Glas ein. Zielstrebig ging Pilgrim zu einem alten Lehnstuhl, nahm sich die Fernbedienung für die Musikanlage und trank einen Schluck. Dezent tönte Mozarts »Kleine Nachtmusik« aus den Boxen und Pilgrim ließ die nächtlichen Vorkommnisse noch einmal Revue passieren.

Ich hätte den Unfall zur Anzeige bringen müssen, klar, grübelte er. Na ja, vielleicht ist der arme Teufel schon gefunden worden und alles ist wieder in bester Ordnung. Er stellte das Glas auf den Tisch und zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. Nachdem er den Brandy ausgetrunken hatte, goss er sich noch einen weiteren Drink ein und versank wieder in Gedanken. Kein Mensch weiß, dass ich vor Ort war. Die Kleine wird sicher nichts sagen, sie hat ja von der ganzen Sache gar nichts mitbekommen. Pilgrim trank entschlossen das nächste Glas leer und füllte es noch ein weiteres Mal voll. Er griff zur Zigarettenschachtel, doch die war leer. Gerade, als er sie zusammenknüllen wollte, fiel sein Blick auf die Rückseite der Pappschachtel. F-PB 721 stand da in schnell hingeworfener Schrift. Pilgrim sah nachdenklich auf die Notiz. Ein völlig neuer Gedanke begann allmählich in ihm zu reifen. Langsam erhob er sich, ging zum Servierwagen und schenkte sich noch einen Brandy ein. Sein Weg führte ihn jetzt zum Sofa. Er riss eine neue Zigarettenschachtel auf und sank nachdenklich wieder zurück in die gemütlichen Polster. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es bereits 6 Uhr in der Früh war. Mit der Wirkung des Alkohols überkam Pilgrim eine bleierne Müdigkeit. Er schloss die Augen und schlief augenblicklich tief und traumlos ein.

»Es ist Sonntag und 12 Uhr. Hier das Wetter für Frankfurt und Umgebung.« Von der Radiomeldung geweckt, gähnte Pilgrim laut, streckte sich und tappte schwerfällig ins Bad. Im Spiegel der großen Waschkonsole betrachtete er mit zusammengekniffenen Augen sein Bild. »Zum Schluss der Meldung verlesen wir noch eine Mitteilung der Polizei, die um Mithilfe aus der Bevölkerung bittet: ›In der Nacht zum Sonntag ist es im Stadtteil Bornheim zu einem Verkehrsunfall gekommen. Der Fahrer eines Mopeds wurde hierbei tödlich verletzt. Der Unfallbeteiligte hat sich durch Fahrerflucht entzogen. Die Polizei bittet jetzt die Bevölkerung um Mithilfe. Wer etwas beobachtet hat, möge sachdienliche Hinweise an die nächste Polizeidienststelle geben.‹« Pilgrim erstarrte. Der Mann hätte noch leben können, wenn ich Mumm gehabt und den Unfall gemeldet hätte. »Niemals darf herauskommen, dass ich das Ganze gesehen habe.« Die letzten Worte brachen so panisch aus ihm heraus, dass er erschrocken zusammenfuhr. Pilgrim machte sich fertig, um den Rest des Tages im Golfclub zu verbringen.

Am frühen Nachmittag verließ Staatsanwalt Pilgrim seine Villa. Er war kein passionierter Golfspieler, im Gegenteil. Was ihn in die erlauchte Gesellschaft des Clubs zog, war allein die Zugehörigkeit zur gehobenen Frankfurter Mittelklasse.

Auf dem Parkplatz konnte er schon an den Autos erkennen wer alles im Club war. Pilgrim nahm mehrere Stufen, die zum Hauptgebäude hinaufführten, auf einmal, oben angekommen öffnete sich die Eingangstür automatisch und er betrat den stilgerecht edel eingerichteten Clubraum. »Guten Tag Simon! Einen Whisky on the Rocks bitte«, sagte er zu dem jungen Mann, der hinter der Bar eifrig Gläser polierte. »Selbstverständlich, Herr Pilgrim«, erwiderte der Barmann ausgesucht freundlich und stellte ein schweres Kristallglas vor den Gast auf den mit Intarsien versehenen Mahagonitresen. Pilgrim lehnte sich im Stehen lässig gegen die goldfarbene Reling der Bar, trank einen Schluck und schaute unauffällig über den Rand des Glases in den Clubraum. Er hoffte, dass Bekannte ihn bemerkten. Vor dem Panoramafenster stand Hermann Veit mit einem Glas in der Hand – vertieft in ein Gespräch. Der Mann, der ihm gegenüberstand, schien aufmerksam seinen Worten zu lauschen. Pilgrim ging auf die beiden zu und streckte die Hand aus. »Guten Tag Onkel Hermann! Schön, dich hier zu treffen.«

»Ja, hallo Hendrik«, begrüßte ihn Hermann Veit, der Juwelier aus dem Frankfurter Westend. »Wie geht es dir? Wir haben uns länger nicht gesehen. Darf ich bekannt machen?« Er wies auf sein Gegenüber. »Das ist Herr Vandenbergh, ein Freund aus Belgien. Er ist schon eine ganze Weile hier in Frankfurt. Wir haben zusammen Geschäfte zu tätigen.«

»Angenehm«, sagte der große, schlanke Mann und reichte Pilgrim freundlich und zuvorkommend die Hand.

»Ganz meinerseits, Herr Vandenbergh«, erwiderte Pilgrim höflich und fuhr fort: »Ich will dann auch gar nicht länger stören.«

Interessiert blickte Vandenbergh Pilgrim nach. Veit folgte seinem Blick und klärte den Belgier auf: »Ach, der Junge hat es wirklich nicht immer leicht gehabt …« Hermann Veit übernahm das Gespräch während er seinen Blick durch das Fenster, vorbei an seinem Geschäftsfreund, auf das saftige Grün des Golfplatzes schweifen ließ. »Wissen Sie, seinen Vater, Wilhelm Pilgrim, den habe ich gut gekannt. Er war Diplomat in Südafrika mit den besten Beziehungen – da unten wie auch hier, Sie verstehen schon.« Veit fuhr sich nachdenklich durch sein volles, graues Haar und machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Nun, ich war oft geschäftlich in Südafrika. Pilgrim war mir bei Verhandlungen über bestimmte Ausfuhrangelegenheiten behilflich. Er hatte übrigens ganz in der Nähe hier eine Villa geerbt. Der Junge war zu der Zeit in einem Schweizer Internat, kam aber dort nicht so richtig klar. Nach Beratungen, die wir mit der Internatsleitung und seinem Vater hatten, haben meine Frau Gerlinde und ich den Jungen dann hierher nach Frankfurt an eine Privatschule geholt. Er ist richtig aufgelebt daraufhin und hat auch Freunde gefunden. Nachdem er das Abitur geschafft hatte, waren wir froh, dass er in Heidelberg Jura studieren konnte. Ich denke, es waren sicher die guten Beziehungen seines Vaters, die ihm dann eine Planstelle als Staatsanwalt am Oberlandesgericht, ganz in der Nähe, in Aussicht gestellt haben. Allerdings war diese Stelle zu diesem Zeitpunkt noch nicht frei und Hendrik hat daher zunächst einen Posten in der Beratungsstelle der Polizei angenommen. ›Kriminalprävention‹ hieß das. Er hat dort Anfragen zu Sicherheitstechnik und Alarmanlagen bearbeitet. Er hatte auch eine kompetente Firma bei der Hand, die die Ausführung der Arbeiten vor Ort übernommen haben. Die haben übrigens, auch unser System im Geschäft und zu Hause, in der Villa, auf Vordermann gebracht. Hendrik hat sich da richtig ’reingekniet und er ist auch wirklich topfit in allem, was Anlage- und Tresortechnik betrifft. Wenn ich so sagen darf: die ideale Schaltstelle zwischen uns und den Sicherheitsbehörden.« Man konnte Veit den Stolz auf seinen Schützling anhören.

»Hat er bei Ihnen gewohnt, als er hier in Frankfurt war?«

»Nein, er ist in der Villa seines Vaters geblieben. Wilhelm hatte eine Hausmeisterfamilie im Souterrain einquartiert. Die Frau hat sich um den Haushalt gekümmert und ihr Mann war für die Außenanlage zuständig. Irgendetwas muss meinen Freund Wilhelm allerdings eines Tages aus der Bahn geworfen haben, denn als ich ihn später in Pretoria noch einmal besucht habe, war er starker Alkoholiker geworden. Das war für Gerlinde und mich ein Schock, das mitansehen zu müssen.«

Nachdenklich drehte Veit sein Glas in den Händen. »Dann kamen später, als er wieder in Frankfurt war, auch noch schwere Depressionen hinzu. Er wurde krank und war die letzten Jahre nur noch ein Schatten seiner selbst.«

»Das ist eine tragische Geschichte, wenn man einen guten Freund auf diese Weise begleiten muss«, sagte Vandenbergh einfühlsam. »Und was wurde aus seinem Sohn?«

»Ja – wirklich, es war eine schwere Zeit – für uns alle«, bestätigte der Juwelier und blickte ins Leere. Langsam fuhr er fort: »Als Wilhelm sein Amt als Diplomat aufgeben musste, war es um ihn völlig geschehen. Er hat sich von allen Freunden und Bekannten vollkommen zurückgezogen. Eines Tages hat ihn auch noch Lieke, seine Frau, verlassen. Sie hat es wohl nicht mehr ertragen. Meines Wissens ist sie zurück in die Niederlande gegangen, ein Bruder von ihr lebt dort. Wir haben seitdem nichts mehr von ihr gehört. Aber so ist das eben, mein lieber Vandenbergh, die Menschen kommen und gehen wieder. Nach dem Tod von Wilhelm – Herzinfarkt, so die offizielle Version, wissen Sie, ich glaube, der alte Pilgrim wollte einfach nicht mehr – jedenfalls haben wir die Aufgabe übernommen, uns weiter um seinen Sohn zu kümmern. Nun, das taten wir auch – so gut es eben ging.« Die letzten Worte kamen schwer über seine Lippen.

»Ich glaube, er hat in Ihnen einen guten Begleiter gefunden.«

»Ja schon, wenn da nicht die eine oder andere dumme Sache gewesen wäre. Vieles haben wir ja gar nicht gewusst. Eines Tages war Hendrik von der Schule verschwunden – eine Woche, glaube ich – zusammen mit einem Mädel …« Veit stockte kurz, dann fuhr er fort: »Neidhöfer, ja so hieß die Kleine, Neidhöfer. Ihre Eltern haben ein beträchtliches Weingut an der Mosel. Sie war von Hendrik schwanger gewesen. Eine mehr als prekäre Situation. Die beiden waren ja noch halbe Kinder und sollten erst einmal die Schule zu Ende bringen. Jedenfalls sind die beiden für ein paar Tage verschwunden. Meine Frau und ich haben das Mädchen später kennengelernt. Es wirkte sehr verstört und verschlossen. Meine Frau hat damals vermutet, dass wohl etwas sehr Schlimmes mit ihr geschehen sein musste. Was es war – nun mein lieber Freund, das haben wir leider nie erfahren. Natürlich haben wir uns damals große Sorgen gemacht.«

»Und seine Freunde, die wussten auch von nichts?«

»Nein, das hat uns auch sehr gewundert. Es gab da eine Freundin der Kleinen, die später angedeutet hat, Hendrik habe ihre Freundin zu einer Abtreibung in den Niederlanden gezwungen. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen – nicht Hendrik!«

»Vielleicht gibt es für alles eine simple Erklärung«, entgegnete der Belgier behutsam. Er schaute auf seine Armbanduhr und leerte sein Glas mit dem Hinweis, dass sie sich ja demnächst auf einer Vernissage in Metz wiedersehen würden. Hermann Veit blickte noch lange durch das große Fenster und schien die Vergangenheit noch einmal greifen zu wollen.

Pilgrim steuerte seinen Jaguar auf den Parkplatz des Oberlandesgerichts. Nachdem er den Pförtner und die Sicherheitseinrichtung passiert hatte, machte er sich schnellen Schritts über die langen Flure des Gebäudes auf den Weg zu seinem Büro. Mit einem gemurmelten »Morgen« hastete er an seiner Sekretärin vorbei und zog die Tür zu seinem Amtszimmer hinter sich zu. Pilgrim legte seine Jacke ab und begann die Akten zu sichten, die auf dem Schreibtisch lagen.

Aber er war unkonzentriert. Immer wieder gingen ihm die Ereignisse der letzten Nacht durch den Kopf. Er durchwühlte seine Taschen und kramte das Stück der Zigarettenschachtel hervor, auf dem er die Autonummer notiert hatte. Nachdenklich drehte er den Karton in der Hand, als seine Sekretärin die Tür öffnete. »Einen Kaffee, Herr Pilgrim?« Instinktiv schob er hastig die Packung unter einen der geöffneten Aktendeckel.

»Ja, natürlich«, kam die knappe Antwort. »Und die Zeitung. Ich bin noch gar nicht auf dem Laufenden.«

Eilig verschwand die Sekretärin und kam mit dem Gewünschten wieder. »Ich sage Ihnen, eine Welt ist das! Da hat es doch bei uns in Bornheim einen Unfall gegeben und der Fahrer ist verschwunden – einfach so.« Sie machte eine ausladende Handbewegung und schnipste mit den Fingern.

»Gibt es Zeugen?«, fragte Pilgrim und suchte die Antwort in ihren sanften Gesichtszügen.

»Nein, nichts. Niemand war in der Nähe. Die Polizei sucht auch schon – es kam auch im Radio und hier in der Zeitung steht auch einiges darüber. Ein junger Mann soll es gewesen sein, der auf seinem Roller angefahren worden ist. Er soll noch an Ort und Stelle verstorben sein, ist das nicht schrecklich, Herr Pilgrim? Wenn man bedenkt, dass er hätte gerettet werden können! Aber weil man ihn anscheinend erst in den Morgenstunden gefunden hat, war alles zu spät.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Brauchen Sie noch etwas, Herr Pilgrim?«

»Was? Nein. Ich mache mich dann an die Akten.« Pilgrims Stimme drohte zu versagen.

Ich muss den Halter dieses Autos herausfinden – aber wie?, überlegte er, während er ohne wirklich etwas zu lesen in den Akten blätterte. Plötzlich kam ihm eine Idee.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es fast Mittag war. Er drückte die grüne Taste seiner Gegensprechanlage und sagte: »Frau Mertens, ich gehe eben zu Tisch.«

Er machte sich auf den Weg zu seinem Anwaltskollegen Dr. Meyer, der gerade dabei war, seine Bürotür abzuschließen als Pilgrim ihn erreichte. Was für ein Glück! So war es ja noch leichter, seinen Plan umzusetzen. Mit einem Redeschwall lenkte Pilgrim Meyer ab. »Wie geht’s, wie steht’s? Immer noch genug in Sachen Verkehrsdelikte zu tun? Ich wollte gerade zu Tisch, begleiten Sie mich?«

»Ja, ja gerne, Pilgrim. Ich wollte auch gerade …«

»Ja gut, dann los«, fiel Pilgrim ihm barsch ins Wort, legte seine Hand auf die Schulter des Kollegen und schob ihn mit Bedacht in Richtung Lift.

»Ich wollte eben …«

»Wer soll denn schon in Ihr Büro gehen?«

»Da haben Sie recht, mein lieber Pilgrim – wer sollte schon in mein Büro gehen und dort womöglich arbeiten.« Die letzten Worte verloren sich im Gelächter der beiden. Leise öffnete sich die Fahrstuhltür und die beiden Männer stiegen ein. Plötzlich schlug sich Pilgrim mit der Hand an die Stirn: »Die Akte, ich habe die Akte vergessen! Ich soll gleich nach dem Essen zum Oberstaatsanwalt und habe die Akte nicht mit.« Schnell schob er seinen Fuß in die Lichtschranke des Lifts und wartete, bis sich die Tür wieder ganz geöffnet hatte. »Ich kann ja schon vorgehen«, sagte Meyer. »Wir treffen uns dann in der Kantine.«

»Ja gut«, erwiderte Pilgrim und war schon auf dem Flur. Er wartete, bis sich der Aufzug in Bewegung gesetzt hatte und ging dann rasch zum Büro seines Kollegen zurück. Vorsichtig blickte er den langen Flur entlang – niemand war zu sehen. Schnell trat er ein, ging zum Computer und rief die Verkehrsdatenbank der Ordnungsbehörde auf. Meyer, du bist unvorsichtig! Hast dich nicht abgemeldet. Gut für mich, dachte Pilgrim und tippte das Autokennzeichen von seinem Zettel in den PC ein. Sofort gab das System den Namen und die Adresse des Halters bekannt. Eilig notierte sich Pilgrim alle relevanten Daten und ließ den Zettel in seiner Jacketttasche verschwinden. »Mal sehen, mein Freund, wofür wir dich noch brauchen können«, murmelte er vor sich hin, loggte sich wieder aus dem System aus und stellte den ursprünglichen Zustand des Rechners wieder her. Leise begab Pilgrim sich zur Bürotür und lauschte. Nichts war zu hören. Als er jedoch die Klinke langsam herunterdrückte, hörte er plötzlich den Hall von Absätzen, die im Flur auf ihn zukamen. Nein, bloß nicht hierher. Er lauschte angestrengt den klackenden Lauten nach, die aber allmählich leiser wurden, bis sie schließlich ganz verstummten. Pilgrim öffnete die Tür, spähte den Gang entlang und ging schnell aus Meyers Büro in sein eigenes, um irgendeine Akte zu holen. Dann marschierte er rasch zum Fahrstuhl und drückte erleichtert die Taste E. Sanft setzte sich der Lift in Bewegung und entließ ihn vor der Kantine.

Suchend sah er sich nach seinem Kollegen um, der am Fenster saß und ihm freundlich zuwinkte. »Hierher, Pilgrim!« Er ging rasch durch die gut besuchte Kantine zu dem ihm zugedachten Platz. Er legte die Akte so ab, dass sein Kollege sie bemerken musste, und erkundigte sich nach dem Tagesmenü.

Nach dem Essen ließ sich Pilgrim mit einem »Na also« zufrieden auf seinem ausladenden, bequemen Drehstuhl nieder. Er zog den Zettel mit den aus Meyers PC erschlichenen Daten aus seiner Tasche.

Janda, Daniel Janda. Ich kenne diesen Namen – Janda – Woher kenne ich den Namen? – Hab’ ihn irgendwo gelesen – Kürzlich erst. Da bin ich mir sicher. Pilgrim lehnte sich zurück, zündete sich eine Zigarette an und ließ seine Gedanken schweifen.

Schließlich schaute er auf den Aktenstapel vor ihm und gab sich einen Ruck. Irgendwann muss ich ja mal weitermachen. Ungelöste Fälle … Vor zwei Jahren passiert und ich kann mich nun damit amüsieren. Er fischte willkürlich eine Akte heraus und blätterte sich lustlos durch die Geschehnisse. Missmutig und desinteressiert legte er den Vorgang wieder zur Seite und nahm sich eine andere Akte vor – als wäre diese besser geeignet.

»Hm«, murmelte Pilgrim vor sich hin. »Stadtteilfest – Einnahmen geraubt – der Veranstalter schwer verletzt – Cateringservice unter Verdacht.« Irgendetwas ließ ihn plötzlich stutzen und konzentriert las er jetzt die weiteren Details. Sehr merkwürdig! Obwohl man Haare, die dem Hauptverdächtigen zugeordnet werden konnten, am Tatort gefunden hat, haben sie ihn wieder laufen lassen müssen. Er hatte ein Alibi.

Und dann stockte Pilgrim der Atem. Daniel Janda. Da stand schwarz auf weiß der Name, den er sich gerade vorhin in Meyers Büro notiert hatte. Hastig holte er den Zettel mit den Ergebnissen seiner Recherche aus der Sakkotasche. Tatsächlich, es war der gleiche Mann. Wie hieß damals der ermittelnde Beamte? Pilgrim blätterte die Akte durch und fand im vorderen Teil die Namen der Zuständigen, die sich seinerzeit mit dem Fall beschäftigt hatten. Hollmann stand da. Nur zu gut erinnerte er sich an den: Kurt Hollmann – das Abitur – die Abschlussparty und Karin, die ihren Mund nicht halten konnte … Kann schon mal in einem neuen Jaguar fahren und dann stellt sie sich an, wenn man ihr näher kommen will – Frauen – Vergewaltigung, dass ich nicht lache! Wenn sie nicht das Weite gesucht hätte – ich hätte ihr schon gezeigt, wo’s langgeht. In einem Anflug von Nächstenliebe hat Karin sich meiner Jutta angenommen, und die hat natürlich alles erzählt – alles …

Aber Pilgrim hing seinen Erinnerungen nicht lange nach. Bedächtig nahm er sich die Akten wieder vor und begann jetzt gezielt nach dem Namen Janda zu suchen. Er wurde mehrmals fündig und studierte aufmerksam die Tathergänge. Es erstaunte ihn, wie es Daniel Janda offensichtlich immer wieder gelungen war, die Spuren so zu verwischen, dass er nie hatte belangt werden können.

Seine Hand ging zur Gegensprechanlage. »Ja, Herr Pilgrim?«, hörte er die Stimme seiner Sekretärin.

»Ich bin in der nächsten Stunde außer Haus, Frau Mertens. Wir sehen uns dann morgen früh. Legen Sie mir die erforderlichen Akten für das Gericht heraus.«

»Gerne, Herr Pilgrim …« Den Rest der Antwort hörte er schon nicht mehr. Schnell zog er sich seinen Mantel an, nahm den Aktenkoffer und verließ sein Amtszimmer. Er schlug den Mantelkragen hoch, senkte den Kopf und verließ das Gelände über den Parkplatz. Sein Ziel war die Telefonzelle an der Ecke. Er blickte die Straße entlang und als er sich sicher war, dass ihn niemand beobachtete, betrat er die Kabine. Nachdem er seinen Zettel aus der Tasche gefischt hatte, gab er die Nummer auf dem Tastaturblock ein. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete.

»Ja, hallo?«

»Sind Sie allein, Janda?«

»Wer ist denn da?«

»Ich sage Ihnen was: ICH gebe die Anweisungen und ICH stelle hier die Fragen. Sie tun nur das – und zwar genau das – was ich Ihnen sage. Ansonsten muss ich ein bestimmtes Datum der Öffentlichkeit zugänglich machen. Sie erinnern sich vielleicht an gestern Abend? Haben Sie verstanden?«, sagte er barsch. Auf der anderen Seite war komplette Stille. Pilgrim hatte langsam mit einer verstellten Stimme gesprochen und war sich seiner Wirkung bewusst. »Ich melde mich mit Anweisungen für Sie in den nächsten Tagen. Halten Sie sich bereit!« Ohne noch eine Antwort abzuwarten drückte er auf die Telefongabel und das Gespräch war unterbrochen. »Das hat gesessen«, sagte er zufrieden und war ein wenig stolz auf sich. Schnell verließ er die Zelle und ging zu seinem Jaguar.

Schwer lag ein herbstlich nasskalter Nebel über der Frankfurter Innenstadt. Hauptkommissar Heinz Grunder war auf dem Weg zu seinem Büro, wo ihm seine Sekretärin schon entgegenstrahlte. »Guten Morgen, Marion«, wünschte er ihr, während er seinen Mantel auszog und ihn sorgfältig im Wandschrank verstaute.

»Guten Morgen, Herr Grunder! Die Kollegen erwarten Sie schon. Ich mache dann alles fertig für das Treffen morgen mit dem Oberstaatsanwalt.«

»Bestens, danke! Wollen mal sehen, was er sich ausgedacht hat. Übrigens, ist denn Kurt Hollmann schon eingetroffen? Sie wissen ja, ich habe ihn angefordert, weil bei uns eine Planstelle im Raubdezernat frei geworden ist. Ich habe mir gedacht, dass es gut wäre, wenn ich den Jungen in meiner Nähe hätte.« Grunder fügte schnell hinzu: »Vielleicht bin ich aber auch nur sentimental.«

»Ist das der Kurt Hollmann, den Sie …«

»Ja, genau der. Ich hab’ mich um den Jungen gekümmert als sein Vater gestorben ist. Erinnern Sie sich? Er ist bei einem Einsatz tödlich verletzt worden. War eine schwere Zeit für uns alle.«

»Er wird sicher noch kommen«, sagte Marion Lange, die Sekretärin, mitfühlend. »Ich bringe die Akten gleich zu Ihnen ’rüber.«

Die Sekretärin nahm ihr Headset ab und begann die Blumen auf der Fensterbank zu gießen. Mit Sorgfalt putzte sie gerade ein Alpenveilchen, als es an der Tür klopfte und ein Mann, Ende zwanzig, eintrat. »Guten Morgen, ich suche Herrn Grunder – Hollmann ist mein Name.«

»Ah ja, Sie werden schon erwartet. Herr Grunder hat bereits nach Ihnen gefragt. Kommen Sie, ich bringe Sie rasch zu ihm. Mein Name ist Lange, Marion Lange, ich bin seine Sekretärin.« Eilig stellte sie die kupferfarbene Gießkanne ab und gab dem jungen Mann freundlich die Hand.

Hollmann erwiderte den Handschlag und lächelte. Er taxierte das Vorzimmer. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, sich möglichst viel in kurzer Zeit einzuprägen. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass die blonde Sekretärin viel Arbeit hatte, denn der riesige Aktenstapel auf dem Wagen neben ihrem Schreibtisch sprach für sich. Das große Waschbecken mit dem Wasserboiler darüber und die Kacheln vermittelten ihm den Eindruck, als wären sie Relikte aus den Sechzigerjahren. Ihm fiel auf, dass der Spiegel neben dem Boiler an den Rändern begann, blind zu werden. Auf dem Bord standen neben einer Kaffeemaschine fünf Becher aus Steingut, versehen mit dem Polizeilogo der Dienststelle. Schnell durchlief sein Blick die Anordnung der Akten, die an der Fensterseite in einem Sideboard untergebracht waren.