Ein Vogel namens Schopenhauer - Tom Diesbrock - E-Book

Ein Vogel namens Schopenhauer E-Book

Tom Diesbrock

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Beschreibung

Ein ungewöhnlicher Vogel, ein unmöglicher Mann und eine unglaubliche Reise Es ist zu heiß, das Unkraut zu üppig, und überhaupt ist das Leben eine einzige Zumutung!  Wäre an diesem Apriltag nicht urplötzlich ein seltsamer Vogel in Matteos Garten aufgetaucht, der alte italienische Philosoph wäre noch immer ganz allein auf der Welt. Doch Schopenhauer, wie Matteo den Waldrapp nennt, scheint ihn zu mögen. Und bleibt. Da erfährt Matteo, dass der Vogel zu einer Aufzuchtstation jenseits der Alpen gehört. Um noch ein wenig Zeit miteinander zu haben, beschließt er, Schopenhauer mit dem Rad selbst über die Berge zu fahren. Der Beginn einer unglaublichen Reise, die alles verändert ... Tom Diesbrock erzählt in seinem Debütroman berührend, klug und voller Humor von der Freundschaft zwischen einem alten Mann und einem verletzten Waldrapp.  Für Leserinnen und Leser von Carsten Henn und Fredrik Backman. Schlau, gesellig und sehr selten – der Waldrapp, ein ganz besonderer Vogel! Es gibt nur noch ganz wenige dieser merkwürdigen, wundervollen, vom Aussterben bedrohten Vögel weltweit. Doch seit einigen Jahren werden sie unter anderem im bayerischen Burghausen wieder ausgewildert. Da sie lange Zeit nur in Zoos lebten, kennen die Vögel die alten Zugrouten in den Süden nicht mehr. Und so werden die Waldrappküken von Menschen aufgezogen und mit Ultraleichtflugzeugen in die Toskana geleitet, wo sie überwintern, um im Frühling über die Alpen zurückzukehren.

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Michelle Stöger

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: FAVORITBUERO, München und Shutterstock.com

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Motto

Das erste Kapitel

Das zweite Kapitel

Das dritte Kapitel

Das vierte Kapitel

Das fünfte Kapitel

Das sechste Kapitel

Das siebte Kapitel

Das achte Kapitel

Das neunte Kapitel

Das zehnte Kapitel

Epilog

September

Zum Schluss

Über Schopenhauer und seine Artgenossen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Für Jacob, der mein »Pilgervogel« war

Wo gehen wir denn hin?

Immer nach Hause.

Novalis

Das erste Kapitel

 

Das Unkraut wuchs wirklich unverschämt üppig für diese Jahreszeit, stellte Matteo missbilligend fest. Ganz zu schweigen von den Schnecken. Mussten die bereits im April so zahlreich, fett und gefräßig sein? Und viel zu heiß war es ihm auch.

Unter dem ausgefransten Strohhut mit den ausgeblichenen rosa Bändern, der einmal seiner Frau gehört hatte, kniete er im Beet und warf das ausgezupfte Unkraut wütend in einen Eimer und die Schnecken in einen anderen.

Die Dinge waren einfach nicht so, wie sie in Matteos Vorstellung hätten sein sollen. Eine ärgerliche, wenn auch nicht gerade ungewöhnliche Erkenntnis für ihn. Denn Matteo war es grundsätzlich zu kalt oder zu warm, zu feucht oder zu trocken, und das Licht war entweder zu penetrant hell oder deprimierend grau. Irgendetwas stimmte immer nicht. Daher befand Matteo sein Leben – wie übrigens das Leben im Allgemeinen – als eine einzige große Zumutung.

Schlichtere Gemüter würden sich vielleicht am Einzug des Frühlings erfreuen oder an den zwitschernden Vögeln und dem Sonnenschein. Nicht so Matteo. Der fand, dass um solche Selbstverständlichkeiten viel zu viel Aufhebens gemacht wurde.

Glücklicherweise war immer genug zu tun, das ihn von der Misere seiner Existenz ein wenig ablenken konnte. So wie er sich für heute vorgenommen hatte, die Beete von unnützen Pflanzen und Tieren zu säubern, damit er endlich mit dem Säen und Setzen beginnen konnte.

Matteos Garten war nicht sehr groß. Es gab einige Obstbäume, und um das kleine Haus herum, das eher eine Hütte war, waren Beete mit diversen Gemüsesorten angelegt. Und an den Grenzen zu den Nachbargärten ließ Matteo Beerenbüsche und Sträucher in die Höhe wachsen, um von den Leuten nebenan so wenig wie irgend möglich mitzubekommen.

Überdacht von einem blühenden Kirschbaum standen auf dem Rasenstück vor dem Haus eine massive, augenscheinlich selbst gezimmerte Holzbank, ein Tisch mit einer geblümten Tischdecke und ein nicht vertrauenswürdig aussehender Klappstuhl.

Dies war Matteos kleine, abgeschiedene Welt, die er kaum jemals verließ. Wer oder was seine Welt umgab und was auch immer dort geschehen mochte – es interessierte ihn schlichtweg nicht.

Umgekehrt war das allerdings nicht der Fall. Denn bei den Bewohnern der Gartenkolonie galt der verschrobene Mann als dankbares Thema für Klatsch und Tratsch. Dabei wusste man im Grunde kaum etwas über ihn. Sein Alter? Darüber gingen die Meinungen auseinander. Man war sich nur einig, dass er »nicht mehr ganz jung« war. Und sein Äußeres galt, wenn man es wohlwollend betrachtete, als »etwas vernachlässigt«.

Matteo war eine lange, dünne Erscheinung mit hängenden Schultern. Er ging immer etwas gebückt, wie große Menschen es oft tun, um kleiner zu wirken, als sie sind, weil sie nicht zu sehr auffallen wollen.

An Matteo war einiges auffällig: zum Beispiel die ziemlich lange, schmale Nase und seine hellen Augen, die unter den buschigen Augenbrauen und hinter einer silbernen Nickelbrille je nach Licht grünlich oder blau leuchteten. Oder seine Frisur. Da er es nämlich ablehnte, zum Friseur zu gehen – pure Geldverschwendung! –, sondern die Sache selbst in die Hand nahm, war sein dickes graues Haar lang und zottelig. Als müsste jeder Kamm daran verzweifeln.

Vielleicht stellt man sich so das Äußere eines besonders exzentrischen Künstlers vor. Nichts läge Matteo jedoch ferner, ihm hätte diese Vermutung ganz sicher nicht gefallen.

Gerade überlegte er, ob er eine Pause einlegen sollte. Denn sein rechtes Knie schmerzte ihn schon wieder, und seine Beine waren bereits seit einer Weile eingeschlafen. Da nahm er hinter sich ein seltsames Geräusch wahr. Das konnten nur die vermaledeiten Nachbarsbälger sein, diese verzogenen Flegel, die sich erdreisteten, auf seinem Grundstück herumzuschleichen!

Matteo drehte sich abrupt um, schon bereit, zu brüllen und zu fluchen und … da sah er etwas höchst Absonderliches:

Mitten auf dem Rasen stand ein großer schwarzer Vogel, der mit seinem langen Schnabel im Gras stocherte. Und der jetzt aufblickte, seinen Kopf ein wenig neigte und Matteo interessiert anschaute. Dem glitt vor Schreck die Gartenhacke aus der Hand. Er starrte mit offenem Mund zurück, als würde ihm die heilige Mutter Maria persönlich erscheinen. Dann wischte er sich mit seinen von der Erde schmutzigen Händen über die Augen, was aber nichts an der Anwesenheit des Vogels änderte. Den schien Matteos Untätigkeit zu langweilen, denn er fing wieder an, den Rasen abzusuchen, nach was auch immer.

So einen schrägen Vogel hatte Matteo in seinem doch schon recht langen Leben noch nie gesehen. Der war fast einen halben Meter hoch und trug ein pechschwarzes Federkleid, das merkwürdig metallisch grünlich glänzte. Sein Kopf war dagegen kahl und rosa, mit kleinen orangenen Knopfaugen.

Am auffälligsten fand Matteo an diesem Wesen aber seinen langen, violett-roten, leicht gebogenen Schnabel. Der breit begann, dann schmal wurde und abgerundet endete – wie man es von venezianischen Masken kennt. Und aus seinem Hinterkopf ragten lange, zottelige Federn, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Matteos Frisur aufwiesen. An einem seiner kräftigen Beine trug er einen hellblauen Ring.

»Was für ein merkwürdiger Kerl«, sagte Matteo leise zu sich selbst. Da der Vogel ihn aber ignorierte und wohl ohnehin bald wieder verschwinden würde, widmete er sich wieder dem Unkraut und den Schnecken. Ab und zu linste Matteo über seine Schulter, nur um festzustellen, dass der Besucher noch immer da war. Offenbar dachte er gar nicht daran, zu verschwinden. Nach einer Weile ließ der Vogel sich im Schatten eines Buschs nieder und sah dem Menschen bei der Arbeit zu.

»Interessierst du dich vielleicht für diese Viecher?«

Er warf ihm eine Nacktschnecke zu, die der Vogel sofort gierig verschlang. Fortan bekam er jedes Exemplar, das Matteo aus seinen Beeten sammelte, bis er offenbar satt war und keine Schnecke mehr anrührte.

Laut knurrend wies Matteos Magen darauf hin, dass auch seine Mittagspause längst überfällig war. Außerdem hatte das Stechen in seinem Knie noch zugenommen. Er erhob sich quälend langsam, streckte seinen knackenden Rücken und ging ins Haus.

Nach einer Weile kam er mit einem Stück Brot, Käse und einer Bierflasche zurück und wollte sich gerade an den Gartentisch setzen, als er den interessierten Blick des Vogels sah. Ob er durstig war? Matteo füllte eine rote Plastikschüssel mit Wasser und platzierte sie in der Mitte des Rasens. Als hätte er nur darauf gewartet, ging der Vogel sogleich zur Schüssel und trank, indem er seinen Schnabel hineintauchte und dann den Kopf hob, um das Wasser herunterzuschlucken. Umständlich sieht das aus, dachte Matteo, während er einen großen Schluck aus der Bierflasche nahm.

Als der Vogel seinen Durst gestillt hatte, ließ er sich wieder im Gras nieder und schaute Matteo beim Essen zu. Höchstens zwei Meter saß er entfernt und schien überhaupt keine Angst vor dem Menschen zu haben.

»Es mag dich wundern«, sagte Matteo kauend, »aber irgendwie erinnerst du mich an Arthur Schopenhauer. Das war ein deutscher Philosoph, der im neunzehnten Jahrhundert lebte. Er hatte keine allzu hohe Meinung von den Menschen und ihrer Vernunft. Was ich übrigens nur unterstützen kann.«

Er nickte, als wollte er dieser Aussage Nachdruck verleihen. Der Vogel schien ihm tatsächlich zuzuhören.

»Man sieht es mir womöglich nicht an, aber auch ich bin ein studierter Philosoph. Früher waren es eher die alten Griechen wie Sokrates, die mich interessierten. Später dann natürlich Kant, und heute halte ich es vor allem mit Schopenhauer. Der war der Meinung, dass wir in der schlechtesten aller möglichen Welten leben.«

Matteo hob seine Schultern und wiegte den Kopf unentschlossen hin und her.

»Ich weiß nicht recht, ob das stimmt. Es gibt Tage, an denen ich ihm sofort recht geben würde … Was denkst du?«

Als wäre er um eine Antwort verlegen, pickte der Vogel mit dem Schnabel auf dem Boden herum und schaute Matteo dann wieder an.

»Wenn es dir recht ist, werde ich dich Schopenhauer nennen.«

Kurz lief ein Lächeln über Matteos Gesicht, aber dann schämte er sich.

»Ach, was für ein Unsinn! Welches Recht habe ich schon, dir einen Namen zu geben. Außerdem wirst du dich demnächst aufmachen und dein Vogelleben leben, und wir werden uns nie wiedersehen. So ist es nun einmal.«

Er erhob sich mit einem Ruck, nahm den inzwischen geleerten Teller und die Flasche und verschwand mit langen, fahrigen Schritten in seinem Haus.

 

Die Sonne stand schon tief und tauchte die Gärten in ein sanftes rötliches Licht, als sich die Tür mit einem Quietschen öffnete und der Hausherr wieder erschien.

In der kleinen Holzhütte wohnte Matteo bereits seit vielen Jahren, obwohl das eigentlich gar nicht erlaubt war. Die Gartenkolonie, in der sie stand, lag am Rand einer norditalienischen Kleinstadt, nicht weit von Venedig. Manchmal, wenn ein stärkerer Wind aus Südwest wehte, konnte man sich sogar einbilden, den algigen Geruch der Lagune wahrzunehmen.

Genau genommen durfte man in den Gartenhütten nicht einmal übernachten, so sahen es die strengen Regeln vor. Anfangs hatte die Vorsitzende des Gartenvereins Matteo auch darauf aufmerksam gemacht. Man bekam ja mit, dass sich der Mann nicht nur tagsüber hier aufhielt. Als sie aber von dem traurigen Hintergrund seines Umzugs erfuhr, beharrte sie nicht weiter darauf. Man ließ ihn gewähren, und er ging den anderen Gartenbesitzern ja ohnehin so gut er konnte aus dem Weg.

Nur wenn jemand für Matteos empfindliche Ohren zu laut Musik hörte oder die Kinder allzu wild durch die schmalen Sandwege zwischen den Gärten tobten, vernahm man seine keifende Stimme, die sich über die Ruhestörung beschwerte. Da nicht nur die Kinder Angst hatten vor dem schroffen, stets schlecht gelaunten Mann, drehte man dann die Musik eben etwas leiser oder spielte woanders.

Matteos Haus bestand lediglich aus zwei kleinen Zimmern und einem Anbau, in dem das Klo und ein Waschbecken untergebracht waren. Warmes Wasser oder gar eine Dusche gab es nicht, aber Matteo machte es nichts aus, sich mit kaltem Wasser zu waschen. Im Gegenteil.

»Was uns nicht umbringt, macht uns härter«, pflegte er zu behaupten, wenn ihn jemand auf seine einfachen Wohnverhältnisse ansprach. Was allerdings nur sehr selten geschah, da er ja kaum jemals Besuch bekam.

Die Schlafkammer war nicht viel größer als sein Bett, und in seinem Wohnzimmer gab es nur eine dunkelrote Cordcouch, die offensichtlich schon bessere Jahre gesehen hatte, eine kleine Küchenzeile und einen Ohrensessel neben einer wackeligen Stehlampe. Nein, behaglich war es hier wirklich nicht, aber das brauchte es für den Bewohner auch gar nicht zu sein.

Was man aber in so einer schäbigen Gartenhütte wohl kaum vermuten würde: Überall lagen und standen Bücher. Manche aufgeschlagen, viele zu Türmen geschichtet, die aussahen, als müssten sie sofort in sich zusammenstürzen, die meisten alt und zerlesen, und aus fast allen ragten Lesezeichen. Schaute man sich die Buchtitel genauer an, fiel auf, dass es nur zwei Themengebiete gab:

Die einen beschäftigten sich mit der Philosophie und die anderen mit Reisen und fremden Ländern. Es hatte den Anschein, als könne man hier jedem noch so unbedeutenden Denker und jeder noch so abwegigen Philosophie begegnen und ein Buch über jeden Ort dieser Welt finden.

Sonst gab es in diesem Raum nur noch einen Campingtisch aus Metall und davor einen hellblau angestrichenen Holzschemel.

Matteo erschien jetzt wieder in der Haustür und schaute sich sogleich im Garten um. Den Vogel konnte er nirgendwo entdecken.

»Na gut«, grummelte er und wollte sich gerade umdrehen, als er aus einem Busch ein merkwürdiges Geräusch vernahm, das ungefähr klang wie »Chrrp«. Als würde jemand unter einer wirklich schlimmen Halsentzündung leiden, dachte Matteo.

»Schopenhauer? Bist du noch da?«

Der kahle Kopf des Vogels erschien sofort aus dem Grün. Er blickte zu Matteo, nach links und nach rechts und trat dann vorsichtig auf den Rasen, wo er erst einmal sein Gefieder kräftig schüttelte. Sein Erscheinen bewirkte etwas, das man nur selten beobachten konnte: Es zeigte sich ein kleines Lächeln auf dem von Falten zerfurchten Gesicht des Mannes.

»Du bist tatsächlich noch da.«

Er machte einen Schritt auf den Vogel zu, der aber sogleich zurückwich. Matteo nickte und trat seinerseits einen Schritt zurück. Eine Weile standen die beiden nur da und schauten sich interessiert an. Das Tier schien zu verstehen, dass dieser Mensch sein Bedürfnis nach Abstand respektierte. Schließlich begann der Vogel, mit seinem langen Schnabel im Gras herumzupicken und sich dabei langsam über den Rasen zu bewegen.

»Nun denn«, befand Matteo und beschloss, dass es Zeit für seinen Rotwein war. Jeden Abend zum Sonnenuntergang pflegte er nämlich auf seiner Bank ein Glas Wein zu trinken und dabei zu lesen. Heute fiel es ihm allerdings schwer, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Denn nach jedem schwergewichtig philosophischen Satz sah er zu dem Vogel, der mit geschlossenen Augen mitten auf dem Rasen stand. Dann hatte Matteo den Satz schon wieder vergessen und musste ihn erneut lesen.

»Bestimmt hattest du einen anstrengenden Tag«, sagte er sehr leise, um seinen Besucher nicht zu stören.

 

Am nächsten Morgen wurde Matteo vom hellen Licht geweckt, das durch das Sprossenfenster auf sein Gesicht fiel. Dies war recht ungewöhnlich, denn normalerweise wachte er auf, wenn es draußen noch dunkel war. Meistens warteten dann schon ungute Gedanken auf ihn und sorgten dafür, dass er nicht wieder einschlafen konnte.

Eine Weile blieb Matteo mit geschlossenen Augen liegen und genoss die warme Sonne auf seiner Haut. Bis ihm plötzlich etwas Wichtiges einzufallen schien. Sein Kopf hob sich ruckartig, und er blickte zur Tür. Dann rieb er sich hektisch die Augen und stand mit einer schnellen Bewegung auf. Er schlüpfte in die grauen Filzpantoffeln vor seinem Bett und verließ schlurfend die Schlafkammer.

In seiner langen Unterhose und dem verwaschenen blauen Schlafhemd trat Matteo hinaus in den Garten, der vor ihm in der hellen Morgensonne lag. Süßlich dufteten die Blüten des Kirschbaums, und auf dem Gartentisch darunter stand der schwarze Vogel.

Er begrüßte Matteo mit einem lauten »Chrrrrrp«, dabei machte er mit dem Kopf nickende Bewegungen und schaute ihn dann schräg an, als wollte er sagen: Endlich bist du aufgewacht.

»Buongiorno, Schopenhauer«, begrüßte Matteo ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn selbst ein wenig wunderte. Als würde der Vogel dort schon immer morgens auf ihn warten.

»Hast du vielleicht Durst?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zurück ins Haus, um frisches Wasser zu holen. Als er die rote Schüssel auf den Rasen stellte, sprang der Vogel zuerst auf die Bank und von dort auf den Boden, ohne seine Flügel zu benutzen. Dann tauchte er seinen Schnabel mit schmatzenden Geräuschen ins Wasser und trank ausgiebig. Vor Matteo, der direkt daneben stand, schien er keine Scheu mehr zu haben.

»Sehr kleidsam, dein Outfit!«, ertönte eine helle, lachende Stimme.

Matteo schaute stirnrunzelnd zur Gartenpforte, dann an sich herunter – und war in einer Sekunde im Haus verschwunden. Man hörte ihn drinnen etwas grummeln, bis er schließlich wieder auftauchte, jetzt in einer braunen Cordhose und einem viel zu weiten weißen Leinenhemd.

»Darf ich reinkommen?«, fragte die Stimme, immer noch hinter der Pforte.

Matteo machte nur eine Geste, die nicht gerade einladend wirkte, man aber zumindest als zustimmend interpretieren konnte.

Die Frau, die nun den Garten betrat, mochte nur unwesentlich jünger sein als Matteo, aber sie sah aus, als käme sie aus einer anderen Welt. Schlank und sportlich, mit schulterlangem hellgrauen Haar; zu ihrem geblümten Kleid trug sie eine modische schwarze Brille. Durch ihr Gesicht liefen viele kleine Lachfältchen, und sie wirkte so lebendig und frisch wie jemand, der das Leben mag und sich herzlich über den Frühling freuen kann.

»Ach, du bist es nur. Ciao, Leyla.«

Er tat so, als hätte er sie erst jetzt erkannt, und sie antwortete trotz der nicht gerade freundlichen Begrüßung mit einem Lächeln. Gerade wollte sie wohl etwas sagen, als ihr Blick auf den schwarzen Vogel fiel. Abrupt blieb sie stehen und starrte ihn an. Das offenbar verunsicherte Tier näherte sich Matteo ein wenig, als wollte es bei ihm Schutz suchen vor dieser unbekannten Frau, die es so seltsam ansah.

»Ich nenne ihn Schopenhauer«, sagte Matteo, als sei damit die Lage hinreichend erklärt.

Leyla wirkte wie versteinert, was dem Vogel sichtlich immer weniger behagte. Er tippelte unschlüssig von einem Fuß auf den anderen und stocherte dann verlegen mit seinem langen Schnabel im Gras. Die Frau bekam offenbar keinen Ton heraus. Sie ließ sich, wie in Zeitlupe, auf den wackeligen Klappstuhl sinken und zeigte mit einer hilflosen Geste auf das Tier.

»Ein Kelaynak … tatsächlich … ist es nicht so?«, brachte sie schließlich stotternd hervor und blickte Matteo Hilfe suchend an.

»Aber nein, er ist nur ein Vogel. Ein ziemlich großer allerdings.«

Matteo konnte ihr sonderbares Verhalten überhaupt nicht nachvollziehen. Zumal sie sonst eigentlich nie um Worte verlegen war.

»Er ist seit gestern hier. Tauchte plötzlich auf. Und er erinnert mich an Schopenhauer, den Philosophen, du weißt schon.«

Er redete, was ihm gerade in den Sinn kam.

»Ist dir etwa nicht gut?«

»Doch, schon, aber … er ist doch ein Kelaynak, nicht wahr?«

»Mir erschließt sich überhaupt nicht, wovon du sprichst, Leyla.«

Das ging Matteo mit ihr zwar häufiger so, aber noch nie hatte er sie derart rätselhaft erlebt. Leyla atmete tief durch, offenbar versuchte sie, sich zu sammeln. Dann löste sie ihren Blick entschlossen von dem Vogel und sah Matteo ernst an.

»Wie du weißt, bin ich in der Türkei aufgewachsen.«

Das wusste Matteo tatsächlich, auch wenn sie ihm bisher über ihr Leben kaum etwas verraten hatte.

»Mein Dorf war nicht groß, es lag in der Nähe der Grenze zu Syrien. In jedem Frühjahr fuhren wir alle, die ganze Familie, in die nächstgrößere Stadt, die Birecik heißt. Dort fand ein Fest statt zu Ehren eines Vogels, nämlich des Kelaynak. Warum man gerade diesen Vogel feierte, erinnere ich nicht mehr, aber es war ein wichtiges und sehr schönes Fest.«

»Ja und?« Matteo wirkte ungeduldig.

»Wenn mich nicht alles täuscht, steht dort direkt neben dir tatsächlich ein Kelaynak!«

Matteo wusste nicht so recht, wie er mit dieser – für Leyla offensichtlich sehr aufregenden – Neuigkeit umgehen sollte.

»Er isst Schnecken.«

»Ja?«

»Ja. Möchtest du vielleicht einen Kaffee?«

Leyla nickte nur stumm, woraufhin Matteo sofort aufsprang und im Haus verschwand. Dort erzeugte er klappernde Geräusche und kehrte nach einer Weile mit einem Tablett zurück, auf dem sich zwei große Tassen mit Milchkaffee befanden sowie einige Brotscheiben, Butter und ein Glas mit Orangenmarmelade. Matteo setzte sich auf die Bank, und sie tranken wortlos ihren Kaffee und betrachteten dabei den Vogel.

Dem war dies wohl ein wenig zu viel Aufmerksamkeit, denn er verschwand bald in einem der Büsche und ließ nur ab und zu ein »Chrrp« hören, das für Matteo schon recht vertraut klang.

 

Leylas Hütte lag in derselben Gartenkolonie. Sie wohnte allerdings in der Stadt und kam nur bei schönem Wetter am Abend oder am Wochenende hierher. Leyla war der einzige Mensch, mit dem Matteo gelegentlich ein Schwätzchen hielt. Vielleicht weil sie sich, anders als ihre Nachbarn, nicht von seiner schroffen Art abschrecken ließ. Auch wenn Matteo es sich selbst nicht eingestehen würde – und selbstverständlich niemals Leyla gegenüber –, empfand er ihre Gesellschaft als nicht ganz unangenehm.

So wie an diesem Morgen schaute sie manchmal unangekündigt bei ihm vorbei. Dann saßen sie für eine oder allerhöchstens zwei Stunden beieinander, vielleicht mit einem Getränk, und unterhielten sich. Meistens drehten sich ihre Gespräche um alltägliche Dinge, das Wetter oder die Gartenarbeit. Nur über die Vergangenheit sprachen sie nie, dies schien eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen den beiden zu sein.

Manchmal stellte Leyla ihm auch eine philosophische Frage, da sie wusste, wie sehr es Matteo gefiel, ihr einen schönen langen Vortrag zu halten. Wobei er die Frage allerdings meist schnell aus dem Blick verlor, dafür aber auf immer neue Themen und wichtige Zusammenhänge kam.

Umgekehrt war Matteo nicht ganz so gut darin, Interesse zu bekunden. »Und sonst so?«, war meistens die einzige Frage, die ihm in den Sinn kam. Leyla nahm es ihm zum Glück nicht übel und erzählte dann von ihrem Tag und der Arbeit in der Änderungsschneiderei, die sie in ihrem Wohnzimmer betrieb. Zwar bekam Leyla eine kleine Rente, das immerhin hatte sie einmal erwähnt, aber die reichte nicht zum Leben.

Ob sie verwitwet oder geschieden war oder nie geheiratet hatte, hätte Matteo schon interessiert. Aber er traute sich nicht, sie danach zu fragen.

Er wusste, dass sie das Gärtnern liebte und die Natur im Allgemeinen, sie sich gelegentlich mit Freundinnen traf und sehr gern im Café bei einem Cappuccino ihre Zeitung las. Und dass sie manchmal im Garten Opern hörte. Was Matteo, obwohl er Opernmusik verabscheute, nicht so störte wie die Geräusche der anderen Nachbarn.

Und ganz besonders schätzte Leyla die Poesie. Manchmal, wenn sie gerade in ihrer »poetischen Stimmung« war, deklamierte sie ein Gedicht, das ihr spontan in den Sinn kam. Nur wusste Matteo nie, was er anschließend dazu sagen sollte. Oder ob sie überhaupt eine Reaktion erwartete. Und so schwieg er lieber und nickte etwas angespannt und fragte dann nach einer ihm schicklich erscheinenden Pause sein übliches: »Und sonst so?«

Woraufhin Leyla lächelte und ihm gar nicht böse war. Weil sie ja verstand, dass Matteo sich etwas schwertat mit sich selbst und der Welt.

Nachdem sie heute ihren Kaffee getrunken und die Brote gegessen hatten, verabschiedete sie sich, weil Leyla noch etwas zu erledigen hatte.

»Ich wünsche euch beiden einen schönen Tag.«

»Ebenso.«

Schopenhauer verfolgte sie mit skeptischen Blicken bis zur Pforte.

 

Diesen schönen Frühlingstag verbrachten Matteo und Schopenhauer gemeinsam im Garten. Matteo kümmerte sich weiter um das Unkraut. Die Schnecken, die das Pech hatten, ihm in die Quere zu kommen, warf er in hohem Bogen auf den Rasen, wo der Vogel sich umgehend ihrer annahm. So jätete sich Matteo durch seine Beete, machte ab und zu eine Pause, und als er schließlich das letzte Beet bearbeitet hatte, dämmerte es bereits, und er fühlte sich ein wenig erschöpft.

Da er ahnte, dass Leyla noch einmal vorbeischauen würde, beschloss er, sich erst einmal gründlich zu waschen und das gute dunkle Hemd anzuziehen. Manchmal war seine Nachbarin nämlich ein bisschen neugierig, und Schopenhauer hatte ja offensichtlich ihre Neugier geweckt. Als Matteo, nach Seife duftend und mit halbwegs akkurat gekämmten Haaren, zurück in den Garten kam, bot sich ihm ein erstaunliches Bild:

Tatsächlich war seine Nachbarin inzwischen gekommen und hatte wieder auf dem Klappstuhl Platz genommen. Und neben ihr auf der Holzbank stand Schopenhauer. Keinen Meter von ihr entfernt und offenbar ohne jede Scheu! Das mochte allerdings auch daran liegen, dass Leyla ihn fütterte.

Matteo näherte sich vorsichtig, um die Idylle nicht zu stören, und setzte sich an das andere Ende der Bank. Der Vogel schaute nur kurz zu ihm herüber, machte ein schmatzendes Geräusch und nickte dabei mit dem Kopf – um sich dann wieder dem Essen zu widmen. Das bestand aber nicht, wie Matteo erst vermutete, aus kurzen Salzstangen. Nein, es bewegte sich.

»Ich dachte mir, dass ihm Mehlwürmer gefallen könnten«, erklärte Leyla, als sie Matteos verwunderten Blick sah. Und hatte damit anscheinend seinen Geschmack getroffen. Woher und warum sie, um alles in der Welt, Mehlwürmer hatte, fragte Matteo lieber nicht, sondern freute sich an dem gesunden Appetit des Vogels. Als der die kleine Plastikdose bis auf den letzten Wurm geleert hatte, griff Leyla neben ihren Stuhl und holte eine Korbtasche hervor.

»Und außerdem dachte ich mir, dass uns vielleicht etwas anderes schmecken würde.«

Dabei präsentierte sie einen länglichen Porzellanteller, auf dem verschiedene Antipasti arrangiert waren.

»Obwohl die Mehlwürmer auch nicht schlecht aussahen …«, murmelte Matteo und zeigte tatsächlich die Andeutung eines Grinsens. Leyla blickte ihn verwundert an. Anzeichen von Humor waren bei Matteo eher selten zu beobachten.

»Das war, äh, ein Scherz«, meinte er entschuldigend, als müsste er sich erklären.

Und so saßen die beiden Menschen unter dem Kirschbaum, dessen rosa Blüten im Abendlicht strahlten, aßen Antipasti und tranken dazu Rotwein. Der Vogel war nicht mehr zu sehen, da er sich auf der Bank zwischen ihnen niedergelassen hatte und schlief. Nur ab und zu war von ihm ein schmatzendes Geräusch zu vernehmen. Vielleicht träumte er gerade von Mehlwürmern.

Als sie das Essen beendet und eine Weile gemeinsam schweigend den Garten betrachtet hatten, sagte Leyla in die Stille:

»Er ist übrigens ein Waldrapp.«

»Wer ist übrigens was?«

Matteo war schon ein wenig eingedöst.

»Na, dein Vogel. Ich habe vorhin im Internet nachgeschaut. Den man in der Türkei Kelaynak nennt, der heißt hier Waldrapp.«

»Noch nie gehört.«

»Er ist fast ausgestorben.«

Matteo blickte auf den schlafenden Schopenhauer.

»Also, der hier sieht nicht sehr ausgestorben aus.«

Der Vogel spürte offenbar, dass sie über ihn sprachen, denn er öffnete die Augen und schaute zwischen den beiden Menschen links und rechts von ihm hin und her.

»Und ich vermute, Schopenhauer betrachtet sich ebenfalls nicht als ausgestorben«, bemerkte Matteo trocken.

»Ich habe außerdem gelesen, dass Waldrappe früher überall in Europa, Kleinasien und Nordafrika lebten. Aber sie wurden so lange gejagt, bis es kaum noch frei lebende gab, und heute findet man sie fast nur noch in Zoos.«

»Dann ist Schopenhauer aus einem Zoo geflohen?«

»Gut möglich. Auf jeden Fall scheint er ein Zuhause zu haben, denn er trägt ja diesen Ring am Bein. Das kann ich bestimmt leicht herausbekommen, und dann rufen wir dort einfach an. Wir müssten nur mal schauen, was auf dem Ring steht, und …«

Sie wandte sich schon dem Vogel zu.

»Unsinn!«, unterbrach Matteo sie barsch. »Wenn Schopenhauer tatsächlich irgendwo ausgebüxt ist, wird er wohl seine Gründe gehabt haben. Wir rufen nirgendwo an. Basta!«

Er stand abrupt auf und begann, den Tisch abzuräumen.

»Es ist spät, ich hatte einen anstrengenden Tag.«

Damit waren offenbar für ihn sowohl die Diskussion als auch der Abend beendet.

»Wir können ja morgen darüber reden«, sagte Leyla beschwichtigend und steckte den leeren Teller in ihre Tasche. Da von Matteo keine Antwort kam, machte sie sich auf den Heimweg.

Schopenhauer war von seinem Platz auf der Bank heruntergesprungen und schaute zur Gartenpforte, wo Leyla gerade verschwunden war. Dann lief er Matteo bis zur Türschwelle hinterher, traute sich aber nicht, sie zu übertreten, und wartete davor, bis der Mensch zurückkam.

»Ausgestorben, so ein Blödsinn«, schimpfte er immer noch vor sich hin, als er wieder erschien, um die restlichen Sachen zu holen.

»Du bist ein freies Wesen. Niemand wird dich wieder einsperren! Und ohnehin wirst du dich bald wieder auf den Weg begeben, nicht wahr? Ja, womöglich bist du schon morgen nicht mehr da, und das ist auch gut.«

Der Vogel kommentierte dies nicht, und so zog sich Matteo in seine Schlafkammer zurück.

 

Der Frühling schien am nächsten Morgen eine Pause einzulegen. Als Matteo vor die Haustür trat, wehte ihm ein kühler Wind entgegen, und der Himmel war wolkenverhangen grau. Natürlich galt Matteos Interesse zuerst dem Vogel. Der stand auf einem Bein auf dem Gartentisch, den Kopf tief in sein Gefieder versenkt, und schien noch zu schlafen.

»Guten Morgen, Schopenhauer«, begrüßte er ihn leise, um ihn nicht zu erschrecken.

Nur langsam zog der Vogel seinen Kopf hervor und blickte sich schläfrig um. Als er seinen Gastgeber sah, streckte er seine Flügel aus und gab ein freundlich klingendes »Chrrrrrp« von sich. Dabei fiel Matteo auf, dass er seinen rechten Flügel nur halb öffnete und nicht so hochhob wie den linken. Und nachdem er die Flügel wieder angelegt hatte, schien der rechte etwas tiefer zu hängen als der linke. Offensichtlich war mit ihm etwas nicht in Ordnung.

»Bist du etwa verletzt?«, fragte Matteo, und dann fiel ihm ein: »Ist das vielleicht der Grund, warum du hier gelandet bist?«

Langsam ging er um den Gartentisch herum und sah sich den Vogel von allen Seiten an, was der ungerührt geschehen ließ. Mit dem Flügel stimmte etwas nicht, da war sich Matteo jetzt sicher. Wahrscheinlich war er in diesem Zustand gar nicht in der Lage zu fliegen und brauchte vielleicht Hilfe. Was aber konnte Matteo für ihn tun?

Schopenhauer schien sich weniger Sorgen zu machen, denn er sprang nun vom Tisch über die Bank ins Gras und verschwand sofort in den Büschen. Wo er sich wohl, den schmatzenden Geräuschen nach zu urteilen, sein Frühstück suchte.

Matteo stand eine Weile unschlüssig da und grübelte. Soweit er wusste, gab es in dem Ort keinen Tierarzt. Und er hätte ja auch kaum mit diesem exotischen, fast ausgestorbenen Tier dort erscheinen können. Vielleicht würde der Flügel ja von selbst heilen, versuchte er sich zu beruhigen. Aber konnte man einfach darauf hoffen und untätig bleiben? Matteo schätzte Untätigkeit gar nicht.

Zum Glück kam ihm eine Idee: Er würde Leyla um Rat fragen, denn in solchen lebenspraktischen Dingen wusste sie sich eher zu helfen als er. Sie würde schon wissen, was zu tun war, und dieser Gedanke beruhigte ihn ein bisschen.

Und da es hier draußen heute wirklich ungemütlich war, beschloss er, sein Frühstück im Wohnzimmer einzunehmen.

»Ich bin dann mal drinnen, nur, falls etwas ist …«

Matteo wies mit dem Finger zur Haustür. Aber sofort fand er es doch sehr albern, dies einem Vogel mitzuteilen. Zumal der in irgendeinem Busch saß und ihn sowieso nicht sah. Und so zuckte er nur kurz mit den Schultern und verschwand im Haus. Die Tür ließ er vorsichtshalber offen.

 

Einige Zeit war vergangen, Matteo hatte gefrühstückt und war bereits in ein Buch vertieft, als er leise Geräusche vernahm. Dann schaute ein Waldrappkopf zaghaft um die Ecke ins Wohnzimmer, als sei er nicht ganz sicher, ob er hier willkommen war.

»Komm nur herein.«

Matteo machte eine vorsichtig einladende Geste, um seinen Gast nicht zu verschrecken.

»Draußen ist es heute ja wirklich nicht angenehm«, sagte er mit warmer Stimme.

Der Vogel schien die Einladung zu verstehen. Er trat in den Raum und sah sich um. Dann verließ ihn aber wohl sein Mut, denn er schaute zurück zur Tür, als wollte er sich seines Fluchtwegs versichern. Schließlich ließ er sich auf dem ausgetretenen Teppich nieder, dessen Farben und Muster kaum noch zu erkennen waren.

Matteo freute sich über die Gesellschaft. Er nickte dem Besucher mit einem Lächeln zu und widmete sich wieder seinem Buch über die Existenzphilosophie von Albert Camus. Nicht gerade leichte Kost. Aber während andere Menschen morgens über Politik oder Klatsch lasen, schätzte es Matteo, auf diese Weise seine grauen Zellen in Tagesform zu bringen.

Schopenhauer schien sich inzwischen zu entspannen, denn er hatte die Augen halb geschlossen. Später fiel Matteo ein, dass der Vogel ja durstig sein könnte. Betont langsam stand er auf, füllte eine Schüssel mit Wasser und näherte sich ihm vorsichtig. Schopenhauer beobachtete ihn aufmerksam, blieb aber, wo er war. Erst als Matteo wieder auf seinem Sessel Platz genommen hatte, trank er mit seinem langen Schnabel, bis die Schüssel fast leer war.

 

Es war bereits später Samstagvormittag, und Matteo wartete ungeduldig darauf, dass sich Leyla endlich blicken ließ. Aber das tat sie nicht. Womöglich hatte er sie mit seiner abrupten Beendigung des Abends vor den Kopf gestoßen? Warum mussten manche Menschen aber auch so übertrieben empfindlich sein?

Normalerweise schenkte Matteo den Empfindsamkeiten seiner Umgebung keine Beachtung. Unter anderen Umständen würde er davon ausgehen, dass Leyla schon irgendwann wieder auftauchen würde. Und selbst wenn sie gekränkt wäre – na, dann würde sie sich früher oder später auch wieder entkränken.

Nur wollte er jetzt unbedingt mit ihr darüber sprechen, wie mit dem verletzten Vogel am besten zu verfahren war. Zum ersten Mal bereute Matteo, kein Telefon zu besitzen. So einen Schnickschnack brauchte nun wirklich kein Mensch, pflegte er sonst zu behaupten. Weil die Leute ohnehin schon viel zu viel Unsinn schwatzten. Doch wäre ihm heute so ein Gerät sehr gelegen gekommen.

Gewöhnlich war Leyla um diese Zeit in ihrem Garten. So wäre es natürlich naheliegend gewesen, einfach mal bei ihr vorbeizuschauen. Nicht aber für Matteo. Der hatte sie tatsächlich noch nie besucht. Leyla kam zu ihm, wenn sie es wünschte, und das war in Ordnung so. Aber Matteo wollte auf keinen Fall jemanden belästigen. Allein die Vorstellung, als aufdringlich zu gelten, war ihm ein Graus!

Zumal er ein unabhängiger Geist war, der ohnehin niemanden brauchte. Jedenfalls unter normalen Umständen.

Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen drehte Matteo langsam Runde um Runde um den Rasen und schaute dabei immer wieder auf seine Armbanduhr. Schopenhauer stand auf der Bank und beobachtete ihn dabei aufmerksam.

Sollte er vielleicht einmal eine Ausnahme machen und zu Leyla hinübergehen? Nur, was wäre, wenn sie tatsächlich beleidigt war? Und ihm sagen würde, er solle doch mit seinem so gut wie ausgestorbenen Vogel bleiben, wo der Pfeffer wächst? Nein, das würde sie wohl kaum tun, das konnte er sich nicht vorstellen. Aber andererseits kannte sich Matteo mit Menschen und ihren Befindlichkeiten ja nicht allzu gut aus.

Er beschloss, strategisch vorzugehen und zuerst einmal die Lage zu sondieren. Dafür stieg er auf den Gartentisch, der gefährlich unter seinem Gewicht knarrte. Schopenhauer sah zu ihm hoch und wirkte skeptisch. Als Matteo halbwegs sicher stand, schaute er über die hohen Büsche in die Richtung, in der Leylas Garten lag. Er konnte jetzt ihre in einem sauberen Weiß gestrichene Hütte gut überblicken. Aber Leyla sah er nicht, und es brannte auch nirgendwo Licht. Vorsichtig stieg Matteo herunter und setzte sich zu dem Vogel auf die Bank.

»Weißt du, die Menschen sind nicht leicht zu verstehen. Insbesondere die weiblichen. Ich weiß ja nicht, wie das bei euch ist, aber …«

Er unterbrach sich, da ihm zum ersten Mal die Möglichkeit in den Sinn kam, dass Schopenhauer ebenfalls weiblich sein könnte. Und vielleicht waren Waldrapp-Damen empfindlicher als Waldrapp-Männer? Wer konnte das schon wissen. Besser, er war vorsichtig mit seinen Äußerungen, denn er wollte schließlich nicht noch jemanden vor den Kopf stoßen.

»Früher fiel es mir leichter«, begann Matteo erneut.

»Als junger Mann kam ich mit den meisten Menschen ganz gut zurecht. Sogar den weiblichen.«

Er grinste über seine eigene Bemerkung.

»Du wirst es dir kaum vorstellen können, aber ich wollte tatsächlich einmal Psychologe werden und Menschen helfen, in ihren Köpfen für Ordnung zu sorgen. Es ist für uns Menschen nämlich außerordentlich wichtig, Ordnung in unseren Köpfen zu halten. Aber ich habe es mir dann anders überlegt und lieber Philosophie studiert. Weißt du, was Philosophie ist?«

Schopenhauer schaute ihn zwar interessiert an, ließ aber nicht erkennen, ob er diese Frage bejahen wollte.

»Die Philosophie ist etwas Wunderbares! Die Menschen mögen noch so verwirrend sein, vor allem, wenn es um ihre Gefühle geht – und glaub mir, die sind wirklich sehr verwirrend! Aber der menschliche Geist, der ist faszinierend und zu Großem fähig. Durch bloßes Nachdenken ist er in der Lage, auf stets neue Fragen und immer tiefgründigere Antworten zu stoßen. Eine Erkenntnis ermöglicht die nächste, und so wird schließlich das ganze Universum erklärbar. Und es wird Licht!«

Matteo machte eine Pause und schaute verträumt zu den Sternen empor, die im Moment natürlich nicht zu sehen waren. Dann wandte er sich wieder dem Vogel zu.

»Nicht, dass du ein falsches Bild bekommst: Es ist nicht etwa so, dass alle Philosophen zu denselben Erkenntnissen über die Existenz und das Universum kommen. Beileibe nicht! Jeder zieht seine eigenen Schlüsse und entwickelt sein ganz eigenes Weltbild. Und nicht selten streitet man sich heftig, weil natürlich jeder glaubt, die eigenen Erkenntnisse seien die einzig richtigen und wahren. Gerade das macht die Sache so interessant!«

Matteo erklärte dem Vogel noch den einen oder anderen grundsätzlichen Aspekt der Philosophie, und der hörte ihm, genau wie sonst Leyla, geduldig zu.

Da sie weiterhin nicht erschien, stieg er noch einmal erfolglos auf den Tisch und beschloss dann, eines der Beete umzugraben und Kartoffeln zu pflanzen. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Er zog sich also seine Gummistiefel an, holte den Spaten aus dem kleinen Geräteschuppen neben dem Haus und begann zu graben.

Immer wieder unterbrach er seine Arbeit und blickte zu dem Vogel mit seinem verletzten Flügel, und ein Unbehagen grummelte weiter in seinem Bauch.

 

Als die Kartoffeln gesetzt waren und Matteo gerade seine Schuhe wechselte, tönte die vertraute Stimme von der Gartenpforte herüber.

»Huhu, ist jemand da?«

»Na, wann bin ich denn mal nicht da?!«, polterte er und hätte sich auf die Zunge beißen können. Wie schnell ihm solche pampigen Bemerkungen aus dem Mund rutschten. Sofort schob er betont heiter, beinahe singend hinterher:

»Hallöchen, hier sind wir! Ich wollte mir gerade einen Cappuccino machen, möchtest du auch einen?«

Leyla betrat den Rasen und lächelte. Ob sie über ihn lächelte oder ihn anlächelte oder einfach so – Matteo wusste es nicht zu deuten.

»Sehr gern«, sagte sie freundlich und bemerkte den auf der Bank sitzenden Schopenhauer. Der schien sich über ihre Ankunft zu freuen, denn er nickte ihr zu, sein langer roter Schnabel fuhr rasant rauf und runter, und er gab dabei ein lautes »Chrrrrp!« von sich.

»Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

Sie imitierte seine nickende Bewegung und nahm mit respektvollem Abstand zu ihm am anderen Ende der Bank Platz. Aber der Vogel kam sofort zu ihr und setzte sich direkt neben sie.

»Na, Schopenhauer.«

Sein Name ging ihr noch etwas schwer von der Zunge. Ohnehin fand sie, dass er nicht so recht zu einem Vogel passte. Aber das äußerte sie selbstverständlich nicht. Jetzt freute sie sich sehr über seine unerwartete Zutraulichkeit.

Als Matteo, die beiden vollen Tassen balancierend, aus dem Haus trat, fing er sofort an, ihr von Schopenhauers Problem zu berichten:

»Es ist mir schon heute Morgen aufgefallen, ich fürchte, er ist verletzt, sein rechter Flügel, der hängt etwas herab, und er kann ihn offenbar nicht richtig strecken.«

Leyla schaute sich seine jetzt angelegten Flügel von vorn an. Ja, der rechte schien tatsächlich ein wenig tiefer zu hängen als der linke. Behutsam berührte sie mit einer Hand seine Rückenfedern, und er ließ es geschehen. Dann betastete sie sehr vorsichtig seine linke Seite. Als sie dasselbe mit der rechten versuchte, zuckte Schopenhauer zusammen.

»Er scheint Schmerzen zu haben«, sagte Leyla an Matteo gewandt. »Vielleicht ist er deshalb hier gelandet. Weil er nicht mehr fliegen konnte.«

»Das habe ich auch schon gedacht.«

Matteo blickte den Vogel besorgt an.

»Aber was machen wir denn jetzt? Meinst du, es heilt von allein?«

»Keine Ahnung. Vielleicht braucht er ein Antibiotikum?«

Matteo nickte nur und schwieg. Und dann sprach Leyla aus, was auch er dachte:

»Waldrappe sind streng geschützt. Wenn wir ihn in eine Tierklinik bringen, landet er womöglich im Tierheim. Auf jeden Fall würde man wohl die Organisation kontaktieren, die ihm den Ring verpasst hat.«

Mit sanfter Stimme sagte sie dann, ohne Matteo direkt anzusehen:

»Wäre es nicht ohnehin eine gute Idee, mal mit denen zu sprechen? Schließlich kann Schopenhauer nicht ewig bei dir bleiben. Und bestimmt wissen die am besten, was mit seinem verletzten Flügel zu tun ist.«

Leylas Vorschlag klang gewiss nicht ganz unvernünftig, aber etwas in Matteos Bauch zog sich schmerzhaft zusammen. Trotzig entgegnete er:

»Und dann sperren die ihn garantiert wieder ein! Weil die Menschen eben so sind. Was frei sein will, bringen sie hinter Gitter. Nein, auf gar keinen Fall, dort ruft niemand an! Nur über meine Leiche!«

Er verschränkte die Arme vor der Brust, starrte zu Boden und machte grummelnde Laute.