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Sechs in sich abgeschlossene heitere Erzählungen ohne pädagogischen Zeigefinger aus der Zeit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von einem Wunderkind ganz eigener Art, wie Johannes Ruhn Kaufmann wurde, von Regine Lenz in der Konfirmandenstunde und von Mutter und Tochter wird erzählt. Und vom bewegten Alltag einer kinderreichen Musiklehrer-Familie, den berühmten Pfäfflings, in einer süddeutschen Kleinstadt. Für Jungen und Mädchen ab 7 Jahre. Bestens zum Vorlesen geeignet. "Frau Sapper kann erzählen. Sie kann Situationen erfinden. Sie hat sogar Talent für das Komische", musste sich auch ihr Kritiker James Krüss zugestehen.
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Seitenzahl: 224
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Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Das kleine Dummerle
Wie Johannes Ruhn Kaufmann wurde
Ein Wunderkind
Mutter und Tochter
In der Adlerapotheke
Regine Lenz
Über die Autorin
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books im Reese Verlag (Auswahl):
Agnes Sapper
Ein Wunderkind
und andere Erzählungen
Juli, mittags um zwölf Uhr, kam Herr Musiklehrer Pfäffling in bester Laune aus der Musikschule. Er hatte heute sein Gehalt eingenommen und außerdem noch eine ganz nette Summe für Hausunterricht. Ja, er hatte sich mit allerlei fleißigen und faulen Schülern redlich geplagt, das ganze Jahr hindurch, hatte Violin-, Flöten-, Klavier- und Zitherstunden gegeben von frühmorgens bis spätabends. Nun winkte die Ferienzeit; in vierzehn Tagen sollte sie beginnen, und zum erstenmal seit vielen Jahren hatte Herr Pfäffling so viel erspart, daß er eine Ferienreise unternehmen konnte. Fast unerlaubt kam es ihm vor, sich solchen Aufwand zu gestatten, denn er war Familienvater und hatte sieben Kinder. Aber seine Frau war vor Jahren auch einmal verreist gewesen, seitdem galt es für ausgemacht, daß nun er an der Reihe sei. So wollte er denn fort; nicht weit, nur nach Bayreuth, wo so herrliche Musik zu hören war, und von dort noch ein wenig ins Fichtelgebirge, um Wald- und Bergluft zu genießen, solange eben das Geld reichte. So ging Herr Pfäffling gleich von der Schule aus in die Buchhandlung, erwarb sich dort eine Karte vom Fichtelgebirge, und weil er sie schon auf dem Weg nach Hause studierte, so kam er später heim als sonst und fand die ganze Familie um den gedeckten Tisch versammelt. Da war seine getreue Hausfrau, die einstweilen die Suppe ausschöpfte; auf der einen Seite des Tisches saßen die Ältesten, drei große Lateinschüler, und ihnen gegenüber die Zwillingsschwestern, zwei zehnjährige Mädchen. Neben der Mutter hatte das Jüngste seinen Platz, das dreijährige Töchterchen. Diese sechs saßen schon um den Tisch. Der siebente aber, der Frieder, ein kleiner Abc-Schütz mit einem gutmütigen Gesichtchen, stand am Fenster und spielte auf einer Ziehharmonika.
In solchem Familienkreis geht es lebhaft zu, und die Hausfrau findet oft kaum Zeit zum Essen, bis sie den Kindern vorgelegt hat, und es ist ein Glück, wenn für sie noch etwas auf der Platte bleibt, nachdem alle Teller voll sind. Sie sah auch ein wenig mager aus, die gute Frau Pfäffling, aber ihr Mann war auch nicht dicker, ebenso waren die drei Jungen lang aufgeschossen, die Zwillingsschwestern schmal und das jüngste, das Elschen, gar ein zartes Geschöpf. Nur der Frieder war rundlich und hatte frische rote Backen. Das Essen ging rasch vorüber, übrig blieb nichts, und es waren alle so gerade zur Not satt geworden. Vater Pfäffling nahm gleich wieder seine Karte vom Fichtelgebige vor, breitete sie aus, und so viele Köpfe darüber Platz hatten, so viele steckten sich zusammen, um des Vaters Finger zu folgen, der den geplanten Reiseweg bezeichnete. Es gibt nichts Schöneres, als so im Geist zu reisen; da geht alles so leicht und glatt, ohne Hindernis; und doch können auch die Reisen im Geist jäh unterbrochen werden - es klopfte jemand an der Tür, alle Köpfe hoben sich, der Hausherr trat ein.
Ein paar Reden wurden gewechselt über das 'Wetter und die bald beginnenden Ferien, und dann, ja dann kam es eben heraus, daß der Hausherr leider die Wohnung kündigen, und daß die Familie Pfäffling ausziehen müsse. Ein Verwandter wollte die Wohnung mieten und fast doppelt so viel Miete zahlen wie Herr Pfäffling, der ja die Wohnung halb umsonst gehabt habe; der Verwandte habe auch nur ein Kind, und da kämen nicht so fatale Sachen vor wie z. B. gestern, wo die jungen Pfäfflinge durch den Hof gesprungen seien und die Stangen umgestoßen hätten, die das Waschseil hielten, so daß die frischgewaschene Wäsche auf den Hof gefallen sei und die Hausfrau alles noch einmal habe waschen müssen.
„So etwas habt ihr getan, Kinder?“ rief Vater Pfäffling und wandte sich nach den Angeschuldigten um; aber merkwürdigerweise standen bloß noch die Mädchen da, die Knaben hatten sich einer nach dem andern beim Erscheinen des Hausherrn hinausgedrückt. Doch nicht alle, Frieder, der kleine Dicke, stand noch beim Vater.
„Glauben Sie nicht, daß ich solche Unarten unbestraft lasse“, sagte Herr Pfäffling zum Hausherrn. „Sie dürfen ja nur klagen, dann werden die Jungen bestraft. Kommt nur gleich her, ihr Schlingel“, rief der Vater und faßte den Kleinen, der ihm zunächst stand. „Wo sind denn aber die andern, sie waren doch eben noch da? Wegen dir allein ist mir’s gar nicht der Mühe wert anzufangen, schnell hole deine Brüder.“ Der Frieder ging und rief mit weinerlichem Stimmchen die Brüder; von denen aber war nichts zu sehen und nichts zu hören, er kam zurück und sagte: „Sie sind alle fort.“
Da lachte der Hausherr und sagte: „Die sind nicht so dumm wie du, spring nur auch davon, du brauchst nicht für die andern die Schläge zu kriegen, du bist ja gar nicht einmal dabei gewesen.“ Und dann wandte der Hausherr sich zu Herrn Pfäffling: „Es ist nicht nur wegen der Kinder“, sagte er, „die sind ja alle gut in Zucht, aber ich kann’s meinen Verwandten nicht abschlagen, daß sie zu mir ins Haus ziehen.“
Der Hausherr ging, die Eltern sahen sich bestürzt an. So billig, wie sie hier seit zehn Jahren gewohnt hatten, würden sie jetzt nirgends Unterkommen, und schon der Auszug kostete Geld, Herr Pfäffling ging mit langen Schritten hin und her und schalt bald über die Kinder, bald über den Hausherrn. „Ware ich nur schon fort gewesen“, rief er endlich, „hätte ich nur meine Reise schon in Sicherheit gebracht, jetzt wird nichts mehr daraus, oder meinst du, es ginge doch?“ fragte er, hielt mit seinem raschen Gang inne vor seiner Frau, die ganz betroffen am Tisch stand und in Gedanken verloren auf die Karte niedersah.
„Meinst du, es reicht vielleicht doch zur Reise?“ wiederholte Herr Pfäffling. Sie sah ihn traurig an: „Wenn’s nur zum Leben reicht“, sagte sie, „wer weiß, wieviel Miete wir künftig zahlen müssen!“ Da ging er wieder auf und ab, der Ärger wich, und die Sorge kam; immer langsamer und nachdenklicher wanderte er durch das Zimmer, und als er wieder am Tisch vorbeikam, faltete er sorgfältig die Karte vom Fichtelgebirge, reichte sie einem der Kinder und sagte traurig: „Tragt sie nur wieder in die Buchhandlung zurück und sagt, der Vater brauche keine Reisekarte.“
„An Wohnungen fehlt’s wenigstens nicht“, sagte Herr Pfäffling, als er am nächsten Tag den Anzeiger mit heimbrachte, in dem ganze Reihen Wohnungen zur Miete angeboten waren. Und er machte sich auf den Weg, um einige anzusehen, die ihm passend erschienen. In der Langenstraße waren zwei ausgeschrieben. Die erste war zu teuer, die zweite noch viel teurer. Unser Musiklehrer erschrak ordentlich. „Wenn ich so viel Miete zahlen müßte, dann bliebe uns kein Geld mehr übrig fürs tägliche Brot“, sagte er und wanderte weiter hinaus, der Vorstadt zu, eine endlose Straße entlang, bis er Nr. 80 erreicht hatte, wo eine Wohnung frei war. Ja, da war es nicht mehr so schrecklich teuer, da konnte man sich doch auf Unterhandlung einlassen. Der Hausherr führte ihn durch die Zimmer. Ein wenig klein waren diese. Herr Pfäffling stellte im Geist die Bettstellen und sprach so halblaut vor sich hin: „Hier mein Bett und das von meiner Frau, hier Karl, Wilhelm und Otto, hier Marianne, da Frieder -“
„Ja, erlauben Sie einmal“, unterbrach ihn jetzt der Hausherr, „wieviel Kinder haben Sie eigentlich?“
„Wir haben sieben.“
„Sieben! Bei sieben tut’s mir leid, daß ich Ihnen sagen muß, sieben nehme ich nicht in meine Wohnung. Ich habe meist so Parteien mit einem Kind, auch zwei und drei lasse ich mir gefallen, aber vier sind mir schon zu viel, und gar sieben, nein, da ist mir’s doch zu leid um meine neuen Fußböden, lieber lasse ich die Wohnung leerstehen.“ - „So“, entgegnete Herr Pfäffling, „dann will ich auch nicht länger auf Ihren kostbaren Fußböden herumtreten“, und ärgerlich verließ er das Haus.
Nun hinaus in die Sonnenstraße, dort gibt es auch einfache Häuser. Ein großer, weißer Zettel am Fenster des dritten Stocks zeigte schon von weitem, daß hier etwas zu hoffen war. Der Werkmeister Scholl war der Besitzer. Er stand unter der Haustür und zeigte bereitwillig die Wohnung. Diesmal überlegte Pfäffling nur ganz in der Stille, wie sich die Betten stellen ließen. Von seinen sieben Kindern ließ er nichts verlauten. Die Wohnung gefiel ihm, der Preis war nicht zu hoch, jetzt nur gleich fest mieten. Dem Werkmeister war es auch recht, er holte einen Mietvertrag zum Unterschreiben, und während er Tinte und Feder bereitlegte, fragte er nach dem Namen seines Mieters.
„Pfäffling.“
„Und der Stand, wenn ich bitten darf, der Beruf?“
„Musiklehrer.“
„So, das ist freilich sozusagen ein lebhafter Beruf.“
„Stört in unserem Fall nicht viel“, sagte Herr Pfäffling, „ich gebe viel Unterricht außer Haus.“
„Das ist gut, denn ich muß Ihnen gleich sagen, im untern Stock wohnt eine Dame, eine feine Dame, die leidet an Kopfweh und braucht Ruhe. Aber wenn die Stunden alle außer Haus sind, ist’s schon gut.“
„Alle habe ich nicht gesagt, aber die meisten.“
„Ihr eigene Familie ist doch nicht sehr groß?“
„Sehr groß?“ sagte Pfäffling. „Was heißt das, es gibt noch viel größere, und übrigens kommt alles darauf an, ob Kinder streng gehalten werden; die meinigen dürfen keinen Unfug treiben. Schreiben wir nur den Vertrag, ich habe nicht viel Zeit.“
Aber der Hausherr war hartnäckig. „Wissen möchte ich doch, wieviel Personen ins Haus kommen und was für welche“, sagte er, „wieviel Kinder, bitte? Sind’s Knaben oder Mädchen?“ Nun half nichts mehr. Herr Pfäffling mußte bekennen: „Vier Buben sind’s und dann noch so ein paar kleine Mädel, die merkt man nicht viel.“
Der Werkmeister legte die Feder wieder weg. „Es geht nicht“, sagte er, „es ist unmöglich, Musikstunden sind schon schlimm, dazu aber noch ein halbes Dutzend Kinder, nein, was zuviel ist, ist zuviel!“
„Aber Mensch“, rief Pfäffling, „wir müssen doch auch wohnen, was sollen wir denn tun, wenn uns niemand hereinläßt!“
In diesem Augenblick erschienen zwei ältere Damen unter der Tür, sie wollten die Wohnung besehen. Der Hausherr begrüßte sie höflich, für unseren armen Musiklehrer hatte er keinen Blick mehr, der konnte gehen.
Am Torweg war auch eine Wohnung frei. Die Hausfrau hängte eben im Vorgärtchen Wäsche auf; als sie hörte, was Pfäfflings Begehr war, holte sie ihren großen Schlüsselbund und schickte sich an, mit ihm hinaufzusteigen in den vierten Stock. Herr Pfäffling dachte bei sich: „Eigentlich ist 's ganz unnötig, daß ich die Wohnung ansehe, ich nehme sie ja doch, mag sie sein, wie sie will, aber ob die Frau uns nimmt, das ist die Frage!“ Er sagte deshalb nichts und ging voraus, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Langsam folgte ihm die Hausfrau, die wohlbeleibt war und schwer atmete. Pfäffling wurde ein wenig ungeduldig, er war schon so lange unterwegs, und ihm war es ganz gleichgültig, wie die Zimmer aussahen. Auf dem ersten Treppenabsatz mußte die Frau ein wenig ausschnaufen. Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Ich will Ihnen lieber gleich mitteilen, daß ich Musiklehrer bin“, sagte er, „wenn Sie also keinen wollen, dann verlieren wir weiter keine Zeit.“
Sie stutzte einen Augenblick, dann sagte sie gnädig: „Steigen Sie nur weiter hinauf“. Im Nu war Pfäffling die zweite Treppe droben, die Hausfrau keuchte nach. Auf dem zweiten Treppenabsatz wieder Pause zum Atemholen und Pfäffling: „Ich will Ihnen gleich sagen, daß wir sieben Kinder haben.“
„Ums Himmels willen“, rief die Frau, „haben Sie denn für jedes Stockwerk so eine Hiobspost? Bis wir in den vierten Stock hinaufkommen, spielen Sie die Regimentstrommel und haben noch ein Dutzend Buben in der Kost! Ich tu aber nicht mehr mit!“ Und die schwerfällige Frau machte kehrt, hörte gar nicht mehr auf die guten Worte, die ihr Pfäffling gab, und brummte vor sich hin: „Gott bewahre mich vor so einer Gesellschaft!“
Unser Musiklehrer rannte zum Haus hinaus und spornstreichs heim - für heute hatte er’s satt!
Als er bei Tisch erzählte, wie es ihm ergangen war, fühlten sich die Kinder ordentlich beschämt, daß die Eltern ihretwegen nirgends aufgenommen wurden, und nach Tisch, wo sie sonst alle im Hof herumtollten, standen sie ganz bescheiden in einem Eckchen zusammen und besprachen die Wohnungsnot. „Wir Großen können nichts dafür, daß wir so viele sind“, sagte der Älteste, „wir drei waren schon immer da.“
„Und wir zwei auch“, sagte eine der Zwillingsschwestern, „aber der Frieder und Elschen sind nachher dazugekommen.“ - „Ja, die sind schuld, daß wir so viele sind.“
„Ach, das Fischen macht ja nichts aus, das ist so klein und still, das bemerkt kein Hausherr. Aber der Frieder, ja, der Frieder mit seiner ewigen Ziehharmonika, wenn der nicht wäre, dann wären wir bloß sechs.“ Sie sahen alle auf den Frieder, der stand da wie ein kleiner Sünder und fühlte sich schuld an der ganzen Wohnungsnot. Und als seine Geschwister längst schon die Sorge abgeschüttelt hatten und lustig im Hofe spielten, da war er noch still und nachdenklich.
Frieder stand immer ein wenig allein unter den Geschwistern. Die drei großen Brüder sahen auf ihn herab und nannten ihn das Dummerle. Er war eigentlich nicht dumm, aber weil er immer Harmonika spielte, hörte und sah er manchmal nicht, was um ihn vorging, und stellte oft wunderliche Fragen. Die Zwillingsschwestern gingen immer miteinander und brauchten ihn nicht, so blieb nur das Elschen übrig, und mit dem konnte er noch nicht viel besprechen; aber er hatte es doch sehr lieb, schon weil es nicht auf ihn heruntersehen konnte wie all die andern, sondern weil es sogar zu ihm hinaufblicken mußte; er hatte es lieb, weil es nie Dummerle zu ihm sagte, denn es war noch kleiner und dümmer als er.
Dies kleine Elschen wandte sich auch oft an ihn, denn Frieder hatte mehr Zeit und auch mehr Geduld als die größeren Geschwister, und wenn Elschen noch so oft am Tag eine ihrer fünf schönen Glaskugeln verlor, Frieder suchte sie unverdrossen wieder zusammen. Die Kleine verstand noch nichts von der Wohnungsnot, aber Frieder war sehr davon bedrückt, und als er an diesem Nachmittag aus der Schule kam, fiel ihm ein, er wolle auch helfen Wohnung suchen. Sein Weg führte ihn durch die Kaiserstraße, das war die eleganteste Straße der Stadt. In dieser gab es ja prächtige Häuser, da mußten feine Wohnungen sein, wenn er nur so eine finden könnte!
Mit dem Schulranzen auf dem Rücken, in seinem verwaschenen, blau und weiß gestreiften Sommeranzug, ging Frieder in eines der stattlichen Häuser, die teppichbelegte Treppe hinauf und drückte auf die Klingel im ersten Stock. Er mußte ein wenig warten, denn das Dienstmädchen war eben am Scheuern; es mußte erst seine nasse Schürze ablegen, schnell eine weiße antun, rasch am Spiegel ihr Haar glattstreichen - so, nun war sie allerdings schön genug, um unserem Frieder aufzumachen. Der zog sein Mützchen ab und sagte: „Wir suchen eine Wohnung.“ Er mußte es noch zweimal sagen, denn das Mädchen meinte immer, es habe ihn falsch verstanden. Dann lachte sie und sagte: „Du kleiner Däumling, du willst eine Wohnung suchen? Geh, da würde ich noch zwanzig Jahre warten“, und damit ließ sie den kleinen Mann stehen und schloß die Tür. ‚Zwanzig Jahre können wir doch nicht warten‛, dachte Frieder und ging eine Treppe höher. Dort öffnete ihm ein Junge, nur ein paar Jahre älter als er. Als dieser erfaßt hatte, was Frieder wollte, führte er ihn in das Zimmer und rief einer Dame, die da saß, zu: „Sieh doch, Mama, da ist so ein komischer kleiner Junge, der will bei uns eine Wohnung suchen.“
Die Mama sah dem kleinen Eindringling ein wenig mißtrauisch entgegen, sie fragte ihn, wem er gehöre. Der Musiklehrer Pfäffling hatte aber einen guten Namen und war der Dame nicht unbekannt. Sie fragte nun noch allerlei. Der Frieder antwortete, so gut er’s verstand. Man konnte ihm wohl anmerken, wie ernst es ihm war mit der Wohnungsnot. Die Dame konnte ihm aber doch nicht helfen. „Liebes Kind“, sagte sie, „geh du lieber heim, dein Vater wird schon selbst eine Wohnung finden.“ Der Frieder schüttelte traurig das Köpfchen. „Nein“, sagte er, „uns will niemand nehmen, weil wir sieben Kinder sind.“
„Das ist aber arg, Mama“, sagte der kleine Sohn des Hauses, „wenn sie keine Wohnung finden, dann müssen sie immer auf der Straße bleiben.“
„Bewahre“, entgegnete die Mama, „sie kommen schon unter; sieben Kinder sind nicht so schlimm, da drüben wohnt eine Familie mit acht Kindern, und es gibt auch solche mit zehn!“ Da lauschte der Frieder, das war ihm eine gute, neue Botschaft! Jetzt war er beruhigt; das mußte er gleich daheim erzählen, die wußten das gewiß nicht. Er gab das Wohnungsuchen auf und ging heim.
Als Frau Pfäffling im Kreis der Ihrigen erzählte, daß sie an diesem Nachmittag vergeblich in vielen Häusern gewesen sei, sagte Frieder ganz ernsthaft: „Ich habe auch Wohnungen gesucht und keine gefunden.“
„Du hast gesucht? Ja wo denn? Wie denn?“ fragten alle durcheinander, und während er erzählte, wurde er von den Großen unbarmherzig ausgelacht und von den Eltern gezankt, daß er allein in fremde Häuser gegangen war. Frieder ließ das Köpfchen hängen. Niemand bemerkte, daß Tränen in seinen Augen standen, nur die kleine Else sah es, weil sie gerade an ihn herankam und zu ihm aufsah, und sie streichelte den Bruder. Sie verstand auch noch nicht, warum die andern lachten, und das tat dem Frieder wohl, in ihren Augen war er doch kein Dummerle!
Frau Pfäffling hatte aber doch eine Wohnung ausfindig gemacht. Freilich war sie auch teurer als die bisherige, gerade etwa um so viel teurer, als Herrn Pfäfflings Reise gekostet hätte, aber es waren doch so viele Zimmer darin, daß die große Familie gut Platz hatte. Frau Pfäffling berichtete genau über die innere Einteilung. „Du hast ja noch gar nicht gesagt, in welcher Straße sie liegt, das möchte ich doch vor allem wissen“, sagte Herr Pfäffling. Da kam es etwas zögernd heraus: „Sie liegt in der Hinteren Katzengasse Nr. 13.“
„In der Hinteren Katzengasse? Die kennt man ja nicht einmal dem Namen nach. Wollen wir doch sehen, wo die liegt.“ Auf demselben Tisch, wo kürzlich die Karte vom Fichtelgebirge aufgelegen war, wurde nun der Stadtplan ausgebreitet, und wieder steckten sich alle Köpfe zusammen, bis die Hintere Katzengasse gefunden wurde. Sie führte von der Vorderen Katzengasse nach der alten Trödlergasse.
„Eine feine Lage ist’s nicht“, sagte Herr Pfäffling.
„Nein, aber dort nimmt man uns doch auf. Die Kaiserstraße wäre feiner gewesen, wo unser Dummerle gesucht hat.“ „Wem gehört denn das Haus?“
„Einem Seifensieder.“
„Riecht’s da nicht den ganzen Tag nach Seifenbrei?“
„Es riecht wohl ein wenig, das kann nicht anders sein.“ „Da ist wohl auch kein Gärtchen oder Hof dabei, und das Haus ist nördlich gelegen, ein Sonnenstrahl dringt kaum in diese engen Gassen“, sagte Herr Pfäffling seufzend. „Es können nicht alle auf der Sonnenseite wohnen“, erwiderte Frau Pfäffling, „wie viele müssen im Schatten vorliebnehmen!“ „Wollen wir morgen noch einmal suchen, und dann, wenn wir gar nichts Besseres finden, nun, dann müssen wir uns eben begnügen.“
Am nächsten Tag fand sich nichts Besseres, und mit schwerem Herzen wurde der Beschluß gefaßt, in der Hinteren Katzengasse Nr. 13 zu mieten.
Inzwischen war in der schönen Wohnung, die Frieder in der Kaiserstraße angesehen hatte, eine kleine Teegesellschaft versammelt. Die Dame des Hauses erzählte von dem kleinen Pfäffling, der mit dem Ränzchen auf dem Rücken nach einer Wohnung bei ihr gesucht habe. Wie groß mußte die Verlegenheit der Familie sein, wenn sie alle Kinder bis herunter zum Sechsjährigen ausschickte auf Suche nach Wohnung! Ein älteres Fräulein aus der Gesellschaft, das ein warmes Herz für die Not anderer Leute hatte, erklärte, da müsse geholfen werden. Gleich am nächsten Morgen wolle sie zu Herrn B. gehen, der kenne alle Wohnungen der Stadt, der müsse Rat schaffen. So ging Fräulein A. zu Herrn B. und dieser wieder zu Frau C., und als die Sache noch ein Stück weiter durchs Alphabet gelaufen war, kam eines Morgens der Schreinermeister Hartwig, fragte nach dem Musiklehrer Pfäffling und sagte dem Dienstmädchen, er habe eine Wohnung anzubieten. Herr Pfäffling gab eben in seinem Zimmer Geigenstunde, während am anderen Ende der Wohnung einer seiner Jungen Klavier übte, und zwischendrein saßen die Zwillinge und sangen so laut sie konnten drauflos, weil sie die zweierlei Musik übertönen wollten.
Frau Pfäffling hatte in der Küche die Frage wegen der Wohnung vernommen, und hätte sie nur gekonnt, sie hätte heimlich alle Musik zum Schweigen gebracht; aber da führte ihr das Mädchen schon den Herrn her, und weil auch gerade die andern Kinder über den Gang sprangen, so konnte man kaum das eigene Wort verstehen. Die Mutter führte Herrn Hartwig ins Zimmer, und im Vorbeigehen faßte sie einen ihrer Jungen und flüsterte ihm zu: „Es ist ein Hausherr da, rufe den Vater, und mache, daß man euch nicht hört.“
Das wirkte; die Kinder wußten ja, um was es sich handelte. „Ein Hausherr“, so ging’s von Mund zu Mund; alle Musik, aller Lärm verstummte, auf den Zehen schlichen sich die Kinder hinaus, lautlos wurden die Türen geschlossen, eine ungewohnte Stille herrschte im Haus. Herr und Frau Pfäffling waren allein mit dem Schreinermeister Hartwig. „Wenn Sie noch keine Wohnung gefunden haben“, sagte dieser, „so möchte ich Ihnen eine in meinem Hause anbieten, draußen in der Frühlingsstraße. Platz genug gäbe es da, und es schadet auch nichts, daß Sie zehn Kinder haben.“
„Sieben, sieben, bloß sieben“, riefen die beiden Eltern wie aus einem Mund.
„Um so besser, uns hat man von zehn gesagt; es hat sich halt so herumgesprochen in der Stadt, und darüber haben sich die Kinder vermehrt. Es ist ein großer Holzplatz am Haus, da können sich die Kinder tummeln. Und was den Mietzins betrifft, da werden wir uns schon einigen. Bei uns ist’s nämlich so: Mich hat noch nie ein Lärm gestört, und meine Frau, die hat die Liebhaberei, Gutes zu tun, wie eben jeder Mensch so eine Liebhaberei hat. Darum sagte sie: Eine gute Mietpartei nehmen ist keine Kunst, aber eine schlechte Mietpartei aufsuchen, das ist christlich.“
„Der „schlechten Mietpartei“ klangen diese Worte wie Musik, und nach fünf Minuten schon war Herr Pfäffling mit dem freundlichen Hausherrn unterwegs in die Frühlingsstraße und ließ sich von der Hausfrau mit der christlichen Liebhaberei, Gutes zu tun, die sonnige Wohnung zeigen, und ohne Schriftstück, mit freundlichem Handschlag, wurde der Mietvertrag zu billigem Preis abgeschlossen. Fröhlichen Herzens ging unser Musiklehrer von der Frühlingsstraße in die Hintere Katzengasse, freute sich, als er schon von ferne den Seifengeruch in die Nase bekam, und teilte dem Seifensieder mit, daß er sich zu einer anderen Wohnung entschlossen habe. Dann vorbei an der Buchhandlung, wo er zum zweitenmal die Karte vom Fichtelgebirge verlangte, und nun heim zur begeisterten Schilderung der künftigen Wohnung in der Frühlingsstraße.
Die ganze Familie teilte seine Freude; nur der Frieder hörte zufällig nichts davon, weil er eben mit seiner Harmonika im Hof war, und niemand dachte daran, daß er die Neuigkeit nicht erfahren hatte. Er wunderte sich im stillen, als beim Mittagstisch alle so vergnügt vom nahen Umzug sprachen und sogar sagten, sie bekämen es viel schöner als jetzt; denn er dachte, es handle sich noch um die Hintere Katzengasse. „Mir gefällt’s besser da“, sagte er, „weil wir doch einen Hof haben.“ „Der elende Hof voll Wäschepfosten“, sagte einer der Brüder, „da will ich doch lieber einen Holzplatz.“
„Schau, schau, dem Frieder allein ist die neue Wohnung nicht gut genug, der will eben in die Kaiserstraße“, sagte der Vater neckend zu ihm, und auch die andern lachten. Es wußte niemand, daß man ihm eigentlich die neue Wohnung verdankte, auch er selbst nicht, und so schwieg Frieder. Er fand es zwar wunderlich, daß man heute so zufrieden sein sollte mit dem Tausch, aber ihm kam ja oft etwas sonderbar vor, was die Großen sagten, und er fragte nie viel, sie hatten immer keine Lust, ihn aufzuklären.
So kam es, daß Frieder bei der Meinung blieb, man habe in der Hinteren Katzengasse eingemietet.
„Wenn der Umzug doch sein muß, dann so bald wie möglich“, sagte Herr Pfäffling, „noch vor meiner Reise“, und mit Eifer wurden alle Vorbereitungen getroffen. Manche Bekannte boten ihre Hilfe an, und viele luden die Kinder für den Umzugstag zu Tisch, so daß es eine ganz schwierige Beratung gab, was man annehmen konnte und ablehnen mußte. Die Eltern hatten viel zu tun; sie überließen es den Kindern, wo und wie jedes zu seinem Mittagstisch gelangen würde. So fanden die großen Jungen glücklich heraus, daß Brauns auf zwölf Uhr und Schwarzens auf ein Uhr geladen hatten, das konnten sie beides vereinigen, und sie freuten sich königlich auf das doppelte Mittagessen.
Der Tag des Umzugs kam. Gegen Mittag fuhr der vollbeladene Wagen ab, die Eltern folgten ihm in die neue Wohnung, während die Kinder gleich von ihren Schulen aus zu den Familien, die sie geladen hatten, gegangen waren und sich’s da schmecken ließen. Nur unser Frieder hatte nicht recht erfaßt, wie das alles eingerichtet war und wo er zu Mittag essen sollte. Er wollte die Mutter noch einmal fragen und ging wie gewöhnlich von der Schule aus heim, in die alte Wohnung. Alle Türen standen weit offen. Betroffen blieb Frieder unter der Tür der verlassenen Wohnung stehen. Wo war denn alles? Er ging von einem Zimmer ins andere, Papier und Stroh lagen auf dem Fußboden verstreut. Da, im Winkel, mitten unter dem Staub, sah er eine von Elschens Kugeln, die schöne rote, die hob er auf und schob sie in seine Tasche. Dann ging er durch all die leeren Räume, seine Schritte hallten, aber sonst war alles still. Ihm wurde ganz unheimlich zumute, Tränen kamen ihm in die Augen, als er sich so verlassen fühlte. Ja, sie waren alle ausgezogen und hatten ihn vergessen. Jetzt kamen Schritte die Treppe herauf, der Hausherr war’s und eine Scheuerfrau mit Besen und Wassereimer.
„Bist du noch da, Frieder?“ fragte er. „Deine Leute sind schon in der neuen Wohnung, mache nur, daß du auch hinkommst, sonst wirst du hinausgekehrt.“ Da ging Frieder die Treppe hinunter; er wußte jetzt, was er zu tun hatte, er mußte in die neue Wohnung gehen. Also in die Hintere Katzengasse Nummer 13. Wo diese lag, wußte er ungefähr; hinter dem Markt, hatte er sagen hören, und auf dem Markt war er schon oft gewesen. Er machte sich auf den Weg. Der war weit und heiß; der kleine Fußgänger mit dem Schulranzen kam langsam vorwärts und dachte dabei, daß er zum Mittagessen bei Bekannten eingeladen sei; wenn er nur gewußt hätte, wo? Endlich gelangte er doch auf den Markt und sah sich um. Rechts, links, überall gingen Straßen und Gassen ab, welche aber war die richtige? Zweifelnd kam er bis mitten auf den Platz, da trieben sich ein paar Kinder herum. An die wandte er sich. Ein Mädchen wies ihm den Weg. „Dort“, sagte sie, „wo der Seifenladen ist, da ist Nummer dreizehn.“
Der Seifensieder stand unter der Ladentür, und als er sah, daß der kleine Abc-Schütze mit dem Ränzchen auf dem Rücken unschlüssig vor dem Hause stehenblieb, fragte er: „Wen suchst du denn, Kleiner?“