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Die große Philip K. Dick-Reihe bei Fischer Klassik Jason Taverner: als beliebter Fernsehmoderator und Sänger gehört ihm die Welt. So denkt er, bis er in einem schäbigen Hotelzimmer aufwacht und unter Menschen kommt, die ihn nicht erkennen, in einer Welt, in der die Macht skrupellos ihre Bürger jagt. In dem Überwachungsstaat ist er ein gesichtsloser Niemand und die perfekte Beute. Mit großem Geschick erforscht Dick in seiner Dystopie die psychologischen Auswirkungen seines Orwellschen Albtraums. Nie hat Philip K. Dick seine Kritik an den zeitgenössischen USA schonungsloser dargelegt. Eine Provokation mit Nachhall.
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Seitenzahl: 331
Philip K. Dick
Eine andere Welt
Roman
FISCHER E-Books
Die Liebe in diesem Roman ist für Tessa,
und auch die Liebe in mir gehört ihr.
Sie ist mein kleines Lied.
Fließt, meine Tränen, euren Quellen entspringt!
Für immer verbannt lasst mich klagen.
Wo der schwarze Vogel der Nacht seine Schande besingt,
Dort lasst mich mein Unglück tragen.
Am Dienstag, dem 11. Oktober 1988, endete die Jason Taverner Show dreißig Sekunden zu früh. Einer der Techniker fror den letzten Credit im Videoabspann ein und winkte Jason Taverner, der schon die Bühne verlassen wollte, von der Kontrollkuppel aus zu. Der Techniker tippte auf sein Handgelenk, dann deutete er auf seinen Mund.
Entspannt sagte Jason in das Hänge-Mikrophon: »Schickt uns weiter all die Karten und V-Briefe, Leute. Und bleibt dran für Die Abenteuer von Scotty, dem außergewöhnlichen Hund.«
Der Techniker lächelte, Jason lächelte zurück – dann schalteten sich Bild und Ton klickend aus. Ihre einstündige Variety-Sendung mit Musik, die die zweithöchste Einschaltquote unter den besten Fernsehshows des Jahres hatte, war vorbei. Und alles war gutgegangen.
»Wo haben wir denn eine halbe Minute verloren?«, fragte Jason seinen Gaststar des Abends, Heather Hart. Es beschäftigte ihn. Er legte Wert darauf, dass der Zeitablauf seiner Shows eingehalten wurde.
»Lass gut sein, lief doch bestens«, erwiderte Heather, legte ihre kühle Hand auf seine etwas klamme Stirn und massierte zärtlich seinen sandfarbenen Haaransatz.
»Ist dir eigentlich bewusst, welch große Macht du hast?« Al Bliss, ihr gemeinsamer Agent, trat dicht – wie immer viel zu dicht – an Jason heran. »Dreißig Millionen Menschen haben heute Abend miterlebt, wie du dir den Reißverschluss deiner Hose hochgezogen hast. Auch eine Art Rekord.«
»Den Reißverschluss ziehe ich mir jede Woche hoch«, sagte Jason. »Das ist mein Markenzeichen. Oder hast du die Show noch nie gesehen?«
»Aber dreißig Millionen«, entgegnete Bliss, das runde, gerötete Gesicht mit Schweißtropfen bedeckt. »Stell dir das mal vor. Und dann noch die Wiederholungen.«
»Bis die Wiederholungen dieser Show sich auszahlen, bin ich längst tot. Gott sei’s gedankt.«
»Du kannst froh sein, wenn du heute Nacht mit dem Leben davonkommst«, sagte Heather, »bei all den Fans, die sich da draußen drängen. Sie warten nur darauf, dich in lauter kleine Fetzen von Briefmarkengröße zu zerreißen.«
»Manche von denen sind auch Ihre Fans, Miss Hart«, hechelte Al Bliss mit seiner hundeähnlichen Stimme.
»Zum Teufel mit ihnen«, entgegnete Heather schroff. »Warum verschwinden sie nicht? Verstoßen sie nicht gegen irgendein Gesetz, Wegelagerei oder so?«
Jason ergriff ihre Hand und drückte sie so heftig, dass sie ihn stirnrunzelnd ansah. Er hatte ihre Abneigung den Fans gegenüber nie verstanden – für ihn waren sie das Herzblut seiner öffentlichen Existenz. Und seine öffentliche Existenz, seine Rolle als weltweiter Entertainer, war für ihn Existenz pur, nicht mehr und nicht weniger. »Du solltest nicht im Showgeschäft arbeiten«, sagte er zu ihr, »wenn du so empfindest. Such dir etwas anderes. Werd Sozialarbeiterin in einem Zwangsarbeitslager.«
»Aber da gibt es auch Menschen«, erwiderte Heather grimmig.
Zwei Spezialagenten der Polizei bahnten sich mit breiten Schultern einen Weg zu Jason und Heather. »Wir haben den Korridor so weit wie nur irgend möglich geräumt«, keuchte der dickere der beiden. »Gehen wir jetzt, Mr. Taverner. Bevor das Publikum aus dem Studio durch die Seiteneingänge kommt.« Er gab drei weiteren Agenten ein Zeichen, die daraufhin durch den stickigen, von hartnäckigen Verehrern noch immer fast verstopften Korridor vorausgingen, der schließlich auf die nächtliche Straße führte. Und zum Rolls-Flugschiff, das dort in seiner kostspieligen Pracht parkte, das Raketenende im Leerlauf pulsierend. Wie, dachte Jason, ein mechanisches Herz. Ein Herz, das einzig für ihn schlug, für ihn, den Star. Und dadurch natürlich auch zum Wohle Heathers.
Sie hatte es verdient: Sie hatte heute Abend gut gesungen. Beinahe so gut wie … Jason grinste in sich hinein. Zum Teufel, seien wir mal ehrlich, dachte er dann. Die Leute schalten ihre 3-D-Geräte doch nicht ein, weil sie den besonderen Gaststar sehen wollen. Über das Antlitz der Erde sind tausend besondere Gaststars verteilt – und in den Marskolonien gibt’s auch noch ein paar. Sie schalten ein, weil sie mich sehen wollen. Und ich bin immer da. Jason Taverner hat seine Fans noch nie enttäuscht, und er wird sie auch nicht enttäuschen. Egal, was Heather von ihren Fans hält.
»Du magst sie nicht«, rief Jason ihr zu, während sie sich schiebend und drückend durch den dampfenden, nach Schweiß riechenden Korridor kämpften, »weil du dich selbst nicht magst. Insgeheim wirfst du ihnen schlechten Geschmack vor.«
»Sie sind dumm«, stöhnte Heather und fluchte leise, als ihr der große, flache Hut vom Kopf fiel und für immer im Walfischbauch der dichtgedrängten Fans verschwand.
»Es sind gewöhnliche Menschen«, sagte Jason, die Lippen nun an ihrem Ohr, das im Gewirr einer leuchtend roten Haarpracht fast ganz verborgen war. Die berühmte wogende Mähne, die in zahllosen Schönheitssalons überall auf Terra ausgiebig und fachmännisch kopiert wurde.
Heather krächzte: »Sprich dieses Wort nicht aus.«
»Es sind gewöhnliche Menschen, und es sind Trottel. Weil« – er knabberte an ihrem Ohrläppchen –, »weil nur Trottel gewöhnlich sein können. Stimmt’s?«
Sie seufzte. »O Gott, in einem Flugschiff durch die Leere fliegen. Danach sehne ich mich am meisten – nach unendlicher Leere. Ohne menschliche Stimmen, ohne menschliche Gerüche, ohne menschliche Kiefer, die Plastikkaugummi in neun verschiedenen Farben kauen.«
»Du hasst sie wirklich.«
»Ja.« Sie nickte knapp. »Und du auch.« Sie blieb kurz stehen und wandte den Kopf, so dass sie einander ansahen. »Du weißt, dass du deine verdammte Stimme verloren hast. Du weißt, dass du vom Ruhm vergangener Zeiten zehrst, die niemals wiederkehren werden.« Dann lächelte sie ihn an. Warmherzig. »Werden wir alt?«, fragte sie über das Gekreisch und Gequietsche der Fans hinweg. »Gemeinsam? Wie Mann und Frau?«
»Sechser werden nicht alt«, erwiderte Jason.
»O doch. O doch, das werden sie.« Heather hob die Hand und berührte sein welliges braunes Haar. »Wie lange färbst du es schon, Liebster? Seit einem Jahr? Seit drei Jahren?«
»Steig ins Flugschiff«, sagte er brüsk und schob sie vor sich her, aus dem Gebäude hinaus, über den Gehsteig des Hollywood Boulevard.
»Ich steige ein, wenn du mir ein sauberes hohes B vorsingst. Weißt du noch, als du …«
Er stieß sie unsanft ins Flugschiff, zwängte sich hinterher und half Al Bliss beim Schließen der Tür. Dann stiegen sie in den regenverhangenen nächtlichen Himmel auf. In den prächtigen, widerscheinenden Himmel von Los Angeles, der so sehr strahlte, als wäre helllichter Tag. Genauso ist es für dich und für mich, dachte Jason. Für uns beide, für alle Zeit. Es wird immer so sein wie jetzt – weil wir Sechser sind. Wir zwei. Ob sie es wissen oder nicht.
Sie wussten es nicht. Er erfreute sich an der düsteren Komik. An dem Wissen, das sie miteinander teilten und mit niemandem sonst. So sollte es sein. Und so war es … selbst jetzt, nachdem sich alles zum Schlechten gewandt hatte. Jedenfalls schlecht in den Augen der Designer. Der großen Gelehrten, die zahllose Vermutungen angestellt und sich immer wieder getäuscht hatten. Vor fünfundvierzig wunderschönen Jahren, als die Welt noch jung gewesen war und Regentropfen an den inzwischen verschwundenen japanischen Kirschbäumen in Washington, D.C., gehangen hatten. Und ein Hauch von Frühling und Aufbruch über dem edlen Experiment gelegen hatte. Wenigstens für eine Weile.
»Fliegen wir nach Zürich«, sagte er laut.
Heather sah ihn an. »Ich bin zu müde. Außerdem ödet mich dort alles an.«
»Das Haus?« Er konnte es nicht fassen. Heather hatte es für sie beide ausgesucht, und seit Jahren zogen sie sich dorthin zurück – versteckten sie sich vor den Fans, die Heather so sehr hasste.
Sie seufzte. »Das Haus. Die Schweizer Uhren. Das Brot. Das Kopfsteinpflaster. Der Schnee auf den Hügeln.«
»Bergen … Ach, zum Teufel, dann fliege ich eben ohne dich.«
»Und nimmst jemand anderen mit?«
Er konnte es einfach nicht verstehen. »Möchtest du denn, dass ich jemand anderen mitnehme?«
»Du und deine Anziehungskraft. Dein unwiderstehlicher Charme. Du könntest jedes Mädchen auf der Welt zu dir in dieses große Messingbett holen. Nicht dass du besonders aufregend wärst, wenn du erst darin liegst.«
»Gott«, sagte er voller Abscheu. »Das nun wieder. Immer dieselbe alte Leier. Und dann diese völlig aus der Luft gegriffenen Vorwürfe – an denen hängst du besonders.«
Heather wandte sich ihm mit ernster Miene zu. »Du weißt, wie gut du aussiehst, auch jetzt noch, in deinem Alter. Du bist wunderschön. Dreißig Millionen Menschen gaffen dich eine Stunde pro Woche an. Dein Gesinge interessiert sie nicht … es ist deine unveränderliche körperliche Schönheit.«
»Das Gleiche lässt sich von dir sagen.« Jason fühlte sich erschöpft, sehnte sich nach der Privatheit und Abgeschiedenheit dort in der Nähe von Zürich, nach dem Haus, das stumm darauf wartete, dass sie beide einmal zurückkehrten. Ja, es war, als wolle das Haus, dass sie blieben – nicht nur für eine Nacht oder eine Woche, sondern für immer.
»Man sieht mir mein Alter nicht an«, sagte Heather.
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, dann musterte er sie genauer. Massen roten Haares, blasse Haut mit einigen wenigen Sommersprossen, eine kräftige römische Nase, tiefliegende, große, violettfarbene Augen. Sie hatte recht – man sah ihr ihr Alter nicht an. Natürlich schloss sie sich auch nie an das Telefon-Sexnetz an, so wie er. Aber eigentlich tat er das recht selten. Er war nicht abhängig, und es war auch noch nicht zu Hirnschäden oder vorzeitigem Altern gekommen.
»Du bist eine verdammt gutaussehende Person«, gab er widerstrebend zu.
»Und du?«
Das konnte ihn nicht erschüttern – er wusste, dass er immer noch sein Charisma besaß, die Kraft, die vor zweiundvierzig Jahren in seine Chromosomen programmiert worden war. Sicher, er war stark ergraut, und er färbte seine Haare. Und hier und da hatten sich ein paar Fältchen eingegraben. Aber …
»Solange ich meine Stimme habe«, sagte er, »wird es mir gutgehen. Mir fehlt nichts. Du täuschst dich über mich – das liegt an deinem Sechserhochmut, deiner vielgepriesenen sogenannten Individualität. Gut, wenn du nicht nach Zürich fliegen willst, wohin willst du dann? Zu dir? Zu mir?«
»Ich möchte mit dir verheiratet sein. Dann wäre es nicht mehr dein oder mein Zuhause, sondern unser Zuhause. Und ich würde das Singen aufgeben und drei Kinder kriegen, die alle so aussehen wie du.«
»Auch die Mädchen?«
»Es werden lauter Jungen sein.«
Er beugte sich hinüber und küsste sie auf die Nase. Sie lächelte, nahm seine Hand und streichelte sie.
»Wir können heute Abend überallhin«, sagte er mit leiser, ruhiger und sehr gefühlvoller, beinahe väterlicher Stimme; im Allgemeinen sprach Heather gut auf diese Masche an, wenn sonst nichts mehr half. Geht es schief, dachte er zugleich, lasse ich sie eben einfach sitzen.
Davor fürchtete sie sich. Bei ihren Auseinandersetzungen, besonders in ihrem Haus in der Schweiz, wo niemand sie hören oder gar eingreifen konnte, hatte er manchmal die Angst auf ihrem Gesicht gesehen. Die Vorstellung, allein zu sein, entsetzte sie – er wusste es, sie wusste es, diese Angst gehörte zur Realität ihres gemeinsamen Lebens. Nicht ihres öffentlichen Lebens; als Profis hatten sie sich hier voll und ganz unter Kontrolle: Egal, wie wütend sie aufeinander waren und wie sehr sie sich auseinandergelebt hatten, in der großen, huldvollen Welt der Zuschauer, Briefeschreiber und krakeelenden Fans harmonierten sie miteinander. Selbst blanker Hass konnte das nicht ändern.
Aber zwischen ihnen konnte es ohnehin keinen Hass geben. Sie hatten zu viel gemeinsam. Sie gaben einander so viel. Schon die bloße körperliche Berührung – wie jetzt, da sie gemeinsam in dem Rolls-Himmelsflieger saßen – machte sie glücklich. Jedenfalls solange sie anhielt.
Er griff in die Innentasche seines maßgeschneiderten, echten Seidenanzugs – einem von höchstens zehn auf der Welt – und zog ein Bündel von der Regierung beglaubigte Geldscheine hervor. Es war eine ganze Menge, zu einem prallen kleinen Knäuel zusammengepresst.
»Du solltest nicht so viel Bares mit dir herumtragen«, nörgelte Heather in dem Tonfall, der ihm so sehr missfiel, den der besserwisserischen Mutter.
»Hiermit« – er zeigte ihr das Bündel Geldscheine – »können wir uns jeden …«
»Es sei denn, irgendein nicht registrierter Student, der sich in der Nacht aus seinem Wohnheim geschlichen hat, hackt dir die Hand mit dem Geld ab und macht sich damit aus dem Staub, mit der Hand und dem Geld. Du warst schon immer ein verdammter Angeber. Sieh dir nur deine Krawatte an. Sieh sie dir an!« Sie war jetzt lauter geworden – sie schien ernsthaft verärgert zu sein.
»Das Leben ist kurz«, sagte Jason. »Und das gute Leben noch kürzer.« Er steckte das Bündel Geldscheine wieder in die Innentasche seines Anzugs und glättete die Ausbuchtung, die es in seiner sonst makellosen Bekleidung hinterließ. »Damit wollte ich dir etwas kaufen«, fügte er hinzu. Aber eigentlich war ihm der Gedanke eben erst gekommen – er hatte mit dem Geld etwas ganz anderes vorgehabt: Er wollte es nach Las Vegas mitnehmen, zu den Blackjack-Tischen. Als Sechser konnte er bei Blackjack immer gewinnen – und tat es auch. Er war allen gegenüber im Vorteil, sogar dem Geber. Und sogar, dachte er, dem Besitzer dieses Sündenpfuhls.
»Du lügst«, fuhr ihn Heather an. »Du wolltest mir nichts kaufen, das tust du nie, du bist viel zu egoistisch, denkst immer nur an dich. Das ist Nuttengeld. Du wirst dir eine Blondine mit großen Titten kaufen und mit ihr ins Bett steigen. Vermutlich in unserem Haus in Zürich, das ich, wie du weißt, seit vier Monaten nicht mehr gesehen habe. Ich könnte genauso gut schwanger sein.«
Es kam ihm seltsam vor, dass sie gerade das sagte – bei allem, was ihr so in den freudig plappernden Sinn kam. Aber es gab viel an Heather, was er nicht verstand; auch ihm gegenüber behielt sie, wie bei den Fans, eine Menge für sich.
Allerdings hatte er im Laufe der Jahre doch so manches über sie erfahren. Er wusste zum Beispiel, dass sie 1982 eine Abtreibung gehabt hatte, ein wohlgehütetes Geheimnis. Er wusste, dass sie einmal illegal mit dem Anführer einer studentischen Kommune verheiratet gewesen war und ein Jahr lang in den Hasenställen der Columbia University gewohnt hatte, zusammen mit all den stinkenden, bärtigen Studenten, die wegen der Pols und Nats ihr ganzes Leben im Untergrund verbrachten – der Polizei und der Nationalgarde, die jeden Campus umringten und verhinderten, dass die Studenten in die Gesellschaft einsickerten wie ein Haufen schwarzer Ratten, der ein sinkendes Schiff verließ.
Und er wusste, dass sie vor einem Jahr wegen Drogenbesitzes verhaftet worden war. Nur ihre wohlhabende und mächtige Familie hatte sie da wieder rausholen können – ihr ganzes Geld, ihr Charisma, ihr Ruhm hatten nicht geholfen, als es zur Auseinandersetzung mit der Polizei kam.
Heather war durch das alles ein wenig verängstigt gewesen, aber Jason wusste, dass sie es inzwischen verdaut hatte. Wie alle Sechser besaß sie enorme Regenerationskräfte. Sie waren sorgfältig in sie eingebaut worden. Und noch viel, viel mehr. Selbst er, zweiundvierzig Jahre alt, kannte nicht alles.
Und ihm war schon etliches widerfahren. Vorwiegend in Form von Leichen, von sterblichen Überresten anderer Entertainer, über die er während seines langen Wegs nach oben gegangen war.
»Übrigens, diese Krawatte …«, setzte er an, doch in diesem Moment summte das Telefon des Rolls. Er nahm ab. Vermutlich war es Al Bliss mit der Einschaltquote der heutigen Show.
Aber er war es nicht. Die Stimme eines Mädchens erklang, drang grell und durchdringend an sein Ohr. »Jason?«
»Ja.« Die Sprechmuschel zuhaltend, wandte er sich an Heather: »Es ist Marilyn Mason. Warum habe ich ihr nur diese Nummer gegeben?«
»Wer zum Teufel ist Marilyn Mason?«, fragte Heather.
»Das erzähle ich dir später.« Er nahm die Hand von der Sprechmuschel. »Ja, meine Liebe, hier spricht Jason, wahrhaftig reinkarniert, wie er leibt und lebt. Was gibt’s? Du hörst dich furchtbar an. Steht wieder eine Räumung an?« Er blinzelte Heather zu und grinste gequält.
»Wimmel sie ab«, sagte Heather.
Wieder mit der Hand auf der Sprechmuschel, erwiderte er: »Mach ich doch, ich versuch’s ja. Siehst du das denn nicht?« In das Telefon sagte er: »Also, Marilyn, sprich dich aus, dafür bin ich schließlich da.«
Seit zwei Jahren war Marilyn Mason sein Schützling, sozusagen. Jedenfalls wollte sie Sängerin werden, berühmt, reich, geliebt – so wie er. Eines Tages war sie in sein Studio marschiert, während der Probe, und ihm aufgefallen: Ein verkniffenes kleines, kummervolles Gesicht, kurze Beine, der Rock viel zu kurz – er hatte, wie es seine Art war, alles auf den ersten Blick erfasst. Und eine Woche später hatte er ein Vorsingen bei Columbia Records für sie arrangiert.
In dieser Woche war eine Menge passiert, aber es hatte nichts mit Gesang zu tun gehabt.
Marilyn gellte ihm ins Ohr: »Ich muss dich treffen. Sonst bringe ich mich um – und du trägst die Schuld daran. Für den Rest deines Lebens. Und dieser Heather Hart erzähle ich, dass wir die ganze Zeit miteinander geschlafen haben.«
Er seufzte innerlich. Zum Teufel, er war müde, erschöpft von der einstündigen Show, bei der es immer nur hieß: lächeln, lächeln, lächeln. »Ich bin unterwegs in die Schweiz«, sagte er mit fester Stimme, als spräche er zu einem hysterischen Kind. Gewöhnlich funktionierte das, wenn Marilyn in einer ihrer anklagenden, quasiparanoiden Stimmungen war. Aber diesmal natürlich nicht.
»Es kostet dich nur fünf Minuten, in einem deiner Millionen Dollar schweren Rolls-Himmelsflieger hierherzukommen. Ich will bloß einige Sekunden mit dir sprechen. Ich habe dir etwas sehr Wichtiges zu sagen.«
Vermutlich ist sie schwanger, dachte Jason. Hat vergessen, die Pille zu nehmen. Aus Versehen – oder vielleicht auch mit Absicht.
»Was kannst du mir in einigen Sekunden sagen, das ich nicht schon weiß?«, sagte er schroff. »Sag’s mir jetzt.«
»Ich will dich hier bei mir haben«, beharrte Marilyn. »Du musst kommen. Ich habe dich seit sechs Monaten nicht mehr gesehen, und in dieser Zeit habe ich viel über uns nachgedacht. Besonders über dieses letzte Vorsingen.«
»Also gut«, erwiderte er mit einem Gefühl von Verbitterung und Reue. Das hatte er nun davon, dass er versucht hatte, ihr – einer Person ohne jedes Talent – eine Karriere zu ermöglichen. Er legte den Hörer auf und wandte sich an Heather. »Ich bin froh, dass du ihr nie begegnet bist. Sie ist wirklich eine …«
»Unsinn«, unterbrach sie ihn. »Ich bin ihr nicht begegnet, weil du verdammt nochmal dafür gesorgt hast.«
»Jedenfalls«, sagte er, während er mit dem Rolls eine Rechtskurve flog, »habe ich für sie nicht nur ein, sondern gleich zwei Vorsingen arrangiert – und sie hat beide verpatzt. Und um ihre Selbstachtung nicht zu verlieren, gibt sie jetzt mir die Schuld. Irgendwie habe ich sie offenbar ins Versagen getrieben.«
»Hat sie hübsche Titten?«
»Durchaus.« Er grinste, und Heather lachte. »Du kennst meine Schwäche. Aber ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten, ich habe für sie ein Vorsingen arrangiert – zwei Vorsingen. Das letzte war vor sechs Monaten, und ich weiß genau, sie grübelt immer noch darüber nach. Ich frage mich, was sie mir sagen will.«
Er hämmerte auf das Kontrollmodul ein und programmierte einen automatischen Kurs zu Marilyns Apartmentgebäude mit seinem kleinen, aber adäquaten Dachlandeplatz.
»Wahrscheinlich liebt sie dich«, sagte Heather, als er den Rolls landete und die Falttreppe ausfuhr.
»Wie vierzig Millionen andere auch«, erwiderte Jason freundlich.
Heather machte es sich in ihrem Schalensitz bequem. »Bleib nicht zu lange weg, sonst – ich schwör’s dir – starte ich ohne dich.«
»Damit ich bei Marilyn festsitze?« Sie lachten beide. »Ich bin gleich zurück.« Er ging quer über den Landeplatz zum Aufzug und drückte den Knopf.
Als er Marilyns Apartment betrat, sah er sofort, dass sie den Verstand verloren hatte. Ihr ganzes Gesicht war verkniffen und verzerrt, ihr Körper so zurückgezogen, dass es aussah, als wolle sie sich selbst verdauen. Und ihre Augen … Was Frauen betraf, so gab es nur wenig, das ihm Unbehagen bereitete – doch das hier schon. Ihre Augen, völlig rund, mit riesigen Pupillen, starrten ihn bohrend an, während sie schweigend vor ihm stand, die Arme verschränkt, ganz und gar unbeugsam und eisenhart.
»Fang schon an zu erzählen«, sagte Jason und versuchte etwas zu finden, was ihm einen Vorteil brachte. Im Allgemeinen – eigentlich immer – beherrschte er jede Situation, die mit Frauen zusammenhing; das war so etwas wie seine Spezialität. Aber das hier … Ihm war unwohl zumute. Und sie sagte noch immer nichts. Ihr Gesicht, unter Schichten von Schminke, war völlig blutleer, sie sah aus wie ein lebender Leichnam. »Willst du noch ein Vorsingen?«, fragte er. »Ist es das?«
Marilyn schüttelte den Kopf.
»Also, dann sag mir, worum es geht.« Er versuchte, das Unbehagen, das er empfand, aus seiner Stimme herauszuhalten; er war viel zu schlau, viel zu erfahren, um sie seine Unsicherheit hören zu lassen. Bei einer Auseinandersetzung mit einer Frau lief es fast zu neunzig Prozent auf Bluff hinaus, auf beiden Seiten. Es kam nicht so sehr darauf an, was man tat, als vielmehr darauf, wie man es tat.
»Ich habe etwas für dich.« Marilyn drehte sich um und verschwand in der Küche. Er schlenderte hinter ihr her.
»Du gibst mir immer noch die Schuld an diesen beiden fehlgeschlagenen …«
»Hier ist es.« Marilyn hob einen Plastikbeutel aus der Spüle und hielt ihn für einen Moment, das Gesicht noch immer starr, die Augen weit geöffnet. Dann riss sie den Beutel auf, zog ein gallertartiges Etwas heraus, kam auf Jason zu und warf es auf ihn.
Es geschah zu schnell. Er wich instinktiv zurück, aber zu langsam, zu spät. Der Callisto-Haftschwamm mit seinen unzähligen Fressröhren presste sich an ihn, verankerte sich an seiner Brust. Schon spürte er, wie die Fressröhren sich in ihn gruben.
Er stürzte zu den Küchenschränken, griff nach einer halbvollen Flasche Scotch, schraubte mit fliegenden Fingern den Deckel ab und goss den Alkohol auf das gallertartige Wesen. Seine Gedanken waren völlig klar – er geriet nicht in Panik, sondern stand nur da und goss den Scotch auf dieses Ding.
Sekundenlang geschah nichts. Es gelang ihm weiterhin, sich zusammenzureißen und nicht voller Panik zu fliehen. Dann warf das Ding Blasen und schrumpfte, fiel von seiner Brust zu Boden. Es war tot.
Mit einem Gefühl jäher Schwäche setzte er sich an den Küchentisch und stellte fest, dass er gegen eine Ohnmacht ankämpfen musste; einige der Fressröhren waren in ihm geblieben und noch lebendig. »Nicht schlecht«, brachte er mühsam hervor. »Beinahe hättest du mich erwischt, du miese kleine Schlampe.«
»Nicht nur beinahe«, sagte Marilyn Mason ausdruckslos und ohne jegliches Gefühl. »Einige dieser Röhren sind noch in dir, und du weißt es – ich sehe es dir an. Die bringst du nicht mit einer Flasche Scotch heraus. Nichts kann dich von ihnen befreien.«
In diesem Moment verlor er das Bewusstsein. Undeutlich sah er, wie der grün-graue Boden nach oben schnellte und ihn aufnahm. Dann herrschte nur noch Leere. Eine Leere, in der nicht einmal mehr Platz für ihn selbst war.
Schmerzen. Er öffnete die Augen, berührte aus einem Reflex heraus seine Brust. Sein maßgeschneiderter Seidenanzug war verschwunden; er trug ein Krankenhaushemd aus Baumwolle und lag auf einer Trage. »Gott«, sagte er dumpf, während zwei Sanitäter die Trage schnell einen Krankenhausflur entlangschoben.
Heather Hart beugte sich über ihn, ängstlich und schockiert, aber – so wie er – noch im vollen Besitz ihrer Sinne. »Ich wusste, dass etwas nicht stimmt«, sagte sie hastig, als die Sanitäter ihn in ein Zimmer bugsierten. »Ich bin dir nach unten gefolgt.«
»Wahrscheinlich dachtest du, wir lägen zusammen im Bett«, erwiderte er schwach.
»Der Arzt meinte, dass du diesem somatischen Missbrauch, wie er es nannte, nach fünfzehn Sekunden erlegen wärst. Dieses Ding wäre dann endgültig in dich eingedrungen.«
»Ich habe es erwischt. Aber ich habe nicht alle Fressröhren herausbekommen. Es war schon zu spät.«
»Ich weiß. Der Arzt hat es mir erklärt. Sie wollen dich so schnell wie möglich operieren. Vielleicht können sie noch etwas unternehmen, wenn die Röhren nicht zu tief eingedrungen sind.«
»Ich habe die Krise gut bewältigt«, krächzte Jason. Er schloss die Augen, hielt den Schmerzen stand. »Aber nicht gut genug. Nicht gut genug.« Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, dass Heather weinte. »Ist es so schlimm?« Er langte hoch und ergriff ihre Hand. Er spürte die Kraft ihrer Liebe, als sie seine Finger drückte. Dann war da nichts mehr. Nur noch die Schmerzen. Sonst nichts, keine Heather, kein Krankenhaus, keine Sanitäter, kein Licht. Und kein Laut. Es war ein Augenblick der Ewigkeit, der ihn vollkommen umfing.
Licht sickerte durch, füllte seine geschlossenen Augen mit einer Membran aus schimmernder Röte. Er schlug die Augen auf und hob den Kopf, um sich umzusehen. Um Heather zu entdecken oder den Arzt.
Er lag allein in dem Zimmer. Sonst niemand. Ein gesprungener Spiegel über einer abgenutzten Frisierkommode, hässliche alte Beleuchtungskörper, die aus fettigen Wänden ragten. Und irgendwo in der Nähe plärrte ein Fernseher.
Er befand sich nicht in einem Krankenhaus.
Und Heather war nicht bei ihm; er nahm ihre Abwesenheit wahr, das völlige Fehlen von allem, nur ihretwegen.
Mein Gott, dachte er. Was ist geschehen?
Die Schmerzen in seiner Brust waren verschwunden, aber zugleich auch so viel mehr. Zitternd schlug er die verdreckte Baumwolldecke zurück und setzte sich auf, rieb sich die Stirn, sammelte seine ganze Lebenskraft.
Das ist ein Hotelzimmer, erkannte er. Eine lausige, verwanzte, billige Absteige, keine Vorhänge, kein Bad. Wie die, in denen er vor Jahren gelebt hatte, am Anfang seiner Karriere. Damals, als er noch unbekannt war und kein Geld hatte. In den dunklen Zeiten, die er so gut wie möglich aus seinem Gedächtnis verdrängte.
Geld. Er griff nach seiner Kleidung und stellte fest, dass er nicht mehr das Krankenhaushemd trug, sondern, wenn auch zerknittert, wieder seinen maßgeschneiderten Seidenanzug. Und in der Innentasche war das Geld, das er nach Vegas hatte mitnehmen wollen – das Bündel Banknoten, von der Regierung beglaubigt.
Wenigstens das hatte er noch.
Hastig blickte er sich nach einem Telefon um. Natürlich war keines da. Aber in der Lobby würde es eines geben. Wen sollte er anrufen? Heather? Al Bliss, seinen Agenten? Mory Mann, die Produzentin seiner Fernsehshow? Seinen Anwalt Bill Wolfer? Oder vielleicht alle, so schnell wie möglich.
Unsicher kam er auf die Beine. Dann stand er schwankend da und fluchte aus Gründen, die er nicht verstand. Ein tierhafter Instinkt hielt ihn aufrecht; er wappnete sich, seinen kräftigen Sechser-Körper, für einen Kampf. Aber er konnte den Gegner nicht ausmachen – und das ängstigte ihn. Zum ersten Mal, solange er zurückdenken konnte, empfand er Panik.
Ob viel Zeit vergangen ist? Er konnte es nicht sagen, er hatte keinen Sinn dafür. Tag. Durch das schmutzige Fenster sah er Quibbels plärrend am Himmel dahinsausen. Er blickte auf seine Armbanduhr – sie zeigte halb elf. Und weiter? Es konnten tausend Jahre vergangen sein. Seine Uhr würde ihm nicht helfen.
Aber das Telefon. Er betrat den staubigen Flur, fand die Treppe, ging Stufe für Stufe hinunter, hielt sich am Geländer fest, bis er schließlich in der bedrückenden, leeren Lobby mit ihren schrecklich alten, viel zu weich gepolsterten Sesseln stand.
Zum Glück hatte er Kleingeld. Er warf ein Ein-Dollar-Goldstück in den Schlitz und wählte Al Bliss’ Nummer.
»Künstleragentur Bliss«, erklang Als Stimme.
»Hör zu«, sagte Jason. »Ich weiß nicht, wo ich hier bin. In Gottes Namen, komm mich holen. Hol mich hier raus, bring mich irgendwo anders hin. Verstehst du, Al? Verstehst du?«
Schweigen. Dann wieder Als Stimme, wie von weit her: »Mit wem spreche ich?«
Jason schnaubte seine Antwort.
»Ich kenne Sie nicht, Mr. Jason Taverner«, sagte Al in einem neutralen, reservierten Tonfall. »Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Nummer gewählt haben? Wen wollten Sie denn sprechen?«
»Dich, Al. Al Bliss, meinen langjährigen Agenten. Was ist denn im Krankenhaus passiert? Wie bin ich von dort hierhergekommen? Weißt du das nicht?« Seine Panik ließ etwas nach; er schaffte es sogar, dass seine Worte vernünftig klangen. »Kannst du Heather benachrichtigen?«
»Miss Hart?« Al gluckste. Und antwortete nicht.
»Du«, sagte Jason heftig, »bist die längste Zeit mein Agent gewesen. Aus, erledigt, vorbei. Egal, was es mit der Situation auf sich hat. Du bist gefeuert.«
Wieder gluckste Al in seinem Ohr, dann klickte es – und die Leitung war tot. Al Bliss hatte aufgelegt.
Ich bringe diesen Hurensohn um, dachte Jason. Diesen fetten, kahlköpfigen, kleinen Bastard zerreiße ich in der Luft, in zentimetergroße Stücke.
Was bezweckte er damit? Das verstehe ich nicht. Was hat er plötzlich gegen mich? Was habe ich ihm getan, um Himmels willen? Seit neunzehn Jahren ist er mein Freund und Agent. Und so etwas hat es noch nie zuvor gegeben.
Ich werde es mit Bill Wolfer versuchen, beschloss er. Er ist immer in seinem Büro oder von dort aus erreichbar. Ich werde ihn an die Strippe holen und herausfinden, was hier vorgeht. Er warf einen zweiten Golddollar in den Schlitz und wählte erneut aus der Erinnerung.
»Wolfer und Blaine, Rechtsanwälte«, erklang die Stimme der Empfangsdame in seinem Ohr.
»Ich möchte mit Bill sprechen«, sagte Jason. »Hier ist Jason Taverner. Sie kennen mich.«
»Mr. Wolfer ist heute bei Gericht. Möchten Sie stattdessen mit Mr. Blaine sprechen, oder soll ich veranlassen, dass Mr. Wolfer zurückruft, wenn er im Laufe des Nachmittags noch einmal ins Büro kommt?«
»Kennen Sie mich nicht? Wissen Sie nicht, wer Jason Taverner ist? Sehen Sie nicht fern?« In diesem Augenblick entglitt ihm seine Stimme, er hörte sie brechen und jäh ansteigen. Mit großer Anstrengung bekam er sie wieder unter Kontrolle, aber er konnte nicht verhindern, dass seine Hände zitterten; eigentlich zitterte sein ganzer Körper.
»Tut mir leid, Mr. Taverner«, sagte die Empfangsdame. »Ich kann wirklich nicht für Mr. Wolfer sprechen oder …«
»Sehen Sie fern?«
»Ja.«
»Und Sie haben noch nie von mir gehört? Die Jason Taverner Show, dienstagabends um neun?«
»Tut mir leid, Mr. Taverner. Sie sollten wirklich besser mit Mr. Wolfer direkt sprechen. Geben Sie mir die Nummer des Telefons, von dem Sie anrufen, und ich sorge dafür, dass er Sie heute noch zurückruft.«
Er legte auf.
Ich bin verrückt, dachte er. Oder sie ist verrückt. Sie und Al Bliss, dieser Hurensohn. Mein Gott. Zitternd entfernte er sich vom Telefon und setzte sich in einen der verblichenen, viel zu weich gepolsterten Sessel. Es war angenehm, zu sitzen. Er schloss die Augen und atmete langsam und tief. Und überlegte.
Ich habe fünftausend Dollar in Geldscheinen, von der Regierung beglaubigt, sagte er sich. Also bin ich nicht ganz verloren. Und dieses Ding, das sich an meine Brust geheftet hatte, ist verschwunden, einschließlich seiner Fressröhren. Es muss ihnen gelungen sein, sie im Krankenhaus chirurgisch zu entfernen. Wenigstens bin ich am Leben – darüber kann ich mich freuen. Hat es etwa einen Zeitsprung gegeben oder so etwas? Wo ist eine Zeitung?
Auf einer Couch in der Nähe fand er eine Los Angeles Times und überprüfte das Datum: 12. Oktober 1988. Kein Zeitsprung. Heute war der Tag nach seiner Show, der Tag, nachdem Marilyn ihn sterbend ins Krankenhaus geschickt hatte.
Ihm kam eine Idee. Er durchstöberte die Zeitung, bis er die Entertainment-Rubrik fand. Zurzeit trat er allabendlich im Persischen Saal des Hilton in Hollywood auf – schon seit drei Wochen, mit Ausnahme der Dienstage natürlich.
Die Anzeige, die das Hotel während der letzten drei Wochen für ihn geschaltet hatte, war allerdings nirgends zu finden. Erschöpft dachte er, dass sie vielleicht auf eine andere Seite geschoben worden war. Also ging er die Zeitung gründlich durch. Eine Anzeige für Entertainer nach der anderen – doch er wurde nicht erwähnt. Und dabei war sein Gesicht doch schon seit zehn Jahren fester Bestandteil zahlloser Blätter.
Einen Versuch mache ich noch, entschied er. Ich werde Mory Mann anrufen.
Er zog seine Brieftasche heraus und stöberte nach dem Zettel, auf dem er sich Morys Nummer notiert hatte.
Die Brieftasche war sehr dünn.
Alle seine Ausweiskarten waren verschwunden. Karten, die es ihm ermöglichten, am Leben zu bleiben. Karten, die ihn durch die Sperren der Pols und Nats brachten, ohne erschossen oder in ein Zwangsarbeitslager gesteckt zu werden.
Ohne Ausweis überlebe ich keine zwei Stunden, dachte er. Ich kann es nicht einmal wagen, aus der Lobby dieses heruntergekommenen Hotels auf die Straße zu gehen. Man wird mich für einen Studenten oder Dozenten halten, der von einem Campus entkommen ist. Mein restliches Leben werde ich mit schwerer körperlicher Arbeit verbringen müssen. Ich bin das, was man eine Unperson nennt.
Meine erste Sorge muss also sein, am Leben zu bleiben. Zum Teufel mit Jason Taverner, dem Fernsehstar – darum kann ich mich später kümmern.
Er spürte, wie sich in seinem Gehirn die mächtigen Konstituenten justierten, über die ein Sechser verfügte. Ich bin nicht wie andere Menschen, sagte er sich. Ich komme aus der Sache raus, was immer es ist. Irgendwie.
Zum Beispiel, überlegte er, kann ich mit dem vielen Geld, das ich bei mir habe, runter nach Watts gehen und gefälschte Ausweise kaufen. Eine ganze Brieftasche voll. Wenn ich richtig informiert bin, muss es Hunderte kleiner Fälscher geben, die sich danach die Finger lecken. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einen davon benötigen würde.
Nicht Jason Taverner. Nicht ein Entertainer mit einem Publikum von dreißig Millionen.
Gibt es denn unter diesen dreißig Millionen Menschen keinen, der sich an mich erinnert? Wenn ›erinnern‹ überhaupt das richtige Wort ist. Ich rede, als wäre jede Menge Zeit verstrichen, als wäre ich ein alter Mann, der seine Glanzzeit hinter sich hat und sich am einstigen Ruhm erfreut. Und darum geht es ja nun wirklich nicht.
Er ging wieder zum Telefon zurück und suchte die Nummer des Zentrums für Geburtenerfassung in Iowa heraus. Mit mehreren Goldmünzen und erst nach vielen Verzögerungen kam er schließlich durch.
»Mein Name ist Jason Taverner«, sagte er zu dem Sachbearbeiter. »Ich wurde am 16. Dezember 1946 im Memorial Hospital in Chicago geboren. Würden Sie mir das bitte bestätigen und mir eine Kopie meiner Geburtsurkunde schicken? Ich brauche sie für einen Job, für den ich mich bewerbe.«
»Ja, Sir.« Der Sachbearbeiter legte ihn in eine Warteschleife. Jason wartete.
Dann meldete sich die Stimme wieder: »Mr. Jason Taverner, geboren in Cook County am 16. Dezember 1946.«
»Ja.«
»Zurzeit haben wir hier keine Geburtserfassung für eine solche Person. Sind Sie ganz sicher, dass die Angaben stimmen, Sir?«
»Sie meinen, ob ich meinen Namen weiß und wann und wo ich geboren bin?« Erneut verlor Jason die Kontrolle über seine Stimme, aber diesmal ließ er es zu. Panik überkam ihn. »Danke«, sagte er und legte zitternd auf. Er zitterte an Körper und Geist.
Ich existiere nicht, dachte er. Es gibt keinen Jason Taverner. Es gab nie einen, und es wird nie einen geben. Zum Teufel mit meiner Karriere – ich will einfach nur leben. Wenn jemand oder etwas meine Karriere auslöschen will, in Ordnung, soll er doch. Aber darf ich denn nicht mal existiert haben? Wurde ich nicht einmal geboren?
Etwas regte sich in seiner Brust. Entsetzt dachte er: Sie haben die Fressröhren nicht vollständig herausgeholt, einige davon wachsen in mir weiter, benutzen mich als Nahrung. Diese verfluchte, untalentierte Schlampe! Hoffentlich endet sie als Strichmädchen, das für 25 Cent pro Stich die Straßen abflaniert.
Nach allem, was ich für sie getan habe. Zwei Termine zum Vorsingen habe ich ihr besorgt. Aber was soll’s – wenigstens habe ich sie oft flachgelegt. Damit sind wir wohl quitt.
Wieder in seinem Hotelzimmer, betrachtete er sich lange und eingehend in dem mit Fliegendreck gesprenkelten Spiegel über der Frisierkommode. Sein Aussehen hatte sich nicht verändert, außer dass er eine Rasur nötig hatte. Nicht älter – keine neuen Falten, kein graues Haar zu sehen. Die kräftigen Schultern und der Bizeps. Die fettfreien Hüften, die es ihm erlaubten, die gerade angesagte enganliegende Herrenkleidung zu tragen.
Und das ist wichtig für dein Image, dachte er. Was für Anzüge du tragen kannst, besonders die mit diesen kleinen Taillengrößen. Ich muss an die fünfzig haben. Oder gehabt haben. Wo sind sie jetzt? Der Vogel ist davongeflogen – und in welchem Garten singt er? Oder so ähnlich. Ein Spruch aus der Vergangenheit, aus seiner Schulzeit. Längst vergessen – bis zu diesem Augenblick. Seltsam, dachte er, was einem so durch den Kopf geht, wenn man in einer unvertrauten und bedrohlichen Situation ist. Manchmal das trivialste Zeug.
Wären Wünsche Pferde, könnten Bettler fliegen. Solcher Kram. Es kann einen in den Wahnsinn treiben.
Er fragte sich, wie viele Kontrollstellen der Pols und Nats wohl zwischen diesem elenden Hotel und dem nächsten Ausweisfälscher in Watts lagen. Zehn? Dreizehn? Zwei? Für mich genügt schon eine einzige. Eine Zufallskontrolle durch ein mobiles Einsatzkommando, das ständig mit dem Pol-Nat-Datenzentrum in Kansas City verbunden ist. Wo die Dossiers aufbewahrt werden.
Er krempelte den Ärmel hoch und betrachtete seinen Unterarm. Ja, da war sie – die eintätowierte Kennnummer. Sein somatisches Zulassungsschild, das er sein Leben lang tragen musste, das er eines Tages in das ersehnte Grab mitnehmen würde.
Die Pols und Nats in der mobilen Kontrollstation würden die Kennnummer nach Kansas City weiterleiten und dann – was dann? Gab es sein Dossier dort, oder war es ebenfalls verschwunden, wie seine Geburtsurkunde? Und wenn es nicht mehr existierte – welche Schlüsse würden die Pol-Nat-Bürokraten daraus wohl ziehen?
Ein Irrtum vielleicht. Jemand hat das Mikrofilmpaket, aus dem das Dossier bestand, falsch abgelegt. Es wird wieder auftauchen. Eines Tages, wenn es keine Rolle mehr spielt, wenn ich schon zehn Jahre in einem Steinbruch auf Luna verbracht habe. Ohne Dossier werden sie mich für einen entflohenen Studenten halten – weil es nur von Studenten keine Pol-Nat-Dossiers gibt, außer von den wichtigen, den Anführern.
Ich habe den tiefsten Punkt meines Lebens erreicht, an dem selbst eine bloße physische Existenz unmöglich erscheint. Ich, ein Mann, der gestern noch ein Publikum von dreißig Millionen hatte. Eines Tages werde ich einen Weg zu ihnen zurückfinden, irgendwie. Aber nicht jetzt. Erst kommen andere Dinge. Die Grundlagen des Daseins, mit denen jeder Mensch geboren wird – nicht einmal darüber verfüge ich. Doch ich werde sie mir verschaffen. Ein Sechser ist kein gewöhnlicher Mensch. Ein gewöhnlicher Mensch hätte das, was mir körperlich und psychisch widerfahren ist – besonders die Ungewissheit –, nicht so ertragen wie ich. Ein Sechser wird sich immer behaupten, unabhängig von den äußeren Umständen. Wir sind genetisch darauf programmiert.
Er verließ das Hotelzimmer wieder und ging die Treppe hinunter, zur Rezeption. Ein Mann mittleren Alters mit dünnem Schnurrbart saß dort und las eine Ausgabe des Box Magazine; er blickte nicht auf, sagte aber: »Ja, Sir?«
Jason zog sein Geldbündel heraus und legte einen 500-Dollar-Schein auf den Tresen. Der Hotelangestellte warf einen Blick darauf, dann noch einen, diesmal mit weit aufgerissenen Augen.
»Meine Ausweiskarten wurden mir gestohlen«, sagte Jason. »Dieser Schein gehört Ihnen, wenn Sie mich zu jemandem bringen, der sie ersetzen kann. Wenn Sie es tun wollen, tun Sie es gleich – ich werde nicht warten.« Warten, bis ich von einem Pol oder Nat aufgelesen werde, dachte er. Hier in dieser heruntergekommenen, schmierigen Absteige.
»Oder auf dem Gehsteig vor dem Eingang«, führte der Hotelangestellte Jasons Gedanken laut fort. »Ich bin eine Art Telepath, Sir … Ich weiß, dass dieses Hotel nichts Besonderes ist, aber wir haben kein Ungeziefer. Einmal hatten wir marsianische Sandflöhe, aber jetzt nicht mehr.« Er nahm den 500-Dollar-Schein. »Ich werde Sie zu jemandem bringen, der Ihnen helfen kann.« Nachdem er eingehend Jasons Gesicht betrachtet hatte, fügte er hinzu: »Sie halten sich für weltberühmt … Nun, hier tauchen die absonderlichsten Käuze auf.«
»Gehen wir«, sagte Jason grob. »Jetzt gleich.«
»Sofort.« Der Hotelangestellte griff nach seinem glänzenden Plastikmantel.
Seinen alten Quibbel langsam und lautstark durch die Straßen steuernd, sagte der Hotelangestellte zu Jason, der neben ihm saß: »Ich nehme in Ihrem Geist eine Menge seltsames Zeug wahr.«
»Verschwinden Sie aus meinem Kopf«, erwiderte Jason brüsk, voller Abneigung. Er hatte diese impertinenten, von Neugier getriebenen Telepathen noch nie gemocht. »Verschwinden Sie aus meinem Kopf und bringen Sie mich zu der Person, die mir helfen kann. Und halten Sie sich von Pol-Nat-Sperren fern – wenn Sie das hier überleben wollen.«