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Keine gewöhnliche Liebesgeschichte. Nicht der x-te Roman über gebrochene Herzen. Sondern viel mehr ... Ein hochemotionales Debüt über das Heranwachsen, große Träume und die Liebe in all ihren Facetten.
Nick und Anna lernen sich in den Sommerferien kennen. Anna ist mysteriös, wunderschön und ganz anders als Nick. Sie ist aufgewachsen in einer Welt, in der man sie von frühester Kindheit an auf das Ende aller Tage vorbereitet hat. In einer Welt, wo Weihnachten, Feste und ganz alltägliche Vergnügungen undenkbar sind. Als sie Nick begegnet, verliebt sie sich haltlos in ihn. Ihre gemeinsame Zeit verbringen die beiden Zigaretten rauchend, mit Musik, Lyrik und langen Gesprächen. Doch Anna, die an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht, hat Angst, alles aufzugeben, woran sie bislang geglaubt hat. Als sie sich von Nick abwendet, hält er sie nicht auf. Bis ein tragisches Ereignis die beiden eines Tages wieder zusammenführt …
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Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2022
Buch
Nick und Anna lernen sich in den Sommerferien kennen. Anna ist mysteriös, wunderschön und ganz anders als Nick. Sie ist aufgewachsen in einer Welt, in der man sie von frühester Kindheit an auf das Ende aller Tage vorbereitet hat. In einer Welt, in der Weihnachten, Feste und ganz alltägliche Vergnügungen undenkbar sind. Als sie Nick begegnet, verliebt sie sich haltlos in ihn. Ihre gemeinsame Zeit verbringen die beiden mit Musik, Lyrik, bei Zigaretten und langen Gesprächen. Doch Anna, die an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht, hat Angst, alles aufzugeben, woran sie bislang geglaubt hat. Als sie sich von Nick abwendet, hält er sie nicht auf. Bis ein tragisches Ereignis die beiden eines Tages wieder zusammenführt …
Autorin
Jodie Chapman wurde in Kent geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt. Bevor sie sich ihrer eigentlichen Leidenschaft, dem Schreiben, zuwandte, arbeitete sie über zehn Jahre als Hochzeits- und Porträtfotografin. Die ersten 35 Jahre ihres Lebens war sie in einer Religionsgemeinschaft, eine Erfahrung, die sie in ihrem Debüt, »Eine ganze Liebe lang«, auf beeindruckende Weise verarbeitet.
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Jodie Chapman
Eine ganze Liebe lang
Roman
Aus dem Englischen von Leena Flegler
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Another Life« bei Michael Joseph, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2021 by JB Creative Ltd
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Susann Rehlein
Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de
KW Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-26664-6V003
www.blanvalet.de
Für Gregund fürRoman, Remy und Val
Has it ever struck you that life is all memory, except for the one present moment that goes by you so quick you hardly catch it going?
Tennessee Williams
TEIL EINS
2018
Beim ersten Mal klappte es nicht.
Mein kleiner Bruder war an Heiligabend vormittags aus dem Fenster seiner Wohnung in Manhattan gesprungen. Er fiel sieben Stockwerke tief und landete in einem Container. Ein guter Meter frisch gefallenen Schnees rettete ihn, federte den Aufprall ab. Der Schnee war die ganze Nacht herabgerieselt und hatte noch nicht aushärten können. Dass er so weich war, führte wiederum dazu, dass mein Bruder erst drei Stunden später gefunden wurde, als seine Putzhilfe die verwaiste Wohnung betrat und das sperrangelweit offene Fenster entdeckte. Sieben Stockwerke, ein guter Meter Schnee und drei Stunden, die er in den Himmel starrte. So weit die schicksalhaften Fakten.
Der Anruf kam zu Beginn der Londoner Rushhour, nach einem Arbeitstag voller Besprechungen in stickigen, fensterlosen Büros. Ich hatte wenig Hoffnung, vor acht eine Bahn zu erwischen, und machte mich schon auf die Standpauke gefasst, sobald ich durch die Tür käme. Stattdessen klopfte es an der Glastrennwand zwischen den Büros, und Jackie winkte mir hektisch zu. »Nick, es ist etwas passiert!«
Zwölf Stunden später betrat ich das Krankenhauszimmer, in dem er an zig Geräten hing, und unwillkürlich stand mir ein Bild von uns beiden als kleinen Jungs vor Augen: Arzt und Patient, meterweise rote Wolle aus Mums Wollkorb zwischen Handgelenk und Pappkarton. Wir hatten sogar die Geräusche imitiert – ein lang gezogenes, leises Piepsen, die düstere Diagnose, eine schluchzende Ehefrau. Fast dreißig Jahre danach spielten wir wieder. Nur dass diesmal das Piepsen echt war und niemand schluchzte.
»Du siehst scheiße aus.«
Ich nickte. »Wo ist Tilly?«
Er drehte sich weg und sah aus dem Fenster. »Wir haben uns getrennt.«
Nach Aussage des Arztes hatte er sich die untere Hälfte der Wirbelsäule zertrümmert. Er sei von der Taille abwärts gelähmt und könne von Glück sagen, dass er noch lebe. Gehen werde er nie wieder.
Als er schließlich entlassen werden konnte, brachte ich ihn zurück in seine Wohnung und baute sein neues Bett im Wohnzimmer auf. Von dort hatte man die beste Aussicht, sprich: nicht auf eine Klinkermauer und in die winzigen Fenster, hinter denen sich das Leben anderer Leute abspielte, sondern zwischen zwei Hochhäusern hindurch auf ein Stück Blau.
Ich blieb fast vier Monate bei ihm. Manchmal sahen wir fern oder spielten Karten; manchmal saßen wir nur stumm zusammen, als würden wir damit rechnen, dass gleich etwas passierte. Anfangs hatte ich noch darüber nachgedacht, ihr zu kündigen, aber Gloria entpuppte sich schon bald als meine Rettungsleine – die Möglichkeit, mal an die frische Luft zu kommen und etwas anderes zu sehen als meinen zusehends verkümmernden Bruder.
Ich versah sämtliche Fenster mit Schlössern und machte nur dann eins auf, wenn ich danebenstand. Die Wahrscheinlichkeit, bei lebendigem Leib zu verbrennen, war geringer als die eines neuerlichen Selbstmordversuchs. Ich warf meinen Rasierer weg und ließ mir erstmals seit fast zehn Jahren einen Bart wachsen. Gürtel wurden konfisziert, Messer weggeräumt, Kopfschmerzen ausgesessen. Ich wollte kein Risiko eingehen.
Auch das Telefon nahm ich ihm weg, legte es außer Reichweite oder in die Küche. Er fragte nur selten danach, trotzdem lud ich es regelmäßig auf.
Mindestens einmal am Tag rief Tilly an. Er wollte sie nicht sprechen, und nach ein paar Wochen stellte ich es auf stumm. Nun tauchte nur noch ihr Bild auf dem Display auf. Über die kokett entblößte Schulter warf sie mir Blicke zu wie eine spindeldürre ingénue, und ich starrte auf das Handy und hasste es und dachte darüber nach, es gegen die Wand zu schmettern. Trotzdem ließ ich es vibrieren.
Eines Abends, nach einem besonders schwierigen Tag, an dem er kein Wort herausgebracht hatte, schnappte ich mir das bebende Telefon vom Küchentisch, drehte mich von der Wohnzimmertür weg und ging ran.
»Was?«
»Mon amour! Oh, mein armer süßer Salvatore!« Ihr Akzent drillte sich tief in die Stille des vergangenen Monats.
»Hier ist sein Bruder.«
»Oh.« Pause. »Ist Salvatore zu sprechen?«
»Er will nicht mit dir reden, Mathilde.« Ich wusste, dass sie ihren Namen hasste.
»Sag ihm, dass er mir fehlt.«
Ich überlegte kurz, das Handy aus dem Fenster zu werfen. Damit der Schnee sie zum Schweigen brachte. »Sonst noch was?«
»Sag ihm … Sag ihm, dass ich verloren bin ohne ihn …« Ich hörte, wie die Perlchen ihres Rosenkranzes gegen ihr Handy klapperten, und sah sie vor mir, wie sie im Spiegel ihr Haar zurechtzupfte. »Sag ihm, ich hab mich von Chet getrennt, weil ich nie einen anderen lieben könnte, wie ich meinen Salvatore liebe. Könntest du ihm das ausrichten, Schätzchen?«
»Mathilde?«
»Hm?«
»Bitte ruf nicht mehr an.« Fluchend warf ich das Handy beiseite und erwartete schon, im nächsten Moment meinen Namen zu hören. Aber es kam nur Schweigen.
Sobald sich die Kälte allmählich verzog, kehrte eine gewisse Sanftmut in die Stadt zurück. Die Bäume entlang der asphaltierten Avenuen trieben aus, und die Menschen auf den Straßen streiften ihre Mäntel ab. Mit dem bevorstehenden Frühling schien sich draußen jeder zu entspannen. Drinnen blieben Gloria und ich auf der Hut.
Irgendwann Anfang April veränderte sich etwas zwischen uns. Es war mein Fehler, mein bescheuertes Bedürfnis, Gemeinsamkeit zu erzeugen. In der antiquarischen Abteilung einer Buchhandlung an der Ecke 12th und Broadway hatte ich einen kleinen Longfellow-Gedichtband aufgestöbert und konnte gar nicht schnell genug daheim sein.
»Weißt du noch?« Ich drückte ihm das Büchlein in die Hand und tippte auf die Überschrift auf einer Seite. Die Stunde der Kinder. »Wie Dad uns das immer fast vorgespielt hat? Danach konnte keiner von uns mehr schlafen.«
Sal starrte die Seite an und sagte nichts.
»Na?« Meine Aufregung war das einzige Licht im Zimmer.
»Warum willst du dich immer an Sachen erinnern?«
Zum Abendessen machte ich Bohnen auf Toast. Den Winter über war ich beim Kochen ziemlich gut geworden und hatte die Zeit genutzt, um mit Zutaten zu experimentieren und jene endlosen Tage mit ein bisschen Wagnis zu würzen. Ich hatte die fortgeschrittene Version einer Ratatouille zubereitet – das Gemüse hatte ich aus naheliegenden Gründen zuvor klein geschnitten – und sogar die Kunst des Soufflés gemeistert. Doch an diesem Abend gab ich mir so wenig Mühe wie er. Ich konnte meine Wut nicht in Worte fassen, also setzte ich sie ihm stattdessen vor, indem ich den Teller mit Wucht auf sein Betttablett donnerte.
Verblüfft sah er zu mir hoch, und ich schämte mich.
Später in der Nacht wachte ich auf und hörte ihn schluchzen. Ich taumelte verschlafen ins Wohnzimmer, und da lag er – auf seine Ellbogen hochgestemmt, den starren Blick auf seine toten Beine gerichtet und weinend wie ein Baby. Seine Haut fühlte sich in meinen Armen kalt und klamm an, und sein T-Shirt war nass geschwitzt.
»Ich kann sie nicht …« Seine Stimme überschlug sich wie die eines Kindes. »Ich kann sie nicht mehr sehen … Sie ist in meinem Kopf, wenn ich die Augen zumache. Aber sie spricht nie mit mir, und ich wünschte mir einfach nur, sie würde irgendwas sagen, damit ich noch mal ihre Stimme höre. Wo ist sie?«
Mir war klar, dass er nicht von Tilly sprach.
»Ich weiß es nicht, Sal.«
»Sehen wir sie je wieder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Keine Ahnung.«
Sal hatte immer schon Antworten gewollt. Als wir Teenager waren, hatte Tante Stella uns bei ihr in der Firma Praktikumsplätze organisiert. Dort verkauften sie Versicherungen, und unsere erste Aufgabe war, Neukunden in die Datenbank einzugeben.
Mandy, unsere Praktikumsbetreuerin, hatte eine Stimme, die man wohl am treffendsten als Klagegesang beschrieb, eine hohe Dauerwellenfrisur und Brillengläser wie Flaschenböden, und wenn sie mit dem Wasser aus dem Tank an der Wand Kaffee kochte, bildete sich darauf immer flockiger Schaum. Als sie uns an unserem ersten Praktikumstag Kaffee anbot, entschlüpfte Sal ein Würgelaut. »Den Tank sollten Sie mal sauber machen lassen«, sagte er und verzog das Gesicht. »Ach was, ich mag das so«, entgegnete sie mit einem kleinen Schmatzen. »Ist wie Cappuccino.«
Schlürfend setzte Mandy sich zu uns und wies uns in die Dateneingabe ein. Rückblickend dürfte sie kaum älter als vierzig gewesen sein, aber damals kam sie uns uralt vor. Sie hatte den Posten seit Jahrzehnten und schien damit eindeutig zufrieden zu sein. Ihre Hamsterbacken bebten vor Glück, weil sie dieses Quäntchen Macht über uns hatte. »Hier den Namen eingeben, als Nächstes das Merkmal aus dem Drop-down-Menü, dann Enter. Hier die Adresse – die Postleitzahl ins Feld Postleitzahl – , dann dieses Kästchen anklicken und wieder Enter. Dann …«
»Aber warum?«, ging Sal dazwischen.
»Warum was?«
»Das Kästchen. Warum muss das angeklickt werden?«
Mandy runzelte die Stirn. Wir konnten die Rädchen regelrecht rattern hören. »Mach’s einfach.«
»Passiert da was im Hintergrund?«, fragte er und trommelte mit den Fingern. »Ich meine, warum klicken wir es an? Was, wenn wir es nicht anklicken?«
Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und fühlte sich sichtlich unwohl, weil er sie aus dem Konzept gebracht hatte. »Ich … Warum … spielt doch wohl keine Rolle. Ich weiß nur, dass es so funktioniert. Wir haben das Kästchen nie nicht angeklickt.«
Sal seufzte und drehte seinen Stuhl wieder in Richtung Bildschirm. »Okay, meinetwegen. Ich finde nur, wir sollten wissen, warum das wichtig ist.«
Dieses Praktikum war und blieb Sals einziger Bürojob. Aber die Frage nach dem Warum stellte er weiter.
»Erzähl mir von ihr«, sagte er jetzt und krallte sich ins Laken. »Ich fange an, Einzelheiten zu vergessen, und das darf ich nicht. Erzähl mir, woran du dich noch erinnerst.«
Ich wich leicht zurück. »Ich weiß nicht, was du jetzt von mir willst.«
»Die Wahrheit. Ich will die Wahrheit. Bitte.«
Ich schluckte trocken. »Ich hab vorhin versucht, über Dad zu reden …«
»Über ihn will ich nicht reden. Und du ebenso wenig. Warum kannst du nie über das reden, was wichtig ist?«
Durchs Fenster war gelbes Scheinwerferlicht zu sehen. In der Dämmerung flackerten Neonlichter. Jenseits geschlossener Fenster drehte sich die Welt weiter.
Sal rieb sich mit den Handrücken über die Augen. »Ich muss sie wiedersehen. Ich hab es so satt zu warten.« Er gestikulierte in Richtung seiner Beine unter der Decke. »Was hab ich denn noch zu erwarten?«
»Du weißt, dass sie dich geliebt hat«, sagte ich nach einer Weile. »Und du weißt, dass es nicht deine Schuld war. So was passiert.«
Sal sah mich an, als wäre ich minderbemittelt.
»Nach all der Zeit kapierst du es immer noch nicht, was? Es war meine Schuld. Ich bin der Grund.«
Wenn ich geahnt hätte, dass dies das letzte Mal wäre, hätte ich ihn an mich gezogen und seine kaputten Beine und sein schlagendes Herz umarmt. Ich hätte ihn davon überzeugt, dass er noch unendlich viel zu erwarten hätte, dass es irgendwann leichter würde, und hätte vor jede Schranktür Schlösser gehängt.
Stattdessen passierte Folgendes.
Zusammengekauert schlief ich am Fußende seines Bettes ein, und als am folgenden Morgen wie immer Gloria kam, ging ich unter die Dusche und beschloss, fünfzehn Blocks entfernt an der Spring Street in einer Bäckerei diese kleinen Törtchen zu kaufen, die Sal so gern mochte. Als ich am Wohnzimmer vorbeiging, lag er im Bett und schlief.
Draußen heizte New York sich allmählich auf. Ich überquerte die Straße, um in den Schatten zu kommen, und kam an zwei vielleicht neunzehnjährigen Mädchen vorbei, von denen eins über etwas lachte, was das andere gesagt hatte. Sie trugen Sommerkleider, die Schultern waren unbedeckt, und als ich mich nach ihnen umdrehte, schoss mir durch den Kopf, dass das Leben eine Mischung aus Trauer und Schönheit war und man rein gar nichts dagegen tun konnte.
Der Anruf kam, kaum dass ich die Bäckerei verlassen hatte. Es war kurz nach acht.
Ein Kurierfahrer hatte geklingelt. Gloria hatte noch schnell die Fenster überprüft und war ihm entgegengelaufen. Sie sei keine sechs Minuten weg gewesen, um die Sendung entgegenzunehmen und zu quittieren, sagte sie.
In diesen sechs Minuten hatte mein kleiner Bruder sich aus dem Bett gewälzt, seine kaputten Beine quer über den Teppichboden in die Küchenecke geschleift, den Unterschrank aufgemacht, die Flasche aufgeschraubt und den Rest Bleiche in sich hineingekippt.
Ich muss oft an unseren letzten gemeinsamen Tag denken. An meine idiotische Freude über den Gedichtband und an unsere Kindheitserinnerung, an sein Gesicht, als ich ihm den Teller hindonnerte, und dann denke ich immer daran, dass ich ihm als Henkersmahlzeit beschissene Bohnen mit Toast hingestellt habe.
Ich weiß, die Leute lieben New York.
Irgendwie lebt es in allem und jedem – in Weihnachtsfilmen aus der Kindheit, in Bob Dylan und den toten Dichtern der Beatgeneration, in Sal, der mit einem Touristenvisum ein- und nie wieder ausreiste, und in anderen, die immer davon sprechen, dorthin zurückzukehren. Selbst Leute, die nie dort waren, haben das Gefühl, die Stadt zu kennen. Ich muss zugeben, dass auch ich immer darüber nachgedacht habe, mal hinzureisen, die City Hall zu sehen und die Stadt zu lieben, weil sie sie liebte. Wann immer ich mich selbst in New York sah, sah ich mich dort mit ihr und als hätte ich irgendwie gewonnen.
Doch mein erster Besuch war eine Rettungsaktion, und als ich abreiste, hatte ich meinen Bruder in einer Kiste dabei. Ich hatte versagt, und es fühlte sich an, als hätte die Stadt auch versagt.
Ich weiß, die Leute lieben New York.
Ich hasse es.
Anna
2003
Wir lernten uns Anfang des Sommers kennen. Sie trug ein Kleid mit schmalen Trägern, die ihr in die Schultern schnitten, und ich starrte ihren Körper an, wann immer sie es nicht bemerkte. Es war ein Spiel, das ich im Kopf mit mir selbst spielte: Starr nicht ihre Brüste an, starr nicht ihre Brüste an, wiederholte ich unablässig und starrte stattdessen ihre Lippen an. Auf die Weise kam ich mir weniger abstoßend vor. Aber ihr Körper … und wie ihr Kleid ihre Silhouette umspielte …
Ich weiß, ich sollte sagen, es sei das allgegenwärtige Blühen gewesen. Dass ich mich nur deshalb an die Jahreszeit erinnern kann, weil überall noch die letzten Blüten des Frühlings am Boden lagen. Aber wem will ich was vormachen. Es war das Kleid und ihr Körper in diesem Kleid.
Scheiß auf Keats. Männer sind alle gleich. An irgendwelche Blüten erinnern wir uns nicht.
Späte Achtziger
Zeit heilt alle Wunden, heißt es immer.
Es passiert etwas, und dein Gehirn speichert sämtliche Einzelheiten ab, aber mit der Zeit verblasst das Bild, bis nur noch vage Konturen bleiben. Mit Mum war es genau umgekehrt. Als sie gerade erst gegangen war, war sie auch weg aus meinem Kopf. Ich nehme an, ich habe die Erinnerungen verdrängt – aus Selbstschutz wahrscheinlich – , doch als ich älter wurde, gab es immer wieder Momente, in denen sie mich heimgesucht haben. Als wären sie zuvor sicher verstaut gewesen, bis ich alt genug wäre, um mit dem Schmerz klarzukommen.
Einige Erinnerungen waren direkt mit meinen Sinnen verdrahtet. Ich hörte einen Song oder ging eine bestimmte Straße entlang, und da war es wieder. Dann hielt ich inne und kostete die Erinnerung bis zuletzt aus.
Ich weiß noch genau, wie sich die Haut an ihren Fingern anfühlte, dass sie rau wie ein Wundverband war, wenn man sie berührte. Ihre Hände waren vom Wasser und Spülmittel ausgetrocknet, weil sie unseretwegen so oft Geschirr spülen musste, und um die Fingernägel lag das Fleisch bloß, weil sie daran herumknabberte. Manchmal legte sie beide Hände um mein Gesicht, und ihre Haut auf meiner machte ein Kratzgeräusch.
Sal hat mir mal erzählt, dass er sich am deutlichsten daran erinnern konnte, wie er mit ihrem Haar spielte.
Sie saß dann immer in dem hellgrünen, mit Vögeln und Blumen gemusterten Sessel, den sie und Dad von ihrem Hochzeitsgeld bei Harrods gekauft hatten, und löste ihr goldblondes Haar. Sal und ich taten so, als wären wir Friseure, und abwechselnd bürsteten wir sie und steckten ihr die Locken mit Klammern hoch. »Macht mich schön, Jungs«, sagte sie immer, sobald sie sich hingesetzt hatte. »Ich will heute Abend hübsch aussehen.« Ihr Haar war dick und geschmeidig, und ich wünschte mir, ich hätte ihr irgendwann eine Locke abgeschnitten und in einen Briefumschlag gesteckt, wie manche Eltern es tun, wenn sie ihrem Kind das erste Mal die Haare schneiden.
Und Geräusche.
Einmal saß sie auf einer Bank und sah zu, wie wir an einem Klettergerüst herumtollten. Die Betonplatten schimmerten noch vom Regen, der am Morgen gefallen war. Ich hing an einer Kletterstange, und auch die muss nass gewesen sein, weil ich abrutschte und mir den Knöchel verknackste. Kaum dass ich dalag und mir den Fuß hielt, stürzte sie auf mich zu. Es ist schwer zu beschreiben, dieses spezielle Geräusch, das ihre Ledersohlen auf dem feuchten Boden machten – wie ein nasses, blank gewienertes Pochen. Vielleicht fünf Jahre später war ich auf dem Heimweg von der Schule, und ein Mädchen rannte an mir vorbei. Sie muss dieselbe Art Schuhe getragen und es musste zuvor geregnet haben, weil ihre Schritte sich genau gleich anhörten.
Ich weiß noch, wie ich mir auf die Faust biss und den Geschmack von Blut auf der Zunge hatte.
Und dann Dad.
Dad packte uns jedes Jahr an Weihnachten ins Auto und fuhr mit uns durch unser Viertel, damit wir uns die Weihnachtsdeko der Nachbarn ansehen konnten. Mum hatte eine Thermosflasche mit warmem Kakao gemacht, und langsam rollten wir durch die Straßen – jeder mit einem Emaillebecher in der Hand – , drehten die Köpfe und waren von dem Anblick draußen verzückt. Damals blieb bei uns nie viel Geld übrig, und Dad sah nicht ein, warum er auf einen Samstag auf dem Golfplatz oder auf ein Fußballspiel verzichten sollte, um meterweise Lichterketten zu entwirren. »Man sieht sie sowieso besser von der Straße aus«, sagte er. »Warum Zeit und Geld verschwenden, nur damit die Nachbarn einen schönen Ausblick haben? Dabei kriegen wir ihre Deko gratis zu sehen.«
Sozialsiedlungen waren für Kitsch immer die erste Adresse. Dort übertrafen sie sich gegenseitig. »Weiß nicht, wo die das Geld hernehmen«, schnaubte Dad und rief dann in Richtung eines riesigen aufblasbaren Weihnachtsmanns: »Schaut euch das an, Jungs!«
Die Sackgasse hoben wir uns immer bis zuletzt auf. Am hinteren Ende einer lang gezogenen, schnurgeraden Sechzigerjahre-Wohnanlage standen zu beiden Seiten kastenförmige Reihenhäuser und an der Stirnseite ein großer Bungalow, den man schon von Weitem sah, sobald man in die Straße abbog. Der Bungalow war jedes Jahr wieder die Nummer eins. Angeblich lebte dort ein kinderloses älteres Ehepaar, und im Dezember dekorierten die zwei ihr Haus, damit die Nachbarskinder zu ihnen pilgerten. Sie wollten, dass sich jemand an sie erinnerte, und wenn es nur die Kinder anderer Leute waren.
»Bereit, Sal?«, fragte Dad immer, sobald er den Blinker setzte. Sal war jedes Mal ganz aus dem Häuschen. Keine Ahnung, ob es daran lag, weil wir uns dem Bungalow näherten oder weil Dad nur ihn angesprochen hatte.
Ein riesiger Tannenbaum war über und über mit blinkenden Lichterketten umwickelt. Im Vorgarten stand eine Krippe, rundherum grün und rot gekleidete Elfen mit Schnabelschuhen. Auf dem Garagendach thronte ein gigantischer Weihnachtsmann auf seinem Schlitten – samt Glöckchen und Geschenken und dem galoppierenden Rudolph. Zuckerstangen säumten den Gartenweg, ein Schneemann hielt vor der Haustür Wache, und in jedem einzelnen Fenster glänzten Lichter in sämtlichen Formen und Farben. Entlang der Kanten des Hauses, rund um Fenster und Türen hingen weiße Lichterketten, und wenn man nur lange genug hinstarrte und dann die Augen zukniff, sah man das Haus trotzdem weiter vor sich. Wann immer Sal und ich Häuser zeichneten, hatten sie die Form des Bungalows am Ende der Sackgasse. Ich frage mich, ob er ihn je vergessen konnte, ich jedenfalls nicht.
Eine andere Erinnerung ist Mum ganz nah neben Dad, er hat den Arm um sie gelegt und hält mit der freien Hand das Lenkrad. Sie sitzen auf einer Ledersitzbank, wie sie in Fünfzigerjahre-Oldtimern typisch waren, und Mum hat den Kopf auf Dads Schulter gelegt. Er hat den Kragen hochgeschlagen und nickt zum Takt eines Weihnachtslieds aus dem Radio. Ihre Gesichter sehen jung aus.
Nur dass wir nie einen Oldtimer hatten. Als ich ihn Jahre später danach fragte, meinte Dad, dass er auch nie einen Wagen mit Sitzbank hatte. Womöglich stammt die Erinnerung von einem LP-Cover oder aus einem alten Film oder einem Traum. Trotzdem hat die Szene sich mir ins Gedächtnis eingebrannt, und ich könnte auf irgendeine heilige Schrift schwören, dass es genau so war – genau wie ich mich noch an das Knirschen der Reifen auf dem Schnee erinnern kann und an den Geruch, der aus der Quality-Street-Dose aufstieg, die wir am Weihnachtsmorgen öffneten.
Ich werde für alle Zeit hoffen, dass es so war wie in meiner Erinnerung.
2003
Anna hatte einen Freund, als wir uns kennenlernten. Zumindest am Anfang. Er war wohl die Sommerferien über in Australien, aber niemand wusste Genaueres, und ich habe nicht gefragt. Irgendwann unterhielten sich ein paar Mädchen im Pausenraum darüber, dass sie die beiden nie zusammen gesehen hätten. Eine bezweifelte, dass es ihn überhaupt gab. Ihre Freundin Lisa setzte dem Ganzen ein Ende. »Sie haben gerade Beziehungspause«, sagte sie, wollte jedoch keinen Grund nennen. »Aber natürlich gibt es ihn.«
Sie war niemand, der sich darüber Gedanken machte, was andere von ihr hielten. Das war mit das Erste, was mir an Anna auffiel. Und die Art und Weise, wie sie sich mir bei meiner ersten Schicht vorstellte. Nicht einmal im unvorteilhaften Kinokittel konnte man sie übersehen. Die anderen Mädchen fanden sie verwachsen, und ja, ihr Gesicht hatte etwas Fremdartiges – ihr Schädel sah nach Kühnheit und Stärke aus. Nichts daran wirkte zart. Ich hatte noch nie ein Gesicht wie ihres gesehen, und wann immer sie den Pausenraum verließ, brachen sofort heftige Diskussionen über ihr Äußeres los. Ich beteiligte mich nicht daran. Für mich sah sie völlig in Ordnung aus.
Wir schoben nach einer ausverkauften Vorstellung zusammen die Flügeltüren auf. Welcher Film es war, habe ich vergessen. Sobald der Abspann anlief, bezogen wir Posten an der Tür, und die Kinobesucher strömten an uns vorbei nach draußen. »Hi, ich bin Anna«, sagte sie und hielt mir die Hand hin. »Du bist neu, oder?«
Ich muss irgendetwas gemurmelt haben, als ich ihr die Hand gab. Mit neunzehn ist man es nicht gewöhnt, jemandem die Hand zu geben oder sich förmlich vorzustellen, aber wie schon gesagt, sie war anders. Ich weiß nicht mehr, wie ich an ihre Telefonnummer kam, aber das Leben besteht aus lauter kleinen Siegen, an die man sich später nicht mehr erinnert.
Während der nächsten Schicht waren wir zusammen im Pausenraum. Als ich das fensterlose Zimmer betrat, saß sie am Tisch, hatte ein Wasser vor sich und ein Buch. Sie lächelte mir flüchtig zu und las weiter. Ein Typ namens Dave kam rein, fing an, ein Mädchen zu beschreiben, das er gerade bedient hatte, und zählte auf, was er gern mit ihr machen würde. Als Anna nicht einmal aufblickte, versuchte er es anders und tönte laut, im Zeitalter des Internets seien Bücher ja wohl reine Zeitverschwendung. Anna ignorierte ihn immer noch. »Was magst du an Mädels?«, fragte er mich und leierte eine Liste mit Attributen herunter, die er anziehend fand: ordentlich Titten, rote Haare, versaut, aber nicht nuttig. Achselzuckend antwortete ich, dass ich kein festes Beuteschema hätte, aber grundsätzlich auf Mädchen mit Köpfchen stünde. »Ah, klar, die Sexy-Bibliothekarinnen-Nummer«, sagte Dave und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, »und sie dann auf einem Bücherstapel so hart rannehmen, dass ihr die Brille runterrutscht.« Er kicherte in sich hinein. »Na, so auch wieder nicht«, entgegnete ich. »Eher eine, die selber liest.« In diesem Moment sah Anna mich an.
»Du weißt schon, dass sie dich nicht vögeln wird, oder?«, sagten die anderen. »Wir haben’s alle probiert. Eiserne Jungfrau und so.«
Anna gehörte einer dieser Religionsgemeinschaften an, die auf alles Normale herabschauen. Weihnachten, Geburtstage, Besäufnisse, Sex vor der Ehe – alles verboten. Ihr Freund war im selben Verein. Wahrscheinlich hätte manch einer es als Sekte bezeichnet, aber so weit will ich gar nicht gehen. Soll doch jeder machen, was er will. Hin und wieder landet einer ihrer Flyer in meinem Briefschlitz. Erst letzte Woche habe ich einen von meiner Fußmatte geklaubt, direkt zusammengeknüllt und in den Müll geworfen.
Anfangs redeten wir nicht viel. Wir waren beide für den Kinosaal eingeteilt, gingen nach Filmende durch die Reihen und sammelten Popcorntüten und Pappbecher ein. Der Abspann lief noch, wenn wir bereits im Dunkeln sauber machten. Bei gut besuchten Vorstellungen waren wir mehr Leute, die die Hinterlassenschaften der Besucher beseitigten, ehe die nächsten kamen. Einige Jungs trällerten beim Abspann mit oder spielten Baseball mit ihrem Besen und einem leeren Getränkebecher – normalerweise immer dann, wenn ein Mädchen anwesend war. Gelegentlich bedachte Anna sie mit einem Lächeln, aber sie blieb für sich.
Bis sich am ersten heißen Wochenende zu Beginn des Sommers schlagartig alles veränderte.
Ein paar von uns wollten den Nachmittag bei der alten Kirche in Eastwell verbringen, abhängen und baden gehen. Anna wolle zusammen mit Lisa kommen, hatte Dave erwähnt – und vielleicht auch ein paar andere Mädels. Er fragte, ob ich mitkäme. Mal sehen, sagte ich.
Eastwell war nicht weit weg, sodass ich am Sonntagnachmittag die Biere einpackte, die ich nach meiner vorigen Schicht gekauft und kalt gestellt hatte, und über die Felder zur Kirche schlenderte. Normalerweise brauchte man bis dort etwa fünfzehn Minuten, doch an jenem Tag klebte einem die schwüle Hitze schier auf der Haut. Ich ging es langsam an. Ein Auto überholte mich – Ellbogen in allen Fenstern, irgendein Charthit dröhnte aus den Lautsprechern. Ich erkannte Lisas Auto wieder und fragte mich, ob einer der Ellbogen zu Anna gehört hatte.
Die Kirche war eine Ruine aus dem fünfzehnten Jahrhundert inmitten von Grabsteinen, die längst zu verfallen waren, als dass man die Inschriften noch hätte lesen können. Angeblich spukte es dort. Ich war als Kind einmal dort gewesen, Sal und ich waren von Grab zu Grab gesprungen und hatten uns zu den Toten Geschichten ausgedacht.
Noch bevor ich sie sehen konnte, konnte ich sie hören.
Zwei Autos parkten unter einem Baum, und sie alle lagen in Badesachen im Gras und lachten über irgendeinen Witz. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und das Wasser schimmerte wie Glas.
Einer von ihnen hatte mich kommen sehen und winkte mir zu, woraufhin sich die anderen ebenfalls umdrehten. Ich rieb mir den Kopf und antwortete mit einem vagen Nicken. Sie war nicht dabei.
Lisa keifte Dave an. Sie hatte eine offene Tube Sonnencreme in der Hand und auf dem Arm weiße Streifen, die sie noch verreiben musste, nur dass er eine Handvoll Gras nach ihr geworfen hatte, das jetzt auf ihrer Haut klebte. Während sie ihn beschimpfte, nippte er an einem Red Bull und lachte. Alle lachten. Sie war nicht dabei.
Ich nahm eine Dose aus der Plastiktüte und bot sie reihum an. Eins der Mädchen streckte sich danach und streifte mich mit den Fingern. Sie lächelte, schob die Brust raus, schlug kurz die Beine übereinander. Ich nahm mir ein frisches Bier und schlenderte runter ans Wasser.
Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, warum sie nicht gekommen war.
Entlang des Seeufers standen Bäume, und es gab eine kleine Brücke. Tiefer hinein sah das Wasser dunkel und veralgt aus. In Ufernähe war es heller, auch wenn man, ohne hineinzuwaten, unmöglich einschätzen konnte, wie tief es da war. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, und mein Spiegelbild war leicht verzerrt.
»Komm rein«, rief jemand.
Erst als ich mich umdrehte, entdeckte ich sie. Anna. Sie lehnte an ein paar Steinbrocken. Ihre untere Körperhälfte war im Seewasser nicht zu erkennen.
Lächelnd hob ich die Bierdose. »Ich würde ja, aber …«
»Ich hab Zeit«, erwiderte sie. »Aber durstig wäre ich auch.«
Sie stieß sich von den Steinen ab, glitt auf mich zu, und ich beugte mich vor und reichte ihr die Dose. Sie nahm einen großen Schluck. Ihr nasses Haar war pechschwarz.
»Danke.« Sie gab mir die Dose zurück. »Dann trink jetzt aus.«
Ich nickte zum Wasser. »Ist das tief?«
Sie grinste, und ihre Augenbrauen zuckten. »Spring rein und find’s raus«, sagte sie, drehte ab und schwamm davon.
Eine Weile blieb ich stehen und blickte über den See. Ich versuchte, über sie hinwegzusehen, während sie dort auf dem Rücken trieb, und hielt den Blick in die Ferne gerichtet, aber ständig fing sich die Sonne auf ihrer Haut. Sie trug einen rot-weiß gestreiften Bikini und hatte die Augen geschlossen.
Sobald ich mein Bier ausgetrunken hatte, ließ ich die Dose ins Gras fallen und zog T-Shirt und Schuhe aus. Anna beobachtete mich, als ich erst einen, dann den anderen Fuß ins Wasser setzte.
»Interessante Art reinzuspringen«, rief sie herüber.
Mein Grinsen wich einer Grimasse, als das kalte Wasser an mir hochschwappte. Den instinktiven Aufschrei unterdrückte ich, indem ich eilig unter die Oberfläche tauchte. Es war nicht tief, vielleicht einen Meter zwanzig, aber durch das trübe Wasser und den Dschungel aus Algen war der Grund wie verschluckt.
Ich schwamm in ihre Richtung, bis ich nah genug bei ihr war, um wieder aufzutauchen. Mit einem merkwürdigen Lächeln im Gesicht schwamm sie auf der Stelle; ihr Kinn hüpfte über der Wasseroberfläche auf und ab.
»Weißt du, was mit der Kirche passiert ist? Warum sie so aussieht?« Sie nickte in Richtung der verfallenen Mauern, die zwischen den Bäumen aufragten.
Ich drehte mich um, obwohl ich genau wusste, wie die Kirche aussah. Mit purer Willenskraft verhinderte ich ein Erröten. »Die ist irgendwann abgefackelt«, sagte ich nach einer Weile.
Ich wischte mir das Wasser aus dem Gesicht und fuhr mir mit der flachen Hand über den rasierten Schädel. Anna war gerade so außer Reichweite.
»Du redest nicht viel«, stellte sie fest und sah mich an.
Ein spitzer Schrei hallte über den See und scheuchte drei Gänse auf, die vom Ufer aufflatterten und über unsere Köpfe hinwegflogen. Sie verschwanden hinter den Bäumen am gegenüberliegenden Ufer.
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Warum reden, solange man Stille damit nicht besser macht?«
»Ich hab nicht gesagt, dass ich das doof finde«, sagte sie, schwamm ein Stück weg und ließ sich wieder auf dem Rücken treiben.
»Aaaaaanna!« Eine Männerstimme dröhnte über den See.
Sie winkte in Richtung Ufer.
»Du wirst hier gebraucht«, rief die Stimme, und sie reckte zur Antwort den Daumen.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie, schwamm an mir vorbei und streifte in der undurchsichtigen Unterwasserwelt mein Bein mit ihrem Fuß.
Am nächsten Montag gingen wir nach der Schicht alle gemeinsam in den Club. Damals gingen fast alle an fast jedem Abend aus. Freitag, Samstag und Montag waren die Drinks billiger, und Karaoke verpestete die Luft. Keine Ahnung, wo wir die Energie hernahmen, den ganzen Tag zu arbeiten und anschließend noch zu feiern.
Wir saßen auf der weißen Plastikbank, sie angelehnt, ich nach vorn gebeugt, und die anderen tanzten. An die Musik kann ich mich noch erinnern – irgendein grässlicher Garagenrockmix – und auch an die über der Tanzfläche zuckenden Lichter und daran, dass ich in der Dunkelheit ihre Hand nahm. Drei Minuten lang sahen wir einander an, und bevor der Song zu Ende war, spazierten wir bereits den Hügel hinunter in Richtung Innenstadt.
Am verwaisten Blockbuster’s-Parkplatz blieb sie stehen und sagte: »Ich mache keinen Schritt mehr, wenn du nicht den ersten Schritt machst.« Irgendwann Jahre später haben wir uns darüber gestritten, wer es letzten Endes war. Sie beharrte darauf, dass »du mich geküsst hast«. Ich kann mich noch genau an das Gegenteil erinnern.
Wir erinnern uns an die Dinge so, wie wir uns an sie erinnern wollen.
Frühe Neunziger
Danach packten sie Mums Sachen zusammen. Gerade noch war alles da gewesen, dann war es weg. Genau wie sie selbst.
Als wir klein waren, hatten Sal und ich gern Verstecken in unserem Haus gespielt. Ich stand am Fuß der Treppe, hielt mir die Augen zu und zählte bis zwanzig. Das Haus, in dem wir wohnten, war riesig und steinalt – viktorianisch, mit hohen Decken und dunklen Nischen. Es war früher ein Pfarrhaus gewesen und dann über viele Jahre verfallen. Dad arbeitete für den Besitzer und erledigte Kleinkram auf dessen Anwesen, deshalb wohnten wir zu ermäßigter Miete. Für uns fühlte es sich nach Herrenhaus an.
Ich zählte immer ganz langsam, damit Sal Zeit genug hatte, sich zu verstecken. Dann lief ich die Treppe hoch. Er saß jedes Mal im selben Versteck, trotzdem machte ich eine große Sache daraus, hob die schweren Vorhänge hoch, die vor den Fenstern hingen, und zog jede Schranktür auf. Ich suchte das komplette Obergeschoss ab, ehe ich zu guter Letzt vor Mums und Dads Schlafzimmer stand. Ich schob die Tür auf und nahm mir alle Zeit der Welt, den Raum abzusuchen und sämtliche Oberflächen zu kontrollieren, um zu sehen, ob sich seit dem Vortag etwas verändert hatte. Nähzeug auf ihrem Tisch, ein neues Buch, das aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag, ein vergessenes Wasserglas. Ich war von den Flakons auf ihrem Schminktisch fasziniert – wie die Sonne zwischen den Vorhängen hindurchfiel und die Fläschchen beleuchtete wie einen Altar.
Sobald ich mit meinem Rundgang fertig war, trat ich an den schweren braunen Kleiderschrank und wuchtete die Tür auf. Dort hinter Röcken und Kleidern kauerte Sal sich ganz klein zusammen und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Ich kletterte zu ihm, zog die Schranktür zu, und dann lagen wir auf dem Schrankboden, und Sal fuhr mit der Hand über die Stoffe, während ich den Geruch einatmete.
Sie war schon ein paar Wochen weg, als ich Sal vorschlug, wieder Verstecken zu spielen. Eigentlich war ich schon zu alt dafür, aber die Tage zogen sich endlos, und wir mussten irgendwas tun, um die Zeit totzuschlagen.
Ich zählte, lief die Treppe hoch, doch als ich die Schlafzimmertür aufmachte, stand Sal mit hängenden Schultern vor dem Kleiderschrank. Ich ging auf ihn zu und sah ebenfalls hinein: dunkle Leere. Erst in diesem Moment wurde mir vollends klar, dass nichts mehr da war. Die Flakons, die Bücher, das Nähzeug – alles weg.
Wir krochen in den Schrank und zogen die Tür hinter uns zu.
2003
Anna und ich verbrachten in jenem Juli buchstäblich jeden Tag miteinander. Ich weiß noch, dass es heiß war – unfassbar heiß – und sie den Motor laufen ließ, damit wir es einigermaßen kühl hatten. So verheizten wir tankweise Sprit, von schichtweise Haut auf unseren Lippen ganz zu schweigen.
»Du weißt, dass er in einem Monat zurückkommt«, sagte sie einmal. »Er hat gesagt, er kommt zurück.«
Ich nickte und küsste sie wieder.
Ab da war das mit uns klar. Wir trafen uns vor der Arbeit, und wenn einer von uns mit der Schicht fertig war, machte der jeweils andere Pause, und wir stahlen uns durch die Hintertür, zur Mauer bei den Müllcontainern. Ich kann mich noch gut an die Mischung erinnern: ihr Parfüm – laut Etikett irgendwas mit Jasmin – und der schale Hauch verrottender Pommes. Im Nachhinein frage ich mich, warum wir nicht woanders hingingen, aber wir waren heiß aufeinander, hungrig und jung. Die Container waren in der Nähe – irgendwo anders hinzugehen wäre Zeitverschwendung gewesen – , und dort waren wir ungestört.
Laura und ich küssen uns nie so. Vielleicht anfangs noch, inzwischen definitiv nicht mehr, aber das erwarte ich auch nicht. Wenn man jung ist, giert man nach jeder neuen Erfahrung. Küssen ist eine neue Erfahrung, und es kostet nichts.
Ganz Europa ächzte damals unter der Hitzewelle – angeblich die heftigste seit fünfhundert Jahren. Die Donau führte so wenig Wasser, dass Bomben und Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg im Flussbett auftauchten. Sie waren die ganze Zeit dort gewesen, tief unter der Oberfläche, waren nie explodiert und immer noch tödlich, hatten nur darauf gewartet, entdeckt zu werden. Hier bei uns schmolzen Teile der Autobahn.
Bei Hitze muss ich jedes Mal daran denken.
Anfangs nutzten wir jede Ausrede, einander zu berühren. Anna beugte sich zum Handschuhfach und stützte sich auf mein Knie, um nach einer bestimmten CD zu suchen. Ich strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Oder wir lagen im Park, sie steckte mir einen Kopfhörer ins Ohr und startete ihren iPod.
Zwei Nächte haben wir miteinander verbracht. Ich wusste natürlich, dass sie das nicht durfte, sie muss es im Vorfeld geplant und zu Hause erzählt haben, sie übernachte bei einer Freundin. Wahrscheinlich waren auch wir nur Freunde. Darüber habe ich jahrelang nachgedacht.
Wir lagen auf meinem Bett, und auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher in meinem Zimmer lief leicht unscharf, weil die Antenne mit Tesa geflickt war, Fawlty Towers. Sie konnte jeden Wortwechsel mitsprechen, und ich packte mir das Kissen hinter den Kopf und sah zu, wie sie lachte.
Daran kann ich mich noch erinnern. Sie muss bemerkt haben, dass ich sie ansah, weil sie übers Bett krabbelte und mich küsste.
»Was wünschst du dir vom Leben?«, fragte sie mich.
Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Das hat mich noch nie jemand gefragt.«
»Ist nicht dein Ernst.«
»Meine Mum vielleicht.« Ich hielt inne. »Ich habe als Kind Geschichten geschrieben. Sie mochte es, wenn ich sie ihr dann laut vorgelesen habe, und wenn ich fertig war, klatschte sie und sagte, ich hätte Talent. Aber da sind Mütter natürlich voreingenommen.«
Anna lächelte. »Ich wette, du wärst ein fantastischer Schriftsteller.«
Dieses Zutrauen verblüffte mich. Ich hatte nie jemandem erzählt, dass ich schrieb, besonders nicht Daz und den Jungs, die sich bloß darüber lustig gemacht hätten. »Und du?«, fragte ich. »Was wünschst du dir?«
Sie legte den Kopf an meine Brust. »Ich male für mein Leben gern«, sagte sie. »Und eines Tages will ich nach New York zurück. Letztes Jahr war ich drei Monate als Austauschschülerin dort, und die Stadt ist einfach unfassbar. Komm, wir ziehen ins East Village und machen auf Künstlerpärchen!« Sie gab mir einen Kuss.
Ich lief nach unten, weil ich draußen eine rauchen wollte. »Lässt du mich wirklich hier in deinem Zimmer allein?«, hatte sie gefragt und verschwörerisch die Augen aufgerissen. Ja. Ich ließ sie dort allein, auf meinem Bett, obwohl mir klar war, dass der Nikotinkick nur wenig gegen das Flattern ausrichten würde. Aber mir gefiel die Vorstellung, dass sie mit all meinen Sachen allein war. Als ich nach ein paar Zügen nach oben sah, stand sie am Fenster und blickte zu mir nach unten. So wie sie sich aufstützte – Hände unter dem Kinn, die Ellbogen weit gespreizt – , ahnte ich, dass sie mit den nackten Knien auf meinem Kissen kauerte, und die Vorstellung bescherte mir eine merkwürdige Art von Kitzel. Ich lächelte, sie winkte und zog sich vom Fenster zurück. Ich stellte mir vor, wie sie meine Sachen betrachtete und sich ein Bild von mir machte. Als ich zurückkam, saß sie genau dort, wo ich sie zurückgelassen hatte.
In jener ersten Nacht, die sie bei mir blieb, in meinem Zimmer, in meinem Bett, passierte gar nichts. Wir küssten uns, redeten und schliefen irgendwann ein. Sie hatte mein Lieblings-T-Shirt an.
»Wie viele Mädchen haben schon in diesem Bett geschlafen?«, fragte sie, nachdem uns die Sonne viel zu früh geweckt hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig?«
Stattdessen erzählte ich ihr davon, wie im vorigen Sommer an der Uni mal ein Mädchen angeklopft und nach meinem Mitbewohner gefragt hatte. Er war unterwegs, sollte aber bald wieder da sein – sie könne gern auf ihn warten. Zehn Minuten später hatte sie in meinem Bett gelegen. Die Jungs in der Kneipe hatten laut gelacht, als ich davon erzählte, sie hatten mir auf die Schulter geklopft und mir einen ausgegeben.
Sie schüttelte bloß den Kopf und drehte sich zur Wand.
Diese Geschichte hätte ich ihr nicht erzählen sollen.
An die zweite Nacht erinnere ich mich viel deutlicher. Ich habe sie mir oft ins Gedächtnis gerufen.
»Wo ist eigentlich dein Vater?«, hatte Anna gefragt, als wir die Treppe hinaufgingen. »Den habe ich noch gar nicht kennengelernt.«
»Unterwegs«, antwortete ich. »Er ist immer unterwegs.«
Wir lagen auf meinem Bett, hatten die Decke beiseitegeworfen. Das Fenster stand offen, doch in der Luft hing nur schwüler Juli.
»Ich glaube, ich will mir die Haare abschneiden«, sagte sie.
»Warum?«
»Und sie mir blondieren lassen. Wie eine Frau in einem Hitchcock-Film.«
»Du bist ja verrückt.« Ich streichelte ihr Bein.
»Willst du mich dann nicht mehr?«
»Du hast so schöne Haare, warum solltest du das machen?«
Sie legte ihre Handfläche auf meine. »Wächst doch wieder. Haar ist sowieso tot.«
Ich kann mich nicht daran erinnern, sie ausgezogen zu haben, aber ich weiß noch, wie sie aussah und dass sie kein bisschen scheu war. Sie war nicht rasiert, wie die meisten anderen Mädchen, und das faszinierte mich. Selbst jetzt kann ich sie, wenn ich die Augen zumache, klar und deutlich vor mir sehen. Erinnerung ist ein gefährliches Spiel.
Manchmal sehe ich sie und mich selbst und zwischen uns nichts mehr, was uns trennt.
Kurz bevor es ernst wurde, sah ich sie an. »Bist du dir sicher?«
Sie schloss die Augen und nickte, aber ich wusste Bescheid und hörte auf.
»Dir ist aber schon klar, dass sie nicht schwarz sind?«, fragte sie später. Sie lag quer auf mir drauf. »Meine Haare, meine ich.«
Es muss etwa zwei Uhr nachts gewesen sein. Gefühlt war nur eine halbe Stunde vergangen, in der wir einander berührt hatten, in Wahrheit waren es volle drei Stunden gewesen. Und wir konnten immer noch nicht voneinander lassen. Ich strich ihr mit den Fingern über den Rücken und zog Kreise auf ihrer Haut.
»Sie sehen schwarz aus«, sagte ich. In der Dunkelheit hoben sie sich von den Schatten nicht ab.
»Sieh sie dir in der Sonne an, da sind sie dunkelbraun.«
Ich zog sie ein Stück höher, sodass ich sie in die Arme schließen konnte. »Ich liebe sie, ganz egal, wie du die Farbe nennst.«
»Hast du dich immer schon kahl geschoren?« Sie kuschelte sich an meine Brust. Ich stellte mir vor, wie sie mein Herz rasen hörte.
Ich fuhr mir über den Schädel. »Ich lasse es mir abrasieren, wenn ich unruhig bin. Irgendwie fühle ich mich dann besser. Mit kahlem Kopf.«
Zur Antwort strichen ihre Hände über meine Schulterblätter, und ihre Finger schmiegten sich umso fester an meine Haut.
Ich küsste ihre warmen, feuchten Lippen.
Noch gefühlt Monate später fand ich einzelne lange schwarze Haare in meinem Bett.
Städtchen wie Ashford gibt es in jedem Land, da bin ich mir sicher. Ein Verkehrskreisel nach dem anderen. Eine zubetonierte Innenstadt, wo die Einkaufsmeile irgendwann hügelabwärts auf Straßenverkehr trifft, irgendein neuer Ein-Pfund-Shop, der ins frühere Woolworth-Gebäude gezogen ist, eine kleine Einkaufspassage mit Glasüberdachung, die bei der Eröffnung Ende der Achtziger als zukunftsweisend galt.
In der Theorie ist es ein attraktiver Wohnort: mehrere Gymnasien, ein John-Lewis-Kaufhaus, zwei Kinos, eine Brauerei, ein Designer-Outlet und Dörfer wie Wye im Speckgürtel, wo die Immobilienpreise durch Kohorten von Offroadern und Yoga im Park hoch gehalten werden. Es gibt sogar einen Fernbahnhof, von dem man aufs europäische Festland kommt – du steigst in den Zug, und der nächste Halt ist Paris.
Ich glaube, dass die Leute erst begeistert herziehen und sich dann ratlos am Kopf kratzen. Drei McDonald’s-Filialen und ein Champneys-Wellnesstempel lassen darauf schließen, dass diese Stadt immer noch auf der Suche nach ihrer Bestimmung ist; die neueren Wohnviertel erstarken, während die Sechziger-Wohnblocks peu à peu in Vergessenheit geraten, sogar bei den Städteplanern mit ihren Abrissbirnen. Das Designer-Outlet zieht Massen an, natürlich zuungunsten der Einkaufspassage, die eine halbe Meile entfernt jenseits der vierspurigen Umgehungsstraße liegt.
An dieser Straße liegt wiederum ein kleiner Friedhof – ein Fleckchen Wiese neben einem Parkplatz. Nur dass es nicht wirklich ein Friedhof ist. Vor ein paar Jahren habe ich mal gelesen, dass die Grabsteine vom Town Centre Burial Ground nebenan hergebracht worden seien, als der in eine Naherholungsfläche umgewidmet und mit Bänken und Beeten versehen werden sollte. Jetzt stehen die Grabsteine hier dicht an dicht vor der Neunzigerjahre-Fassade des Bowlingcenters.
Und apropos Friedhof. Anna nahm mich einmal mit zum Bybrook Cemetery, um sich das Grab einer toten Philosophin namens Simone Weil anzusehen. Bis wir die schlichte Granitplatte mit dem eingravierten Namen und den Daten gefunden hatten, war unsere Mittagspause so gut wie vorbei. Wir standen eine Weile schweigend davor, und einen Steinwurf entfernt hinter dem Zaun ragte das Multiplex auf, wo wir beide arbeiteten. »Sie war sich nicht sicher, ob sie an Gott glauben sollte«, erklärte Anna und starrte auf das Grab. »Sie meinte, man kann so oder so nichts sicher wissen.« Ich nickte nur. Ich erwähnte nicht mal, dass ich den Namen nur gekannt hatte, weil die vierspurige Schnellstraße, die zu Sainsbury’s führte, nach ihr benannt war.
Als Kinder hatten wir in einem Dorf kurz hinter dem Stadtrand gewohnt. Dort war es ruhig und ländlich, an den Straßen standen Bäume, und es gab einen Park, in dem wir an den Wochenenden Cricket spielten. Wer nicht selbst von dort stammt, kennt den Ort nicht, deshalb sagte ich immer nur Ashford, wenn mich jemand fragte, wo ich wohnte.
Zum Studium zog ich weg, in den Norden, wo ich angeblich keinen Tee machen konnte und der Softie aus dem Süden war. Du weißt aber schon, dass man Bath ohne R schreibt? Wahrscheinlich hatten sie sogar recht. Mein Tee schmeckt wirklich nicht.
Ich dachte darüber nach, nicht mehr zurückzugehen. Manchester war billig, dort schien man andere Lebensentwürfe eher zu akzeptieren, und ich überlegte, mir einen Hilfsjob bei einer Zeitung zu suchen und mich dann hochzuarbeiten. Andererseits war Sal immer noch in Ashford, und selbst nach drei Jahren war ich mit Manchester nicht richtig warm geworden. Außerdem setzte mir das schlechte Wetter zu.
Das ist das Komische an Ashford. Die Leute schimpfen darauf, und einige ziehen auch wirklich weg und fangen woanders neu an, aber für diejenigen, die bleiben, haben die bekannten Straßennamen und Abkürzungen und Gesichter im Pub etwas Tröstliches.
Es gibt Leute, die für einen Neuanfang nicht gemacht sind.
Es ging ganz unspektakulär los.
Ich sage »es«, als wäre unsere Familie ein Objekt, etwas absichtsvoll Erschaffenes. Was mit Samthandschuhen angefasst werden muss. Aber so sind Familien doch nicht wirklich. Sie wachsen nach und nach, und zwar nicht immer geplant. Man fängt was mit jemandem an, ein Kondom platzt, und das Leben lacht sich ins Fäustchen. Oder vielleicht nimmt es dich am Schlafittchen und schleift dich mit, sosehr du um dich trittst und dich wehrst, denn nur wenige haben die Kraft, ihr Schicksal zu lenken.
Trotzdem neigen Familien, wie ich sehr gut weiß, dazu kaputtzugehen. Wenn wir uns vielleicht mit diesem Postklebeband einwickelten, das sonst auf Kisten klebt – transparent mit rotem »VORSICHT, ZERBRECHLICH!«-Aufdruck – , hätten die Leute keine Entschuldigung mehr zu sagen: Das nimmst du dir zu sehr zu Herzen oder: Mir war nicht klar, dass es dir so und so ging. Sie hätten keine Entschuldigung mehr, weil es einem buchstäblich ins Gesicht geschrieben stünde.
Sprich nicht in Rätseln, sagt Dad in meinem Kopf. Red Klartext.
Späte Achtziger
Alle zwei Wochen, wenn Arsenal zu Hause spielte, fuhr Dad in seiner jeweils aktuellen Schrottkarre mit uns nach London. Sal und ich saßen mit unseren Walkmankopfhörern auf der Rückbank und drehten die Lautstärke hoch oder runter, damit die Musik nicht lauter war als der Radiomoderator. »Ihr wisst, dass euer Vater Kopfschmerzen kriegt, wenn er euren Bass hören kann«, sagte Mum jedes Mal, bevor Dad einstieg. »Dreht eure Musik leise, und wir kommen uns nicht in die Quere.« Offene Autofenster und das Wummern von Bässen konnten ihn zur Weißglut treiben. Dieses Dröhnen!
Nana und Grandpa wohnten in einem Sozialbau in Stoke Newington, in einem Gebäudekomplex aus den Sechzigern zwischen ähnlichen Gebäudekomplexen mit zubetonierten Vorgärten und Gittern vor den Fenstern im Erdgeschoss. Grandpa war auf dem Heimweg von der Spielbank dort schon zigmal ausgeraubt worden – er hatte sich nie zur Wehr gesetzt, und wenn, hätte er ohnehin nur geredet. Irgendwie hatte er nie gelernt, eine dezentere Armbanduhr anzulegen oder auch sonst so wenig Schmuck wie nur möglich zu tragen. »Der ist doch dazu da, dass man seine Freude daran hat«, sagte er immer und lachte dann laut. »Jetzt lass halt die ihre Freude daran haben.«
Die Samstage liefen immer gleich ab. Wenn wir am späten Vormittag ankamen, roch es aus Nanas Küche nach Braten. Mum schnappte sich eine Schürze und fing an, in einem Topf zu rühren, während Dad Nana ein Küsschen gab und sich dann mit der Zeitung ins Wohnzimmer setzte. Sal und ich saßen am Küchentisch, blätterten den Argos-Katalog durch und erstellten im Kopf Listen mit Dingen, die wir uns zu den nächsten fünf Geburtstagen wünschten. Sal wollte eine Scalextric-Rennbahn; jedes Mal starrte er das Bild des Jungen an, der mit der Deluxeversion spielte, die in einer Acht über den Boden sauste. Manchmal fragte ich mich, ob er die Autos und die Rennbahn anstarrte oder das Gesicht des Jungen und sich ausmalte, wie es wohl wäre, sich als Kind etwas zu wünschen und es tatsächlich zu bekommen.
Manchmal, wenn keiner hersah, blätterten wir zu den Seiten mit den BHs.
Gegen Mittag kam Grandpa in einer Wolke aus Zigarrenrauch von seiner Kartenrunde im Club nach Hause. Noch ehe er seine Lammfelljacke und den Fedora ablegte, beugte er sich herab, nahm Sal und mich überschwänglich in die Arme und drückte uns feuchte Küsse auf die Wangen. Sein kratziger weißer Schnurrbart hinterließ jedes Mal rote Flecken auf unserer Haut, doch wenn sie verblassten, vermisste ich, wie sie sich angefühlt hatten.
»Saat der McCoy«, sagte er immer mit triumphalem Gestus. Ich nahm an, er meinte damit, dass er stolz war auf seine Enkel.
An diesen Tagen kamen oft auch Stella und Bill vorbei. Unser Onkel – kein Mann vieler Worte – hatte dann stets eine kleine, halbmondförmige Brille auf der Nasenspitze. Er redete kaum und hatte die merkwürdige Angewohnheit, ein Zimmer immer nur rückwärts zu verlassen und sich dabei ganz leicht vorzubeugen wie ein Butler. Irgendwie passte er nicht zu unserer glamourösen Tante Stel, die in ihrem Leopardenmantel und mit hoch aufgetürmtem, rot gefärbtem Haar hereinrauschte. Es klingt fürchterlich, aber als Bill ein paar Jahre später an Krebs starb, bemerkten wir kaum, dass er nicht mehr da war.
Nach dem Essen machten die Männer sich fertig fürs Highbury. Sie standen in der Küche und zogen Schicht um Schicht an, nur Grandpa mit seiner dicken Lammfelljacke, dem Winterhut mit Feder und der Zigarre im Mundwinkel war schon bereit. Dad trug seine flache Mütze und die Lederjacke und als einziges Zugeständnis an Arsenal den rot-weiß gestreiften Schal. Aber Onkel Bill, der gab alles. Der trug sein Langarmtrikot von 71, als sie das Double geholt hatten, eine rote Beanie, einen Ringelschal und einen roten gefütterten Mantel mit Vereinswappen auf der Tasche. Er hatte sogar die Arsenal-Bauchtasche. Bei den seltenen Gelegenheiten, da Dad mich zu einem Spiel mitnahm und ich bei jedem gegnerischen Foul an Arsenal wie erstarrt dastand, verwandelte sich mein schüchterner Onkel in einen Wahnsinnigen, der den Schiedsrichter beschimpfte und neunzig Minuten lang die Fäuste geballt hatte.
Sobald die Männer im Stadion waren, setzten Mum, Nana und Stella sich an den Küchentisch und bereiteten das Abendessen vor. Sie tranken koffeinfreie Cola, und Mum und Stella wechselten sich an der Dunstabzugshaube mit dem Rauchen ab. Immer wenn ich an die drei Frauen denke, sitzen sie in einer Küche. Selbst nach all diesen Jahren kann ich die Augen schließen, und da sind sie, schälen Kartoffeln und lachen über einen unanständigen Witz.
»Na, Sal, was macht die Kunst?«, rief Stella einmal aus der Küche.
»Alles gut, Tante Stel«, rief er vom Sofa zurück, wo er ausgestreckt dalag und sich Indiana Jones ansah. Mit am besten an Grandpa und Nana war ihre Satellitenschüssel.
»Ich hab’s dir doch schon mal gesagt: Lass die Tante weg. Dafür bin ich zu jung. Stella heiß ich, das gilt auch für euch Jungs.«
»Stel, das wird Paul dir nicht durchgehen lassen«, wandte Mum ein.
»Du kannst meinem Bruder ausrichten, dass er mich mal am …«
»Stella«, ging Nana scharf dazwischen.
Ich stemmte mich vom Sofa hoch und ging in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen.
»Meinetwegen«, sagte Stella, die auf der Arbeitsplatte saß. Sie kratzte sich am Bein und inspizierte die Laufmasche in ihrer Strumpfhose, die vom Knöchel bis hoch zum Knie reichte. »Dann mach ich’s eben so, wie mein großer Bruder es will – wie immer. Aber mal ehrlich, Mum, ich finde schon, ich sollte mir verdammt noch mal selbst aussuchen dürfen, wie ich genannt werde.« Sie stopfte ihre Kippe in den Aschenbecher und sprang von der Arbeitsplatte. »Und, wie läuft’s bei dir, Nicko? Schon ein Mädchen geschwängert?«
»Stella!« – diesmal von Mum.
Ich lief rot an, grinste und antwortete leise: »Nein.«
Sie lachte. »Da fühlt sich aber jemand ertappt! Hör gut zu, Lou, der hier wird vor dir Geheimnisse haben. Da stehen die Frauen schon in den Startlöchern.«
»Klar«, rief Sal aus dem Wohnzimmer. »Weil sie schnellstmöglich wegwollen.«
»Jetzt ist aber gut«, sagte Mum. »Wir wechseln das Thema, bevor das hier ausartet.«
»Ich bin nicht mal zehn, Tante Stel«, sagte ich. »Die Mädchen wissen gar nicht, dass es mich gibt.«
»Warte nur«, sagte sie mit einem Verschwörerzwinkern. »Noch ein paar Jährchen, und du verliebst dich Hals über Kopf, und es wird die Hölle. Wenn verlieben, dann unbedingt so.«
»Ist Liebe nicht eigentlich was Gutes?«, fragte ich.
»Manchmal. Aber erst wenn sie dir an die Nieren geht, weißt du, dass sie echt ist. Wenn dir schwindlig ist und du Hunger hast und trotzdem keinen Bissen runterkriegst.«
Mum schnaubte belustigt. »Den Effekt hat Bill auf dich anscheinend nicht.«
»Wer sagt, dass ich von Bill rede?« Jetzt kreischten Mum und Stella vor Lachen. Dann drehte Stella sich zu mir um. »Wie deine Mum und dein Dad. Ich hab die beiden zusammengebracht, wusstest du das? Deine Mum und ich waren in einer Disco unten in der Stadt. Wir haben uns bei ihr daheim aufgehübscht, weißt du noch, Lou? Das silberne Flamencokleid, für das du einen ganzen Monat sparen musstest?«
Mum strahlte übers ganze Gesicht. »Ich hab dieses Kleid geliebt! Und an dem Abend hatte ich eine Farrah-Fawcett-Frisur.« Sal kam zu uns in die Küche, sie legte den Arm um ihn und zog ihn an sich.
»Und dann waren keine Männer da. Also keine, die den Aufwand wert gewesen wären. Ein paar Mollys vielleicht, aber die waren an uns ja wohl kaum interessiert.«
»Mollys?«, fragte ich.
»Mollys halt, du weißt schon, Schwule«, erklärte Stella. »Mit denen haben wir gern getanzt, die konnten sich gut bewegen, aber geschraubt wurde auf einer anderen Baustelle.«
Mum schlug beide Hände vors Gesicht. »Bleib bei der Sache, Stella.«
»Ich wusste, deine Mum wäre genau die Richtige für deinen Dad. Also sind wir weitergezogen und noch ins Red Lion gegangen, wo er immer abhing. Ich hab ihn rübergewinkt, deine Ma hat ein bisschen mit den blauen Lidern geklimpert, und mir war sofort klar, dass die zwei füreinander bestimmt waren. Er hat sich nicht mal daran gestört, dass sie sich einen Cinzano mit Limo hat mitbringen lassen – der war völlig weggetreten, dein Dad. Nur gut, dass der Barkeeper ihn sowieso für einen Idioten gehalten hat.«
Ich liebte diese Geschichten. Stella konnte machen, dass es immer so klang, als würde sie alles zum ersten Mal erzählen, und auch wenn wir diese Geschichte schon gehört hatten, lauerten Sal und ich insgeheim auf neue Einzelheiten. Auf irgendwas, worüber wir auf der langen Heimfahrt nachgrübeln konnten.
»Erzähl ihnen das von Paul und der Jukebox«, sagte Mum. Ich konnte ihr ansehen, dass auch sie es genoss.
Sal und ich spitzten die Ohren.
»Du meinst, das an Silvester?« Stella zündete sich eine neue Zigarette an. »Du lieber Himmel, weißt du noch …«
Im selben Moment hörten wir den Schlüssel im Schloss. Die Männer waren wieder da.
Ich war kürzlich wieder in Stoke Newington und bin den Arundel Grove entlanggegangen. Die Blocks stehen noch, mitsamt Schüsseln auf den Flachdächern, Gardinen und Mülltonnen. Allerdings haben sie die Gitter vor den Fenstern abgenommen, und als ich zur Bushaltestelle ging, kam ich an etlichen Cafés mit schicker Außenbestuhlung vorbei. Vor einem saß ein Typ mit einem winzigen Kaffeetässchen und hämmerte auf seinen Laptop ein, ohne im Geringsten besorgt zu sein, dass irgendwer ihn klauen könnte.
Nana und Grandpa und jenes Leben gibt es nicht mehr. Aber die Erinnerungen kehren immer wieder.
Juli 2003
»Guck dir das an!«
Ich war schon halb oben, hatte den Schlüssel in der Hand und hoffte, dass Dad immer noch bei der Arbeit war oder im Pub haltgemacht hatte. Als Anna vorgeschlagen hatte, zu mir zu gehen, hatte ich das erst für einen Witz gehalten, doch dann hatte sie mein nervöses Gekicher mit einem Blick zum Verstummen gebracht. Jetzt war sie am Tor stehen geblieben. Bestimmt hatte sie kapiert, dass es ein Fehler gewesen war.
»Du kannst gehen, wenn du willst«, sagte ich und betrachtete den Schlüssel in meiner Hand.
»Hä?«
»Musst du noch woandershin? Wenn ja, ist schon okay.«
Sie sah stirnrunzelnd zu mir hoch, und ich konnte die Ungeduld spüren, die bei ihr jedes Mal aufflammte, sobald sie mich nicht verstand.
»Wovon redest du?«, fragte sie. »Wo muss ich hin?«
»Ich dachte nur …«
»Ich bin deswegen stehen geblieben.« Sie zeigte auf die drei Sonnenblumen am Rand der Auffahrt. Sie schwankten leicht in der Brise – die kompletten eins fünfzig, als wüssten sie, dass sie bewundert wurden.
Als hätte ich nie etwas anderes gemeint, nickte ich und trat neben sie. »Ja, die hat meine Tante Stella gepflanzt, im ersten Sommer … als Mum … weg war.« Am Schluss des Satzes war ich ins Stocken geraten. »Sie fand«, fuhr ich eilig fort, »wir bräuchten etwas, was nach der Schule hier auf uns wartet, irgendwas Leuchtendes. Entweder Blumen, oder wir müssten die Tür quietschgelb streichen, und ich glaube nicht, dass mein Dad das mitgemacht hätte.«
»Sie sind wunderschön«, sagte Anna und sah erst mich, dann wieder die Blumen an. »Und funktionieren sie?«
»Funktionieren?«
»Freust du dich, wenn du sie siehst?«
Ich starrte die Rückseiten der Blütenkörbe an. In diesem Jahr waren sie wirklich kräftig, standen in voller Blüte, mit geraden, stolzen Stängeln, die großen Blätter wuchsen fast ineinander. Es war das erste Mal in diesem Sommer, dass ich sie überhaupt zur Kenntnis nahm.
»Vielleicht. Stella pflanzt sie jedes Jahr neu. Das hat mittlerweile Tradition.« Ich ging zu Anna und berührte einen der dunklen Blütenkörbe. »Hier, schau – wenn die Blume im Spätsommer welk wird, kommen hier Samen. Stella sammelt ein paar ein und sät sie im Frühjahr neu aus.«
»Dann sind diese hier Abkömmlinge der Ersten, die sie eingepflanzt hat … Ich hab Sonnenblumen nie richtig gemocht.« Anna streckte die Hand aus, um die Blütenblätter zu streicheln. »Ich kenne sie aber auch nur in der Vase – oder aus dem Supermarkt in Zellophan. Da haben sie immer was Gruseliges. Aber die hier sehen anders aus. Die sehen richtig aus.«
»Irgendwie wachsen immer nur drei.«
»Nur drei?«
»Sie pflanzt immer vier, aber nur drei davon kommen. Wir haben früher Wetten abgeschlossen, welche es nicht schafft.«
Ich spürte Annas Blick auf mir.