Eine geheime Geschichte - Claudia Rath - E-Book

Eine geheime Geschichte E-Book

Claudia Rath

4,7

Beschreibung

Rebekka, Schriftstellerin mit bescheidenem Erfolg, aber viel Witz und (Selbst-)Ironie, schwebt auf Wolke sieben. Endlich einmal ist sie wieder verliebt. In Wilhelmine, genannt Wivi. Und wie es scheint, wird Rebekkas Liebe erwidert. Die Tage sind aufregend, die Nächte erfüllt von berauschender Leidenschaft. Nach einiger Zeit jedoch hat Rebekka immer öfter das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Wivi wird immer unberechenbarer, immer unbeherrschter. Allein sie bestimmt, wo es langgeht. Rebekka hat sich zu fügen. Was sie auch tut. Denn sie liebt Wivi, und Wivi liebt sie. Doch langsam, aber sicher wird Rebekkas Welt immer enger und bedrohlicher - sie kapselt sich ab, denn niemand darf wissen, was sich zwischen ihr und Wivi wirklich abspielt … Psychologisch überzeugend und erzählerisch brillant greift Claudia Rath in diesem Roman ein bisher weitgehend tabuisiertes Thema auf: Gewalt in einer lesbischen Beziehung. Dabei entfaltet die Geschichte eine Dynamik, der sich die Leserin kaum entziehen kann.

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FRAUEN IM SINN

Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

Claudia Rath

Eine geheime Geschichte

Roman

Kapitel 1

»Dir fehlt einfach nur ein schmissiger Anfangssatz.«

Das zumindest hat Ulrike gestern Abend noch behauptet. Was um alles in der Welt ist ein schmissiger Anfangssatz? Aber sinnlos. Die Musen schweigen. Es ist vorbei. Ich werde nie wieder eine einzige Zeile schreiben können.

Schade eigentlich. Wenn ich Geld verdienen würde, indem ich nur meine Anschläge vermarktete, wäre ich steinreich. Bin ich aber nicht. Ganz im Gegenteil, da hilft auf Dauer nicht die freiberufliche Tätigkeit beim Alphabetisierungsverein, und bedauerlicherweise gehöre ich auch nicht zu der Sorte Frauen, die toll aussehen, wenn sie eine zerfetzte Jeans tragen. Und nur aus diesem Grund, aus diesem Grund allein habe ich mich vor vielen Monaten überreden lassen, für ein Jahr lang in meinen alten Beruf zurückzukehren.

Und das war der Anfang vom Ende. Kaum hatten meine vor Aufregung verschwitzten Hände in der Bezirksdienststelle des Sozialdienstes die Klinke der Bürotür berührt, bedeutete es für meine Schreiberei das Aus.

Aus! Die Seele verkauft für den Mammon. Es hätte doch etwas aus mir werden können. Vorbei!

Aber die Schreckenszeit ist bald überstanden. Nur noch wenige Tage und das Jahr ist vorüber. Ich will endlich wieder schreiben können, in aller Ruhe, Ulrike hat recht, der Plot für das neue Buch ist so ganz vage auch schon klar. Irgendwie jedenfalls. Mir fehlt eben nur der schmissige Anfangssatz, und darüber denke ich nach, während ich versonnen am überquellenden Ablagekorb vorbeiträume. Noch etliche Aktennotizen und Berichte müssen diktiert werden, damit die Übergabe reibungslos funktioniert.

Wieder ein schöner klarer Oktobertag, wie vor einem Jahr. Nur noch die kommende Woche, dann bin ich frei, frei, frei. Und heute ist Freitag. Hübsch, denke ich, das passt ja gut.

Klaus-Rainer poltert durch die Tür. Er hält nicht viel vom Anklopfen, obwohl er von außen betrachtet ein eher softer Typ ist, ein Übriggebliebener, ein Holzkreuzträger und Pulloverstricker. Seit kurzem aber beginnt er sich zu verändern. Alles fing damit an, dass er von seiner Frau eine noble Aktentasche zum Geburtstag bekam. Momentan plagt ihn allerdings offenbar ein Problem, denn er lässt sich ächzend auf einen der ergonomisch geformten Besucherstühle sinken.

Es kann sich nur um Herrn Businski handeln. Herr Businski hat es sich zur Aufgabe gemacht, den frühen Feierabend der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an Freitagen für alle Zeiten zunichte zu machen. Wenn es Herrn Businski schlecht geht, dann immer freitags mittags.

Klaus-Rainer möchte wissen, ob ich ihn begleite, denn es muss doch jemand bei Herrn Businski nach dem Rechten sehen vor dem Wochenende, und allein kommt er mit der Situation irgendwie nicht klar.

»Irgendwie, weißt du?«

Und weil ich letzten Freitag schon die Businski-Extratour mit ihm gefahren bin, wage ich zu protestieren.

»Kannst du nicht Julia mitnehmen?«

Das sei unmöglich, so antwortet Klaus-Rainer, denn die Julia müsse heute ihre Tochter vom Kindergarten abholen, der Dirk habe einen Termin bei seinem Steuerberater, und die Bettina sei bei ihrer Frauenärztin wegen der Vorsorgeuntersuchung.

Wenn die niederkommt, mache ich jedenfalls nicht die Vertretung, denke ich bissig und mit einem Anflug von Befriedigung, die mir im Augenblick allerdings nicht das Geringste nützt.

Dabei hatte ich mich schon so auf den frühen Feierabend gefreut. Ich sah mich gewissermaßen schon seit der Frühstückspause ungestört in meinem Arbeitszimmer sitzen und am Plot für das neue Buch arbeiten, mit Unmengen von Kaffee, Keksen und … vielleicht, ja, vielleicht wäre mir ja auch der schmissige Anfangssatz eingefallen.

Klaus-Rainer macht mich auf seine softe, liebe Art darauf aufmerksam, dass Eile angebracht ist. Herr Businski leidet an Schizophrenie. Er ist fest davon überzeugt, dass in seinem linken Ohr ein Engel wohnt und in seinem rechten Ohr ein Teufel. Die beiden vertragen sich aus verständlichen Gründen nicht allzu gut miteinander, und wenn es sehr schlimm ist, weiß Herr Businski vor lauter widersprüchlichem Gelärme nicht mehr, welcher Stimme er denn nun folgen soll. In solchen akuten Notsituationen ist es immer besser, ihn über das Wochenende in Ulmenfried einzuquartieren, wo er ein oft und gern gesehener Patient ist. Aufnahme verlässlich meist freitags um die Nachmittagszeit. Wenn es nun so einfach wäre, ihn nur ins Auto zu setzen und dort hinzufahren, aber nein, vor die Bedürfnisse der Patienten und Sozialarbeiterinnen haben die Ämter das Formular gesetzt, den Bericht und langwierige Aufnahmegespräche mit Assistenzärzten, die zufälligerweise gerade ihren ersten Tag in Ulmenfried verbringen und von Herrn Businski dringend zu erfahren wünschen, ob und wann er Masern gehabt habe, weil sie seine Unterlagen nirgendwo finden. Das sind die unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten einer Freitagsaufnahme in Ulmenfried.

»Kommst du jetzt mit?«, fragt Klaus-Rainer und fummelt nervös an seinem Holzkreuz herum.

Wenn es also nicht anders geht. Von mir aus.

»Du«, sagt Klaus-Rainer, als wir gegen siebzehn Uhr endlich draußen auf dem Parkplatz des Krankenhauses an seinem Wagen stehen. Herr Businski winkt uns vom Aufenthaltsraum aus zu. Ich winke zurück. »Du«, sagt Klaus-Rainer, »ich bin dir wirklich so super total dankbar.«

»Keine Ursache«, murmele ich, bekomme aus den Augenwinkeln mit, wie Herr Businski hinter der Panzerglasscheibe auf sein rechtes Ohr schlägt und wende mich müde wieder meinem Kollegen zu. »Aber denk dran: Nächste Woche Freitag habe ich meinen letzten Tag. Da mache ich bestimmt weder für Herrn Businski noch für dich Überstunden.«

»Du, das ist echt kein Thema«, sagt Klaus-Rainer. Er fummelt an seinem Autoschlüssel herum, woraufhin sich wie von Zauberhand die Schlösser entriegeln. »Weißt du, ich bin nächste Woche Freitag auch gar nicht da – hab meine Fortbildungsgruppe.«

»Schon wieder?« Ich denke an die arme Bettina, die ständig seine Vertretung übernehmen muss.

»Du, wegen der Gruppenleiterstelle ist das wirklich wichtig, ich will ja nicht ewig irgendwelche Businskis mit meinem Auto durch die Gegend kutschieren«, sagt Klaus-Rainer, wobei er lässig gekonnt seine Aktentasche auf den Rücksitz wirft, um im nächsten Augenblick entsetzt zurückzuzucken.

»Das Schwein!«, schreit er hysterisch, während sein Holzkreuz gegen den Metallic-Lack plöckt. »Das Schwein hat mir ins Auto gepinkelt!« Seine Stimme überschlägt sich fast, und über seinen sonst so milde blickenden Augen formt sich auf der Stirn eine Ader beträchtlichen Ausmaßes. »Die Sau!«, spektakelt er über den Parkplatz, so dass einige Angehörige auf Besuchskurs mit ihren obligatorischen Blümchen und Saubere-Unterwäsche-Tüten einen großen Bogen um uns machen. »Die Reinigung zieh ich dem vom Taschengeld ab. So bekloppt ist der nicht, dass der nicht weiß, was er da macht!«

»Merkwürdig«, sage ich und zünde mir schnell noch eine Zigarette an. In Klaus-Rainers Auto wird nicht geraucht. »Ich habe gar nichts gerochen, gar nichts gemerkt.«

»Was soll ich denn jetzt machen?«, brüllt Klaus-Rainer. Mir scheint, er ist den Tränen nah.

»Fahr mich doch bitte erst mal in die Dienststelle, ja?«, empfehle ich. Die Uhr zeigt gleich halb sechs, und ich will nichts lieber als heim.

Da wird Klaus-Rainer hektisch.

»Du, tut mir leid, ich muss jetzt erst mal das Auto klarkriegen. Ich soll gleich Monis Mutter vom Bahnhof abholen. Das schaffe ich doch gar nicht mehr. Egal. Ich muss es versuchen. Was wird die denn denken, wenn ich sie in ein vollgepinkeltes Auto packe?«

Er gedenke mich also hier in Ulmenfried zurückzulassen, erkundige ich mich mit gefährlich leiser Stimme. Weitab jedweder Zivilisation, an einer Bushaltestelle, die höchstens dreimal im Jahr von öffentlichen Verkehrsmitteln angefahren wird.

Es täte ihm so leid, so unendlich leid, er hätte viel Verständnis, wenn ich jetzt sauer auf ihn wäre, ja, wir würden uns am Montag umgehend in einem Zweiergespräch ausführlich darüber auseinandersetzen. Er würde sich Zeit nehmen. Ich solle mir die wichtigsten Punkte am besten notieren …

Dann sagt er noch etwas, aber das höre ich nicht mehr, es quietschen die Reifen, es entschwindet Klaus-Rainers nagelneuer BMW zwischen den parkenden Autos. Bald sind sie vorbei, die Pullover und Holzkreuzzeiten. Das steht fest. Und ich? Ich bestelle mir ein Taxi.

»Schreib am besten was über Beziehungen«, sagt Ulrike am selben Abend. Ständig wuselt sie mir zwischen den Kochgerätschaften herum, was ich hasse wie sonst nichts auf der Welt. »Ich finde, es fehlt noch Pfeffer am Spinat, oder?«

»Über Beziehungen, meinst du?«, wiederhole ich tonlos.

Ulrikes Blick hebt sich schwärmerisch zur Küchendecke.

»Ja, irgendwas über so eine ganz verrückte Beziehung. Ich sehe die Geschichte schon vor mir, eine totale Verschmelzung, Obsession, gepaart mit Mord und Totschlag.«

Mir sinkt die Gabel in der Hand.

»Ach nein«, bringe ich nur heraus. »Ich kann keine Krimis.«

»Muss ja nicht gleich ein Krimi sein, oder?«

Entschlossen schiebe ich sie vom Herd fort und denke eindringlich nach. Vielleicht hat sie ja recht. Bisher habe ich nur Lyrisches veröffentlicht. Drei schmale Gedichtbände, quasi im Selbstverlag. In einer Rezension, erinnere ich mich, war die Rede von fruchtiger, frischer Egozentrik, bereichernd, kristallklar und so weiter. Es hörte sich für meine Ohren so an, als habe der Rezensent früher bei einem Fachblatt für Weine gearbeitet. Traube und Rebe oder etwas in der Art. In meinen Schubladen stapeln sich nie veröffentlichte Kurzgeschichten, Anfänge, immer wieder Anfänge von Geschichten, die kein Ende finden. Jetzt will ich ihn schreiben. Den ersten Roman.

Ulrike hat recht. Am Spinat fehlt der Pfeffer.

»Schreib doch einen richtigen Knüllersatz als Erstes. So etwas wie ›Es regnete‹ oder so. Beziehungsromane sind doch meistens völlig deprimierend. Da passt das dann ganz gut.« Ulrike wirkt versonnen, während sie mit der Hand wedelt und weiterfabuliert. »Ein regennasses, im fahlen Licht der Laternen glänzendes Straßenpflaster und die einsame Protagonistin ist auf der Suche nach der Erfüllung ihrer Träume. Natürlich vergeblich. Bonjour Tristesse!«

Mein Blick geht von der Küche in das WG-Wohnzimmer hinüber, wo meine liebe WG-Gefährtin es sich gleich mit ihrem Kaffee und dem neuesten Lesbenkrimi auf dem Sofa behaglich machen wird. Sie ist die beste Freundin, die ich je hatte. Einige Semester lang trafen wir uns in allen möglichen Seminaren, bevor sie das Studium aufgab, um in der Motorradwerkstatt ihres Onkels eine Lehre zu beginnen. Aber auch das trieb uns nicht auseinander. Wir begleiteten einander während diverser Beziehungen und Liebschaften, spendeten uns gegenseitig Trost oder lästerten, je nachdem, was gerade notwendig war. Und seit einigen Jahren wohnen wir hier draußen auf dem Hof vor der Stadt zusammen mit Tom und Ulli, einem schwulen Pärchen. Das ist meine Ersatzfamilie. Ohne sie könnte ich nicht existieren.

»Natürlich«, fällt Ulrike gerade noch ein, bevor sie nach dem Buch greift, »musst du gleich schon auf der ersten Seite irgendwie deutlich machen, dass es sich um eine Lesbengeschichte handelt. Das ist wichtig.« Dann verschwindet sie mit der Nase im Krimi, und mir ist einmal mehr klar, dass ich nie wieder eine einzige Zeile werde schreiben können.

Beim Tischdecken gebe ich mir besonders viel Mühe, nicht hinzuhören, denn Ulrikes Lesevergnügen wird von dem Anruf ihrer Freundin erneut unterbrochen. Wieder mal dicke Luft, denke ich, während ich natürlich doch zuhöre. Ulrike ist ein besonders verständnisvoller Mensch. Nie zuvor bin ich einer Frau begegnet, mit der es sich schlechter streiten ließe als mit ihr, aber die neue Beziehung, die mittlerweile auch schon ein Jahr alt ist, scheint von immer mehr Krisen gebeutelt zu werden. Ich werfe einen verhaltenen Blick hinüber zum Telefon. Hilflos wedelt Ulrike mit den Armen und wirft mir beschwörende Blicke zu. Ich habe verstanden.

»Essen wird kalt!«, rufe ich laut und deutlich akzentuiert durch den Raum.

»… ja, muss jetzt essen, Rebekka hat gekocht … nein, es ist nicht immer das Gleiche … kann ja später noch mal anru… he … Fanny … bist du noch dran?« Und an mich mit einem hilflosen Achselzucken. »Aufgelegt …«

Der Hof ist Ulrikes Großonkelerbschaft, ein Projekt, in das Tom und Ulli, die das Szeneleben in der Stadt damals gründlich satt hatten, sich eingekauft haben. Mittlerweile sind die beiden allerdings des Landlebens schon wieder überdrüssig und ziehen es vor, Tage und Nächte wieder mehr bei Freunden in der Stadt zu verbringen.

Unsere Wohngemeinschaft läuft gut. Ulrike, die vor einem Jahr noch der Überzeugung war, sie würde sich nie, niemals wieder in eine Frau verlieben und eine enge Beziehung eingehen, hat sich geirrt, denn es erschien ihr im Motorradclub ein überirdisches Wesen namens Fanny, und die ist genauso lesbisch wie sie.

»Nie … niemals eine Neue.« Das sind immer Ulrikes Worte gewesen. »Womöglich noch so ein junges Gemüse. Nee, wirklich nicht. Niemals, hörst du, nie …«

Ich winke nur noch müde ab, wenn ich im Zusammenhang mit Ulrikes Liebschaften die Worte »nie wieder« höre.

Etwas Spinat klebt an ihrer Unterlippe. Das passt nicht zu der sonst so gepflegten Erscheinung. Ulrike gehört zu den Frauen, an denen nie ein überflüssiges Härchen wächst, die nie Löcher in den Strümpfen haben oder während einer Autofahrt beten müssen, dass sie mit dieser Unterhose keinen Unfall erleiden. Es gibt nur wenige Menschen, die Ulrike je ohne Make-up erlebt haben. Ich gehöre dazu, und darauf kann ich mir etwas einbilden. Seit fünfzehn Jahren frage ich mich, wie sie das bloß anstellt. Aber es scheint alles ganz leicht und mühelos zu sein. Unsere Hunde würden es nie wagen, ein Haar auf ihr zu hinterlassen. Regengüsse spielen sich nie direkt über ihrer akkurat gestylten Kurzhaarfrisur ab. Und selbst in der Werkstatt landen die Ölflecken immer nur auf ihrem blauen Overall. Das ist schon beinahe unheimlich, aber es können ja nicht alle so schlampig sein wie ich, denke ich und nehme peinlich berührt zur Kenntnis, dass ich mal wieder auf die Sets gekleckert habe.

An diesem Abend ist mit einem Anruf von Wivi bestimmt nicht mehr zu rechnen. Wivi heißt eigentlich Wilhelmine Kunzel, und ich habe seit exakt fünf Monaten eine Beziehung mit ihr. Am Anfang glaubte ich, es sei die große, die ganz große Liebe, aber mittlerweile sind erhebliche Zweifel an dieser Vermutung gewachsen. Wivi ist das, was frau hyperaktiv nennt. Montags hat sie Tischtennis, dienstags Doppelkopf, mittwochs Hatha-Yoga, donnerstags macht sie es sich gemütlich, und freitags abends ist sie mit ihrer Schwimmgruppe unterwegs. Ich habe sie schon seit einer Woche nicht mehr gesehen und versuche mir ihr Gesicht vorzustellen, als ich mit meiner Weißweinschorle in der Badewanne liege. Es wird immer schwieriger. Am Anfang, so erinnere ich mich, nicht ohne dabei traurig zu werden, war alles anders zwischen uns. Es zählten für Wivi weder Tischtennis noch die Schwestern aus der Doppelkopfrunde. Vier schöne Wochen lang ging ich morgens verspätet ins Büro, mit Augenrändern, die bis zum Boden reichten. Schon wurde auf den Dienstbesprechungen hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, ich sei womöglich krank, ernstlich krank oder unbegreiflicherweise schwanger, wo ich doch eigentlich nur mit Frauen … und überhaupt hatten es alle ja immer schon kommen sehen …

Dabei lag es nur an Wivi. Wivi gab mir, was mir keine je zuvor gegeben hatte. Sie gab mir das Gefühl, vollständig zu sein, wirklich ernst genommen zu werden. Wivi sorgte außerdem dafür, dass die Nächte kurz schienen wie ein einziger Augenblick. Sie war unglaublich. Sex mit ihr war unglaublich, alles mit ihr war unglaublich. Sie war spontan und trotzdem strukturiert. Sie hatte ständig neue Ideen, und an jedem freien Wochenende unternahm ich mit ihr so viel, wie ich es zuvor in Jahren nicht getan hatte. Sie riss mich aus meiner Lethargie, und für großartige vier Wochen war es vorbei mit dem stundenlangen Gehocke vor der Play-Station oder mit den faulen Leseorgien im Bett.

Wivi will immer in Bewegung sein. Ich glaube beinahe, die einzigen Stunden in der Woche, in denen sie sich im Wachzustand nicht übermäßig bewegt, spricht oder sonst wie in Aktion ist, sind ihre Yogastunden.

Rasch noch ein Schluck Weißweinschorle und mehr heißes Wasser. Ach, Wivi!

Und sie liebt, was ich schreibe. Das ist äußerst wichtig für mich. Eine Frau, die mich liebt, muss mir die frisch beschriebenen Seiten quasi aus den Händen reißen, mit großen begeisterten Augen lesen und anschließend in Jubelrufe ausbrechen. Anders geht es nicht. Als freiberufliche und völlig unterbezahlte Autorin in dieser vom Konsumrausch vergifteten Gesellschaft gibt es zu wenig Feedback, als dass frau ausgerechnet bei der Liebsten darauf verzichten könnte.

Nach vier Wochen berauschender Liebesnächte und umwerfend amüsanter Erlebnisse eröffnete Wivi mir beim Essen, dass sie mich liebe wie noch nie eine Frau. Ich lächelte begeistert und zustimmend, denn es ist schön, solche Worte zu hören, zumal sie auf Gegenseitigkeit beruhen. Schon plante ich insgeheim Urlaub mit Wivi und die Anschaffung einer Zweitzahnbürste, doch dann hob sie ihr Glas und prostete mir zu:

»Auf dein Wohl, Süße, und darauf, dass wir uns nie in der anderen verlieren!«

Mein Glas wurde schwer in der Hand, denn irgendwie schwang etwas Bedrohliches über diesem Satz, als ob jetzt die Schonzeit vorüber sei und der Ernst des Lebens beginne, kurz und gut, als wären die vergangenen vier Wochen nur eine Ausnahme gewesen.

Rein inhaltlich war gegen Wivis Satz ja gar nichts einzuwenden, aber …

Tapfer stieß ich mit ihr an. Erst als das Glas wieder festen Tisch unter der Stellfläche hatte, fragte ich nach.

»Wie meinst du das denn genau?«

Wivi lehnte sich zurück. Es hatte Beschwerden gegeben, bei den Damen im Tischtennisverein, in der Doppelkopfrunde und auch im lesbischen Frauenschwimmtreff, der sich immer unten im großen Hallenbad trifft und freitags abends die badebekappten Rentnerinnen und Rentner tyrannisiert. Wivi also wurde von ihren Freundinnen vermisst, die ihr vorwarfen, sie halte wohl nichts mehr von alten Freundinnenschaften, sobald eine neue Geliebte ins Spiel komme. Sie sei untreu, eine Enttäuschung, eine Zumutung für diesen alten festen und ungeheuer wertvollen Bund der Gemeinschaft, der so leicht von ihr abgelegt werde wie ein alter Hut. Wivi fügte hinzu, sie sei zutiefst gerührt gewesen, als sie das gehört habe, ja, auch betroffen und traurig und sie habe viel Verständnis. Unwillkürlich musste ich dabei an Klaus-Rainer denken, der auch ständig zu seinen Klienten sagt, er habe viel Verständnis für sie, um dann gleich darauf ihre Beihilfeanträge abzulehnen. Eine innere Stimme riet mir, auf der Hut zu sein, aber es war bereits zu spät. Das Unheil braute sich über mir zusammen wie ein rasch aufkommendes Unwetter und riss die Zweitzahnbürste und alle Urlaubspläne mit sich fort.

»Was heißt das denn jetzt genau?«, wollte ich irgendwann wissen, nachdem Wivi sich lang und breit über die Einstellung ihrer lieben Freundinnen ausgelassen hatte.

»Wir müssen ein bisschen kürzer treten, Süße. Ich will nie wieder so eine Geschichte wie mit meiner Ex, verstehst du?«

Klar, das verstand ich sehr gut.

»Diese einengenden Symbiosen«, meinte Wivi wissend und fuhr mit der Fingerspitze über den Fuß des Weinglases, »darüber bin ich einfach hinweg, weißt du?«

Das hörte sich wirklich nicht verwerflich an. Auch ich wollte sicherlich keine Symbiose, aber gemeinsam verbrachte Zeit, das war doch etwas anderes, und wir standen immerhin am Anfang einer Beziehung. Wivi erklärte es mir dann noch einmal ganz genau.

»Ich habe mit meiner Therapeutin in den letzten beiden Stunden darüber gesprochen«, sagte sie.

Ich nickte. Mir gegenüber spielten ihre Hände mit der Zigarettenschachtel. Vor einer Stunde hatten diese Hände mich liebkost und mir das Gefühl gegeben, ich sei der wichtigste, der wundervollste Mensch für Wivi.

»Ich war unglaublich konstruktiv«, fuhr Wivi fort und berichtete, dass sie so stolz darauf sei, nicht einfach vor mir wegzulaufen. Das sei ihr bei den letzten drei Frauen immer so gegangen. Immer wenn es eng wurde, lief sie fort. Dass es ja genug Orte gebe, an die sie fliehen könnte, dachte ich gehässig und sah die Umkleidekabine des Hallenbades vor mir, die muffige Sporthalle und das gemütliche Frauencafé.

Frau dürfe sich selbst nicht verlieren, dozierte Wivi, selbst wenn sie eine Beziehung eingehe. Das müsse alles ganz frei sein, ganz offen gestaltet werden. Sicher, sie hätte gerne eine Beziehung mit mir, aber ich müsse auch verstehen, wenn sie die alten, natürlich gewachsenen Bindungen nicht meinetwegen über Bord werfen wolle.

»Davon war ja auch nie die Rede«, brummte ich in mein Weinglas, das schon beinahe leer war.

»Bekka, Süße, gib mir mal deine Hand, ja?«, forderte sie mich auf. »Wir werden das schon schaffen.«

Ich sah sie aus großen Augen an, denn wir waren noch keine vollen vier Wochen zusammen, und für mich hörten sich ihre Worte an, als hätten wir eine jener altlastenschweren Beziehungskrisen zu bewältigen, wie sie nur in über sieben Jahre andauernden zerrütteten Partnerinnenschaften vorkamen.

Ich beschloss, Klartext zu reden.

»Wir können uns ja auch donnerstags treffen oder am Wochenende.« Ich bin immer sehr für Kompromisse, und ich wollte auch nicht wie eine Klette wirken.

»Ja, sicher, ab und zu wird sich das schon einrichten lassen«, nickte Wivi und lächelte dabei ganz tapfer und zuversichtlich. Jetzt wusste ich, worum es ging.

»Also willst du nicht mehr.«

Wivi wirkte nachgerade entrüstet.

»Was?«

Wie ich denn darauf kommen würde. So ein Quatsch. Blödsinn. Und überhaupt. Sie wolle nur keine festen einengenden Zusagen geben, keine Generalbesuchs- oder Treffvollmachten. Ab und an brauche sie auch mal einen Tag für sich, die Donnerstage seien wichtig für sie, auch ihre Therapeutin meinte das, was mich nicht verwunderte. Ja, und die Wochenenden, Herrgott noch mal, sie könne schließlich auch nichts dafür, dass ihre Familie absolut intakt sei. Sie müsse sich ja wohl direkt schämen, wenn sie sagen würde, sie besuche ihre Familie.

Ich beschloss stillschweigend, dieses Problem beim nächsten Termin mit meiner eigenen Therapeutin zu besprechen. Vielleicht sollten sich auch unsere beiden Therapeutinnen einmal begegnen, um das Ganze auf direktem Weg miteinander auszudiskutieren. Eine interessante Vorstellung. Die eingesparte Zeit könnten Wivi und ich dann im Bett verbringen.

»Hör mal, Süße«, sagte Wivi nach einer Weile des eisigen Schweigens. »Ich glaube, ich liebe dich wirklich, ich kann doch ohne dich gar nicht mehr sein, weißt du?«

»Das ist symbiotisch, was du da sagst«, zahlte ich es ihr über den Tisch hinweg heim.

»Ist mir egal«, sagte Wivi. »Ich liebe dich wirklich. Möchtest du eine Beziehung mit mir?«

Das klang beinahe wie ein Heiratsantrag, und nach all dem, was Wivi vorher von sich gegeben hatte, verstand ich diese Frage nicht.

»Ich denke, wir sind schon dabei, eine Beziehung miteinander einzugehen«, formulierte ich vorsichtig. »Ich glaube nicht, dass eine solche Entwicklung punktuelle Anfänge oder Enden kennt.«

»Lass uns eine Beziehung eingehen«, lächelte Wivi gleichermaßen verheißungsvoll wie entschlossen. »Eine richtige Beziehung, aber mit allen Freiheiten für beide – nur kein Sex mit anderen Frauen, ja?« Dann flüsterte sie noch: »Das würde ich nicht überleben.«

Und ich fühlte mich ungemein geschmeichelt. Das weiß ich noch genau, und mir wurde wieder ganz warm im Bauch. Irgendwie, dachte ich, würde sich schon alles einrenken.

In der Badewanne lässt es sich immer gut erinnern. Die Weißweinschorle ist mir nicht bekommen, und ich ärgere mich über das Sodbrennen, während ich nach dem Handtuch greife. Dieses Gespräch mit Wivi ist jetzt vier Monate her. Zwischenzeitlich habe ich mich schon beinahe zu Tode nach ihr gesehnt an manchen Abenden; die seltenen Treffen, so zwischen Familienbesuch und Doppelkopfverpflichtung, treiben mich immer näher zu ihr hin, aber ich glaube, das ahnt sie gar nicht. Und schließlich will ich sie auch nicht einengen. Das würde sie verschrecken. Meint meine Therapeutin übrigens auch.

Als ich später so ganz allein in meinem Bett in der umgebauten Scheune liege, denke ich, was das für ein wundervoller Tag gewesen ist: die Überstunden, der verkorkste Spinat, schließlich und endlich die Sehnsucht nach Wivi, die sich ganz bestimmt gut unterhalten hat mit ihrer Schwimmgruppe. Irgendwann hat sie gemeint, ich könne ja auch mal mitgehen ins Hallenbad, aber die lärmende Frauengruppe, das bis zur Unkenntlichkeit verchlorte Wasser, voll mit Ansammlungen von Urin und Überresten klebriger Hautlotion, die Späße, die nur Eingeweihte kennen, die mindestens seit Kindertagen zusammen um die Wette vom Fünf-Meter-Brett springen … Nein, lieber nicht. Warum kann es denn nur nicht sein wie am Anfang? Als Wivi und ich so viele schöne Dinge zusammen unternommen haben?

»Du musst dich mal davon freimachen«, hat Ulrike gesagt. »Musst einfach lernen, dich auch ohne Wivi zu amüsieren. Unternimm doch mal alleine was.«

Sie hat gut reden, ich habe jahrelang etwas allein unternommen. Und jetzt bin ich mein Singledasein eben leid. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, und erste Tränen laufen mir über die Wangen. Nein, bloß nicht jetzt das noch. Sonst habe ich morgen völlig verquollene Augen. Seltsamerweise denke ich als letztes an Herrn Businski, in dessen einem Ohr der Teufel und im anderen ein Engel wohnt. Im Traum rennt Klaus-Rainer über den Parkplatz, verfolgt von zehn schwarzen BMWs, die mit ihren Motorhauben klappern, als wollten sie ihn verschlingen. Verrückte Welt, verrückte Träume.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Nachts sind alle Katzen grau, hat meine Mutter immer gesagt. Völlig richtig.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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