Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten - Neil MacGregor - E-Book

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten E-Book

Neil MacGregor

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Beschreibung

Was uns eine steinerne Säule über einen großen indischen Herrscher erzählen kann, der seinem Volk Toleranz predigt, was spanische Dukaten uns über die Anfänge der globalen Währung verraten, oder was ein viktorianisches Teeservice uns über die Macht des Britischen Empires offenbart - Neil MacGregor beschreibt all diese Objekte nicht einfach nur, sondern erschließt uns durch ihre Betrachtung immer auch ein Stück Weltgeschichte. Wer den hier versammelten Dingen - vom afrikanischen Faustkeil bis zur Solarlampe Made in China - auf diese Weise begegnet, sieht die Geschichte als ein großes Kaleidoskop - kreisend, vielfältig verbunden, unentwegt voller Überraschungen. Ein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen von der ersten bis zur letzten Seite und eines der außergewöhnlichsten historischen Bücher der letzten Jahre.

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Neil MacGregor

Eine Geschichteder Welt in100 Objekten

Aus dem Englischenvon Waltraud Götting,Andreas Wirthensohnund Annabel Zettel

 

 

 

 

 

Zum Buch

„In diesem Buch machen wir uns auf zu einer Reise zurück in die Vergangenheit und quer über den Globus, um zu erfahren, wie die Menschen in den letzten zwei Millionen Jahren unsere Welt geprägt haben und ihrerseits von ihr geprägt wurden. Diese Geschichte wird ausschließlich erzählt durch Dinge, die Menschen gemacht haben – Objekete, die mit großer Sorgfalt hergestellt und dann entweder bewundert und bewahrt oder benutzt, beschädigt und weggeworfen wurden. Ich habe einfach hundert Objekte von verschiedenen Punkten unserer Reise ausgewählt – die Bandbreite reicht vom Kochtopf bis zur goldenen Galeone, vom steinzeitlichen Werkzeug bis zur Kreditkarte.“

Neil MacGregor

„Dieses Buch ist so schön, so klug und so richtungweisend, dass es eigentlich in jede Bibliothek gehört.“

Tim Sommer, art – Das Kunstmagazin

„MacGregors ‚Geschichte der Welt in 100 Objekten’ ist eines der wundervollsten Sachbücher der letzten Jahrzehnte.“

Alexander Cammann, Literaturen

„Diese Geschichten sollten nie aufhören.“

Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT

„Macht süchtig.“

Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Über den Autor

Neil MacGregor ist seit 2002 Direktor des Britischen Museums. Zuvor war er von 1987 bis 2002 Direktor der National Gallery in London. 2008 war er „Brite des Jahres“ in England. 2010 erhielt er den erstmals verliehenen Internationalen Folkwang-Preis. Bei C.H.Beck ist von ihm außerdem erschienen: „Shakespeares ruhelose Welt“.

 

 

 

 

 

All meinen Kollegen

im Britischen Museum

Inhalt

VorwortEin unmögliches Unterfangen

EinleitungSignale aus der Vergangenheit

Teil IWie wir Menschen wurden (2.000.000–9000 v. Chr.)

    1. Die Mumie des Hornedjitef

    2. Steinernes Schneidewerkzeug der Oldowan-Kultur

    3. Faustkeil der Oldowan-Kultur

    4. Schwimmende Rentiere

    5. Speerspitze der Clovis-Kultur

Teil IINach der Eiszeit: Nahrung und Sex (9000–3500 v. Chr.)

    6. Stößel in Form eines Vogels

    7. Die Liebenden von Ain Sakhri

    8. Ägyptisches Tonmodell von Rindern

    9. Maya-Statue des Maisgottes

  10. Topf der Jōmon-Kultur

Teil IIIDie ersten Städte und Staaten (4000–2000 v. Chr.)

  11. Sandalenplakette von König Den

  12. Die Standarte von Ur

  13. Siegel der Indus-Kultur

  14. Jadebeil

  15. Frühe Schrifttafel

Teil IVDie Anfänge von Wissenschaft und Literatur (2000–700 v. Chr.)

  16. Die Sintflut-Tafel

  17. Rhind-Papyrus zur Mathematik

  18. Minoischer Stierspringer

  19. Der goldene Schulterkragen aus Mold

  20. Statue von Ramses II.

Teil VAlte Welt, neue Mächte (1100–300 v. Chr.)

  21. Das Lachisch-Relief

  22. Die Sphinx des Taharqa

  23. Chinesisches Ritualgefäß aus der Zhou-Zeit

  24. Textil der Paracas-Kultur

  25. Die Goldmünze des Krösus

Teil VIDie Welt in konfuzianischer Zeit (500–300 v. Chr.)

  26. Streitwagen aus dem Oxus-Schatz

  27. Parthenonskulptur: Kentaur und Lapith

  28. Krüge aus Basse-Yutz

  29. Steinerne Maske der Olmeken

  30. Chinesische Bronzeglocke

Teil VIIReichsgründer (300 v. Chr.–10 n. Chr.)

  31. Münze mit dem Kopf des Alexander

  32. Ashoka-Säule

  33. Der Stein von Rosette

  34. Lackierte chinesische Tasse aus der Han-Zeit

  35. Kopf des Augustus

Teil VIIIAntike Freuden, modernes Gewürz (1–500 n. Chr.)

  36. Warren Cup

  37. Nordamerikanische Otterpfeife

  38. Gürtel für ein rituelles Ballspiel

  39. Ermahnungs-Bildrolle

  40. Pfefferstreuer von Hoxne

Teil IXDer Aufstieg der Weltreligionen (100–600 n. Chr.)

  41. Sitzender Buddha aus Gandhara

  42. Goldmünzen von Kumaragupta I.

  43. Teller mit dem Bildnis von Schapur II.

  44. Das Mosaik von Hinton St. Mary

  45. Arabische Bronzehand

Teil XDie Seidenstraße und darüber hinaus (400–800 n. Chr.)

  46. Goldmünzen von Abd al-Malik

  47. Der Helm von Sutton Hoo

  48. Gefäß der Moche in Form eines Kriegers

  49. Koreanischer Dachziegel

  50. Malerei einer Seidenprinzessin

Teil XIIm Innern des Palastes: Geheimnisse bei Hofe (700–900 n. Chr.)

  51. Maya-Relief eines königlichen Blutrituals

  52. Wandmalereien aus einem Harem

  53. Der Lothar-Kristall

  54. Statue der Tara

  55. Chinesische Grabfiguren der Tang-Dynastie

Teil XIIPilger, Räuber und Händler (800–1300 n. Chr.)

  56. Der Depotfund von Harrogate

  57. Hedwigsbecher

  58. Japanischer Bronzespiegel

  59. Buddhakopf von Borobudur

  60. Tonscherben aus Kilwa

Teil XIIIStatussymbole (1100–1500 n. Chr.)

  61. Die Lewis-Schachfiguren

  62. Hebräisches Astrolabium

  63. Kopf aus Ife

  64. Die David-Vasen

  65. Ritualsitz der Taino

Teil XIVBegegnung mit den Göttern (1200–1500 n. Chr.)

  66. Dornenreliquiar

  67. Ikone des Triumphes der Orthodoxie

  68. Shiva-und-Parvati-Skulptur

  69. Göttinnenskulptur der Huaxteken

  70. Hoa-haka-nana-ia

Teil XVAn der Schwelle zur modernen Welt (1375–1550 n. Chr.)

  71. Die Tughra von Suleiman dem Prächtigen

  72. Ming-Banknote

  73. Goldenes Lama der Inka

  74. Drachenbecher aus Jade

  75. Dürers Rhinocerus

Teil XVIDie erste Weltwirtschaft (1450–1650 n. Chr.)

  76. Schiffsautomat

  77. Benin-Tafel: Der Oba mit Europäern

  78. Doppelköpfige Schlange

  79. Kakiemon-Elefanten

  80. Acht-Reales-Stücke

Teil XVIIToleranz und Intoleranz (1550–1700 n. Chr.)

  81. Schiitische Prozessionsstandarte

  82. Miniatur eines Mogulprinzen

  83. Bhima-Schattenpuppe

  84. Mexikanische Kodex-Landkarte

  85. Flugblatt zum hundertjährigen Reformationsjubiläum

Teil XVIIIEntdeckung, Ausbeutung und Aufklärung (1680–1820 n. Chr.)

  86. Akan-Trommel

  87. Hawaiianischer Federhelm

  88. Nordamerikanische Hirschhautkarte

  89. Australischer Borkenschild

  90. Bi-Scheibe aus Jade

Teil XIXMassenproduktion, Massenverführung (1780–1914 n. Chr.)

  91. Schiffschronometer von der HMS Beagle

  92. Frühviktorianisches Teeservice

  93. Hokusais Große Welle

  94. Sudanesische Schlitztrommel

  95. Suffragetten-Penny

Teil XXDie Welt, die wir geschaffen haben (1914–2010 n. Chr.)

  96. Revolutionsteller

  97. Hockneys In the Dull Village

  98. Waffenthron

  99. Kreditkarte

100. Solarlampe und Lademodul

Anhang

Karten

Liste der Objekte

Bibliographie

Textnachweise

Bildnachweise

Danksagung

Register

VorwortEin unmögliches Unterfangen

Geschichte mit Hilfe von Dingen zu erzählen, dafür sind Museen bekanntlich da. Und weil das Britische Museum seit über 250 Jahren Dinge aus allen Regionen dieser Welt sammelt, ist es nicht unbedingt der schlechteste Ausgangspunkt, wenn man anhand von Objekten eine Weltgeschichte erzählen will. Man könnte sogar sagen: Genau das hat das Museum versucht, seit es 1753 vom britischen Parlament ins Leben gerufen wurde, «mit universellem Anspruch» und für alle Besucher kostenlos. Das vorliegende Buch geht auf eine Sendereihe auf BBC Radio 4, die 2010 ausgestrahlt wurde, zurück, doch im Grunde ist es nur die jüngste Variation oder Wiederaufnahme dessen, was das Museum seit seiner Gründung leistet oder zumindest zu leisten versucht.

Die Spielregeln für diese Geschichte der Welt in 100 Objekten legte Mark Damazer fest, der Intendant von Radio 4, und sie waren ganz einfach. Kollegen aus dem Museum und die BBC sollten aus den Beständen des Britischen Museums 100 Objekte auswählen, die zeitlich von den Anfängen der Menschheitsgeschichte vor rund zwei Millionen Jahren bis zur aktuellen Gegenwart reichten. Die Objekte mussten, wenn möglich einigermaßen ausgewogen, die gesamte Welt umfassen. Sie sollten so viele Aspekte menschlicher Erfahrung sichtbar machen, wie das praktisch möglich war, und uns ein umfassendes Bild von Gesellschaften liefern, nicht nur von den Reichen und Mächtigen. Zu den Objekten mussten deshalb zwangsläufig die profanen, unspektakulären Dinge des Alltagslebens ebenso gehören wie bedeutende Kunstwerke. Da jede Woche fünf Beiträge gesendet werden sollten, stellten wir die Objekte zu Fünfergruppen zusammen, mit denen wir den Globus zu verschiedenen Zeitpunkten umkreisen und die Welt anhand von fünf Momentaufnahmen mittels Objekten aus diesem spezifischen Zeitraum betrachten wollten. Und weil die Museumsbestände die ganze Welt umfassen und die BBC weltweit sendet, wollten wir Experten und Kommentatoren aus der ganzen Welt einladen, sich zu beteiligen. Selbstverständlich konnte das Ganze immer nur eine Geschichte der Welt ergeben, aber doch zumindest den Versuch einer Geschichte, zu der die ganze Welt in gewisser Weise beigetragen hat. (Nicht zuletzt aus Gründen des Urheberrechtsschutzes wurde die mündliche Diktion der Gastbeiträge weitgehend beibehalten.)

Das Unterfangen war in vielerlei Hinsicht zweifellos ein unmögliches, doch ein Aspekt löste besonders heftige Diskussionen aus. All diese Objekte sollten nicht im Fernsehen, sondern im Radio vorgestellt werden. Der Zuhörer konnte sie also nicht sehen, sondern musste sie sich vorstellen. Das Museumsteam, das es gewohnt ist, die Dinge intensiv in Augenschein zu nehmen, ließ sich deshalb, wie ich glaube, davon zunächst ein wenig entmutigen oder zumindest einschüchtern, doch unsere Kollegen von der BBC hatten volles Vertrauen, dass es funktionieren würde. Sie wussten: Sich einen Gegenstand vorzustellen heißt, ihn sich auf ganz spezifische Weise anzueignen; und so würde jeder Hörer sich das jeweils in Rede stehende Objekt zu eigen machen und daraus dann seine ganz eigene Geschichte konstruieren. Wer die Objekte trotz allem unbedingt sehen wollte und das Museum nicht persönlich besuchen konnte, hatte das ganze Jahr über die Möglichkeit, Bilder sämtlicher Objekte auf der Website zu diesem Projekt aufzurufen. Diese Bilder wurden dann auch in den hier vorliegenden, wunderbar illustrierten Band aufgenommen.

Neil MacGregorSeptember 2010

EinleitungSignale aus der Vergangenheit

In diesem Buch machen wir uns auf zu einer Reise zurück in die Vergangenheit und quer über den Globus, um zu erfahren, wie die Menschen in den letzten zwei Millionen Jahren unsere Welt geprägt haben und ihrerseits von ihr geprägt wurden. Das Buch will eine Weltgeschichte erzählen, wie sie bislang noch niemand versucht hat: Es möchte die Botschaften entziffern, die Objekte durch die Zeiten senden – Botschaften über Völker und Orte, über Umwelten und wechselseitige Beeinflussungen, über verschiedene historische Augenblicke und über unsere eigene Zeit, die sich darin widerspiegelt. Diese Signale aus der Vergangenheit – manche davon sind verlässlich, manche spekulativ, viele müssen überhaupt erst noch aufgefangen werden – haben wenig mit den anderen Indizien zu tun, auf die wir sonst zumeist stoßen. Sie berichten von ganzen Gesellschaften und komplexen Prozessen, weniger von einzelnen Ereignissen, und sie erzählen von der Welt, für die sie angefertigt wurden, ebenso wie von späteren Zeiten, in denen sie verändert oder an andere Orte gebracht wurden und mitunter Bedeutungen entwickelten, die ihre ursprünglichen Produzenten keineswegs im Sinn hatten. Es sind die Dinge, welche die Menschheit hervorgebracht hat, diese mit größter Sorgfalt gefertigten historischen Quellen und ihre oftmals kuriosen Reisen durch Jahrhunderte und Jahrtausende, die diese Geschichte der Welt in 100 Objekten zum Leben zu erwecken sucht. In diesem Buch finden sich alle möglichen Arten von Objekten, die mit großer Sorgfalt hergestellt und dann entweder bewundert und bewahrt oder benutzt, beschädigt und weggeworfen wurden. Die Bandbreite reicht vom Kochtopf bis zur goldenen Galeone, vom steinzeitlichen Werkzeug bis zur Kreditkarte, und sie alle stammen aus den Beständen des Britischen Museums.

Die Geschichte, die sich aus diesen Objekten ergibt, wird vielen Lesern wenig vertraut vorkommen. Von bekannten Daten, berühmten Schlachten oder historischen Geschehnissen ist darin kaum die Rede. Kanonische Ereignisse der Weltgeschichte – die Entstehung des Römischen Reiches, die Zerstörung Bagdads durch die Mongolen, die europäische Renaissance, die Napoleonischen Kriege, der Atombombenabwurf auf Hiroshima – stehen nicht im Mittelpunkt. Aber natürlich sind sie präsent, sichtbar in der Brechung durch einzelne Objekte. So bestimmte beispielsweise die Politik des Jahres 1939, dass Sutton Hoo ausgegraben und wie es bewertet wurde (Kapitel 47). Der Stein von Rosette ist (neben vielem anderen) ein Dokument der Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und dem napoleonischen Frankreich (Kapitel 33). Und der Amerikanische Bürgerkrieg wird hier aus der ungewöhnlichen Perspektive einer auf Hirschhaut gezeichneten indianischen Landkarte betrachtet (Kapitel 88). Stets habe ich Objekte ausgesucht, die viele Geschichten erzählen und nicht nur von einem einzigen Ereignis künden.

Die notwendige Poesie der Dinge

Will man die Geschichte der ganzen Welt erzählen, also eine Geschichte, die nicht einen bestimmten Teil der Menschheit über Gebühr privilegiert, so schafft man das nicht allein durch schriftliche Quellen, denn nur ein Teil der Welt kannte Texte, während der Großteil der Welt die meiste Zeit über «schriftlos» war. Die Schrift ist eine der späteren Errungenschaften der Menschheit, und bis vor gar nicht allzu langer Zeit brachten selbst viele schreibkundige Gesellschaften ihre Nöte und Sehnsüchte nicht nur schriftlich, sondern auch in Gegenständen zum Ausdruck.

Idealerweise sollte eine Geschichte Texte und Objekte vereinen, und in einigen Kapiteln dieses Buches gelingt das auch, doch in vielen Fällen ist es schlicht nicht möglich. Das deutlichste Beispiel für diese Asymmetrie zwischen schriftlicher und schriftloser Geschichte ist vielleicht die erste Begegnung zwischen Captain Cooks Expedition und den australischen Aborigines in der Botany Bay (Kapitel 89). Auf englischer Seite verfügen wir über wissenschaftliche Berichte und den Tagebucheintrag des Kapitäns von diesem schicksalsträchtigen Tag. Auf australischer Seite hingegen zeugt von diesem Ereignis lediglich ein Borkenschild, den ein Mann auf der Flucht verloren hat, nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben den Schuss eines Gewehrs vernommen hatte. Wollen wir rekonstruieren, was an diesem Tag wirklich geschehen ist, muss der Schild ebenso intensiv und ernsthaft befragt und interpretiert werden wie die schriftlichen Berichte.

Neben dem Problem des gegenseitigen Missverstehens gibt es noch ein weiteres: die zufälligen oder bewussten Verzerrungen des Sieges. Wie wir alle wissen, sind es die Sieger, welche die Geschichte schreiben, vor allem dann, wenn nur die Sieger schreiben können. Die auf der Verliererseite, diejenigen, deren Gesellschaften erobert oder zerstört werden, haben oft nur ihre Gegenstände, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Taíno in der Karibik, die australischen Aborigines, die afrikanische Bevölkerung des Königreichs Benin und die Inka, die allesamt in diesem Buch vorkommen, können uns Heutigen von ihren vergangenen Errungenschaften am eindrucksvollsten mittels der Objekte berichten, die sie hergestellt haben: Eine Geschichte, die anhand von Dingen erzählt wird, gibt ihnen ihre Stimme zurück. Betrachten wir den Kontakt zwischen schreibkundigen und analphabetischen Gesellschaften wie diesen, so liefern all unsere Berichte aus erster Hand zwangsläufig ein verzerrtes Bild, stellen nur die eine Hälfte eines Dialogs dar. Wollen wir auch die andere Seite dieses Austauschs ausfindig machen, müssen wir nicht nur die Texte, sondern auch die Objekte lesen.

Doch das alles ist natürlich leichter gesagt als getan. Aufgrund des Studiums von Texten Geschichte zu schreiben ist ein vertrautes Vorgehen, und wir verfügen über einen über Jahrhunderte gewachsenen kritischen Apparat, der uns bei der Beurteilung schriftlicher Aufzeichnungen behilflich ist. Wir haben gelernt, ihre Offenheit, ihre Verzerrungen, ihre Täuschungen einzuschätzen. Auch im Hinblick auf Objekte verfügen wir natürlich über Expertisestrukturen – archäologischer, naturwissenschaftlicher, anthropologischer Natur –, die es uns ermöglichen, die Objekte kritisch zu hinterfragen. Zusätzlich jedoch brauchen wir ein gehöriges Maß an Vorstellungskraft, wenn wir dem Artefakt sein früheres Leben ablauschen, wenn wir uns mit ihm so großzügig, so poetisch wie nur möglich befassen, in der Hoffnung, es möge uns die Erkenntnisse vermitteln, die es in sich trägt.

Bei vielen Kulturen ist das ohnehin die einzige Möglichkeit, um überhaupt etwas über sie zu erfahren. Die Moche-Kultur Perus beispielsweise lebt heute allein über das archäologische Material fort. Ein Gefäß in Form eines Kriegers (Kapitel 48) ist einer der wenigen Ausgangspunkte, um herauszufinden, wer diese Menschen waren, und zu verstehen, wie sie lebten, wie sie sich und ihre Welt sahen. Wir haben es hier mit einem komplizierten Prozess mit unsicherem Ausgang zu tun, denn wir müssen Objekte, die heute nur über verschiedene Schichten kultureller Übertragung greifbar sind, eingehend untersuchen und anschließend «re-imaginieren», also sie uns in ihrem ursprünglichen Kontext vorstellen. So hat etwa die spanische Conquista der Azteken für uns den aztekischen Kriegszug gegen die Huaxteken überlagert. Aufgrund dieser geschichtlichen Umwälzungen ist die Stimme der Huaxteken heute nur über einen zweifachen «Umweg» vernehmbar, nämlich über eine spanische Version dessen, was ihnen die Azteken über dieses Volk berichtet haben. Was aber dachten die Huaxteken selbst? Sie hinterließen keine schriftlichen Aufzeichnungen, doch die materielle Kultur der Huaxteken ist in Figuren wie einer eineinhalb Meter großen Göttin aus Stein erhalten geblieben (Kapitel 69), die man zunächst mit der aztekischen Muttergöttin Tlazolteotl und später mit der Jungfrau Maria assoziierte. Diese Skulpturen sind die wichtigsten Dokumente für das religiöse Denken der Huaxteken; ihre genaue Bedeutung bleibt zwar rätselhaft, doch ihre numinose Präsenz sorgt dafür, dass wir die aztekischen und spanischen Berichte aus zweiter Hand noch einmal neu lesen, mit veränderter Perspektive und schärferen Fragen – letztlich aber vertrauen wir noch immer unseren eigenen Intuitionen im Hinblick darauf, was in diesem Dialog mit den Göttern geschieht.

Solche Akte imaginärer Interpretation und Aneignung sind für jede «Geschichte in Dingen» von essenzieller Bedeutung. Diese Methoden des Verstehens waren schon den Begründern des Britischen Museums vertraut, für sie war die Rückgewinnung vergangener Kulturen eine wesentliche Grundlage, um unser gemeinsames Menschsein zu begreifen. Die Sammler und Gelehrten der Aufklärung gingen diese Aufgabe auf zweifache Weise an, nämlich mit einer wissenschaftlichen Ordnung der Fakten einerseits und einer seltenen Fähigkeit zur poetischen Rekonstruktion andererseits. Gleiches wurde zur gleichen Zeit auf der anderen Seite der Welt versucht. Qianlong, Kaiser von China und Zeitgenosse des britischen Königs Georg III., war Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls darum bemüht, zusammenzutragen, zu sammeln, zu klassifizieren, zu kategorisieren, die Vergangenheit zu erkunden, Wörterbücher zu erarbeiten, Enzyklopädien zu erstellen und über das zu schreiben, was er entdeckt hatte, nach außen hin genau wie ein europäischer Gentleman und Gelehrter dieser Zeit. Zu den zahlreichen Gegenständen, die er zusammentrug, gehörte auch eine Bi-Scheibe aus Jade (Kapitel 90), die große Ähnlichkeit mit den Jadescheiben aufweist, wie man sie in den Gräbern der Shang-Dynastie aus dem Jahr 1500 v. Chr. gefunden hat. Wozu genau sie verwendet wurden, ist bis heute unbekannt, aber es handelt sich mit Sicherheit um Objekte von hohem Status, die zudem wunderschön gefertigt sind. Kaiser Qianlong bewunderte die eigenartige Eleganz der Bi-Scheibe und begann Spekulationen darüber anzustellen, wozu sie gedient haben mochte. Sein Ansatz war phantasievoll und wissenschaftlich zugleich: Er konnte erkennen, dass die Scheibe sehr alt war, und untersuchte alle im weiteren Sinne vergleichbaren Objekte, von denen er wusste, aber darüber hinaus war er ratlos. Also schrieb er, wie es typisch für ihn war, ein Gedicht über seinen Versuch, sich die Verwendungsweise des Objekts zu erklären. Anschließend sorgte er dafür – und das mag uns heute fast ein wenig schockieren –, dass dieses Gedicht dem so gepriesenen Objekt selbst eingeschrieben wurde – ein Gedicht, in dem er zu dem Schluss kommt, die wundervolle Bi-Scheibe sei als Schalenständer gedacht gewesen, und so stellte er eine Schale drauf.

Zwar kam Kaiser Qianlong, was den Zweck der Bi-Scheibe angeht, zum falschen Schluss, doch ich muss gestehen, ich bewundere seine Methode. Denkt man mit Hilfe von Gegenständen über die Vergangenheit oder eine ferne Welt nach, so hat das immer etwas von einer poetischen Neuschöpfung. Wir erkennen die Grenzen dessen, was wir mit Sicherheit wissen können, und müssen deshalb nach einer anderen Art der Erkenntnis suchen, immer in dem Bewusstsein, dass die Objekte von Menschen hergestellt wurden, die im Grunde wie wir sind – also sollten wir in der Lage sein herauszufinden, warum die Menschen diese Gegenstände angefertigt haben und welchem Zweck sie dienten. Das ist mitunter vermutlich die beste Möglichkeit, um zu begreifen, worum es in der Welt großteils geht, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in unserer Zeit. Können wir andere Menschen jemals wirklich verstehen? Möglicherweise, aber nur über Kraftakte in Sachen poetischer Vorstellungskraft, gepaart mit streng erworbenem und geordnetem Wissen.

Kaiser Qianlong ist beileibe nicht der einzige Dichter in dieser Geschichte. Shelleys poetische Reaktion auf Ramses II. – sein «Osymandias» – verrät uns zwar nichts darüber, wie diese Statue im alten Ägypten entstanden ist, aber eine Menge über die Faszination, die man Anfang des 19. Jahrhunderts für die Vergänglichkeit von großen Reichen hegte. Beim berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo (Kapitel 47) sind gleich zwei Dichter am Werk: Das epische Heldengedicht des Beowulf ist in der historischen Wirklichkeit geborgen, während Seamus Heaneys Evokation des Kriegerhelms diesem famosen Stück angelsächsischer Rüstung drängende Aktualität verleiht. Eine «Geschichte in Dingen» wäre ohne Dichter schlicht unmöglich.

Das Überleben der Dinge

Eine Geschichte der Welt, die mit Hilfe von Objekten erzählt wird, sollte deshalb – ausreichend Vorstellungskraft vorausgesetzt – gerechter und ausgewogener sein als eine, die allein auf Texten beruht. Sie sorgt dafür, dass viele verschiedene Völker «zu Wort kommen», insbesondere unsere Vorfahren in einer sehr fernen Vergangenheit. Die frühe Menschheitsgeschichte – also insgesamt mehr als 95 Prozent unserer Geschichte – lässt sich denn auch nur in Stein erzählen, denn neben menschlichen und tierischen Überresten haben einzig steinerne Objekte überdauert.

Doch auch eine Geschichte mittels Objekten kann niemals wirklich ausgewogen sein, denn sie ist voll und ganz davon abhängig, was zufällig erhalten geblieben ist. Besonders hart ist das im Falle von Kulturen, deren Artefakte überwiegend aus organischen Materialien bestehen, vor allem dort, wo das Klima dafür sorgt, dass diese Dinge sich zersetzen und verfaulen: In den Tropen etwa hat sich kaum etwas aus der fernen Vergangenheit erhalten. In vielen Fällen sind die ältesten organischen Artefakte, über die wir verfügen, diejenigen, die von den ersten europäischen Besuchern mitgenommen wurden. So stammen etwa zwei Objekte in diesem Buch von den Expeditionen Captain Cooks – der bereits erwähnte Schild der Aborigines (Kapitel 89) und der Federhelm aus Hawaii (Kapitel 87) –, die jeweils bei der allerersten Begegnung zwischen diesen Gesellschaften und den Europäern eingesammelt wurden. Selbstverständlich gab es sowohl auf Hawaii als auch im Südosten Australiens schon lange vorher komplexe Gesellschaften, die ausgefeilte Artefakte herstellten. Doch von diesen früheren Gegenständen aus Holz, Pflanzen oder Federn ist so gut wie nichts erhalten geblieben, so dass sich die Frühgeschichte dieser Kulturen heute kaum erzählen lässt. Eine der wenigen Ausnahmen ist das 2500 Jahre alte Stoffstück von Mumien in Paracas (Kapitel 24), das aufgrund der außergewöhnlich trockenen Bedingungen in der peruanischen Wüste überdauert hat.

Dinge müssen jedoch nicht unbedingt unversehrt erhalten bleiben, um Unmengen an Informationen zu vermitteln. So fand 1948 ein aufmerksamer Strandsucher am Fuße einer Klippe bei Kilwa in Tansania Dutzende kleiner Keramikbruchstücke (Kapitel 60). Es handelte sich dabei im wahrsten Sinne des Wortes um Müll: um Scherben von Geschirr, die weggeworfen worden waren, weil sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Doch als unser Strandsucher sie zusammentrug, wurde ihm allmählich bewusst, dass in diesen Keramikstücken die Geschichte Afrikas von vor tausend Jahren enthalten war. Betrachtet man ihre Vielfalt, so ergibt sich daraus sogar eine ganze Geschichte des Indischen Ozeans, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diese Scherben von völlig unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Orten stammen. Eine grüne und eine blau-weiße Scherbe sind eindeutig aus Porzellan, das in China in großen Mengen für den Export produziert wurde. Andere Stücke tragen islamische Verzierungen und kommen aus Persien und der Golfregion. Wieder andere stammen von Töpferware ostafrikanischer Urvölker.

Diese Keramikwaren – die alle, so glauben wir, von den gleichen Menschen benutzt und ungefähr zur gleichen Zeit auf den Müllhaufen geworfen wurden – belegen, was in Europa lange Zeit unbekannt war: dass die ostafrikanische Küstenregion zwischen 1000 und 1500 mit dem gesamten Gebiet des Indischen Ozeans in Kontakt stand. Zwischen China, Indonesien, Indien, der Golfregion und Ostafrika herrschte reger Handelsverkehr, bei dem Rohstoffe und Fertigwaren über weite Strecken transportiert wurden. Das war deshalb möglich, weil die Winde im Indischen Ozean – anders als im Atlantik, wo sie häufig Richtung und Intensität wechseln – ein halbes Jahr lang sanft aus Südosten und das andere halbe Jahr sanft aus Nordwesten wehen, was es Seeleuten ermöglicht, große Entfernungen zurückzulegen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wieder sicher nach Hause zu kommen. Die Scherben von Kilwa zeigen, dass der Indische Ozean in Wirklichkeit ein riesiger See ist, über den hinweg Kulturen seit Jahrtausenden einen Austausch pflegen, bei dem die Händler nicht nur Waren, sondern auch Ideen im Gepäck haben, und bei dem die Gemeinschaften an seinen Gestaden genauso eng miteinander verbunden sind wie am Mittelmeer. Wie überhaupt diese Geschichte in Objekten unter anderem deutlich macht, dass allein schon das Wort «Mittelmeer» – das Meer in der Mitte der Welt – falsche Assoziationen weckt. Es bildet keineswegs den Mittelpunkt der Erde, und seine maritime Kultur ist nur eine von vielen. Wir werden natürlich keine andere Bezeichnung dafür einführen, aber eigentlich müssten wir das tun.

Die Biographien von Dingen

Würde man es ganz genau nehmen, dann müsste auch dieses Buch eigentlich ein wenig anders heißen, nämlich Geschichte von Objekten auf ihrem Weg durch viele verschiedene Welten. Denn eines der Charakteristika von Dingen ist ja, dass sie sich oftmals lange, nachdem sie angefertigt wurden, verändern – oder verändert werden – und dabei Bedeutungen annehmen, die man sich am Anfang niemals hätte vorstellen können.

Eine erstaunliche Vielzahl unserer Objekte trägt die Male späterer Ereignisse. Mitunter handelt es sich dabei einfach um Beschädigungen, die im Laufe der Zeit auftreten, wie im Falle des zerbrochenen Kopfschmucks der Huaxteken-Göttin, oder die auf ungeschickte Ausgrabung oder gewaltsamen Raub zurückzuführen sind. Häufiger jedoch wurden spätere Eingriffe bewusst vorgenommen, um die Bedeutung des Objekts zu verändern oder den Stolz bzw. die Vorlieben des neuen Besitzers zum Ausdruck zu bringen. Das Objekt wird somit zu einem Dokument nicht nur der Welt, für die es gemacht wurde, sondern auch der späteren Zeiten, die es verändert haben. Der Topf der Jōmon-Kultur beispielsweise (Kapitel 10)zeugt von den frühen Fertigkeiten der Japaner in Sachen Keramik und von den Anfängen von Eintöpfen und Suppen vor vielen tausend Jahren, doch seine vergoldete Innenseite erzählt von einem späteren ästhetisierenden Japan, das sich nunmehr seiner eigenen Traditionen bewusst war und seine lange Geschichte neu bewertete und schätzen lernte: Das Objekt ist zu einem Kommentar über sich selbst geworden. Ein noch deutlicheres Beispiel für die vielen Leben eines Objekts ist die afrikanische Schlitztrommel aus Holz in Form eines Kurzhorn-büffels (Kapitel 94). Sie wurde zunächst für einen Herrscher vermutlich im Norden des Kongo angefertigt, dann in Khartum zu einem islamischen Objekt umgemodelt und schließlich, nachdem der Earl of Kitchener sie mitgenommen hatte, mit der Krone Königin Viktorias versehen und nach Windsor geschickt – eine in Holz geschnitzte Geschichte der Eroberungen und Weltreiche. Ich glaube nicht, dass irgendein Text so viele Geschichten aus Afrika und Europa in sich vereinen oder sie auf so eindrucksvolle Weise unmittelbar vor Augen führen könnte. Eine solche Geschichte kann nur ein Gegenstand erzählen.

Zwei Objekte in diesem Buch berichten auf verstörend materielle Weise von wechselnden Loyalitäten und gescheiterten Strukturen, indem sie zwei verschiedene Gesichter zweier verschiedener Welten zeigen. Von vorne betrachtet, kündet die steinerne Statue des Hoa-haka-nana-ia (Kapitel 70) mit unerschütterlichem Selbstvertrauen von der Macht der Vorfahren, welche die Osterinsel beschützen werden, wenn man sie nur entsprechend verehrt. Auf der Rückseite jedoch ist das Scheitern eben jenes Kults verewigt sowie dessen spätere, ängstliche Ersetzung durch andere Rituale, als das Ökosystem der Osterinsel zusammenbrach und die für das Leben dort unabdingbaren Vögel die Insel verließen. An dieser einen Statue lässt sich somit die jahrhundertelange Religionsgeschichte einer Gemeinschaft ablesen. Im Gegensatz dazu weist der russische Revolutionsteller (Kapitel 96) Veränderungen auf, die in erster Linie aus menschlichen Entscheidungen und politischem Kalkül resultierten. Dass man kaiserliches Porzellan verwendete, um bolschewikische Bildsprache zu vermitteln, entbehrt nicht einer gewissen Ironie; doch stärker noch ist die Bewunderung für die unsentimentale kommerzielle Brillanz, die zurecht darauf setzte, dass kapitalistische Sammler im Westen für einen Teller mehr bezahlen würden, der Hammer und Sichel der Revolution mit dem imperialen Monogramm des Zaren auf sich vereinte. Der Teller zeigt die ersten Stufen des vielschichtigen historischen Kompromisses zwischen den Sowjets und den freiheitlichen Demokratien, der die nächsten siebzig Jahre Bestand haben sollte.

Diese beiden Umarbeitungen sind ebenso faszinierend wie lehrreich, doch am meisten Freude bereitet mir persönlich zweifellos die Umgestaltung der Ermahnungs-Bildrolle (Kapitel 39). Über Jahrhunderte hinweg hatten die jeweiligen Besitzer und Liebhaber ihre Freude an diesem berühmten Meisterwerk chinesischer Malerei, wenn es langsam vor ihnen entrollt wurde, und sie haben dies dann dokumentiert, indem sie die Rolle mit ihrem Stempel versahen. Das Ergebnis mag auf das westliche Auge schockierend wirken, denn hierzulande gilt das Kunstwerk als beinahe sakraler Bereich; ich finde diese ästhetischen Bekenntnisse und Bekundungen jedoch sehr bewegend, denn sie schaffen eine Gemeinschaft gemeinsamen Vergnügens, die Jahrhunderte umfasst und in die wir unsererseits Aufnahme finden – auch wenn wir keine Markierungen hinterlassen. Nichts könnte deutlicher zum Ausdruck bringen, dass dieser wundervolle Gegenstand, der Menschen über einen sehr langen Zeitraum auf ganz unterschiedliche Weise bezaubert hat, noch immer Freude bereiten kann und es nun an uns ist, ihn zu genießen. Die Biographien von Dingen können sich im Laufe der Zeit aber auch noch auf andere Weise verändern. Eine der Kernaufgaben der Museologie – und hier insbesondere der Konservierung und Bestandserhaltung – besteht darin, unsere Objekte immer wieder neu zu analysieren, wenn neue Technologien es uns erlauben, neue Fragen an sie zu stellen. Insbesondere in den letzten Jahren gab es auf diesem Gebiet erstaunliche Ergebnisse zu besichtigen, die bislang unbekannte Dimensionen und Perspektiven eröffneten und bei Dingen, die wir für erforscht und vertraut hielten, ungeahnte Bedeutungen entdeckten. Zurzeit verändern sich die Objekte rasch. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist in diesem Buch sicherlich das Jadebeil aus Canterbury (Kapitel 14), dessen Herkunft wir heute bis zu dem Felsblock hoch oben in den Bergen Norditaliens zurückverfolgen können, von dem es ursprünglich abgeschlagen wurde. Daraus ergeben sich ein ganz neues Verständnis der Handelsrouten im frühen Europa und ein ganzes Bündel frischer Hypothesen über die Bedeutung des Beils als solchem, das möglicherweise besonders wertvoll war, weil sein Ursprung jenseits der Wolken und weit weg lag. Neue medizinische Untersuchungsmethoden liefern genauere Erkenntnisse über die Wehwehchen der alten Ägypter (Kapitel 1) und über die Talismane, die sie mit ins Jenseits nahmen. Der mittelalterliche Hedwigsbecher (Kapitel 57), der lange Zeit berühmt war für seine Fähigkeit, Wasser in Wein zu verwandeln, hat ebenfalls vor kurzem eine grundlegende Wesensveränderung erfahren. Dank neuer Analysen des Glases lässt sich als Herkunftsort nunmehr mit einiger Sicherheit der östliche Mittelmeerraum vermuten, und mit weniger Gewissheit (aber großem Vergnügen) können wir darüber spekulieren, ob er nicht mit einem bestimmten Augenblick in der mittelalterlichen Dynastiegeschichte und einem schillernden Charakter aus der Zeit der Kreuzzüge in Verbindung steht. Die Wissenschaft schreibt diese Geschichten auf gänzlich unerwartete Weise neu.

Im Falle der Akan-Trommel (Kapitel 86), die um 1730 in Virginia für Sir Hans Sloane erworben wurde, verbindet sich präzise Materialwissenschaft mit bemerkenswerter poetischer Vorstellungskraft. Holz- und Pflanzenexperten haben vor kurzem festgestellt, dass diese Trommel zweifellos in Westafrika gefertigt wurde: Sie muss den Atlantik auf einem Sklavenschiff überquert haben. Nun, da wir ihren Herkunftsort kennen, fragen wir uns natürlich, was sie erlebt hat, und begleiten sie im Geiste auf ihrer vermutlich wenig gemütlichen Reise von einem westafrikanischen Königshof quer über den Atlantik auf eine Baumwollplantage in Nordamerika. Wir wissen, dass solche Trommeln für «Sklaventänze» auf den Schiffen verwendet wurden, mit denen Depressionen bekämpft werden sollten, und dass sie auf den Plantagen mitunter die Sklaven zu Aufständen zusammentrommelten. Wenn eine der Zielsetzungen einer Objekt-Geschichte darin besteht, mit Hilfe von Dingen denen, die keine Stimme haben, eine zu geben, dann spielt diese Sklaventrommel eine ganz besondere Rolle – sie spricht für Millionen von Menschen, die nichts mitnehmen durften, als sie versklavt und verschleppt wurden, und die nicht in der Lage waren, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben.

Dinge quer durch Zeit und Raum

Am Globus zu drehen und die ganze Welt gleichzeitig in den Blick nehmen zu wollen, wie ich das im Vorwort beschrieben habe – auf diese Art wird Geschichte üblicherweise nicht erzählt oder gelehrt. Ich glaube, nur die wenigsten mussten sich während ihrer Schulzeit Gedanken darüber machen, was im Jahr 1066 in Japan oder Ostafrika geschehen ist. Lassen wir jedoch zu bestimmten Zeiten den Blick über den Erdball schweifen, so zeitigt das oftmals überraschende und inspirierende Ergebnisse. Um das Jahr 300 n. Chr. herum beispielsweise (Kapitel 41–45) kam es zu einer irritierenden Synchronizität, als Buddhismus, Hinduismus und Christentum allesamt die Darstellungskonventionen entwickelten, die bei ihnen bis heute weitgehend in Gebrauch sind, und ihr Augenmerk auf Bilder vom menschlichen Körper richteten. Warum diese erstaunliche Koinzidenz? Waren sie alle von der fortdauernden Tradition der hellenistischen Skulptur beeinflusst? Hatte es damit zu tun, dass alle drei Religionen das Produkt reicher und expandierender Imperien waren, die intensiv in die neue Bildersprache investieren konnten? Gab es eine neue, gemeinsame Vorstellung, wonach das Menschliche und das Göttliche in gewissem Sinne nicht voneinander zu trennen waren? Eine endgültige Antwort lässt sich unmöglich geben, aber nur diese Art der Weltbetrachtung konnte so scharf die Frage stellen, die dann zu einer zentralen historischen Frage werden sollte.

In einigen Fällen kehrt unsere Geschichte mehrmals mehr oder weniger an den gleichen Punkt zurück, mit Tausenden von Jahren dazwischen, und beobachtet das gleiche Phänomen. In diesen Fällen jedoch lassen sich Ähnlichkeiten und Koinzidenzen leichter erklären. Die Sphinx des Taharqa (Kapitel 22), der Kopf des Augustus aus Meroë (Kapitel 35) und die Schlitztrommel aus Khartum (Kapitel 94) künden allesamt vom gewaltsamen Konflikt zwischen Ägypten und dem, was heute der Sudan ist. In jedem dieser Fälle genossen die Menschen aus dem Süden – dem Sudan – einen Augenblick (oder ein Jahrhundert) des Sieges; in jedem dieser Fälle setzte sich die in Ägypten herrschende Macht am Ende wieder durch und stellte die Grenze wieder her. Das Ägypten der Pharaonen, das Rom des Augustus und das viktorianische England waren nacheinander alle gezwungen anzuerkennen, dass im Umfeld der ersten Nilkatarakte, wo die Welt des Mittelmeers auf Schwarzafrika stößt, eine säkulare geopolitische Bruchlinie verläuft. Dort prallten die tektonischen Platten seit jeher aufeinander, was zu einem endemischen Konflikt führte, ganz gleich, wer gerade an der Macht war. Das ist Geschichte, welche die Politik von heute zu einem Gutteil erklären kann.

Wenn man an der Weltkugel dreht, zeigt sich meiner Ansicht nach auch, wie unterschiedlich Geschichte aussieht, je nachdem, wer man ist und von wo aus man die Sache betrachtet. Obwohl sich heute also alle Objekte in diesem Buch an einem Ort befinden, umfasst es viele verschiedene Stimmen und Perspektiven. Es stützt sich auf die gesammelte Expertise des Britischen Museums mit all seinen Kuratoren, Konservatoren und Wissenschaftlern, präsentiert aber auch Forschungsergebnisse und Analysen von führenden Gelehrten aus der ganzen Welt und enthält Einschätzungen von Menschen, die sich beruflich mit Objekten befassen, welche unseren historischen Gegenständen recht ähnlich sind: Der Leiter des British Civil Service beurteilt eine der ältesten erhaltenen administrativen Aufzeichnungen aus Mesopotamien (Kapitel 15), ein heutiger Satiriker schaut sich Reformationspropaganda an (Kapitel 85), und ein indonesischer Puppenspieler beschreibt, wieviel Geschick und Können solche Vorführungen erfordern (Kapitel 83). Auf außerordentlich großzügige Weise haben Richter und Künstler, Nobelpreisträger und religiöse Führer, Töpfer, Bildhauer und Musiker die Objekte mit Einblicken in ihre berufliche Erfahrung bereichert.

Glücklicherweise enthält das Buch auch Stimmen aus den Gemeinschaften oder Ländern, in denen die Objekte entstanden sind. Das ist, so glaube ich, unabdingbar. Nur sie können erklären, welche Bedeutung solche Dinge heute in diesem Kontext haben: Nur ein Hawaiianer weiß, welche Bedeutung der Federhelm, den man Captain Cook und seinen Mitstreitern überreicht hat (Kapitel 87), heute, nach 250 Jahren europäischer und amerikanischer Einmischung, für die Inselbewohner besitzt. Niemand kann besser erläutern als Wole Soyinka, was es für einen Nigerianer heißt, die Bronze-Objekte aus Benin (Kapitel 77) heute im Britischen Museum zu sehen. Das sind wichtige Fragen, wenn man als Historiker Objekte betrachtet. Überall auf der Welt definieren sich nationale und regionale Identitäten zunehmend durch neue Lesarten ihrer Geschichte, und diese Geschichte ist häufig in Dingen verankert. Das Britische Museum ist nicht einfach nur eine Sammlung von Objekten: Es ist eine Arena, in der Bedeutung und Identität im globalen Maßstab diskutiert und ausgefochten werden, mitunter mit einiger Schärfe. Diese Debatten sind ein wesentlicher Teil dessen, was die Objekte heute bedeuten, nicht anders als die Auseinandersetzungen darüber, wo sie am besten ausgestellt oder beheimatet sein sollten. Diese Ansichten sollten von denjenigen formuliert werden, die am stärksten davon betroffen sind.

Die Grenzen der Dinge

Alle Museen gründen auf der Hoffung – auf der Überzeugung –, dass das Studium der Dinge zu einem besseren Verständnis der Welt führen kann. Zu diesem Zweck wurde das Britische Museum ins Leben gerufen. Mit Nachdruck formulierte diese Vorstellung Sir Stamford Raffles; seine Sammlung überließ er nicht zuletzt deshalb dem Britischen Museum, weil er die Europäer davon überzeugen wollte, dass Java über eine Kultur verfügte, die mit Stolz neben den großen Zivilisationen des Mittelmeerraums bestehen konnte. Der Kopf des Buddha aus Borobudur (Kapitel 59) und die Bhima-Schattenpuppe (Kapitel 83) zeigen, wie beredt Objekte ein derartiges Plädoyer untermauern können, und ich bin mit ziemlicher Sicherheit nicht der Einzige, der bei Betrachtung dieser Gegenstände von Raffles’ Behauptung absolut überzeugt ist. Diese beiden Objekte führen uns zwei gänzlich verschiedene Augenblicke der Geschichte Javas vor Augen und demonstrieren damit die Langlebigkeit und Lebendigkeit dieser Kultur, gleichzeitig künden sie von zwei völlig unterschiedlichen Bereichen menschlichen Strebens – einer in sich gekehrten spirituellen Suche nach Erleuchtung und ausgelassener öffentlicher Belustigung. Mit Hilfe dieser beiden Objekte lässt sich eine ganze Kultur in den Blick nehmen, verstehen und bewundern.

Das Objekt, das die Bestrebungen nicht nur dieses Buches, sondern des Britischen Museums insgesamt am besten auf den Punkt bringt, also den Versuch, eine Welt zu imaginieren und zu begreifen, die wir nicht unmittelbar erfahren haben, sondern von der wir nur über die Berichte und Erfahrungen anderer wissen, ist Dürers Rhinocerus (Kapitel 75), ein Tier, das er zeichnete, aber nie zu Gesicht bekam. Als Dürer davon gehört hatte, dass der König von Portugal 1515 als Geschenk des Sultans von Gujarat ein indisches Nashorn erhalten hatte, informierte er sich anhand von schriftlichen Beschreibungen, die in Europa zirkulierten, so umfassend wie möglich darüber und versuchte sich dann vorzustellen, wie dieses außergewöhnliche Tier aussehen könnte. Genauso verfahren wir, wenn wir Belege sammeln und uns dann eine Vorstellung von einer längst vergangenen oder fernen Welt machen.

Dürers Tier, das in seiner gedrängten Monumentalität unvergesslich und mit seiner wuchtigen Panzerung und den dicken Hautfalten zutiefst beeindruckend ist, stellt eine herausragende Leistung eines großen Künstlers dar. Es ist so eindrucksvoll, plastisch und echt, dass man fast befürchtet, es könnte gleich aus seinem Blatt herausspringen. Und es ist natürlich – lustigerweise? peinlicherweise? beruhigenderweise? (ich vermag es nicht zu sagen) – falsch. Doch darum geht es letztlich nicht. Dürers Rhinocerus steht als Monument für unsere nie endende Neugier auf die Welt jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmung und für das Bedürfnis der Menschheit, diese Welt zu erkunden und sie verstehen zu wollen.

Teil I

Wie wir Menschen wurden

2.000.000–9000 v. Chr.

Das menschliche Leben nahmseinen Anfang in Afrika. Hier schufenunsere Vorfahren die ersten Steinwerkzeuge, umdamit Fleisch, Knochen und Holz zu zerschneiden und zuzerhacken. Diese zunehmende Abhängigkeit von den Dingen, diewir selbst erzeugen, unterscheidet uns Menschen von allen anderenLebewesen. Die Fähigkeit, Objekte herzustellen, ermöglichte es denMenschen, sich an eine Vielzahl von Umgebungen anzupassen undvon Afrika aus in den Nahen und Mittleren Osten, nach Europa undAsien vorzudringen. Während der letzten Eiszeit, die vor rund40.000 Jahren begann, schufen Menschen die ersten Werke darstellenderKunst. Diese Eiszeit hatte zur Folge, dass der Meeresspiegel überallauf der Welt sank, wodurch eine Landverbindung zwischenSibirien und Alaska entstand. Damit konnten dieMenschen erstmals den amerikanischen Kontinentbetreten und sich dort rasch ausbreiten.

1

Die Mumie des Hornedjitef

Hölzerner Mumiensarkophag, aus Theben (nahe Luxor), Ägyptenca. 240 v. Chr.

Als ich 1954, im zarten Alter von acht Jahren, zum ersten Mal das Britische Museum betrat, fing ich bei den Mumien an, und ich glaube, die meisten Menschen beginnen ihren Rundgang beim ersten Besuch noch immer dort. Was mich damals faszinierte, waren die Mumien als solche, der aufregende, gruselige Gedanke, dass es sich dabei um Leichname handelte. Wenn ich heute den Innenhof des Museums durchquere oder die Stufen am Eingangsportal erklimme, sehe ich häufig Gruppen aufgeregter Kinder, die in die Ägyptische Abteilung drängen, um dem Schrecken und dem Schauer der Mumien zu trotzen. Ich persönlich interessiere mich heute eher für die Mumiensarkophage, und obwohl es sich hier keineswegs um das älteste Objekt des Museums handelt, scheint es mir ein guter Ausgangspunkt für diese Geschichte in Objekten zu sein. Chronologisch beginnt unsere Darstellung im zweiten Kapitel, mit den frühesten Objekten, die, soweit wir wissen, vor knapp zwei Millionen Jahren bewusst von Menschen geschaffen wurden. Es mag also ein wenig unangebracht erscheinen, hier so mittendrin anzufangen, aber ich will es dennoch wagen, denn die Mumien und ihre Sarkophage gehören einfach zu den eindrucksvollsten Artefakten des Museums, und sie machen deutlich, welche Art von Fragen dieses Buch an die Objekte stellen – und mitunter auch beantworten – wird. Ich habe diesen Mumiensarkophag ganz bewusst ausgesucht – er wurde um 240 v. Chr. für einen hohen ägyptischen Priester namens Hornedjitef angefertigt und gehört zu den imposantesten Exemplaren im Museum –, weil er noch immer auf ganz bemerkenswerte Weise neue Erkenntnisse liefert und uns Botschaften aus lange vergan genen Zeiten übermittelt.

Wenn wir ein Museum, in dem wir schon als Kind waren, noch einmal besuchen, haben die meisten von uns das Gefühl, dass wir uns enorm verändert haben, während die Dinge die gleichen geblieben sind. Doch dem ist keineswegs so: Dank fortwährender Forschung und neuer wissenschaftlicher Methoden nimmt das, was wir über diese Dinge wissen, stetig zu. Die Mumie des Hornedjitef befindet sich in einem massiven schwarzen Außensarkophag, der die Form eines menschlichen Körpers hat, sowie einem reich verzierten inneren Sarg, und die Mumie selbst ist sorgfältig einbalsamiert und mit Amuletten und Talismanen umwickelt. Alles, was wir über Hornedjitef wissen, wissen wir von diesen Objekten. In gewissem Sinne ist er sein eigenes Dokument, und zwar eines, das noch immer Geheimnisse preisgibt.

Hornedjitef kam 1835 ins Museum, gut zehn Jahre nachdem die Mumie ausgegraben worden war. Die Hieroglyphenschrift der Ägypter war gerade entschlüsselt worden, und deshalb ging es zunächst einmal darum, all die Inschriften auf seinen Sarkophagen zu entziffern. Sie verrieten uns, wer er war, welche Tätigkeit er verrichtete, und auch so manches über seine religiösen Überzeugungen. Wir kennen seinen Namen, weil er sich auf dem inneren Sarkophag findet, ebenso wie die Tatsache, dass er zur Zeit von Ptolemäus III. Priester im Tempel des Amun in Karnak war – also zwischen 246 und 222 v. Chr.

Der innere Sarg zeigt ein Gesicht aus Feingold – was auf den göttlichen Status schließen lässt, denn der Leib ägyptischer Götter war angeblich aus Gold. Unterhalb des Gesichts findet sich eine Darstellung des Sonnengottes als Skarabäus mit ausgebreiteten Flügeln, Symbol des instinktiven Lebens, flankiert von Pavianen, die der aufgehenden Sonne huldigen. Wie alle Ägypter glaubte auch Hornedjitef, dass er über den Tod hinaus fortleben werde, wenn man seinen Leichnam konservierte, doch bevor er im Jenseits ankam, würde er eine gefährliche Reise absolvieren müssen, die eine äußerst sorgfältige Vorbereitung erforderte. Also rüstete er sich mit Schmeicheleien und Zaubersprüchen für jede Eventualität. Die Unterseite des Sarkophagdeckels ist mit solchen Zaubersprüchen, mit Darstellungen von Göttern, die als Beschützer fungieren, und mit Sternenbildern verziert. Sie symbolisieren den Himmelsraum, der sich über ihm erstreckt, und machen die gesamte Innenseite des Sarkophags quasi zu einem Kosmos en miniature: Hornedjitef hat seine persönliche Sternenkarte und Zeitmaschine in Auftrag gegeben. Paradoxerweise ermöglicht es uns gerade seine akribische Vorbereitung auf die Zukunft, heute in die entgegengesetzte Richtung zu reisen, zurück zu ihm und in seine Zeit. Und neben den zahlreichen Inschriften können wir heute allmählich auch das Ding selbst entschlüsseln – die Mumie, ihr Behältnis sowie die Objekte, die es enthält.

Deckelinnenseite von Hornedjitefs innerem Sarkophag.

Die in Leinen gewickelte Mumie, teilweise bedeckt von ihrem Behältnis.

Dank wissenschaftlicher Fortschritte wissen wir heute deutlich mehr über Hornedjitef als noch 1835. Insbesondere in den letzten zwanzig Jahren entwickelte man ganz neue Methoden, um Objekten Informationen zu entlocken, ohne sie dabei zu beschädigen oder gar zu zerstören. Mittels fortgeschrittener wissenschaftlicher Verfahren können wir heute viele Wissenslücken füllen, über die wir in den Inschriften nichts erfahren – wie das Alltagsleben im Detail aussah, wie alt die Menschen waren, was sie aßen, in welchem gesundheitlichen Zustand sie waren, wie sie starben und auch wie sie mumifiziert wurden. So konnten wir beispielsweise bis vor kurzem nicht untersuchen, was sich hinter den Leinenbinden der Mumie verbarg, denn sie auszuwickeln hätte die Tücher und den Leichnam gefährdet. Heute jedoch sind wir in der Lage, mittels Computertomographie, wie sie bei lebenden Menschen zum Einsatz kommt, hinter die Leinenbinden zu schauen und die eingewickelten Objekte sowie den Leichnam zu untersuchen.

John Taylor, Kurator unserer Abteilung für das alte Ägypten und den Sudan, untersucht seit über zwei Jahrzehnten die Mumien des Britischen Museums, und in den letzten Jahren hat er ein paar von ihnen in Londoner Krankenhäuser gebracht, um sie dort durchleuchten zu lassen. Diese Verfahren, die keinerlei Eingriff erfordern und keine Zerstörungen anrichten, haben bedeutsame Erkenntnisse geliefert:

«Wir können heute sagen, dass Hornedjitef mittleren Alters oder älter war, als er starb, und dass er nach den besten Methoden mumifiziert wurde, die es zu seiner Zeit gab. Wir wissen, dass seine inneren Organe entnommen, sorgfältig verpackt und dann wieder in seinen Körper zurückgelegt wurden; wir können sie dort, tief drinnen, erkennen. Wir erfahren zudem, dass man ein wertvolles, harzähnliches Öl in seinen Körper gegossen hat, um ihn zu konservieren, und wir finden Amulette, Ringe, Schmuckstücke und kleine Talismane, die unter den Leinentüchern auf seinen Körper gelegt wurden und ihn auf seiner Reise ins Jenseits beschützen sollten. Wickelt man eine Mumie aus, ist das ein ziemlich destruktives Verfahren, und die Amulette, die sehr klein sind, können verrutschen; ihre Platzierung aber ist ganz entscheidend für ihre Zauberfunktion, und wenn wir die Mumie durchleuchten, sehen wir sie genau in der Position und in dem Verhältnis zueinander, wie sie vor mehreren tausend Jahren dort platziert wurden – ein ungeheurer Erkenntnisgewinn. Auch die Zähne können wir im Detail untersuchen, also wie abgenutzt sie sind und unter welchen Zahnkrankheiten die jeweilige Person gelitten hat. Wir können einen Blick auf die Knochen werfen und haben festgestellt, dass Hornedjitef Arthritis im Rücken hatte, was äußerst schmerzhaft gewesen sein muss.»

Jüngste Fortschritte in der Wissenschaft haben dafür gesorgt, dass wir über Hornedjitef noch viel mehr herausgefunden haben, als nur, dass er unter Rückenschmerzen litt. Da wir die Wörter auf seinem Sarkophag lesen können, wissen wir über seine gesellschaftliche Stellung ebenso Bescheid wie darüber, wie diese Gesellschaft sich das Leben nach dem Tod vorstellte; mit Hilfe der neuen Techniken aber können wir ermitteln, mit welchen Materialien die Leichen mumifiziert und woraus die Sarkophage gefertigt wurden, und das liefert uns Aufschlüsse darüber, wie das damalige Ägypten wirtschaftlich mit seiner Umgebung verbunden war. Mumien mögen für uns etwas spezifisch Ägyptisches sein, doch wie sich zeigt, reichten die Ressourcen Ägyptens allein für die Mumifizierung nicht aus.

Wenn wir die bei der Mumifizierung verwendeten Materialien isolieren und überprüfen, können wir anschließend ihre chemikalische Zusammensetzung mit anderen Substanzen vergleichen, die wir in verschiedenen Gegenden des östlichen Mittelmeerraums gefunden haben, und so allmählich die Handelswege rekonstruieren, auf denen Ägypten mit Materialien versorgt wurde. So weisen einige Sarkophage auf ihrer Oberfläche ein schwarzes, teerartiges Harz auf, das sich mittels chemischer Analyse dorthin zurückverfolgen lässt, woher es stammt – vom Toten Meer viele hundert Kilometer nördlich, also aus einer Gegend, die üblicherweise nicht von Ägypten kontrolliert wurde. Dieses Harz muss somit auf Handelswegen nach Ägypten gelangt sein. Einige Sarkophage sind aus teurem Zedernholz gefertigt, das in großen und kostspieligen Mengen im Libanon eingekauft wurde; wenn wir dieses luxuriöse Holz mit Titel und Rang der Menschen abgleichen, deren Sarkophage daraus gemacht sind, bekommen wir ein Gefühl für den ökonomischen Hintergrund im alten Ägypten. Die Art des verwendeten Holzes – aus heimischer Produktion oder importiert, teuer oder billig – wie auch die Qualität der Verarbeitung, die Verzierungen und die Kunstfertigkeit der Malereien auf dem Sarkophag, all das spiegelt Einkommen und gesellschaftliche Stellung des Mumifizierten wider. Stellt man Individuen wie Hornedjitef in solch allgemeinere Zusammenhänge und sieht sie nicht einfach nur als einzelne Überbleibsel aus einer fernen Vergangenheit, sondern als Teil einer ganzen Gesellschaft, dann hilft uns das dabei, eine umfassendere Geschichte des alten Ägypten zu schreiben, als dies bisher möglich war.

Die meisten Dinge, die Hornedjitef im Sarkophag bei sich hatte, sollten ihn auf der großen Reise ins Jenseits begleiten und ihm dabei helfen, alle absehbaren Schwierigkeiten zu meistern. Was seine Sternenkarte allerdings mit Sicherheit nicht vorhersah, war, dass er letztlich in London landen würde, im Britischen Museum. Sollte das so sein? Sollten Hornedjitef und seine Besitztümer überhaupt hier sein? Solche und ähnliche Fragen werden oft gestellt. Wohin gehören Dinge aus der Vergangenheit heute? Wo werden sie am besten gezeigt? Sollte alles dort ausgestellt werden, wo es ursprünglich entstanden ist? Das sind wichtige Fragen, und ich werde in diesem Buch immer wieder darauf zurückkommen. Ich habe die ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif gefragt, was das für ein Gefühl für sie war, so viele ägyptische Altertümer hier in London zu erleben, so fern der Heimat:

«Letztlich ist es wahrscheinlich gar nicht so schlecht, wenn ägyptische Obelisken, Steine und Statuen überall auf der Welt verstreut sind. Das erinnert uns an die Zeiten des Kolonialismus, keine Frage, aber genauso erinnert es die Welt an unser gemeinsames Erbe.»

Im Museum geht Hornedjitefs Geschichte weiter, so wie die Geschichte all der anderen hier beheimateten Objekte. Ihre Reise ist noch nicht zu Ende, ebenso wenig wie unsere Forschung, die wir gemeinsam mit Kollegen überall auf der Welt betreiben und die unablässig dazu beiträgt, dass das gemeinsame Verständnis der globalen Vergangenheit – unseres gemeinsamen Erbes – stetig wächst.

2

Steinernes Schneidewerkzeugder Oldowan-Kultur

Werkzeug aus der Olduvai-Schlucht, Tansania1,8 bis 2 Millionen Jahre alt

Dieses Schneide- und Hackwerkzeug (im Fachjargon auch Chopping Tool genannt) ist einer der frühesten Gegenstände, die Menschen jemals bewusst hergestellt haben, und wenn wir es in Händen halten, kommen wir unmittelbar in Berührung mit denjenigen, die es produziert haben. In unserer Weltgeschichte in Objekten ist dieses Stück Geröll aus Afrika – aus dem heutigen Tansania – der Ausgangspunkt, an dem alles beginnt.

Wenn die Bedeutung eines Museums, wie ich in der Einleitung formuliert habe, unter anderem darin besteht, dass es uns eine Zeitreise ermöglicht, so hat sich allein schon unser Wissen darum, wie groß der Zeitraum ist, den wir überhaupt durchmessen können, enorm erweitert, seit das Britische Museum 1759 erstmals seine Pforten öffnete. Damals wären die meisten Besucher vermutlich übereinstimmend der Ansicht gewesen, die Welt habe im Jahr 4004 v. Chr. begonnen, genauer gesagt bei Einbruch der Dunkelheit am Vorabend des 23. Oktober besagten Jahres, einem Sonntag. Dieses erstaunlich exakte Datum war 1650 vom Erzbischof von Armagh, James Ussher, errechnet worden, der im Lincoln’s Inn ganz in der Nähe des Britischen Museums predigte. Er hatte akribisch die Bibel durchforstet, die Lebensspannen sämtlicher Nachfahren von Adam und Eva addiert, diese mit anderen Daten kombiniert und war so schließlich zu diesem Ergebnis gekommen. Doch in den vergangenen Jahrhunderten haben Archäologen, Geologen und Museumskuratoren die Chronologie der Menschheitsgeschichte stetig verlängert, und aus Usshers gut 6000 Jahren sind inzwischen beinahe unvorstellbare zwei Millionen Jahre geworden. Wenn die Menschheit ihren Anfang also nicht 4004 v. Chr. im Garten Eden nahm, wann dann? Und wo? Lange Zeit gab es zahlreiche Vermutungen, aber keine schlüssigen Antworten und mit Sicherheit kein belastbares Datum. Das änderte sich erst 1931, als sich ein junger Archäologe namens Louis Leakey zu einer vom Britischen Museum finanzierten Expedition nach Afrika aufmachte.

Leakeys Ziel war die Olduvai-Schlucht, ein tiefer Einschnitt in der flachen Savanne im Norden Tansanias, nicht weit von der Grenze zu Kenia entfernt. Sie ist Teil des Ostafrikanischen Grabenbruchs, eines riesigen Risses in der Erdkruste, der mehrere tausend Kilometer lang ist. In der Olduvai-Schlucht untersuchte Leakey freiliegende Gesteinsschichten, die als eine ganze Serie von Zeitkapseln fungieren. Als Leakey die von der Sonne, dem Wind und dem Regen in der Savanne geformten Felsen in Augenschein nahm, stieß er auf eine Schicht, an der die Felsen auch noch von etwas anderem bearbeitet worden waren – von Menschenhänden. Denn gleich daneben fanden sich Knochen, und damit war klar, dass diese Steine zu Werkzeugen geformt worden waren, mit denen man das Fleisch der in der Savanne getöteten Tiere abschnitt und sie ausnahm. Geologische Untersuchungen belegten anschließend ohne jeden Zweifel, dass die Schicht, in der man die Werkzeuge gefunden hatte, rund zwei Millionen Jahre alt war. Das war archäologischer Sprengstoff.

Leakeys Ausgrabungen förderten die ältesten von Menschen gefertigten Gegenstände zutage, die damals weltweit bekannt waren, und sie zeigten, dass nicht nur das menschliche Leben, sondern auch die menschliche Kultur in Afrika ihren Anfang genommen hatte. Zu den von Leakey gefundenen Werkzeugen gehörte auch dieser Stein. Der berühmte Naturforscher und Filmemacher Sir David Attenborough lässt uns zumindest erahnen, welche Erregung Leakey verspürt haben muss:

«Wenn ich diesen Stein in Händen halte, kann ich spüren, wie es war, draußen in der afrikanischen Savanne zu sein, wenn man Fleisch schneiden und beispielsweise einen Tierkadaver zerlegen musste, um an eine Mahlzeit zu kommen.

Wenn man ihn in die Hand nimmt, ist die erste Reaktion: Mensch, ist der schwer, und wenn er schwer ist, verleiht das deinem Schlag natürlich einige Wucht. Zweitens fällt auf, wie wunderbar er in die Handfläche passt, und zwar so, dass eine scharfe Kante von meinem Zeigefinger zu meinem Handgelenk läuft. Was ich jetzt in der Hand halte, ist also ein scharfes Messer. Mehr noch: Der Stein besitzt eine Wölbung, so dass ich ihn an der Kante, die extra abgeschlagen und scharf ist, fest greifen kann … Damit könnte ich auf wunderbar effektive Art Fleisch zerschneiden. Diese Empfindung verbindet mich mit dem Menschen, der den Stein tatsächlich mühsam einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal auf der einen Seite bearbeitet hat und dreimal auf der anderen Seite … insgesamt also acht bewusste Handlungen von ihm, als er den Stein mit Hilfe eines anderen Steins zugehauen hat, um diese fast gerade, scharfkantige Linie hinzubekommen.»

Vor kurzem haben wir ein neues Schneide- und Hackwerkzeug hergestellt, und zwar mit genau den Techniken, die man vermutlich in der Olduvai-Schlucht angewandt hat. Wenn ich den neuen Stein in die Hand nehme, wird deutlich, wie wunderbar ich ihn als Werkzeug benutzen kann, um damit Fleisch von einem Kadaver abzuschneiden. Ich habe es an einem Stück Brathuhn ausprobiert. Mit dem Stein lässt sich schnell und effektiv das Fleisch vom Knochen lösen, und anschließend kann ich den Knochen mit einem Schlag zerbrechen und bis zum Mark vordringen. Ein solches Werkzeug könnte man aber auch dazu verwenden, um Bäume zu entrinden oder Wurzeln zu schälen, damit man sie ebenfalls verzehren kann. Kurz: Wir haben es mit einem höchst vielseitigen Küchengerät zu tun. Zahlreiche Tiere, insbesondere Affen, benutzen Gegenstände; was uns Menschen jedoch von ihnen unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir die Werkzeuge herstellen, bevor wir sie verwenden, und wenn wir sie einmal verwendet haben, behalten wir sie, um sie immer wieder zum Einsatz zu bringen. Mit diesem Stein aus der Olduvai-Schlucht nimmt sozusagen der Werkzeugkasten seinen Anfang.

Die frühen Menschen, die derartige Chopping Tools benutzten, waren vermutlich nicht einmal selbst Jäger, sondern geniale Opportunisten: Sie warteten, bis Löwen, Leoparden oder andere wilde Tiere ihre Beute getötet hatten, und dann kamen sie mit ihren Schneidewerkzeugen, sicherten sich das Fleisch und das Mark und hatten damit das große Protein-Los gezogen. Knochenmarksfett klingt nicht gerade wahnsinnig appetitlich, aber es ist höchst nahrhaft – es sorgt nicht nur für Körperkraft, sondern auch für ein großes Gehirn. Gerade das Gehirn verbraucht ungeheuer viel Energie. Zwar macht es gerade einmal zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, aber es verbraucht zwanzig Prozent unserer gesamten Energieaufnahme und muss ständig gefüttert werden. Unsere Vorfahren vor zwei Millionen Jahren sicherten sich also quasi ihre Zukunft, indem sie dem Gehirn die Nahrung gaben, die es zum Wachsen brauchte. Wenn stärkere, schnellere, wildere Raubtiere ihre Beute getötet und sich vor der Hitze in den Schatten zurückgezogen hatten, konnten die ersten Menschen nach Nahrung suchen. Indem sie Werkzeuge wie dieses benutzten, um an Knochenmark zu kommen, den nahrhaftesten Teil eines Kadavers, setzten sie einen uralten circulus virtuosus in Gang. Diese Nahrung für Körper und Geist bedeutete, dass die schlaueren Individuen mit den größeren Gehirnen überlebten und ihrerseits Kinder mit größerem Gehirn zur Welt brachten, die ihrerseits wieder in der Lage waren, noch komplexere Werkzeuge herzustellen. Sie und ich, wir sind nichts weiter als die jüngsten Produkte dieses fortwährenden Prozesses.

Das menschliche Gehirn entwickelte sich über Millionen von Jahren weiter. Eine der wichtigsten Errungenschaften war, dass es asymmetrisch wurde, als es eine ganze Reihe verschiedener Funktionen bewältigte – Logik, Sprache, die koordinierte Bewegung, die für die Werkzeugherstellung vonnöten ist, die Vorstellungskraft und das kreative Denken. Die linke und die rechte Hälfte des menschlichen Gehirns haben sich auf unterschiedliche Fertigkeiten und Aufgaben spezialisiert – anders als das Gehirn des Affen, das nicht nur kleiner, sondern auch symmetrisch geblieben ist. Dieses Schneidewerkzeug steht für den historischen Moment, da wir deutlich schlauer wurden und nicht nur Dinge herstellen wollten, sondern uns vorstellten, wie man sie «besser» machen könnte. Noch einmal Sir David Attenborough:

«Dieses Objekt bildet die Grundlage eines Prozesses, der bei den Menschen fast schon zu einer Obsession geworden ist. Es handelt sich um etwas, das aus einer natürlichen Substanz geschaffen wurde zu einem speziellen Zweck und auf spezifische Weise, wobei derjenige, der es herstellte, eine Vorstellung davon hatte, wozu er es benutzen wollte. Ist es komplexer, als es eigentlich sein müsste, um seine Funktion zu erfüllen? Wie mir scheint, ja. Musste er wirklich auf der einen Seite fünfmal etwas abschlagen und auf der anderen Seite dreimal? Hätten auch zwei Mal gereicht? Ich glaube, ja. Ich glaube, der Mann oder die Frau, die dieses Werkzeug in Händen hielten, fertigten es nur speziell für diesen Zweck und bezogen möglicherweise eine gewisse Befriedigung aus dem Wissen, dass es diese Aufgabe höchst effektiv, höchst ökonomisch und höchst akkurat erfüllen würde. Später würde man sagen, er hat es wunderschön gemacht, aber das war damals wohl noch nicht der Fall. Die Menschen standen erst am Beginn einer Reise.»

Diese zusätzlichen Abschläge an der Kante des Schneidewerkzeugs machen uns deutlich, dass wir – anders als die Tiere – von Anfang an den Drang verspürten, die Sachen ausgeklügelter zu machen, als es eigentlich nötig wäre. Objekte enthalten wichtige Botschaften über diejenigen, die sie hergestellt haben, und das Schneidewerkzeug symbolisiert den Beginn einer Beziehung zwischen den Menschen und den Dingen, die sie herstellen, einer Beziehung, die sowohl eine der Liebe als auch der Abhängigkeit ist.

Von dem Zeitpunkt an, da unsere Vorfahren Werkzeuge wie diese Chopping Tools herstellten, waren die Menschen nicht mehr in der Lage, ohne diese von ihnen produzierten Dinge zu überleben. Man könnte also sagen: Dinge zu machen macht uns zu Menschen. Leakeys Entdeckungen in der warmen Erde des Grabenbruchs verschoben nicht nur den Ursprung des Menschen weiter zurück in die Vergangenheit; sie machten auch deutlich, dass wir alle von diesen afrikanischen Vorfahren abstammen, dass jeder einzelne von uns Teil einer riesigen afrikanischen Diaspora ist – wir alle haben Afrika in unserer DNA, und unsere ganze Kultur nahm dort ihren Anfang. Was das bedeutet, erklärt die kenianische Umweltaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai:

«Soweit wir wissen, stammen wir Menschen irgendwo aus Ostafrika. Weil wir uns so sehr daran gewöhnt haben, nach Ethnien und Rassen zu unterscheiden, und ständig nach Gründen suchen, um uns voneinander abzugrenzen, dürften einige von uns überrascht sein, wenn sie merken, dass das, was uns unterscheidet, gewöhnlich etwas sehr Oberflächliches ist, etwa unsere Hautfarbe oder die Farbe unserer Augen oder die Beschaffenheit unserer Haare, wir aber im Grunde die gleiche Abstammung, den gleichen Ursprung haben. Wenn wir also, so meine Überzeugung, weiterhin Verständnis und Wertschätzung füreinander hegen – insbesondere wenn wir begreifen, dass wir alle denselben Ursprung haben –, dann werden wir eine Menge Vorurteile über Bord werfen, die wir in der Vergangenheit gehegt haben.»

Nimmt man die Nachrichten im Rundfunk oder im Fernsehen, so gibt es wenig Zweifel, dass die Welt in rivalisierende Stämme und konkurrierende Kulturen gespalten ist. Insofern ist es gut, ja von essenzieller Bedeutung, wenn wir daran erinnert werden, dass die Vorstellung von unserem gemeinsamen Menschsein nicht nur ein Traum der Aufklärung ist, sondern genetische und kulturelle Wirklichkeit. Wir werden in diesem Buch immer wieder darauf stoßen.

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Faustkeil der Oldowan-Kultur

Werkzeug, gefunden in der Olduvai-Schlucht, Tansania1,2 bis 1,4 Millionen Jahre alt

Was nehmen Sie mit, wenn Sie auf Reisen gehen? Die meisten von uns würden eine lange Liste erstellen, die mit der Zahnbürste beginnt und mit Übergepäck endet. In der Menschheitsgeschichte gab es die meiste Zeit über jedoch nur einen Gegenstand, den man auf Reisen wirklich brauchte – einen steinernen Faustkeil. Er war so etwas wie das Schweizer Messer der Steinzeit, ein essenzielles Stück Technik mit vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten. Das spitz zulaufende Ende ließ sich als Bohrer einsetzen, während man mit den scharfen Seiten Pflanzen oder Fleisch zerschneiden und Rinden oder Häute abschaben konnte. Ein Faustkeil sieht eigentlich ziemlich schlicht aus, aber in Wirklichkeit ist er extrem kompliziert herzustellen und über eine Million Jahre lang war er buchstäblich eine Spitzentechnologie. Er begleitete unsere Vorfahren die halbe Menschheitsgeschichte lang und ermöglichte es ihnen, sich zunächst in Afrika und dann auch über die ganze Welt zu verbreiten.

Eine Million Jahre lang bildete das Geräusch der Faustkeilherstellung gleichsam den Pulsschlag des Alltagslebens. Wer mit Hilfe von 100 Objekten eine Weltgeschichte schreiben will, kommt nicht umhin, einen Faustkeil in seine Auswahl aufzunehmen. Dieser steinerne Keil ist deshalb so interessant, weil er uns jede Menge erzählt, nicht nur über die Faust, sondern auch über den Kopf, der ihn hergestellt hat.

Der Faustkeil (engl. hand axe, wörtl. Handaxt) aus der Olduvai-Schlucht hat natürlich keinerlei Ähnlichkeit mit einer modernen Axt – es gibt weder einen Griff noch eine metallene Klinge. Es handelt sich um ein Stück Vulkangestein, ein wunderschönes grau-grünes Exemplar, das die Form einer Träne hat. Es ist deutlich vielseitiger als eine klassische neuzeitliche Axt. Der Stein ist so bearbeitet worden, dass an den Längsseiten der Träne scharfe Kanten und an dem einen Ende eine scharfe Spitze entstanden sind. Hält man den Keil gegen die Hand eines Menschen, ist man überrascht, wie gut die beiden Formen sich ineinander fügen, obgleich wir es hier mit einem ungewöhnlich großen Exemplar zu tun haben, das sich nicht wirklich bequem in der Hand halten lässt. Es ist zudem sehr schön gearbeitet, und man kann genau die Stellen sehen, an denen es zugehauen wurde.